Apfelmus und Apfelmark im Gratis-Test

Labor stößt mehrfach auf Pestizide

Ist Apfelmus oder Apfelmark die bessere Wahl? Öko-Test hat in seiner aktuellen Ausgabe 26 Produkte überprüft. Die Ergebnisse sind einen Monat gratis abrufbar. So viel sei vorab gesagt: Apfelmus gibt es jetzt auch ohne Zuckerzusatz – und Rückstände von Pestiziden stehen mehrfach in der Kritik. 

  • Im Test: 15 Mal Apfelmus und elf Mal Apfelmark. Jedes Glas Apfelmark stammt aus kontrolliert biologischem Anbau, unter den Apfelmusen befinden sich zwei Bio-Produkte. 
  • Produkte, die Apfelmark heißen, enthalten nur den natürlichen Zucker aus den Äpfeln, im Schnitt knapp elf Prozent.
  • Apfelmus ist noch häufig gesüßt. Wenn Hersteller es ohne Zuckerzusatz anbieten, schreiben sie das in der Regel gut sichtbar vorne aufs Etikett.
  • Apfelmark schneidet im Durschnitt besser ab als Apfelmus. 
  • Kritik gibt es vor allem für enthaltene Pestizidrückstände. Wir sind auch auf ein Spritzgift gestoßen, das im europäischen Obstbau eigentlich verboten ist. 

Ob Apfelmark oder Apfelmus: Apfelbrei kann viel. Kartoffelpuffer und Pfannkuchen zu einem kompletten Gericht abrunden, Joghurts und Müslis aufpeppen, kräftigen Apfelgeschmack in Kuchen und Desserts bringen. Allergiker, die keine frischen Äpfel vertragen, können den pasteurisierten Brei meist problemlos essen – und beim veganen Backen kann er sogar als feuchtigkeitsspendender Ei-Ersatz funktionieren.

Apfelmus auch ohne Zucker

Lange Zeit durfte Apfelmus nur dann diese Bezeichnung tragen, wenn der Hersteller genügend Zucker beigepackt hatte. Laut der offiziellen Vorgaben in den Leitsätzen für Obsterzeugnisse musste die Zuckerkonzentration in „Apfelmus“ mindestens 16,5 Prozent betragen.

Seit April ist das nun anders. Hier geht es zum Test.

Quelle: Öko-Test, Johanna Michl/Meike Rix/Lena Wenzel




Schlechte Eltern frönen oft digitalen Medien

Studie sieht Zusammenhang mit negativen Erziehungspraktiken wie Nörgeln und Schreien

Eltern, die sich verstärkt digitalen Medien zuwenden, um zu entspannen, versagen öfter bei der Kindererziehung. Wenn sie viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, vernachlässigen sie nicht nur ihre Familien, sondern greifen auch zunehmend zu negativen Erziehungspraktiken wie Nörgeln oder Schreien. Zu dem Ergebnis kommt eine multinationale Studie der University of Waterloo http://uwaterloo.ca , die den Zusammenhang zwischen digitalem Medienkonsum von Eltern, ihren Erziehungsmethoden und das mentale Wohlbefinden ihrer Sprösslinge analysiert.

Technologie dominiert alles

„Wenn wir in einer Gesellschaft, die voll von Technologie ist, die Familien verstehen wollen, kommt es auf jedes Familienmitglied an“, so Jasmine Zhang, Doktorandin im Fach Klinische Psychologie an der University of Waterloo. Es seien eben nicht immer nur Kinder und Jugendliche, die zu viel Zeit mit digitalen Geräten verbringen würden. „Auch die Eltern greifen aus den verschiedensten Gründen auf diese Medien zurück. Dieses Verhalten kann das Leben ihrer Kinder dramatisch beeinflussen“, erklärt die Wissenschafterin.


Wie Sie sprechen sollten, damit Ihr Kind Sie versteht

Im Alter zwischen zwei und sieben Jahren stellen Kinder besondere Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit ihrer Eltern. Hier lernen Sie, wie Sie: die Gefühle ihrer Kinder verstehen und situationsgerecht reagieren. Ihre Kinder so loben, dass es diese unterstützt und nicht hemmt, gemeinsam mit Ihren Kindern Lösungen finden, die Kinder in Konflikten zur Kooperation motivieren, auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit Autismus und anderen Wahrnehmungsstörungen eingehen.

Joanna Faber/Julie King
Wie Sie sprechen sollten, damit Ihr Kind Sie versteht
Taschenbuch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-96304-026-9
24 €


Für ihre Studie hat sie 549 Teilnehmer aus unterschiedlichen Ländern befragt, die alle mindestens zwei Kinder im Alter zwischen fünf und 18 Jahren haben. Diese mussten unter anderem genau angeben, wie viel Zeit sie mit digitalen Medien verbringen, wie sie ihre und die geistige Gesundheit ihres Nachwuchses einschätzen und welche Erziehungspraktiken sie einsetzen. Das Ergebnis zeigt, dass Eltern mit höherem Stresslevel sich öfter vor dem Bildschirm entspannen und dabei nicht selten die Erziehung vernachlässigen. „Sie ziehen sich dann oft zurück, sind nicht für ihre Kinder präsent und setzen negative Erziehungspraktiken ein“, fasst Zhang zusammen.

Nicht nur negative Effekte

Die Forscherin betont allerdings auch, dass nicht gleich der gesamte Medienkonsum in einem negativen Zusammenhang mit den angewandten Erziehungsmethoden gestellt werden kann. Eine Ausnahme sei zum Beispiel die Möglichkeit, über digitale Kanäle soziale Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. In einem solchen Fall könnten manchmal auch positive Effekte wie eine Reduktion der Angstlevel und eine geringere Anfälligkeit für Depressionen auftreten, heißt es in der Studie.

„Die Medienlandschaft, die einer Familie zur Verfügung steht, wird immer größer“, meint Dillon Browne, Co-Studienautor an der University of Waterloo. „Da diese Entwicklung immer weiter voranschreitet, ist es umso wichtiger, dass wir uns im Klaren darüber sind, welche Auswirkungen dieses Verhalten auf unser eigenes Wohlbefinden und das unserer Kinder haben kann.“

Markus Steiner/pressetext.redaktion




Bei Ranji werden Träume wahr

Der Familienfilm „Träume sind wie wilde Tiger“ von Lars Montag

Toll, wenn Träume auch mal irgendwo wahr werden. Denn, was hilft die Beschwörung, seinen Träumen zu folgen, wenn sie grundsätzlich verpuffen. Für den zwölfjährigen Ranji aus Mumbai wird sein Traum wahr. Und was dann passiert ist einfach noch viel besser: Das Leben geht ganz normal weiter und ist offen für neue Träume. Aber jetzt noch mal von vorne:

Für den zwölfjährigen Ranji aus dem bereits erwähnten indischen Mumbai ist Bollywood das Größte. Filme, Songs und Tanz machen ihn glücklich. Zu seinem Unglück entscheiden sich seine Eltern, nach Deutschland auszuwandern. Hier begegnet er erst einmal Ausgrenzung, Ausländerfeindlichkeit und Mobbing. Nur lässt sich Ranji davon nicht unterkriegen.

Eine Culture-Clash-Komödie für die ganze Familie nennt Lars Montag seinen neuen Film. Und tatsächlich ist ihm mit „Träume sind wie weiße Tiger“ eine absolut schwungvolle Komödie gelungen. Dabei glänzen Shan Robitzky als Ranji und Annlis Krischke als Toni in ihren Hauptrollen. Neben ihnen spielen Murali Perumal, Sushila Sara Mai, Anne Ratte-Polle, Simon Schwarz, Irshad Panjatan, Herbert Knaup, Nina Petri alle so liebevoll gezeichnete Charaktere. Ein besonders großes Kompliment gilt jedoch Prumal. Er spielt einen so wundervoll vielschichtigen und in innere Kämpfe verwickelten Vater, den man einfach liebhaben muss.

ranji

Der Film hält viel Spannendes und Überraschendes parat, so dass die Zeit schnell vergeht. Hier tanzen und singen sogar die Jungs. Sie glänzen mit Einfallsreichtum und Kreativität. Dabei spricht die Geschichte viele Familien- und grundlegende Daseinsthemen an. Etwas sehr oberflächlich gehen die Filmemacher mit dem Thema „Mobbing“ um. Für viele Kinder ist das ein sehr ernstes Thema. Dem wird die Handlung des Films, die das Thema einfach irgendwann aufgibt, nicht gerecht. In allen anderen Bereichen glänzt der Film und ist bestimmt eine schöne Bereicherung für einen Familiennachmittag mit jeder Menge Gesprächsstoff.

Gernot Körner

Filmografie

Träume sind wie wilde Tiger

Regie: Lars Montag
96 Minuten
FSK 6

Der Film ist digital und auf Youtube erhältlich




Kinder brauchen ZEIT für ihre Ent-wicklung

Ein Plädoyer zur notwendigen Entschleunigung des Kita-Alltags

Schon seit vielen Jahren beklagen Kindheitsforscher, ganzheitlich orientierte Kinderärzte sowie zeitorientierte und wachsame elementarpädagogische Fachkräfte den Umstand, dass Kindern immer weniger Zeit zur Verfügung gestellt wird, um eigenen Interessen in Ruhe nachgehen zu können, eigene Vorhaben ungestört umzusetzen oder auch Zeiten zu genießen, ohne etwas Großartiges im Sinne einer bewegungsaktiven Handlung zu unternehmen. Das betrifft sowohl viele Kinder in ihrem Elternhaus als auch in zunehmendem Maße in von ihnen besuchten Kindertageseinrichtungen. Ein Blick in eine Reihe von Kindertageseinrichtungen macht dies deutlich, indem es festgelegte (starre) Tagesablaufstrukturen, fest verankerte Wochentagaktivitäten und ausgefüllte Tagespläne gibt, die den Aufenthalt der Kinder takten.

Kindheit braucht Zeit

Die Gründe für den Raub von Kinderzeiten sind vielfältig. Sicherlich haben sich einerseits die Lebensbedingungen und -umstände vieler Eltern und der elementarpädagogischen Fachkräfte – nicht zuletzt durch eigene biographische Erfahrungen in einer zunehmend immer stärker technisierten und sich im Wandel befindlichen Welt – verändert und beschleunigt. Andererseits hat die überaus starke und rasante Aufwertung des Begriffs der „frühkindlichen Bildung“ mit all ihren vielen Förderfacetten ebenfalls dazu beigetragen, dass sich in der Gestaltung der Elementarpädagogik Vieles, Grundlegendes verändert hat. Und das nicht nur zum Vorteil/ Wohl von Kindern. Gleichzeitig wurde bzw. wird dadurch allerdings der eigene Entwicklungszeitraum Kindheit zunehmend, teilweise vollkommen funktionalisiert, so dass das Zeitempfinden bei Kindern verkümmert, weil außengesteuerte Zeitrhythmen und Zeitmuster den Alltag der Kinder bestimmen. 

Zeit bewusst genießen und wahrnehmen

Zeit ist eines der 16 seelischen Grundbedürfnisse des Kindes (vgl. Krenz 2013). Sie ist eine äußerst wichtige Ressource, die dem Kind die Möglichkeit gibt, sich selbst als eine individuelle, unverwechselbare Person kennenzulernen und ebenso eigene Fähigkeiten wahrzunehmen als auch fehlende/ hinderliche Fertigkeiten zu bemerken, Beziehungen zu anderen Menschen, der Natur, zu Tieren und Gegenständen herzustellen und aufzubauen, Beziehungsqualitäten einschätzen zu können und zu differenzieren, Zu- und Abneigungen zu entwickeln, innewohnende Gefühle zu spüren und auszudrücken, besondere Interessen zu bemerken und diesen nachgehen zu können, persönliche Stärken und Schwächen tiefer gehend zu erkunden, individuell geprägte Stärken zu stärken und Chancen zu ergreifen, Schwächen zu schwächen, die eigene Selbstständigkeit auszubauen, mit der Zeit soziale Kompetenzen aufzubauen und somit einen sicheren Platz in seiner Lebenswelt zu entdecken, in der sich das Kind gut aufgehoben und wertschätzend behandelt fühlt.

Zeit- und Raumdiebe

Eine große Reihe von „Auffälligkeiten“ bei Kindern (wie z. B. regressive, aggressive, gewalttätige Ausdrucksweisen wie auch psychosomatische Erkrankungen) sind häufig eine Folge aus den drei großen entwicklungshinderlichen Bedingungsfeldern im Alltagsleben von Kindern. Erscheinungsformen eines irritierten Verhaltens bei Kindern zeigen sich aufgrund hauptsächlich folgender Zeit- und Raumdiebe:

–      Zerrissener Kinderzeiten

–      Eingeengter Kinderwelten/Kinderräume

–      Zerteilten Kinderlebens

Darin sind sich viele (inter)national tätige und forschende ErziehungswissenschaftlerInnen und Entwicklungspsycholog:innen aufgrund einer systemischen Betrachtung heutiger Kindheiten, kindeigener Ausdrucksformen und vorgegebener Entwicklungsbedingungen einig. Kurzum auf den Punkt gebracht bedeutet dies:


Was Kinder wirklich brauchen

In einer Zeit wirtschaftlicher und technologischer Wandlungen, veränderter Situationen des Wohnens und Zusammenlebens, in der mediale Konsumorientierung bereits das frühkindliche Leben mitprägt, sollten wir einmal einen Schritt zurücktreten und – ohne uns den modernen Möglichkeiten zu verweigern – darüber nachdenken, was unsere Kinder, seien es eigene oder im pädagogischen Rahmen anvertraute, zu einer positiven Selbstentwicklung wirklich brauchen.

Armin Krenz
Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik – Kinder sehen, verstehen und entwicklungsunterstützend handeln
Klappenbroschur, 200 Seiten
Burckhardthaus Verlag
ISBN: 978-3-944548-02-9
24,95 €


Erwachsene bieten Kindern immer mehr und immer häufiger Räume an, die in ihrer Gestaltung auf eine bestimmte Funktionalität ausgerichtet sind, Kindern werden Tätigkeiten von Erwachsenen – mit festen Erwartungsvorstellungen ausgestattet –vorgegeben, die Kinder möglichst zu erfüllen haben und dabei wird das Ganze in vorher festgelegten Zeiteinheiten eingebettet, in denen sich das Kind dem vorgesetzten Angebot zuzuwenden hat. Erfahrungsräume werden arrangiert, künstliche Situationen, die mit dem Alltagserleben des Kindes teilweise oder gar nichts zu tun haben, hergestellt (= Konfrontation mit einer Wirklichkeit aus 2. Hand), um Leistungen des Kindes mit zuvor erfassten Lernzielen in eine Übereinstimmung zu bringen.

Zeit: ein fortwährendes Thema

Schon im Jahre 1990 erschien in der Zeitschrift PSYCHOLOGIE HEUTE ein Artikel von Helga Zeiher unter dem Titel „Kindheit: organisiert und isoliert“ (Heft 2/1990), „DIE ZEIT“ berichtete vom „Ende der Kindheit“ (19.04.2000, Nr. 17) und in der Zeitung „Die Woche“ lautete die Überschrift eines lesenswerten Beitrags „Kaputte Kindheit“ (03.01.1997, Nr. 2). Schon vor über 2 ½ Jahrzehnten mussten sich also Eltern, ErzieherInnen und PolitikerInnen die Frage nach dem „Recht des Kindes auf den heutigen Tag“ von Janusz Korczak stellen und für Veränderungen sorgen. Der bekannteösterreichische Lehrer und Schriftsteller Ernst Ferstl hat offensichtlich leider Recht, wenn er meint: „Wir brauchen viele Jahre bis wir verstehen, wie kostbar Augenblicke sein können“. (Ferstl, E.: Kurz und fündig. Gedanken mit Tiefgang, 1995)

Anstatt sich den tatsächlichen Entstehungsbedingungen des erwartungswidrigen Verhaltens bei Kindern zuzuwenden, diese fachkompetent und differenziert zu identifizieren und nachhaltige, entwicklungsförderliche Bedingungen in Gang zu setzen, werden Kinder im Sinne eines medizinischen Modells klassifiziert und mit Begriffsetikettierungen bewertet, um sie als veränderungswürdig in Maßnahmen zu bringen, die bei ihnen eine Verhaltensänderung bewirken soll. Strukturelle, externe, institutionsbedingte, personale Ursachen werden dabei häufig ausgeblendet, so dass das Kind als Symptomträger in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wird.

Prof. Dr. Klaus-Peter Brinkhoff hat das Thema „Kindheiten in der heutigen Zeit“ in seinem Beitrag „Kindsein ist kein Kinderspiel“ (in Mansel 1996, 25-59) mit zutreffenden Begriffen sehr deutlich auf den Punkt gebracht, wenn er unter anderem von einer abgefederten „Airbag-Kindheit“, einer gnadenlosen „Konsum-Kindheit“, einer beherrschenden „Medien-Kindheit“, einer mit allen Weltereignissen konfrontierten „Erste-Reihe-Kindheit“, einer früh angelegten „Karriere-Kindheit“, einer funktionsgestalteten „Insel-Kindheit“, einer künstlich angebotenen „Entsinnlichten Kindheit“, einer durch den Verlust der Kindheit geprägten „Gefährdete Kindheit“ und schließlich einer „Ungewissen Kindheit“ spricht. In allem ist ein roter Faden zu erkennen, der sich durch diese Begriffs-Kindheiten zieht: Kindern fehlt ihre Zeit, um mit Ruhe und in unstrukturierten Räumen eigene Erfahrungen zu sammeln, unbelastet von Erwachsenenproblemen und nicht mit fremdbestimmenden Vorgabestrukturen überfrachtet.  

Von Kindern lernen

Kinder benötigen ihr eigenes, für sie selbst noch nicht begreif- und erfassbares Zeitmaß (Jean Piaget), in/ nach dem sie ihre Wahrnehmungen und Beobachtungen nach subjektiven Bedürfnissen ausrichten und fokussieren dürfen, um sich mit ihrer selbstmotivierten Konzentration und intrinsisch gelenkter Aufmerksamkeit ihrem eigenen Attraktivitätsobjekt -handeln zuwenden können. Überall dort, wo solche Wahrnehmungsprozesse im Kind unterbrochen oder gar unterbunden werden, bleibt im Kind eine unfertige, unbearbeitete Situation vorhanden und sorgt im weiteren Verlauf für halbherzige oder nicht vorhandene Aufmerksamkeit auf das neue Wahrnehmungsobjekt. NeurowissenschaftlerInnen stellen bei Kindern eine zunehmende Anhäufung von Stresshormonen (= biochemische Botenstoffe) durch besondere Belastungen fest, indem bei eher kurzzeitigen Belastungserlebnissen so genannte Katecholamine (Adrenalin + Noradrenalin) und bei dauerhaften Belastungen so genannte Glukokortikoide in der Nebenniere gebildet und freigesetzt werden. Über die weitere Vermittlung des Corticotropin-releasing Hormons wird Adrenocorticotropin freigesetzt, das wiederum die Synthese und Ausschüttung des Glukokortikoids Cortisol aus der Nebennierenrinde stimuliert. So entsteht im Kind der folgende Gefühlsimpuls: Flucht oder Kampf, Desinteresse bzw. Abwendung vom Angebot oder Auflehnung/ aggressive Abneigung gegen das, was das Kind um sich herum erlebt. ZEIT und RAUM würde eine solche verfahrene Situation erst gar nicht aufkommen oder sich zuspitzen lassen. (Ellneby, Y, Kinder unter Stress, 2001 / Carter, R., Das Gehirn, 2009)

Fragen, die daher im Sinne einer tatsächlichen Kindorientierung immer dringlicher im Sinne einer zeitgebenden Entwicklungsunterstützung angezeigt sind und in den Vordergrund gerückt werden müssen, lauten wie folgt: Was braucht das Kind an Unterstützung im Hinblick auf seine Interessen und Bedürfnisse? Welche aktive Begleitung braucht das Kind, um seine subjektiv ausgerichtete Neugierde ausdrücken und handelnd ausprobieren zu können? Womit kann dem Kind geholfen werden, um seine innewohnenden Ressortkompetenzen zu entdecken und diese handlungsaktiv in Erfahrung zu bringen?

Lernen heißt:  Alte Erfahrungen neu durchdenken. (Willy Möbius)

Um aus einer entwicklungsfeindlichen Beschleunigungspädagogik herauszufinden und zu einer entschleunigen Entwicklungsbegleitung der Kinder zu gelangen bedarf es vor allem folgender Umkehrschritte:

  1. Entsprechend der UN-Charta „Rechte des Kindes“ ist das Wohl des Kindes vorrangig vor allen anderen Gesichtpunkten zu berücksichtigen (Art. 3;1), einschließlich des Rechts auf Ruhe und Freizeit, Spiel und … Ruhe (Art. 31;1).
  2. Insofern darf auch das Thema Partizipation weder als ein zusätzlicher, funktional gestalteter Programmpunkt in die Bildungslandschaft aufgenommen sondern stattdessen muss Partizipation von Anfang an in die Alltagspädagogik als permanenter Bestandteil einer demokratischen Pädagogik integriert werden.
  3. Die Pädagogik muss erkennen, dass Kinder die Lehrmeister für alle pädagogischen Fachkräfte sowie die Ausgestaltung der Pädagogik und damit nicht Lehrprogramme der Ausgangspunkt für Lernprozesse sind.
  4. Die Grundlagen für eine kindorientierte und zugleich professionell gestaltete Elementarpädagogik sind aus den Erkenntnissen entwicklungspsychologischer Gesetzmäßigkeiten, der Bindungs- und Bildungsforschung abzuleiten und müssen damit modernistische Tendenzen in ihre Schranken verweisen.
  5. Es muss endlich zur Kenntnis genommen werden, dass Kindheiten ein eigener Entwicklungszeitraum mit eigenen Merkmalen ist und besondere Erfordernissen notwendig macht.
  6. Die Elementarpädagogik muss sich wieder als eigenständige Fachdisziplin verstehen und aus der Einverleibung durch die Schulpädagogik lösen.
  7. „Bildung“ muss als ein Prozess der Selbstbildung des Kindes verstanden werden – das erfordert eine völlige Ablösung von teilisolierten und nicht nachhaltigen Förderprogrammen.
  8. Wenn sich die elementarpädagogischen Fachkräfte als aktive Entwicklungsbegleiter/innen des Kindes verstehen, erübrigt sich auch das Wort „Förderung“, das eine „Bildung aus 2. Hand“ immer wieder auf’s Neue aktualisiert und das Kind weiterhin in Beschlag nehmen würde.      

Literatur:

Bertram, Hans (Hrsg.): Reiche, kluge, glückliche Kinder? Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland. Beltz Juventa 2013

Bergmann, Wolfgang: Lasst eure Kinder in Ruhe! Kösel Verlag,  2011

Bergmann, Wolfgang: Das Drama des modernen Kindes, Beltz Verlag, 2006

Bühler-Niederberger, Doris: Lebensphase Kindheit. Beltz Juventa Verlag,  2011

Krenz, Armin: Kinder brauchen Seelenproviant. 6. Auflage, Kösel 2019

Krenz, Armin: Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik. Kinder sehen, verstehen und entwicklungsunterstützend handeln. Burckhardthaus-Laetare, Körner Medien UG 2014

Renz-Polster, Herbert: Menschenkinder. Artgerechte Erziehung – was unser Nachwuchs wirklich braucht. 2. Auflage. Kösel 2016

Prof. h.c. Dr. h.c. Armin Krenz, Honorarprofessor i.R., Wissenschaftsdozent für Entwicklungspsychologie und Elementarpädagogik




Bis zu 10.000 Euro für Kinder- und Jugendprojekte möglich

Noch bis zum 30.September Anträge für die Themenfonds des Deutschen Kinderhilfswerkes stellen

Für Initiativen, Vereine und Projekte der Kinder- und Jugendarbeit aus ganz Deutschland besteht noch bis zum 30. September 2022 die Möglichkeit, Anträge für die Themenfonds des Deutschen Kinderhilfswerkes zu stellen und bis zu 5.000 Euro zu erhalten. In Ausnahmefällen können Projekte sogar mit bis zu 10.000 Euro gefördert werden.

Ziel der Themenfonds ist die Bekanntmachung der Kinderrechte und die Verbesserung der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen unter dem Aspekt der Mitbestimmung. Anträge können Vereine, freie Träger, Initiativen, Elterngruppen, Kinder- und Jugendgruppen sowie Schülerinitiativen für noch nicht begonnene Projekte stellen.

Unterstützung von demokratischem und politischem Engagement von Kindern und Jugendlichen

Mit den Fonds „Kinderpolitik“, „Kinderkultur“, „Medienkompetenz“ und „Spielraum“ fördert das Deutsche Kinderhilfswerk Projekte, die das demokratische und politische Engagement von Kindern und Jugendlichen unterstützen, deren Mitbestimmung an Prozessen in Jugendeinrichtungen, Schule und Stadtteil ermöglichen, ihren Zugang zu Medien bzw. den kompetenten Umgang mit diesen verbessern, oder Kinder und Jugendliche bei der kreativen Auseinandersetzung mit für sie relevanten Themen fördern. Ebenso sollen Projekte Unterstützung erhalten, die bewegungsfördernde und interessante Spielorte im Wohnumfeld oder auf dem Schulgelände schaffen oder der Vernetzung, Sicherung bzw. Rückgewinnung von Spiel- und Aufenthaltsmöglichkeiten dienen.

Voraussetzung für eine Bewilligung ist, dass die Kinder und Jugendlichen an der Planung und Durchführung des Projektes aktiv beteiligt werden.

Bereits in der ersten Themenfonds-Förderrunde im Frühjahr 2022 sprach das Deutsche Kinderhilfswerk 42 Förderzusagen im Gesamtwert von rund 200.000 Euro für Beteiligungsprojekte aus.

Die Projekte fördern Kinder auf verschiedenste Weise:

Beim Projekt „Kinderstadt Meiningen TIBERANDA werden Kindern beispielsweise auf spielerische Art die Grundwerte einer Demokratie nähergebracht, beim Projekt „Jedes Kind ist ein Künstler“ aus Neukirch erkunden Kinder in Gruppen eigenständig Kunstausstellungen und arbeiten an einem eigenen Kunstprojekt. Beim medienpädagogischen Projekt „Maker Days for Kids Leipzig“ setzen Kinder eigene Ideen für Gamedesign, Film, Fotografie, Hörspiele oder 3D-Druck um. Und bei „Eine Box aus der Krise – die Butcherbox“ wird in der Stadt Stade ein Begegnungs- und Spielraum aus Schiffscontainern gebaut. 

Bereits 1904 Projekte mit 8.126.000 Euro gefördert

Das Deutsche Kinderhilfswerk hat in den vergangenen fünf Jahren durch seine Förderfonds 1.904 Projekte mit insgesamt rund 8.126.000 Euro unterstützt. Durch die Fonds erhalten Projekte, Einrichtungen und Initiativen finanzielle Unterstützung, die die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen unabhängig von deren Herkunft oder Aufenthaltsstatus zum Grundsatz ihrer Arbeit gemacht haben. Dabei geht es vor allem um Beteiligung in Bereichen demokratischer Partizipation, um Chancengerechtigkeit und faire Bildungschancen für benachteiligte Kinder, gesunde Ernährung oder kinder- und jugendfreundliche Veränderungen in Stadt und Dorf, auf Schulhöfen, Kita-Außengeländen oder Spielplätzen. Die Schaffung sinnvoller Freizeitangebote und Möglichkeiten zur Entwicklung einer kulturellen Identität und Medienkompetenz sind ebenso Förderschwerpunkte.

Weitere Informationen zu den Themenfonds des Deutschen Kinderhilfswerkes: http://www.dkhw.de/themenfonds.

Alle Informationen zur Bewerbung für eine Förderung finden Sie auch unter https://www.dkhw.de/foerderfonds.




50.000 Unterschriften für den Erhalt der Sprach-Kitas gesucht

GEW: „Keine Einsparungen auf Kosten der frühkindlichen Bildung – mit Weitblick in die Zukunft investieren!“

„Wir machen uns gemeinsam für Erhalt und Ausbau des Programms stark, weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“, sagt Doreen Siebernik, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Tausende Fachkräfte, Kinder und Familien werden im Ungewissen gelassen und sind sehr besorgt. In den Kitas gibt es viel Unverständnis und Wut über die Prioritätensetzung der Bundesregierung. Es ist ein katastrophales Zeichen und eine bittere Enttäuschung für all jene, die Hoffnungen in die Ampel-Koalition gesetzt haben.“

„Der Spracherwerb ist das Grundgerüst für erfolgreiches Lernen.“

In den Bundesländern werde gerade hektisch versucht, gewachsene Strukturen aus Eigenmitteln zu retten. Jedoch fehle es an Geld. Die Folge: Die Mittel müssten an anderer Stelle eingespart werden. „Anstatt die frühkindliche Bildung zukunftsfähig zu machen, hat die Bundesregierung einen Verteilungskampf in Gang gesetzt“, betont Siebernik. Es sei kaum abzusehen, welchen enormen Schaden die Pläne anrichten und wie viele qualifizierte Fachkräfte das Arbeitsfeld perspektivisch verlassen werden. Es sei skandalös, so Siebernik, dass die Bundesregierung hunderttausenden Kindern die Startchancen in unserer Republik dramatisch verschlechtern wolle: „Der Spracherwerb ist das Grundgerüst für erfolgreiches Lernen.“

Noch im Koalitionsvertrag Weiterentwicklung angekündigt

Noch im Koalitionsvertrag hatten die Parteien der Ampelregierung angekündigt, das Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ weiterzuentwickeln und zu verstetigen. Im Haushaltsentwurf für 2023 sind jedoch keine Gelder eingestellt. Damit würde das Programm Ende 2022 auslaufen.

Die Kampagne „Sprach-Kitas retten“ macht sich für die Fortsetzung des Bundesprogramms „Sprach-Kitas“ stark. Zentrales Element der Kampagne ist eine Petition an den Bundestag, die unter diesem Link aufgerufen und unterzeichnet werden kann https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2022/_08/_01/Petition_137016.nc.html

Ziel sind 50 000 Unterschriften in vier Wochen, damit es im Bundestag eine öffentliche Anhörung gibt. Homepage zur Kampagnenseite: www.sprachkitas-retten.de




Eine Pilgerreise ist eine Entwicklungsreise zu sich selbst

Ein Interview mit Brigitte Falkenhain zur ihrem Buch und ihren Erfahrungen auf dem Pilgerweg

Brigitte Falkenhain schenkte sich nach ihrer Zeit als Erzieherin und Heilpädagogin eine längere Pilgerreise auf dem Jakobsweg. Daraus ist das Buch „Auf dem Jakobsweg – Ein persönlicher Erlebnisbericht und zugleich eine Reise zu sich selbst“ entstanden. Wir haben uns dafür interessiert, welche Rolle dabei ihre Erfahrungen als pädagogische Fachkraft gespielt haben.

Sie haben sich während Ihrer Zeit im Kindergarten dafür entschieden, sich eines Tages auf den Jakobsweg zu machen. Was waren ihre Motive dafür?

Brigitte Falkenhain: Meine Pilgerreise war die Erfüllung eines lang gehegten Traumes und zugleich ein persönliches Geschenk an mich.  Damit läutete ich für mich ein neues, überaus spannendes Lebenskapitel ein. Mit einem zuvor absolvierten Spanisch-Kurs an der Volkshochschule war ich bereit, neue, mir völlig unbekannte Wege zu gehen, bisher verschlossene Türen zu öffnen und in unbekannte Welten einzutauchen.

Ich wollte mich erleben: ohne einen festgelegten geregelten / geplanten Tagesablauf, wollte mich treiben lassen und von unbekannten äußeren und inneren Wegen leiten lassen. Darauf freute ich mich. Ja, und auch einmal zu erleben, wie ich alleine, in der für mich noch unbekannten Welt so ticke; das machte mich sehr neugierig auf mich selbst.

Welche Rolle hat dabei Ihre Tätigkeit als Erzieherin gespielt?

Für Kinder Bündnispartnerin, Entwicklungsbegleiterin und auch so manches Mal Anwältin zu sein, macht den pädagogischen Beruf zur Berufung, behaftet mit Pflichten, die verpflichten. Diese gilt es mit Professionalität und Emphatie jeden Tag auf’s Neue zu leisten. Der Beruf fordert, gibt aber auch unglaublich viel, doch dabei darf man sich selbst nicht aus den Augen verlieren, um nicht zu einem ‚hilflosen Helfer’ zu werden, in Routinen zu verharren oder irgendwann einmal kraft- und motivationslos im ‚Außen’ dahinzuleben. Eine Selbstbeobachtung des eigenen Gesundheits- und Seelenzustandes ist notwendig: nicht immer habe ich diese im Auge behalten. So manches Mal stand die Pflicht, also die Arbeit im Vordergrund und ich habe mich übersehen. Mein Leitsatz: „Du kannst nur jemanden lieben, wenn du dich selbst liebst“ hat mich begleitet und mich des Öfteren wieder auf den für mich richtigen und damit stimmigen Lebenspfad geführt.

Nach meinem langjährigen beruflichen Weg als Erzieherin, Heilpädagogin und Leiterin einer Kindertagesstätte schenkte ich mir eben den Weg mit mir in Form einer Pilgerreise.

Sie haben auf der Reise nicht nur viel gesehen, sondern auch viel über sich erfahren. Was waren für Sie die wesentlichen Erkenntnisse der Reise?

Als bedeutendstes Erkenntnis- und Erfahrungsbündel kann ich Folgendes beschreiben: Mit freudvoller, spannungsgeladener, ungebändigter Abenteuerlust, kaum zu bremsender Neugier und gleichzeitig tiefer Zuversicht habe ich mich auf den Jakobsweg begeben, und dies mit einem anfangs unglaublich schweren Pilgerrucksack. Recht bald schaffte ich es, mein Gepäck auf ein Minimum zu reduzieren, äußerlich anscheinend Überflüssiges loszulassen, Ballast sprichwörtlich abzuwerfen, um eine bessere Beweglichkeit zu spüren. Es war ein Gefühl der Freiheit und Freude zu erfahren, wie wenig es braucht, um gelassen und zufrieden zu leben, indem man sich selbst auf das Wesentliche konzentriert. Und ich erlebte auf meiner Pilgerreise eine ganz besondere Zeit mit mir. Sie war von unglaublicher Vielfalt mit einem kulturellen, spirituellen und legendären Zauber überzogen: Stunde für Stunde, Tag für Tag. Über die vielen gegangenen Kilometer habe ich durch äußere Wahrnehmungen und innere Auseinandersetzungen, reflexive Gedanken und innere Klärungen eine zunehmende Stimmigkeit in mir erfahren, die mich stetig ein Stück näher zu mir selbst geführt hat. Die äußere Fußreise setzte sich immer wieder aufs Neue in meinem Inneren fort und verhalf mir zu einer nach innen gerichteten Beobachtung, die im aktiven Berufsleben zu kurz gekommen ist. Unzählige Fügungen haben mir emotionalen Reichtum geschenkt. So manches Mal suchte ich Gründe, warum etwas so gelaufen ist, ob es ein Zufall oder eine Fügung war und endete damit stets bei mir, verbunden mit philosophischen und auch religiösen Gedankengängen.


Von den Pyrenäen zum Atlantik

Als Einleitung zu ihrem neuen Lebensabschnitt nach ihrer Zeit als Erzieherin und Heilpädagogin wählt Brigitte Falkenhain eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg. Aus dieser nimmt sie ihre Leser mit und lässt si an ihren Erlebnissen auch mit zahlreichen Bildern teilhaben. Startpunkt ist das am Fuße der Pyrenäen gelegene französische Städtchen Saint-Jean-Pied-de-Port. Der Weg führt sie westwärts durch Nordspanien auf dem Camino Francés zum Wallfahrtsort Santiago de Compostela und weiter bis an den Atlantik zum Fischerdorf Fisterra.

Brigitte Falkenhain
Auf dem Jakobsweg – Ein persönlicher Erlebnisbericht und zugleich eine Reise zu sich selbst
Ölsner Verlag
Hardcover, 320 Seiten, viele Fotos
ISBN 978-3-9823790-4-3
www.oelsner-verlag.de
24,90


Die Pilgerreise auf dem Jakobsweg hat mein Leben verändert, wie ich es im Vorwege nicht für möglich gehalten hätte. Für mich ist es ein Bündel einzigartiger Erlebnisse und ein einzigartiger Weg, der voller Geheimnisse und vielfältiger Überraschungen steckt. Das gewonnene Alleinsein und die Einfachheit haben mich unterstützt, den Jakobsweg besinnlich abschließen zu können und ihn zugleich feinfühlig in meinem neuen Lebensabschnitt fortzusetzen. Ich gehe ihn gefühlt mit Sorgfalt und Achtsamkeit weiter. Das chinesische Sprichwort „Auch der weiteste Weg beginnt mit einem ersten Schritt“ macht auf eine oft vergessene Selbstverständlichkeit aufmerksam und zugleich immer wieder nachdenklich. Den einen Fuß von der Erde lösen und sich trauen, neue Orte zu suchen, unbekannte Türen zu entdecken und mutig zu öffnen, in unbekannte Welten einzutauchen, loszugehen und das Neue aufmerksam und sensibel als Türöffner für „Ent-Wicklungen“ zu begrüßen: das sorgt für einen mit Nichts auf der Welt zu bezahlbaren Schatz. Jeder Schritt ist ein Abenteuer auf einem Weg, gleich wo er vollzogen wird. So kann man seine Pilgerreise auch gut etappenweise gehen. Sie als eine mögliche Auszeit von zwei oder drei Wochen wahrnehmen, vielleicht einmal jährlich. Beim Pilgern gibt es keine Regeln. Die Entscheidung, ihn zu gehen, trifft am Ende jeder für sich selbst.

Nur wenn wir uns selbst kennen, können wir Kinder in ihrer Entwicklung unterstützen. Welche Rolle spielt die Selbsterkenntnis auf einer solchen Reise?

Die Selbsterkenntnis ist für mich ein überaus wichtiger Bestandteil in meinem Leben, das eigene Sein zu verstehen, den Sinn meines Lebens zu finden und mit gleicher Intensität die gefundenen Erkenntnisse auf den Beruf zu übertragen, um aus der eigenen Entwicklungsbegleitung eine authentische und hilfreiche Entwicklungsbegleiterin für Kinder sein zu können.  Die regelmäßige Teilnahme an Seminaren zur Selbsterfahrung hat mich für diese Bereitschaft und Sichtweise geöffnet und dabei sehr unterstützt. So gaben mir die Seminare Gelegenheit, aktuelle und wiederkehrende Themen und Fragestellungen meiner eigenen Entwicklung und Lebensgestaltung zur Sprache zu bringen und in einer achtsamen, wenn auch nicht immer leichten Weise zu klären. Ein Selbsterfahrungsseminar ist für mich ebenso bedeutsam wie eine Pilgerreise; sie haben Vieles gemeinsam und sind dennoch mit sehr unterschiedlichen Merkmalen ausgestattet.

Würden Sie die Reise auch ihren Kolleginnen empfehlen?

Ich kann nicht nur allen pädagogischen Fachkräften sondern jedem empfehlen, sich auf einen solchen Entwicklungsweg zu machen.
Eine Auszeit, gleich welcher Form, würde ich heute auch schon früher für mich in Erwägung ziehen, denn Dinge aufschieben, heißt oft, man findet Ausreden, halbherzige Begründungen, lässt sich von fantasierten Ängsten leiten, von Bequemlichkeiten abholen und tut sie nie.
Folgende Impulse kann ich heute allen entwicklungsmotivierten Kolleg:innen dazu mit auf den Weg geben:
– Jeder kann den eigenen Wunsch verspüren, auf alles, was einen umgibt, neugierig zu sein. 
– Indem sich stets jeder selbst sein bester Freund ist, kann er sein persönliches Wachsen fördern, seine eigene Grenzen hinterfragen und mutig überschreiten. Dabei die eigene Lebensgeschichte einzubeziehen, bringt immer wieder auf’s Neue spannende Herausforderungen für sich selbst sowie in den Alltag, lässt Verkrustungen aufweichen und eine neue Lebendigkeit in sich selbst und in Beziehungen spüren.
– Im Konjunktiv stehende Worte wie „sollte, hätte, könnte, würde“ aus dem eigenen Wortschatz streichen. Diese „be-wegen“ nichts und lassen mögliche Entwicklungen mit der Zeit absterben. Stattdessen ein klares „Auf geht’s!“ bevorzugen.
Jeder darf sich etwas wagen. Ist das Wagnis gelungen, entwickelt es die Freude und den Wunsch auf ein nächstes Abenteuer.

Mit dieser Einstellung wirkt man selbst entwicklungsförderlich in Bezug auf Kinder. So ist dieses Verhalten ansteckend und entwickelt ein unglaubliches Band zwischen Kindern und Erzieher:innen. Ungeahnte Potenziale entfalten sich und bringen ein neugierig machendes Umfeld mit sich. Es entsteht eine lebendige und lebensfrohe Pädagogik, die Kinder brauchen. Und eine solche Pädagogik wird heutzutage in dieser funktional gestalteten, primär kognitiv ausgerichteten, lernzielgeleiteten Pädagogik immer mehr zur Ausnahme, was sehr bedauerlich ist. Es muss ein ‚innerer Ruck’ durch die Pädagog:innen gehen, um äußerlich an hinderlichen Merkmalen zu rücken: und dabei ist eine Pilgerreise mehr als hilfreich.   

Was sind ihre nächsten Ziele?

Die wunderbare Erfahrung des Gehens auf kürzeren und längeren (Pilger)Wegen werde ich so oft wie möglich beibehalten. Auch das Schreiben werde ich in mein weiteres Leben mit Begeisterung integrieren. Gern werde ich mein Buch auf Lesungen vorstellen, von meinen persönlichen Pilgererlebnissen erzählen und auf Fragen dazu antworten. Ich möchte mit meinen tief verwurzelten Erfahrungen Menschen ansprechen und anregen, selber neue Entwicklungswege zu gehen und sich als Mitgestalter:in der Welt, in der wir leben, zu erleben.

Ich hoffe, dass ich viele Menschen dazu inspirieren kann, sich selbst auf die faszinierenden Spuren des Jakobsweges zu begeben. Ich möchte die Sehnsucht wecken, sich im Allgemeinen auf den inneren Weg zu machen und im Besonderen auf den Jakobsweg im Äußeren aufzubrechen.

Dazu wünsche ich „Buen Camino“

Das Interview führte Gernot Körner




Gehört auch Oma zur Familie?

Bilderbuch „Und deine Familie?“ von Charlotte Belliere und Ian de Haes

Auf dem Schulhof spielen die Kinder Familie. „Vater-Mutter-Kind“ hat man dazu früher gesagt. So etwa vor 40 Jahren. Damals war auch klar, dass Mädchen Röcke tragen und lange Haare haben. Jungen genau anders herum, Hosen und kurze Haare. Und alle waren weiß. So hautfarbenmäßig.

Heute sieht es auf dem Schulhof anders aus. Mädchen tragen Hosen oder Kleid, wie sie wollen. Allerdings sieht man keinen Jungen im Rock. An der Haarlänge lässt sich die Geschlechtereinteilung auch nicht ablesen. Und die weiße Hautfarbe ist genauso oft vertreten wie andere.

Es hat sich also viel verändert. Die Realität der Kinder sieht heute anders aus als noch vor wenigen Jahrzehnten. Ebenso verhält es sich mit der Familie. Und den eigenen verinnerlichten Geschlechterbildern der Kinder. So will das Mädchen nicht die Mama spielen, sondern den Papa. Andere wollen auch mitspielen. Damit entspinnt sich schnell eine rege Diskussion darüber, wer denn eigentlich zur Familie gehört. Das eine Kind findet es toll, Geschwister zu haben. Denn dann ist es nicht so langweilig. Ein anderes findet es toll, allein zu sein. Denn dann muss es seine Spielsachen nicht teilen.

Familie ändert sich ständig

Ein Mädchen lebt allein mit seiner Mutter, ein anderes hat zwei Mütter. Ein drittes wohnt allein mit seinem Vater. Da es für Mütterabwesenheit in dieser Gesellschaft gute Gründe geben muss – einfach so würde eine Mutter dem Vater ja nie ihr Kind zu Erziehungs- und Aufwachs-Zwecken überlassen – lebt diese in einem anderen Land.

Papas werden von den Kindern übrigens erstaunlich positiv gesehen. Offenbar schimpfen sie nicht häufiger als die Mütter. Und werden nicht mehr – wie noch vor 40 Jahren – als Bestrafungsinstanz eingesetzt. Dann gibt es noch die Trennungsfamilien, die Patchworkfamilien, nach der nächsten Trennung wieder neue Patchworkfamilien. Manche Kinder werden von Tagesmüttern betreut und manche von der Oma. Vor- und Nachteile der jeweiligen Lebenssituation bringen die Kinder erstaunlich klar in einem Satz auf den Punkt.

Aber das Familie-Sein ist heutzutage ganz schön vielfältig. Und damit kompliziert. Noch dazu verändert es sich immer wieder. Weshalb die Kinder am Ende lieber etwas Einfacheres spielen wollen: Schule…

Charlotte Bellieres Bilderbuch eignet sich hervorragend dazu, mit Kindern über das Thema „Familie“ ins Gespräch zu kommen. Nicht nur zu Hause, sondern auch in der Kita- oder Grundschul-Gruppe. Denn es zeigt, dass es viele unterschiedliche Familien mit vielen unterschiedlichen Angehörigen gibt. Und zwar ganz ohne Wertung.

Ralf Ruhl

Charlotte Belliere (Text), Ian de Haes (Ill.)
Und deine Familie?
Carl-Auer-Verlag 2022
www.carl-auer.de
46 Seiten, 21×27 cm
ab 4 Jahre
ISBN 978-3-96843-032-4
19,95 Euro