Runter vom Gas 2 – Disziplin und Classroom Management

Wie ein funktionierender Ordnungsrahmen gelingt und jede Menge Zeit spart

Die Zeit ist schlecht? Wohlan. Du bist da, sie besser zu machen. (Thomas Carlyle)

Während die Kinder Schule so hinnehmen müssen, wie sie nun einmal ist, hast du die Macht und die Möglichkeit, Schule so zu gestalten, dass sie zu einem guten Ort für dich und die Kinder wird.

Du hast ganz richtig gelesen: Für dich auch, eigentlich sogar an erster Stelle für dich.

Vor vielen Jahren gab es eine Werbung für Glücksklee-Dosenmilch: Nur glückliche Kühe geben gute Milch. Nun sind wir Lehrer zwar keine Kühe, aber unser Produkt „Unterricht und Klassenführung“ kann nur dann langfristig und nachhaltig „gut“ sein, wenn es uns selbst gut geht.

Und was brauchen wir Lehrer, damit es uns gut geht? Böse Stimmen werden sagen: Viel Ferien und wenig Arbeit. Aber das ist einfach nur dummes und bösartiges Geschwätz.

Engagierten Lehrern geht es dann gut,

  • wenn es ihnen gelingt, Kinder für das Lernen zu begeistern,
  • wenn sie mit ihren Schülern gut zurechtkommen,
  • wenn es ihnen gelingt, allen Schülern Lernerfolge zu ermöglichen,
  • und wenn sie mit ihrer Klasse immer wieder „schöne“ Vorhaben realisieren können, ganz egal, welche das sind.

Allerdings ist es auch bei Berufsanfängern oft nicht anders als bei unseren Erstklässlern, die voller Schwung, Vorfreude und positiver Aufgeregtheit in ihre Schullaufbahn starten und deren anfängliche Begeisterung dann – wie verschiedene Untersuchungen belegen – bereits nach einigen Wochen abnimmt und im Lauf der Schulzeit kontinuierlich weiter sinkt. Und genauso geht es vielen Lehrern: Aus Schwung und Motiviertheit werden – und das oft ziemlich schnell – Unlust und Resignation. 

Der viel beschriebene Praxisschock der jungen Kolleginnen und Kollegen hat sicher damit zu tun, dass sie auf das, was sie täglich in den Klassenzimmern erwartet, nicht gut genug – oder, wie man manchmal hört, gar nicht – vorbereitet wurden.

Aber auch Lehrer mit einiger Unterrichtspraxis haben oft mit ihrem Alltag zu kämpfen. Viele von uns fühlen sich gehetzt und sehen dann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Oder, anders ausgedrückt, sie verlieren den Blick für das große Ganze und das, was wirklich wichtig ist. Das betrifft sowohl die Inhalte als auch den äußeren Rahmen.

Diesem äußeren Rahmen möchte ich mich im vorliegenden Artikel widmen.

Der eigentliche Lehrplan: Disziplin und Classroom Management

Kennst du das auch?

Du hast für deine Klasse etwas Besonderes vorbereitet, präsentierst das in der Schule voller Freude und bist dann enttäuscht, weil die mangelnde Disziplin der Kinder dein Vorhaben längst nicht so gelingen lässt, wie du dir das ausgemalt hast.

Oder: An einem Unterrichtstag kannst du wieder einmal nicht annähernd das durchnehmen, was du geplant hast, weil einfach keine richtige Ruhe in die Klasse kommt. Und bei jedem Arbeitswechsel viel zu viel Zeit damit vertan wird zu warten, bis alle ihre Sachen hergerichtet haben und bis jeder ruhig und aufmerksam ist.

  • In vielen Klassen ist das die tägliche pädagogische Realität:
    Der Geräuschpegel ist zu hoch, wirklich still und konzentriert ist die Atmosphäre im Klassenzimmer, wenn überhaupt, immer nur für kurze Zeit.
  • Jeder Übergang, sei es das Herausnehmen oder Wegräumen von Material, das Ändern der Sozialform oder ein Themen- oder Aufgabenwechsel dauert „ewig“, stört den Unterrichtsfluss und verursacht unnötige und langweilige Wartezeiten.

Auf diese Weise können in einer einzigen Unterrichtsstunde leicht zwischen fünf und zehn Minuten verloren gehen. Das sind dann an einem ganzen Unterrichtsvormittag 30 bis 60 Minuten. In einer Woche zweieinhalb bis fünf Stunden, in einem Monat ca. zehn bis zwanzig Stunden. Diese kleine Hochrechnung ist doch beeindruckend, nicht wahr?

Bei Störungen und Trödeleien wird dann oft ermahnt, auch geschimpft und in manchen Klassen sogar gebrüllt und geschrien. Wenn wir uns dazu hinreißen lassen, tappen wir in die Ohnmachtsfalle. Denn bewirkt wird dadurch wenig bis gar nichts. Und uns tut das nicht gut, macht uns auf die Dauer nur krank.

Wie kann nun aber erreicht werden, dass ein Unterrichtsvormittag reibungslos verläuft, dass Störungen die große Ausnahme sind und damit auch die täglichen Zeitverluste wegfallen?

Jacob Kounin (Jacob Kounin, Techniken der Klassenführung, Münster, 2006 (Reprint der Originalausgabe von 1976)) hat schon in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts darüber geschrieben, dass es nicht von Bedeutung ist, was nach einem Regelverstoß erfolgt. Vielmehr gilt es zu analysieren, was vorher geschieht und entsprechende Präventionsmaßnahmen zu treffen.

Wir Lehrer sind immer in einer schwächeren Position, wenn wir re-agieren.
Gelingt es uns, vorausschauend zu agieren, tun wir das hingegen aus einer Position der Stärke heraus.

Es lohnt sich deshalb unbedingt, zuallererst und vor jeglicher Didaktik unsere Energie und Aufmerksamkeit auf das Installieren eines funktionierenden Ordnungsrahmens in der Klasse zu richten.

Sicher, das kostet Zeit, verlangt vom Lehrer die Mühe der Konsequenz. Und es erfordert die pädagogische Kompetenz, die Notwendigkeit und den Nutzen zu erkennen.

Aber dieser Preis ist keineswegs zu hoch, denn was du dafür bekommst, ist ein Vielfaches wert. Und letztendlich sparst du dadurch – siehe oben! – eine Menge Zeit. Denn je mehr nach der Devise „Dafür haben wir jetzt keine Zeit!“ gehetzt wird, desto langsamer geht alles. Kinder kann man nicht hetzen. Deshalb ist es – einmal ganz abgesehen von den ethischen Einwänden, die man hier anbringen könnte – schlicht unvernünftig, das überhaupt erst zu versuchen.

Also investiere dort Zeit, wo du einen Ertrag erzielen kannst: in das Installieren eines tragfähigen Ordnungsrahmens und in das Aufstellen funktionierender Regeln in deiner Klasse.

Was haben geordnete Abläufe mit dem Einmaleins zu tun?

Jeder Unterrichtstag hat einen Anfang, ein Ende und dazwischen liegen verschiedene Lerneinheiten. Damit so ein Vormittag geordnet und reibungslos abläuft, genügt es nicht, dass du das gerne hättest. Du musst vielmehr die gewünschten Abläufe analysieren, sie in deiner Klasse gut erklären und begründen und – hier kommt die Gemeinsamkeit mit dem Einmaleins – du musst diese Abläufe üben.

Du kannst nicht erwarten, dass eine bestimmte Aufforderung, wie z.B. das Wegräumen des Rechenmaterials und das Herausnehmen der Schreibsachen, in den Köpfen deiner Schüler den gleichen Kurzfilm erzeugt wie bei dir.

Für die Kinder ist das vielleicht eine kurzweilige Unterbrechung, bei der man sich nicht sonderlich beeilen muss und die man auch durchaus mit einem kleinen Schwätzchen verbinden kann.

Du allerdings hättest sicher die Wunschvorstellung, dass das Ganze flott und ruhig abläuft. Dann solltest du das zuallererst einmal transparent machen, also genau erklären, wie es „richtig“ geht, vielleicht auch von einer Gruppe vormachen lassen.

Danach solltest du die Vorteile eines solchen Ablaufs mit den Schülern besprechen, also die Frage klären: Was haben wir alle davon?

Und zum Schluss solltest du den Ablauf üben. Das kann durchaus auch spielerisch geschehen, z.B. mit der Stoppuhr in der Hand.

Dieser Dreierschritt ist das Grundgerüst für jeden Ablauf, der an  einem Schultag vorkommt:

  • Anstellen zum Raumwechsel
  • Arbeitsmaterial her- oder wegräumen
  • In den Sitzkreis gehen oder zurück zum Platz
  • Am Platz aufstehen für Gymnastik oder zum Singen oder Tanzen
  • Freiarbeitsmaterial holen oder wegräumen

Ich nenne dieses Grundgerüst das goldene Dreieck:

Transparenz – Was genau soll ich tun, wie geht das genau?
Relevanz – Was ist der Nutzen, was habe ich davon?
Konsequenz – der Ablauf wird geübt, eingefordert und ggf. auch wiederholt.

Je gefestigter der Ordnungsrahmen ist, desto mehr Freiheit ist innerhalb dieses Rahmens möglich. Ich weiß zum Beispiel von einigen Kolleginnen, dass sie sehr ungern Bewegungssequenzen in den Vormittag einbinden, weil sie danach die größte Mühe haben, die Klasse wieder zum geordneten Arbeiten zu bringen.

Das gilt auch für viele andere „lockere“ Aktivitäten: Wenn du die Herrin des Verfahrens bist, dann kannst du tägliche Freiarbeitssequenzen, Bewegung, Spiele, Tanzen und Rhythmik, Theaterproben und Projektarbeit ohne Schwierigkeiten in einen Vormittag integrieren, weil der Übergang in den gebundenen Unterricht jederzeit möglich ist.

Soviel zum Einüben immer wiederkehrender Abläufe. Dann gehören zu einem funktionierenden Ordnungsrahmen auch noch einzelne Verhaltensregeln, die für ein gutes Miteinander in der Schule wichtig sind.

Über Wirksamkeit und Unwirksamkeit von Regeln

An vielen Klassenzimmerwänden hängen Regeln, wie zum Beispiel:

  • Ich melde mich.
  • Ich warte, bis ich aufgerufen werde.
  • Ich lasse andere ausreden.

Werden diese eingehalten? Die Antwort kennst du.

Und was passiert, wenn sie nicht eingehalten werden? Es wird vielleicht wie bereits erwähnt ermahnt und geschimpft, vielleicht aber auch, weil die Lehrerin irgendwann resigniert hat, einfach nur ignoriert.

Doch das ist verhängnisvoll. Wenn einerseits Regeln aufgestellt – und oft auch noch schriftlich fixiert – werden und diese Regeln andererseits völlig unverbindlich sind, weil es möglich ist, sie ohne Konsequenzen zu verletzen, dann ist damit eine für uns Lehrer sehr abträgliche nonverbale Botschaft verbunden: Regeln braucht man nicht zu halten!

Das aber wünschen wir uns doch alle nicht. Wie also können wir Regeln zur Durchsetzungskraft verhelfen? Dafür gibt es einige Grundsätze, sozusagen „Regel-Regeln“, die meiner Erfahrung nach unumgänglich sind.

Die Sache mit dem Priming

Im Vorfeld solltest du noch ein Forschungsergebnis aus der Verhaltensökonomie kennenlernen. Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann (Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken, München, 2014, S. 72 ff.) berichtet von einigen faszinierenden Versuchen über das „Wunder des Priming“. Er konnte nachweisen, dass sprachliche Inputs (Welche Wörter höre oder lese ich?), optische oder sensorische Eindrücke, Bewegungsabfolgen, kurz, das, was als primärer Eindruck im Gehirn landete, eine nachfolgende Aktion beeinflusste.

  • Wähler, die in einer Schule abstimmten oder Bilder von Schulen und Klassenzimmern sahen, zeigten sich anschließend aufgeschlossener für Bildungsinitiativen als solche, bei denen das nicht der Fall war.
  • Wer eine Wörtersuchaufgabe mit alters- und krankheitsbezogenen Wörtern löste, legte hinterher eine bestimmte Wegstrecke langsamer zurück als Mitglieder einer Vergleichsgruppe, die mit neutralen Wörtern gearbeitet hatten.
  • Wer  eine Minute lang einen Bleistift quer zwischen den Zähnen hielt – und damit automatisch eine Lächelmimik hatte – fand anschließend gezeigte Cartoons häufiger lustig als eine Vergleichsgruppe, die den Bleistift senkrecht zwischen den Zähnen hielt, denn die Mitglieder dieser Gruppe runzelten automatisch die Stirn.

Diese Erkenntnisse sind für unser Classroom Management von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, wie du im nächsten Abschnitt gleich sehen wirst.

Regeln müssen einvernehmlich aufgestellt und transparent sein

Du wirst Kinder nicht dazu bringen, sich an Regeln zu halten, die ihnen einfach nur vorgesetzt werden. Deshalb ist der Deal mit den Schülern so wichtig, das einvernehmliche Aufstellen von Regeln.

Und dann müssen die Kinder auch noch wissen, welches Verhalten genau mit einer Regel gemeint ist, die Regel muss transparent sein. Das ist nicht immer der Fall und es kommt durchaus vor, dass Kinder für etwas getadelt werden, was ihnen als falsches Verhalten gar nicht bewusst war.

Was für gedeihliches Lernen in der Schule wichtig ist, gilt in allen Klassen, und die Kinder wissen das im Allgemeinen auch sehr gut. Unsere Aufgabe als Lehrer ist es, darauf hinzuwirken, dass dieses gedeihliche Verhalten auch wirklich an den Tag gelegt wird.

Eigenartigerweise sind es gerade die Schüler, die, wenn man sie einfach lässt, die größte Unruhe verursachen, die am dringendsten Ruhe beim Lernen brauchen und wollen. Sie profitieren am meisten von einem gut funktionierenden Ordnungsrahmen.

Das grundsätzliche Vorgehen beim Aufstellen von Regeln führe ich exemplarisch am Beispiel der Gesprächsregeln aus. Denn das Thema „Sprechen im Unterricht“ steht im Ranking der Verhaltensregeln ganz weit oben.

Es hat sich bei mir und bei vielen Kolleginnen bewährt, diesen Verhaltensbaustein mit den Schülern erst einmal gründlich zu besprechen. Das geht sehr gut anhand von einigen Leitfragen:

  • Wie geht es dir beim Lernen, wenn es in der Klasse sehr laut ist?
  • Wir sind 25 Kinder. Findest du es gerecht, wenn immer die gleichen Kinder reden?
  • Wie geht es dir, wenn du eine Antwort weißt und du meldest dich und ein anderer ruft die Antwort einfach heraus?

Und, ganz wichtig, auch eine Frage zum Lehrerverhalten:

Stell dir vor, du bist gerade konzentriert beim Rechnen oder Schreiben. Würde es dich stören, wenn ich (die Lehrerin) von meinem Platz an der Tafel aus ganz laut mit einem Schüler, der ganz hinten sitzt, reden würde?

Bei der Beantwortung dieser Fragen ergibt sich in jeder Klasse, dass die Schüler – und es sind so gut wie immer alle – …

  • sich bei der Arbeit durch Lärm in der Klasse gestört fühlen,
  • sich ärgern, wenn jemand herausruft,
  • wollen, dass alle eine Chance zum Reden bekommen,
  • sich auch durch die Lehrerin gestört fühlen würden, wenn diese bei der Stillarbeit laut redete.

Nach erfolgter Bestandsaufnahme wird dann beraten, wie man das alles zufriedenstellend regeln könnte und das ergibt sich ganz von selbst:

Nun geht es darum, diese Regel – im Sinne des Priming – immer so vor Augen zu haben, dass sie wirklich in den Köpfen präsent ist.

Da nützt es wenig, einen Merksatz an die Wand zu hängen. Bilder hingegen finden unmittelbar Eingang in unsere Wahrnehmung und damit in unser Gehirn, deshalb wurde bei mir diese Regel, die alle wichtig und einsehbar fanden, als Piktogramm an die Wand gehängt und zwar mit einem der beiden:

Das sollte natürlich nicht heißen: Bei uns darf nicht gesprochen werden, sondern die Bedeutung war: Für das Reden gibt es Regeln. Das war der „Regel-extrakt“ und welche Regeln das genau waren, musste nicht mehr aufgeführt werden. Das wusste jeder.

Aus dieser grundsätzlichen Regel für das Reden lässt sich auch mühelos ableiten, was für die freie Arbeit, für Partner- oder Gruppenarbeit, für Rechen- und Schreibkonferenzen oder für Projekte gilt: Wir verwenden Flüstersprache (Freiarbeit) oder manchmal auch Murmelsprache, aber wir stören andere nicht.

Wenig Regeln erleichtern das Einhalten und Durchsetzen

Genauso wie ein ganzes Bündel von Gesprächsregeln auf ein einziges Piktogramm reduziert werden kann, geht es auch mit den anderen Bereichen des schulischen Miteinander, für die gemeinsam Regeln gefunden werden.

Weniger ist mehr.

Was unter Kindern zum Beispiel immer wieder für Ärger sorgt, wenn es nicht in den Griff zu bekommen ist, das sind kleine Übergriffigkeiten wie diese:

  • Kinder nehmen ungefragt die Sachen anderer Kinder.
  • Kinder geben beim Gehen durch die Klasse anderen Kindern Klapse oder streichen ihnen über die Haare.

Auch diese Fälle wurden in meinen Klassen immer erst einmal besprochen. Dann waren wir uns einig, dass wir das nicht wollen. Und in einem letzten Schritt wurde auch hier wieder ein Piktogramm  aufgehängt.

Seine Bedeutung: Hände weg von anderen Kindern und den Sachen anderer Kinder.

Du kannst mit vier bis fünf Piktogrammen durch den Schulalltag kommen, auf die alles Wichtige verdichtet wird.

Regeln auf wirkungsvolle Weise im Gespräch mit den Kindern aufstellen ist das eine. Das andere ist: Diese Regeln müssen eingefordert und durchgesetzt werden.

  • Es wird wahrscheinlich immer einzelne Kinder geben, denen es schwerfällt, Regeln einzuhalten, auch wenn sie diese grundsätzlich bejahen. Das ist normal und das sind deswegen keine schlechten oder unartigen Kinder. Es sind einfach Kinder.
  • Schimpfen und Strafen bringen keinen nachhaltigen Erfolg, das hatten wir schon.
  • Also was tun? Detailliert habe ich diese Problematik in meinem Buch „Disziplin“ abgehandelt. (Christina Buchner, Disziplin, Norderstedt, 2018)
  • Am Beispiel des Herausrufens in der Klasse möchte ich das wieder exemplarisch beschreiben.

Das Wunder des Priming

Die erste Herangehensweise nutzt das, was wir über das Priming wissen. Du kennst ja deine Pappenheimer und weißt also auch sehr genau, auf wen du dein pädagogisches Augenmerk richten musst. Du kannst nun diese „Kandidaten“ vor Beginn eines Schultages, vor einer Unterrichtsstunde oder einer Sequenz, in der Schülerbeiträge abgerufen werden sollen, fragen, ob sie wohl glauben, sie könnten sich heute (in der nächsten Stunde – in der folgenden Unterrichtssequenz) an die Gesprächsregel halten. Allein diese Frage setzt im Gehirn einen Impuls, der es erleichtert, eine Regel zu befolgen.

Allerdings gilt das für die Grundschule, in der Kinder noch andere Beweggründe für ihr Verhalten haben als Jugendliche, die nach vielen Misserfolgserlebnissen oft destruktiv sein wollen, während es meine feste Überzeugung ist, dass Grundschüler sich vielleicht destruktiv verhalten, aber im Grunde „gut“ sein wollen.

Die Magie der Wattekugeln

Die zweite Herangehensweise macht Verhalten sichtbar und hat schon viele Kolleginnen durch ihre Wirksamkeit verblüfft. (Christina Buchner, a.a.O., S.135 ff.)

Wenn ein Schüler es nicht schafft abzuwarten, bis er aufgerufen wird oder auch sonst im Unterricht zur Unzeit redet, so ist in meinen Augen nicht seine „Schlechtigkeit“ der Grund dafür, sondern vielmehr seine Schwäche. Er möchte gerne „brav“ sein, aber es passiert ihm halt immer wieder das Missgeschick der Undiszipliniertheit.

Es macht einen sehr großen Unterschied, mit welcher inneren Haltung eine Lehrkraft mit einem „Übeltäter“ umgeht. Natürlich kann die wiederholte Störung nicht hingenommen werden, aber das „Delikt“ ist nicht identisch mit dem Kind. Dieses ist in Ordnung, die Störung aber nicht.

Ich halte sehr viel von einem sachlichen Gespräch, bei dem mit einem Kind ohne Abwertung darüber gesprochen wird, dass es ihm „blöderweise“ immer wieder passiert, einfach dazwischenzureden oder herauszurufen, obwohl es das eigentlich gar nicht will. Nach dieser Einleitung habe ich den Kindern immer meine Hilfe angeboten, aus diesem Dilemma herauszukommen:

„Weißt, Franzi, ich könnte dir da schon helfen, dass dir das nicht mehr passiert, aber das geht nur, wenn du auch selber magst. Magst du?“

Ich habe noch nie erlebt, dass ein Schüler zu mir „nein“ gesagt hätte. Dann spreche ich mit Franzi noch darüber, dass es ihm wahrscheinlich gar nicht bewusst ist, wie oft er stört und dass wir deshalb erst einmal zählen müssen, wie oft das vorkommt. Das hat nun aber gar nichts mit Strichlisten für Fehlverhalten zu tun, sondern folgt einer ganz anderen Absicht.

Wir starten mit dem Zählen der Störereignisse, indem wir für jedes einzelne Mal eine bunte Filzperle (ich nenne sie immer Wattekugeln) in ein schmales Olivenglas werfen. Das geschieht ohne Tadel, ohne strafenden Blick, ganz einfach nur sachlich zählend. Am Ende des Tages wird das Glas gemeinsam betrachtet. Besonders der Delinquent ist immer sehr erstaunt, wie oft er sich doch danebenbenommen hat, das hätte er nicht gedacht.

Danach kommt etwas unverzichtbar Wichtiges: Das Glas wird ausgeleert. Der nächste Tag beginnt mit neuen Chancen, ohne Schuldenkonto.

Im Regelfall – anders habe ich das noch nicht erlebt – ist die Kugelmenge am zweiten Tag wesentlich kleiner. Wenn etwa am ersten Tag zehn Kugeln im Glas waren und am zweiten Tag sind es nur noch fünf, dann hat das bei der gemeinsamen Betrachtung ein großes Hallo und viel Lob zur Folge. Das heißt also, dass der Schüler fünfmal gestört hat und dennoch gelobt wird – eine paradoxe Intervention.

Es dauerte nie sehr lange, dann blieb das Glas gänzlich leer.

In dieser Wattekugel-Intervention stecken einige sehr wirkungsvolle pädagogische und psychologische Prinzipien:

  • Priming – bereits das Vorhandensein des Kugelglases dient als Anker.
  • Verhalten wird sichtbar und objektivierbar gemacht.
  • Wertschätzender Umgang mit dem Delinquenten: Es wird deutlich unterschieden zwischen dem Verhalten und der Person.
  • Das Kind erhält eine Perspektive: Jede Verbesserung wird sichtbar und wird auch explizit gewürdigt.
  • Selbstwirksamkeit wird erlebt: Ich kann mich verbessern.

Dass das Wattekugelglas überhaupt nicht als negativ betrachtet wird, zeigen mir viele kleine Erlebnisse, die ich im Lauf der Jahre damit hatte.

So fragten – wenn die Methode wieder einmal zum Einsatz kam – regelmäßig auch andere Kinder bei mir an, ob sie denn nicht auch so ein Glas bekommen könnten, sie würden doch auch manchmal stören und das würden sie gerne ändern. Ich hatte allerdings nie mehr als drei Gläser parallel „am Laufen“ und versah die dann auch immer mit Namensschildern, um den Überblick zu behalten.

Meine Schülerin Denise hatte die Angewohnheit, beim Arbeiten immer das, was sie aufschrieb, leise vor sich hinzumurmeln und das störte die anderen Kinder an ihrer Sitzgruppe. Denise wollte nicht stören, schaffte es aber aus eigener Kraft nicht, das Gemurmel zu unterdrücken und bat mich darum, ein Kugelglas und ein Schüsselchen mit Filzperlen auf den Gruppentisch zu stellen und die anderen Kinder sollten immer dann, wenn sie störte, eine Filzperle einwerfen. Das Glas blieb von Anfang an leer, ein Paradebeispiel für das Priming.

Und ein besonders nettes Erlebnis hatte ich mittelbar mit Patrick. Seine Mutter erzählte mir davon, als sie in der Sprechstunde nachfragte, was es denn mit diesem Glas auf sich habe. Patrick hatte daheim berichtet, er habe jetzt ein Glas in der Schule, in das die Lehrerin so schöne bunte Kugeln für ihn einwerfe. Auf die Frage, ob das denn alle Kinder hätten, antwortete er stolz: „Nein, das hab nur ich!“ Die Mutter amüsierte sich sehr, als ich ihr den Zusammenhang erklärte.

Was aus diesen Begebenheiten klar wird, ist die Tatsache, dass diese Disziplinierungsmaßnahme weder als Tadel noch als Strafe empfunden wurde, sondern viel eher als Zuwendung und Hilfe.

Ich höre manchmal den Einwand, das sei doch eine Bloßstellung, wenn das Verhalten eines Schülers vor der Klasse thematisiert werde. Dem kann ich nur entgegenhalten, dass jedes Fehlverhalten für die ganze Klasse sichtbar ist. Und dass auch Tadel oder Schimpfen nicht unbemerkt bleiben. Da ist das sachliche Besprechen mit der Chance auf Lob und Würdigung alles andere als negativ. Sondern es dient im Gegenteil eher dem Integrieren eines Schülers in die Gemeinschaft und somit dem Stärken der Gruppenkohäsion. Nehmen doch alle Anteil an der Aktion und freuen sich über die Verbesserung und den Erfolg.

Fazit: Ein funktionierender Ordnungsrahmen ist äußerst nützlich

Er verhilft zu reibungslosen – oder zumindest sehr „reibungsarmen“ – Abläufen und du gewinnst jede Menge Zeit, die du dann für all das verwenden kannst, was Schule zum Lebensraum macht und für dich und deine Schüler den Alltag verschönert.
Darum sei es abschließend nochmal betont: Die Zeit, die du für den Aufbau dieses Ordnungsrahmens verwendest, ist fruchtbare Zeit, sozusagen ein AAA-Investment. Lass dich nicht durch zahllose Arbeitsblätter und wenig zielführende Splitterthemen hetzen, arbeite lieber langsam und gründlich mit dem, was wesentlich und nachhaltig ist und verweigere – frei nach Michael Endes Momo – den Zeitdieben in Gestalt der grauen Herren die Gefolgschaft. Dann kannst du deine Zeit dort investieren, wo sie dir und den Kindern wirklich etwas bringt.

Möchten Sie noch mehr erfahren? Hier geht es zum ersten Teil unserer Grundschulreihe mit Christina Buchner mit dem Titel: Wie Sie Ihren Unterricht entschleunigen, um stressfrei und entspannt zu unterrichten

Die Autorin:

Christina Buchner arbeitete viele Jahre als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen. Und sie war 16 Jahre Rektorin an Grundschulen im Landkreis München.
Sie ist in Oberbayern auf dem Land aufgewachsen. Ihre Kindheit war geprägt durch große Freiheit, Nähe zur Natur, Freude an Büchern und die Möglichkeit, kreative Einfälle in die Tat umzusetzen.
Vor diesem Hintergrund war es ihr von Anfang an ein zentrales Anliegen, für ihre Schüler eine bunte und anregende Lernwelt zu schaffen.

Sie ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass in der Schule ohne Freude, Begeisterung und ohne Erfolgserlebnisse sehr wenig läuft. Die Mischung aus Pflicht und Freude, aus Begeisterung und konsequenter Übung, aus Disziplin und individueller Freiheit beim Lernen ist ihr Markenzeichen. Für diese Mischung wirbt sie in ihren Büchern und in Vorträgen und Lehrerfortbildungen in Deutschland, Österreich, Italien, der Schweiz und Luxemburg.

Christina Buchner entwickelte eigene Methoden für das Lesenlernen, für Rechtschreiben und Schreiberziehung, für den elementaren Mathematikunterricht und für das Theaterspielen mit einer Klasse.
Ihr MatheBlog: www.die-rechentante.de
Ihre Website: www.christina-buchner.de


cover buchner

So wird Unterricht entspannt

Stress, Druck und Hetze bestimmen oft bereits in der Grundschule den Alltag von Lehrern, Schülern und Eltern. Doch es ist möglich, trotz starrer Rahmenbedingungen und zahlreicher Anforderungen den schulischen Alltag für alle Beteiligten angenehm zu gestalten – ohne Hektik und Stress.
Der Fokus liegt auf der Autonomie der einzelnen Lehrer. Du findest erprobtes Handwerkszeug für eine alternative Umsetzung des Lehrplans. Methodenfreiheit neu gedacht, fächerübergreifendes Unterrichten und Projektarbeit ermöglichen einen entschleunigten Unterricht. Zusätzlich gibt es noch Online-Materialien.

Buch, broschiert, 260 Seiten
ISBN:978-3-407-25762-8
24,95 €

Mehr zum Buch