Viele Kinder der vierten Klasse verfehlen die Mindeststandards

IQB-Bildungstrends weisen negativen Trend in Deutsch und Mathematik seit 2016 aus

„Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends liefern ein besorgniserregendes Bild. Die negativen Trends sind erheblich und der Anteil der Viertklässler:innen, die nicht einmal die Mindeststandards erreichen, ist zu hoch“, lautet das Fazit der eben veröffentlichten IQB-Bildungstrend. Im Jahr 2021 liege der Anteil jener Schülerinnen und Schüler, die nicht einmal die Mindeststandards erreichen in Deutschland insgesamt zwischen gut 18 Prozent (Zuhören) und etwa 30 Prozent.

Wer die Standards festlegt

Die „Mindeststandards“ oder „Bildungsstandards“ legt die Kultusministerkonferenz (KMK) fest. Die Durchführung der Studie und deren Auswertung erfolgte durch das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt Universität Berlin.

„Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass solche Zahlen nicht hinnehmbar sind. Bei Mindeststandards handelt es sich um Anforderungen, die von allen Schüler:innen erreicht werden sollten – hierfür haben alle Akteursgruppen im Bildungssystem gemeinsam Sorge zu tragen.“, steht weiter im Bericht.

Einerseits pandemiebedingt

Auch wenn aufgrund der Anlage des Bildungsmonitorings nicht mit Sicherheit bestimmt werden könne, worauf die ausgesprochen ungünstigen Entwicklungen zurückzuführen wären, spreche einiges dafür, dass die pandemiebedingten Einschränkungen des Schulbetriebs eine Rolle gespielt hätten.

Zudem stimmten die Ergebnisse mit Befunden aus internationalen Studien überein, die Effekte der pandemiebedingten Einschränkungen identifiziert hätten.

Anderserseits Trend seit 2016

Gleichzeitig zeichneten sich in Deutschland bereits zwischen 2011 und 2016 ungünstige Entwicklungen ab. Bei den negativen Trends, die in Deutschland im Zeitraum 2016 bis 2021 aufgetreten seien, könne es sich somit teilweise um eine Fortsetzung dieser Entwicklungen handeln, die auch ohne die Pandemie aufgetreten wären.

Kinder mit Migrationshintergrund benachteiligt

Besonders ungünstig fallen die Ergebnisse für Kinder mit Zuwanderungshintergrund und aus sozial benachteiligten Familien aus. Sie erreichen im Jahr 2021 in allen untersuchten Kompetenzbereichen und in den meisten Ländern im Durchschnitt nicht nur ein niedrigeres Kompetenzniveau, sondern sind von den negativen Trends überwiegend auch deutlich stärker betroffen als ihre Mitschülerinnen und mitschüler. Dadurch haben sich die zuwanderungsbezogenen und sozialen Disparitäten in allen Kompetenzbereichen deutlich verstärkt.

Kometenzeinbußen auch bei Kindern aus sozial besser gestellten Familien

Allerdings sind auch bei Kindern ohne Zuwanderungshintergrund und bei Kindern aus sozial besser gestellten Familien Kompetenzeinbußen zu verzeichnen, und weder die Länderunterschiede noch die negativen Trends in den erreichten Kompetenzen lassen sich vollständig auf die Zusammensetzung der Schülerschaft bzw. deren Veränderung in den Ländern zurückführen.

Gezielte Anstrengungen gefordert

Angesichts des insgesamt sinkenden Kompetenzniveaus der Viertklässlerinnen und Viertklässler bei gleichzeitig zunehmenden Disparitäten fordert das IQB, dass gezielte Anstrengungen unternommen werden, um die Bildungsqualität in der Breite zu erhöhen. Dabei müsse ein besonderes Augenmerk auf die Sicherung der Mindeststandards und auf diejenigen Schülerinnen und Schüler gelegt werden, die aufgrund von ungünstigeren Lernausgangslagen und Lernbedingungen einem besonderen Risiko ausgesetzt seien, abgehängt zu werden.

Besondere Herausforderung bei der Sprachförderung

Eine besondere Herausforderung bestehe weiterhin im Bereich der Sprachförderung. Diese müsse systematisch weiterentwickelt werden, um sicherzustellen, dass auch Kinder, die mit geringen Deutschkenntnissen ins Bildungssystem kommen, dieses erfolgreich durchlaufen können.

„Modell Hamburg“

Bemerkenswert sei auch, dass – entgegen der allgemein ungünstigen Entwicklung – in Bremen, Hamburg und Rheinland-Pfalz das erreichte Kompetenzniveau zwischen den Jahren 2016 und 2021 weitgehend gehalten werden konnte, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Hamburg gehöre im Vergleich der Länder nicht mehr – wie noch im Jahr 2011 – zu den Schlusslichtern und habe sich von den Ergebnissen der anderen beiden Stadtstaaten Berlin und Bremen inzwischen deutlich abgesetzt.

Ob dies etwas mit der Strategie einer datengestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung zu tun habe, die das Land in mehr als 20 Jahren konsequent etabliert und weiterentwickelt habe, lasse sich nicht mit Sicherheit feststellen. Es erscheine jedoch plausibel, dass in einem System, in dem die Entwicklung zentraler Rahmenbedingungen, Verläufe und Ergebnisse schulischer Bildungsprozesse auf den verschiedenen Akteursebenen kontinuierlich beobachtet werde, auf Veränderungen gezielter reagiert und bei sich abzeichnenden Problemlagen frühzeitiger interveniert werden könne.

Evidenzbasierte Strategien

Um dafür Sorge zu tragen, dass sich die ungünstigen Entwicklungen nicht weiter verstärken, sondern nach Möglichkeit umkehren, werden laut IQB kurzfristige Einzelmaßnahmen nicht ausreichen. Vielmehr seien evidenzbasierte Strategien der Qualitätsentwicklung von systematisch aufeinander abgestimmten Maßnahmen erforderlich, die langfristig angelegt seien und durch Monitoring und Evaluation begleitet würden. Damit die für einen erfolgreichen Übergang in die Sekundarstufe I grundlegenden Mindestanforderungen perspektivisch von allen Schülerinnen und Schülern erreicht werden könnten, erscheine es wichtig, die bundesweit geltenden Mindeststandards der KMK genauer auszuarbeiten und ihre Rolle als
Grundlage der Qualitätsentwicklung in Schulen deutlich zu stärken. Ferner sei es zur Sicherung von Mindeststandards erforderlich, dass Kinder mit ungünstigeren Lernvoraussetzungen bereits im Elementarbereich gezielter gefördert würden als es bislang der Fall sei.

GEW: „Politik lässt Grundschulen im Stich!“

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) macht in seiner Erklärung den Lehrkräftemangel, zu große Klassen, fehlende Unterstützungssysteme und eine unzureichende Ausbildung der Lehrkräfte als Ursachen aus. „Grundschulen brauchen jetzt Unterstützung, um soziale Ungleichheit abzubauen – flankiert von Schulsozialarbeit und Schulpsychologischem Dienst. Sie brauchen dringend gut ausgebildete und gut bezahlte Pädagoginnen und Pädagogen“, betonte Bensinger-Stolze. Es sei verantwortungslos, das von der Bundesregierung angekündigte „Startchancenprogramm“ für benachteiligte Schulen unter Haushaltsvorbehalt zu stellen und auf das Schuljahr 2024/25 zu verschieben.“, erklärt Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied Schule der GEW.

Philologenverband: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr?“

Entgegen aller wissenschaftlichen Erkenntnisse stellt der Deutsche Philologenverband seine schriftliche Reaktion unter die Überschrift: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr?“ In ihrer Erklärung relativiert die Bundesvorsitzende des Verbandes Susanne Lin-Klitzing diese Aussage mit den Worten: „Diese Schülerinnen und Schüler werden das, was sie als Grundschüler nicht gelernt haben, nur schwer in den weiterführenden Schulen aufholen können. Die Grundschüler müssen extrem viel nachholen, um die mangelnden Kenntnisse in Deutsch und Mathematik zu kompensieren… Eltern, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler müssen extrem stark zusammenstehen, um versuchsweise das auszugleichen, was die Grundschüler bisher nicht gelernt haben. Wir brauchen deshalb eine deutlich stärkere Lernerfolgsorientierung, wenn Deutschland sein Bildungsniveau annähernd halten will.“

Gleichzeitig appelliert der Verband an die Kultusministerkonferenz, die Lern- und Leistungsziele für die Grundschülerinnen und -schüler zu erhöhen, die neuen Bildungsstandards für die Grundschulen für ambitioniertere Ziele im Deutsch- und Mathematikunterricht nach oben zu korrigieren und Mindeststandards konsequent und verpflichtend abzusichern.

Ifo-Institut: Lernrückstände gefährden langfristig den Wohlstand

Der ifo-Bildungsexperte Ludger Wößmann hat alarmiert auf die Lernergebnisse der deutschen Grundschüler*innen reagiert. „Die starken Rückstände sind beunruhigend. Denn die in der Schule vermittelten grundlegenden Fähigkeiten sind die Basis der zukünftigen Lebenschancen der Kinder und des zukünftigen Wohlstands in Deutschland insgesamt“, sagt Wößmann als Reaktion auf die neuen Ergebnisse des Bildungstrends des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Bemerkenswert sei, dass Hamburg als einziges Bundesland das Niveau im 10-Jahres-Vergleich halten konnte. Das könne damit zu tun haben, dass Hamburg regelmäßige Leistungstests und eine Strategie der datengestützten Verbesserungen eingeführt hat. „Dies sollte ein Vorbild für die anderen Bundesländer und für Deutschland insgesamt sein“, sagt Wößmann. Die Lernverluste seien unter benachteiligten Kindern besonders groß, so dass die Ungleichheit weiter angestiegen sei. Gleichwohl hätten auch Kinder aus sozial besser gestellten Familien und ohne Migrationshintergrund verloren.

Mehr dazu unter: https://www.iqb.hu-berlin.de/