Spielen auf der Straße schafft Freiräume für Kinder

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Temporäre Spielstraßen in Berlin

„Auf der Straße spielen“ – was jahrhundertelang selbstverständlich war, ruft heutzutage höchstens bei älteren Menschen noch Kindheitserinnerungen hervor. Die Straße als Aufenthalts- und Begegnungsort ist uns in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen. Straßen sind stattdessen zu lebensgefährlichen Schluchten verkommen, die wir nur an den vorgesehenen Stellen auf direktem Weg überquert dürfen, und das auch noch so schnell wie möglich. Ein Kind, das unbedacht seinen Fuß auf die Straße setzt, wird von den zu Tode erschrockenen Eltern angeschrien. Gab es in Deutschland 1970 pro Kind „nur“ einen PKW, sind es heutzutage etwa vier.

Auch das echte Spielstraßenschild ist heute kaum noch bekannt, wurde es doch seit Anfang der 1980er Jahre vom Verkehrsberuhigten Bereich verdrängt, der das friedliche Miteinander von spielenden Kindern und fahrenden Autos möglich machen sollte.

Durch den allgegenwärtigen hohen Verkehrsdruck funktioniert dies jedoch allenfalls in Wohngebieten am Ortsrand, wo man sich untereinander kennt. In den meisten Verkehrsberuhigten Bereichen herrscht das Recht des Stärkeren – dort zu spielen wäre lebensgefährlich. Es ist der blanke Hohn, Verkehrsberuhigte Bereich umgangssprachlich als „Spielstraße“ zu bezeichnen.

Temporäre Spielstraßen – warum, wo und wie

Da es für das Spielen auf der Straße viele gute Gründe gibt, ist es wichtig die Straße zurück zu erobern:

  • Kinder haben ein Recht auf Spiel, immer und überall.
  • Kinder müssen jenseits institutioneller Betreuung und zugeteilter Orte (Spielplätze) im öffentlichen Raum wieder sichtbar und akzeptiert werden.
  • Die Straße ist ein offener Möglichkeitsraum. Ohne vorgegebene Spielgeräte werden Kreativität und Eigeninitiative gefördert.
  • Straßen bieten viel Platz für Bewegung und glatten Asphalt für Fahrgeräte aller Art.
  • Spielen vor der eigenen Haustür fördert die Selbständigkeit, Kinder müssen nicht von Erwachsenen irgendwohin begleitet werden.
  • Die Straße ist ein neutraler Begegnungsort ohne Konsumzwang. Diesen quer durch alle Alters- und Bevölkerungsschichten gemeinsam zu nutzen fördert die gute Nachbarschaft.
  • Die Möglichkeit, unabhängig vor der eigenen Haustür zu spielen, ist der erste Schritt hin zu selbständiger Mobilität: Freunde besuchen, in den Park gehen, zu Fuß zur Schule gehen.
  • Straßen nehmen in der Stadt die größte Fläche des öffentlichen Raums ein, und diesen gilt es gerecht zu verteilen.
  • Spielstraßen sind ein fröhlicher Beitrag zur Mobilitätswende – sie machen den Ort vor der eigenen Haustür zum Verweilen schön.

Bei einer temporären Spielstraße wird die Straße regelmäßig, aber nur für ein paar Stunden pro Woche für den Autoverkehr gesperrt und zum Spielen freigegeben.

Das mag auf den ersten Blick wenig erscheinen, hat aber viele Vorteile:

  • Da kein Umbau nötig ist und wenige Schilder genügen, entstehen kaum Kosten.
  • Die Spielstraße ist flexibel, kann jahreszeitlich differenziert werden. Bei Bedarf kann sie auch wieder rückgängig gemacht werden, somit spricht nichts dagegen, die Spielstraße einfach mal auszuprobieren.
  • Parkplätze fallen nur für wenige Stunden weg, das Aufregungspotential hält sich in Grenzen.
  • Es entsteht kein nächtlicher Vergnügungslärm, was sonst bei Maßnahmen, die attraktive Stadträume schaffen, oft die Gefahr ist.
  • Und das Wichtigste: Durch die zeitliche Fokussierung auf festgelegte Stunden entsteht ein echter Treffpunkt!

Temporäre Spielstraßen gibt es – vor allem in angelsächsischen Ländern – schon lange, in New York seit über 100 Jahren. In Bremen entstand 2011 die geniale Idee, das echte Spielstraßenschild mit einer zeitlichen Beschränkung zu kombinieren. Denn nur mit dem echten Spielstraßenschild ist es möglich, die Straße auch physisch abzusperren, und nur mit einer physischen Absperrung ist das sichere Spielen auf der Straße gewährleistet.

Seit August 2019 gibt es diese Schilderkombination auch in Berlin, zum ersten Mal wurde sie in der Kreuzberger Böckhstraße aufgestellt. Dort findet seitdem von April bis September jeden Mittwoch von 14 bis 18 Uhr eine überaus lebhafte und fröhliche Straßenbespielung statt.

Organisation

Die Initiative für eine temporäre Spielstraße kommt in Berlin bisher „von unten“, aus der Zivilgesellschaft, oft von ehrenamtlich engagierten Anwohnenden. Doch auch die institutionalisierte Organisation „von oben“ ist möglich und wird beispielsweise in Stuttgart und Trier praktiziert. Besonders sinnvoll ist das in sozial benachteiligten Stadtteilen. Im Idealfall ist eine temporäre Spielstraße ein Gemeinschaftsprojekt von Institutionen und Anwohnenden.

In Berlin schließt die Verwaltung mit der Spielstraßen-Initiative eine Kooperationsvereinbarung, die die Initiative dazu verpflichtet, zu gegebenen Zeiten die Absperrungen auf- und abzubauen und während des Spielstraßenbetriebs mit zwei Personen („Lots:innen“) pro Absperrung vor Ort zu sein: als Ansprechpersonen und um eventuell notwendige Durchfahrten von Einsatzfahrzeugen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität im Schritttempo zu begleiten.

Wichtig zu wissen: Eine temporären Spielstraße ist keine Veranstaltung im Sinne eines Straßenfestes, die Straße ist weiterhin öffentlicher Raum, jede:r haftet für sich selbst und Eltern für ihre Kinder, wie zum Beispiel auch im Park oder auf dem Spielplatz.

Straßeneigenschaften

Bei der Wahl der Straße ist einiges zu beachten. Geeignet sind nur Nebenstraßen ohne öffentlichen Nahverkehr (Bus und Tram), und der Abschnitt muss so gewählt sein, dass während der Sperrung die anliegenden Straßen weiter funktionieren.

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Die Straße sollte keine Parkplatzanlagen, Gewerbehöfe, Tiefgaragen und ähnliches als Anlieger haben und darf nicht Teil einer wichtigen Fahrradroute sein. Zu einem großen Teil sollte die Straßendecke nicht aus Kopfsteinpflaster bestehen, da dieses für alle rollenden Fahrspiele ungeeignet ist. Außerdem muss die Straße so orientiert oder mit Bäumen ausgestattet sein, dass in den heißen Sommermonaten genügend Schatten vorhanden ist.

Parkende Pkw

Das Spielstraßenschild (Z250 „Verbot für Fahrzeuge aller Art“) beinhaltet ein absolutes Park- und Halteverbot, dennoch ist es zur besseren Verständlichkeit sinnvoll, zusätzlich Halteverbotsschilder aufzustellen. Dringend zu empfehlen ist es, rechtzeitig vor dem Termin die Halter:innen parkender Pkw durch Flyer zu informieren. Am Tag der Spielstraße unberechtigt parkende Pkw abschleppen zu lassen ist aufwändig, stört den Spielstraßenbetrieb und provoziert, daher ist davon abzuraten. Grundsätzlich hilft eine gute Kommunikation im Vorfeld eine breite Akzeptanz und freiwilliges Umparken zu erreichen.

Spielmobile und temporäre Spielstraßen

Bei einer temporären Spielstraße steht die Straße der Nachbarschaft als offener Möglichkeitsraum zur Verfügung, den es eigenständig zu erobern gilt: Tische & Stühle rausstellen und Fahrzeuge & Spielgeräte selber mitbringen, so die Idee. Das funktioniert nicht unbedingt automatisch, denn die Straße bespielen will erst wieder gelernt sein. Die Initiative sollte daher eine Grundausstattung an Material zur Verfügung stellen. Bereits wenige Utensilien reichen, um eine einladende Atmosphäre zu schaffen: Verkehrshütchen, Straßenmalkreide, Wimpelkette und Sitzgelegenheiten.

Ein besonderer Höhepunkt ist es, wenn ein Spielmobil auf die Spielstraße kommt und den gesamten Schatz an Fahr-Kuller-Roller-Hüpf-Balancier-Spaßspielzeugen ausbreitet! Spielstraßen und Spielmobile passen perfekt zusammen. Nicht nur wegen des glatten Asphalts und dem vielen Platz, sondern vor allem auch, weil Spiele auf der Straße niederschwellig alle Bevölkerungsschichten erreichen und zudem das Recht auf Spiel eindrücklich sichtbar machen.

Cornelia Dittrich


Bündnis Temporäre Spielstraßen

Das Bündnis Temporäre Spielstraßen unterstützt lokale Initiativen bei der Umsetzung im eigenen Kiez und möchte gleichzeitig zur deutschland­weiten Vernetzung beitragen. Es ist ein Zusammenschluss mehrerer Verbände, u. a. des DaKS (Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden), des Deutschen Kinderhilfswerks und des BUND Berlin (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland). Inspiriert von London und Bremen wurde das Bündnis im März 2019 mit dem Ziel gegründet, temporäre Spielstraßen als gängiges Instrument in Berlin zu etablieren. Dieses Ziel ist noch nicht erreicht, doch es hat sich schon viel getan: 2022 gab es berlinweit 235 Spielstraßenaktionen in insgesamt 54 verschiedenen Straßen und allen 12 Bezirken. 2021 gab 230 Spielstraßenaktionen.

Für alle Fragen zum Thema steht das Bündnis jederzeit gerne und kostenfrei zur Verfügung:
www.spielstraßen.de / info@spielstrassen.de / 0172-7483990 (Cornelia Dittrich)


Auch das DKHW berät, wenn es darum geht eine Spielstraße einzurichten.
Deutsches Kinderhilfswerk e. V., Leipziger Straße 116–118, 10117 Berlin.
https://www.dkhw.de/schwerpunkte/spiel-und-bewegung/politische-arbeit/temporaere-spielstrassen/