Ganzheitliche Pädagogik – Modewort oder echtes Konzept

Eine tiefgreifende Analyse von Armin Krenz zeigt, was es bedeutet, Kinder in ihrer gesamten Persönlichkeit zu begleiten – jenseits von Förderprogrammen, normierten Bildungszielen und pädagogischen Modebegriffen.

Es gibt kaum einen pädagogischen Ansatz, der in seiner Beschreibung nicht darauf hinweist, dass ihm ein ganzheitliches Menschenbild zugrunde liegt. Und in fast jeder Einrichtungskonzeption oder im Leitbild nahezu aller sozialpädagogischer bzw. pflegeorientierter Einrichtungsträger ist der Satz zu lesen, dass die Grundlage der Arbeit in einem ganzheitlichen Personverständnis fußt.

So begegnet uns der Begriff Ganzheitlichkeit immer wieder auf vielfältige Weise. Ärzt*innen weisen auf ihre „Praxis für ganzheitliche Medizin“ hin, dann gibt es eine „Internationale Gesellschaft für ganzheitliche Zahnmedizin e.V.“. Kurkliniken nutzen in ihrer Beschreibung den Hinweis auf eine „ganzheitliche Behandlung“. Tierheilpraktiker*innen und Tierärzt*innen bieten eine „ganzheitliche Aromaheilkunde für Tiere“ an. Senioreneinrichtungen beschreiben in ihrer Selbstdarstellung, dass sie eine „ganzheitliche Alten- und Krankenpflege“ durchführen. In vielen Konzepten von heilpädagogischen Institutionen ist zu lesen, dass die „ganzheitliche Förderung der Kinder und Jugendlichen“ im Mittelpunkt steht. Und einige Ausbildungsstätten bieten eine Ausbildung zum „ganzheitlichen Gesundheitsberater“ oder in „ganzheitlicher Psychotherapie“ an.

In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe.
(Johann Wolfgang von Goethe)

Betrachtung und Analyse

In diesem Zusammenhang darf, ja muss unter einer professionellen Betrachtungsanalyse die Frage gestellt werden, was sich eigentlich hinter diesem Wort Ganzheitlichkeit verbirgt, was damit genau gemeint ist (bzw. wird), ob das Wort „Ganzheitlichkeit“ nicht vielleicht in der Zwischenzeit nur zu einem geflügelten Wort geworden ist, das sich gut anhört und „up to date“ zu einem alltagsgebräuchlichen Attribut geworden ist, das aber vielleicht an seinem ursprünglichen Bedeutungswert an Aussagekraft verloren hat. So wie beispielsweise umgangssprachlich mit dem Begriff „Team(arbeit)“ umgegangen wird, obgleich bei einer sorgsamen Situationsanalyse der Kommunikations- und Interaktionskultur in vielen Kollegien von einer real existierenden Teamarbeit kaum etwas zu bemerken ist.

Denn eine Arbeitsgruppe bzw. ein Kollegium ist erst durch ganz besondere, sehr anspruchsvolle, nachhaltige und unverwechselbare Merkmale als Team zu bezeichnen! Werden dazu in Supervisionssitzungen, sogenannten Teambesprechungen oder im Rahmen einer Qualitätsevaluation dezidierte Alltagsbeobachtungen beobachtet bzw. anschließend thematisiert, kommen nicht selten Verhaltensmerkmale oder Verhaltensstrukturen einzelner Mitarbeiter*innen zum Vorschein, die mit den Verhaltensweisen eines Teammitgliedes unvereinbar sind. Begriffe und Realitäten stehen sich auch in der Pädagogik zunehmend widersprüchlich gegenüber!

So bedarf von Zeit zu Zeit jeder Begriff einer Überprüfung, einer tiefergehenden Betrachtung und Analyse, ob bzw. in welchem Maße und in welcher Ausprägung die unveränderlichen Kennzeichen eines Begriffehintergrundes tatsächlich vorhanden sind.

Der SINN wird verdunkelt, wenn man nur kleine fertige Ausschnitte des Daseins ins Auge fasst.
(Dschuang Dsi)

Annäherung an den Begriff „Ganzheitlichkeit“

Schon Plotin, ein antiker Philosoph (205 – 270 n. Chr.), hat auf die Gesamtheit und Untrennbarkeit von „Körper – Seele – Geist“ hingewiesen: „Die ganze Seele ist in jedem Teil des Körpers und ganz auch in seiner Gesamtheit.“ So kann bzw. muss der Mensch als ein System verstanden werden, dessen Anteile in einer permanenten Wechselwirkung miteinander verbunden sind. In dem Begriff „Ganzheitlichkeit“ steckt das Adjektiv „ganz“ und damit wird eine vollkommene VOLLSTÄNDIGKEIT erfasst. Hippokrates von Kos, griechischer Arzt und Lehrer in der Antike, hat schon zu seiner Zeit auf die Bedeutsamkeit einer zusammenhängenden Kontinuität hingewiesen, die sich nicht aus dem bloßen Aneinanderreihen von Funktionen, sondern aus dem gleichzeitigen Zusammenspiel der verschiedenen Anteile ergibt. Fühlen – Denken – Handeln, spüren – erfassen – begreifen, eine innerliche Resonanz erfahren – gedanklich beteiligt sein – erleben: immer geht es um eine gleichzeitige Verbindung der drei Anteile eines ganzen Systems.

Lernen mit Kopf, Herz und Hand

Besonders die Reformpädagogik, deren Anfänge schon im 17. und 18. Jahrhundert wirksam wurden, hat die hohe Bedeutung einer „ganzheitlichen Entwicklungsbegleitung von Kindern“ herausgestellt und darauf hingewiesen, dass nur durch reichhaltige sinnliche Erfahrungen ein ganzheitliches Lernen möglich sei. Als bekannteste Vertreter seien an dieser Stelle der Pädagoge Johann Amos Comenius (1592 – 1670), der Philosoph Jean-Jaques Rousseau (1712 – 1778) und der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827) benannt. Von ihm stammt der auch heute noch vielerorts bekannte und zitierte Spruch, dass es die Pädagogik schaffen muss, den Kindern ein „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ zu ermöglichen.

Die Naturwissenschaft bestätigt die pädagogischen und philosophischen Gedanken

Diese pädagogischen und philosophischen Gedanken und Ausführungen wurden schließlich durch vielfältige Forschungsergebnisse aus den Wissenschaftsfeldern der Neurowissenschaften, der Neurobiologie, Hirnforschung und Neuropsychologie untermauert. An dieser Stelle seien vor allem der italienische Neurophysiologie Giacomo Rizzolatti, der die Forschungsgruppe zum Thema Spiegelneuronen an der Universität Parma leitet, der portugiesisch-US-amerikanische Neurowissenschaftler António Rosa Domásio mit seinen Arbeiten zur Bewusstseinsforschung, der Hirnforscher, Philosoph und Biologe Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth, der deutsche Neurobiologie Prof. Dr. Gerald Hüther mit dem Schwerpunkt „experimentelle Hirnforschung“ und der Universitätsprofessor Joachim Bauer mit dem Schwerpunkt Psychoneuroimmunologie genannt.

Damit ist die Erkenntnis fundiert und abgesichert, dass nur ein Lernen mit allen Sinnen entwicklungsförderlich und nachhaltig ist.

Kein einzelner Teil konnte entstehen als in diesem Ganzen, und dieses Ganze selbst besteht nur in der Wechselwirkung der Teile.
(Friedrich Schelling)

Ein ganzheitliches Lernen ergibt sich aus der Aufnahme von und der Beschäftigung mit resonanzwirkenden Informationen im Gehirn

Das menschliche Gehirn kann mit einer riesigen Datenautobahn, Raststätten, verbundenen Neben- und Ausweichstrecken verglichen werden, die unentwegt durch Außenreize über unsere Augen, Nase, Mund, Ohren und die Haut genutzt wird, wobei Nervenzellen (= Neuronen) per elektrischer Impulse die aufgenommenen Reize ans Gehirn weiterleitet. Dabei stehen dem menschlichen Gehirn ca. 100 Milliarden Neuronen zur Verfügung, wobei von den etwa zehn Millionen Informationen, die pro Sekunde an unser Gehirn weitergeleitet werden, nur ca. 20 Informationsanteile ins Bewusstsein gelangen. Der gigantische Rest wird dabei als unbrauchbar bewertet und verworfen oder findet unterbewusst seinen Ankerplatz.

Chemische Botenstoffe (= Neurotransmitter) sorgen für die Weiterleitung von einer Nervenzelle zur anderen, die emotional bedeutsame Impulsinformationen über elektrische Impulse an empfängervorgesehene Nervenzellen zur Speicherung weitersenden kann. Und diese emotional belegten, gespeicherten Impulse steuern das Verhalten aller Menschen. Bei allen bedeutsam erlebten Situationen, Erlebnissen und Ereignissen sind jeweils einige Millionen von Neuronen beteiligt, aktivieren oder blockieren im weiteren Verlauf Sinnesorgane, provozieren weitere Gefühle und führen den Menschen in entwicklungsförderliche oder -hinderliche Ausdrucksformen, je nachdem welches Primärgefühl im Erlebnisvordergrund steht.

Ganz sein, nicht fragmentiert in unseren Handlungen, im Leben, in jeder Art von Beziehung, das ist das eigentliche Wesen geistiger Gesundheit.
(Krishnamurti)

Immer wieder geschieht also ein permanent vernetzter Austausch zwischen unserer rechten und linken Hirnhälfte, die mit ihren jeweiligen Arealen vor allem für intuitive, kreative und visuelle Prozesse, eine authentische Körpersprache, Spontaneität, Neugierde, Raumempfinden, Musik, Emotionen und die Erfassung ganzheitlicher Zusammenhänge sowie für analytisches und logisches Denken, für mathematische Fähigkeiten und unser Sprach- und Sprechverhalten zuständig sind. Früher ordnete man der rechten und der linken Hirnhälfte klar definierte, isolierte Aufgaben und Zuständigkeiten zu – diese Sichtweise ist inzwischen nicht mehr haltbar. Vielmehr sprechen wir von Gehirnarealen, so genannten Gehirnlappen, die zwar in jeweiligen Hirnhälften liegen, sich dennoch immer wieder mit anderen Gehirnlappen – auch aus der gegenüberliegenden Hirnhälfte vernetzen und somit zu einem dualen (= zweiseitig) Ganzen werden.

Fazit: Je mehr das Primärgefühl Freude provoziert und aktiviert wird, desto vielfältiger und intensiver wird das Netzwerk neuronaler Schaltungen mit den beteiligten Bereichen emotional gesteuerte intrinsische Motivation – allseitiges Denken – motivationales Handeln und nachhaltiges Lernen aktiviert.

Ein weites Wissensspektrum, ein kausales, logisch fundiertes und innovatives Denken sowie ein sozial verträgliches Handeln gründen sich demnach auf bedeutsamen Sinneswahrnehmungen, so wie uns schon der Pädagoge Johann Amos Comenius auf diesen Umstand hingewiesen hat. Doch leider scheint dieser grundlegende Umstand immer mehr in Vergessenheit zu geraten, wie ungezählte Beispiele nicht nur in der Elementar-, Schul- und Berufspädagogik, sondern auch in der Ausbildung (sozial-/heil-) pädagogischer, pflegerischer oder medizinischer Kräfte dies immer häufiger und deutlicher zeigen.

In der Liebe zum Ganzen tritt das Individuelle in Erscheinung.
(Krishnamurti)

Entwicklung und Lernen erfassen das „ganze Kind“ und keine Einzelbereiche

Das Ziel – entsprechend dem Erziehungs- und Bildungsauftrag, wie es für elementarpädagogische Einrichtungen im Sozialgesetzbuch 8. Band, II. Halbband, § 22, Nr. 2/1 + 2/3 sowie § 22a, Nr. 3 gesetzlich vorgeschrieben ist, dafür zu sorgen, dass unter der Maxime des Förderauftrags Erziehung, Bildung und Betreuung die Entwicklung des Kindes zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu unterstützen ist und sich dieser Auftrag auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung bezieht, wobei sich die pädagogische und organisatorische Tagesgestaltung an den Bedürfnissen der Kinder und Eltern orientieren soll, entspricht damit in vollem Umfang einer ganzheitlichen Pädagogik.

Hier geht es um den Auf- und Ausbau von grundlegenden, nachhaltig bedeutsamen Fähigkeiten (in deutlicher Abgrenzung zu Fertigkeiten!), was eben nur dann von Erfolg gekrönt sein kann, wenn Bedürfnisse der Kinder und Eltern (hier geht es nicht um Wünsche von Kindern oder Eltern!) zum Ausgangspunkt der Arbeit herangezogen und in einer Tagesgestaltung in der Form integriert werden, dass sich die Organisationsstruktur der Tagesabläufe den Bedürfnissen der Kinder anpasst. Dies entspricht exakt den Erkenntnissen, die sich aus den vielfältigen neurobiologischen, neuropsychologischen, lernpsychologischen und bildungswissenschaftlichen Forschungsergebnissen ergeben.

Alle Lernprozesse werden im Menschen dann in optimaler sowie effektiver Form aktiviert und unterstützt, wenn das Kind einerseits möglichst viele annehmbare Sinneseindrücke erleben und aufnehmen kann, sowie andererseits immer wieder emotionale, motorische und kognitive Impulse eine Symbiose bilden, die ungetrennt gleichzeitig miteinander verbunden sind. Dabei gewonnene Informationen speichern sich im Gehirn nachhaltig ab und stehen nicht wie bei sinnunverbundenen oder fehlenden Erlebnisergänzungen nebeneinander, wodurch im „limbischen System“, das vor allem der Verarbeitung von Emotionen dient, eine Unordnung entstehen würde und dadurch das Stresshormon „Adrenalin“ hervorgerufen würde, was sich beim Kind in Unruhe, Bewegungsaktivität und einer mit der Zeit zunehmenden eingeschränkten Wahrnehmungsoffenheit ausdrückt.

Kinder lernen dann am besten, wenn ihre Interessen aufgegriffen werden und sie ihrer stets vorhandenen Neugierde und ihrer großen Entdeckerfreude nachgehen können, wenn sie sich als Forschende erleben und dabei von tief erlebten Sinneseindrücken bei gleichzeitiger Bewegungsfreude und einer Suche nach Erkenntnisgewinn erfüllt sind.

Es ist unmöglich, zu wahrer Individualität zu gelangen, ohne im Ganzen verwurzelt zu sein. Alles andere ist egozentrisch.
(David Bohm)


Bücher von Armin Krenz bei BurckhardtHaus


Warum ist eine ganzheitliche Pädagogik angebracht und daher unverzichtbar?

Wie schon zuvor, wenn auch nur kurz erwähnt, sprechen neurobiologische Untersuchungsergebnisse für eine stets resonanzerzeugende Kommunikations- und Interaktionskultur, in der sich Kinder in ihrer Gedanken- und Handlungswelt verstanden und angenommen fühlen.

Gleichzeitig sprechen entwicklungspsychologische Erkenntnisse und daraus abgeleitete Grundsätze eine deutliche Sprache, wie Selbstbildungsprozesse in Kindern aktiviert sowie aufrechterhalten werden und welche Ausgangssituationen es unumgänglich erforderlich machen, eine ganzheitliche Pädagogik zu realisieren.

So gelten nach wie vor folgende Entwicklungsgesetze, die die Grundlage für eine aktive, engagierte und damit für eine entwicklungsunterstützende Pädagogik bilden:

  1. Jedes Kind ist aktiv, will aktiv sein und hat das starke Bedürfnis, immer wieder aufs Neue ein „Bewirker“ in seinem Lebensumfeld zu sein.
  2. Kinder wollen etwas leisten, wollen persönlich gesetzte Ziele erreichen und wenden dabei ihre ganzen Kräfte an, um die Vorhaben in Gänze umzusetzen.
  3. Jedes Kind ist von einer großen Neugierde geprägt und fühlt sich daher als Weltentdecker. Unbekanntes will erforscht werden, neue Erkenntnisse wollen wiederholt erprobt und erlebt werden, Grenzen wollen immer wieder überschritten werden, um in neue Erlebnisbereiche eintauchen zu können.
  4. Kinder entscheiden sich für das, was für sie in diesem Augenblick von höchstem Interesse ist. Sie sind (ebenso wie Erwachsene) subjektiv selektiv, wählen bei ihren Interessen und ihren Handlungserfahrungen das aus, was für sie den höchsten Bedeutungswert hat und der sich aus ihrer Einschätzung lohnt, näher erforscht und betrachtet zu werden.
  5. Das Kind bestimmt seinen Entwicklungsverlauf aktiv mit. Sprach man früher von einer Entwicklungsprägung, die sich aus der Dualität (= Zweiseitigkeit) von „Anlage und Umwelt“ ergibt, wurde schon vor Jahren eine neue Ausgangssituation – die Trinität (= Dreiheitigkeit) der Entwicklung – konstatiert: der Mensch besitzt genetisch vorhandene Dispositionen (= bipolare Bereitschaften), gleichzeitig wirken Umfeldeinflüsse auf das Kind und (!) schließlich bestimmt der Mensch durch seine Selbststeuerungskräfte seinen Entwicklungsverlauf aktiv mit.
  6. Dadurch, dass es kein „idealtypisches Durchschnittskind“ (was lange Zeit als Vorstellungsbild in der Pädagogik und Psychologie z.B. als „Entwicklungsgitter“ existiert hat und in vielen Einrichtungen auch heute noch genutzt wird) gibt und bei Kindern gleichen Alters kein Entwicklungsmerkmal automatisch gleich ausgeprägt ist (= interindividuelle Individualität), ist dafür zu sorgen, dass nicht alle Kinder zum gleichen Zeitpunkt dieselbe Aufgabe nach gleichen Vorgaben und einer gleichen Ergebniserwartung zu erledigen haben.
  7. Eine gelingende Identitätsentwicklung verlangt eine gleichzeitige Reichhaltigkeit der Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten im emotionalen, sensorischen, motorischen, ästhetischen, kommunikativen, sozialen und kognitiven Bereich in einer sicherheitsbietenden Atmosphäre.
  8. Bildung wird als ein aktiver Entfaltungsprozess des Kindes als Subjekt seiner Entwicklung verstanden, eingebettet in eine Auseinandersetzung mit inneren Bedürfnissen und äußeren Begleiterlebnissen, wobei das Kind die Möglichkeit hat, sich von inneren Ängsten und äußeren Zwängen zu befreien.
  9. Kinder entwickeln vor allem dann ein hohes Maß an Lernfreude, wenn sie sich als bedeutsam erleben können, wenn die Tagesaktivität für das Kind eine Alltagsbedeutung besitzt und wenn die vorhandene Entwicklungsatmosphäre entwicklungsmotivierend gestaltet ist. Diese drei Aspekte bilden eine Einheit und müssen stets in dieser Trinität miteinander vernetzt sein.
  10. Da Bildung in erster Linie aus einer Reihe von sinnlichen Erlebniserfahrungen besteht und erst in zweiter Linie unterschiedliche Erkenntnismöglichkeiten zulässt und mit sich bringt, entstehen Bildungsprozesse nicht durch kognitiv-sprachliche Informationsaussagen und auch nicht durch versachlichte Tätigkeitsangebote.
  11. Die psycho-soziale Gesundheit der sich entwickelnden Kinder verlangt eine kontinuierliche und feinfühlige Entwicklungsbegleitung – ganz besonders in den ersten drei Lebensjahren. Daher ist es von herausragender Bedeutung, dass Erwachsene den Kindern Sicherheit vermitteln und sie gleichzeitig vor verhaltensirritierende Stressoren schützen.
  12. Je sicherer sich ein Kind von (s)einer kontinuierlich vorhandenen (!) Bezugsperson angenommen und wertgeschätzt fühlt, desto ausgeprägter ist seine Aufnahmebereitschaft, sich mit einer gelösten Aufmerksamkeit und einem hohen Neugierdeverhalten einer vor ihm liegenden Aufgabe zuzuwenden.
  13. Kinder zeigen dann ein hohes Explorationsverhalten sowie sozial geprägte Beziehungen zu anderen Kindern, wenn Erwachsene sensibel und engagiert mit den Kindern kommunizieren und interagieren. 

Vor allem sorgen diese dreizehn Grundsätze für eine entwicklungsförderliche und nachhaltige Entwicklungsunterstützung des Kindes und bedürfen daher in ihrer Gesamtheit einer Berücksichtigung und einer konsequenten Aufnahme in die Alltagspädagogik, so dass eine ganzheitliche Pädagogik zur Realität wird und werden kann.

Legt man frühzeitig die Saat von Unsicherheit und Hemmung im Menschen aus, bedarf es später keiner Fesseln, ihm die Hände zu binden.

(Christiane Allert-Wybranietz)

Eine ganzheitliche Pädagogik grenzt sich deutlich von einer funktionsorientierten Förderpädagogik ab!

Ungezählte Beobachtungen in verschiedenen Kita-Einrichtungen und in den sechszehn Bundesländern und zusätzliche Berichte von vielen engagierten elementarpädagogischen Fachkräften zeigen in zunehmendem Maße, dass sich die Elementarpädagogik weiterhin immer stärker von einer ganzheitlichen Pädagogik entfernt. Dabei können ganz unterschiedliche Hintergründe und Auslöser eine Rolle spielen, die sowohl in einer mangelhaften bis ungenügenden Strukturqualität als auch in einer wenig kindorientierten Prozessqualität oder in einer unzureichenden Personqualität ihren Ursprung haben. Vor allem aber, um den bekannten Wissenschaftler und Kinderarzt, Dr. Herbert Renz-Polster zu zitieren, liegt der Hauptgrund für den permanent zunehmenden Verlust an Qualität wohl daran, dass es auch in der Elementarpädagogik „immer weniger um universelle Werte wie Liebe und Verständnis“ geht. „Vielmehr wird das Pferd mit klarem Blick nach vorn aufgezäumt – nach den Kompetenzerwartungen der Erwachsenen nämlich.“ (S. 14).

Woran liegt das? Für Renz-Polster ist der Grund nach ausreichenden und umfassenden Recherchen eindeutig:

„Seit den 1990er Jahren […] (wird) die kindliche Entwicklung immer stärker auf die Interessen des Wirtschaftsstandorts ausgerichtet. Dabei wird […] nicht das Kleid auf das Kind zugeschnitten, sondern das Kind auf das Kleid.“ (S.88). „Überspannte Erziehungs- und Bildungsziele wirken immer zerstörerisch auf die menschlichen Beziehungen – und damit auch auf die, deren Entwicklung auf Gedeih und Verderb auf funktionierenden Beziehungen beruht: die Kinder. […] (basierend auf dem Motiv), die Kinder zu gut geölten Funktionsgliedern der Gesellschaft zu machen.“ (S.209).  

Weiterhin heißt es: „Das Kind soll fit werden für den Wettbewerb“ (S.30), „Der auf Effizienz und Ertrag gerichtete neue Zeitgeist fordert jetzt auch das: die pädagogische Mästung von Anfang an“ (S. 31 und damit „sind jetzt die Erfahrungsräume der Kinder immer seltener natürlich, elementar und widerständig – sondern wohlgeordnet und für definierte didaktische Zwecke vorbereitet. Die Kindheit, so könnte man mit dem Soziologen Richard Münch sagen, wird nach und nach ‚zu einer Art totaler Besserungsanstalt‘ umgebaut,“ (S.66)

„Die Kindheit ist ein Persönlichkeitsrecht“ (S.232).

Und genau aus diesem Grund ist es notwendig, mit einer sehr deutlichen Klarheit auf die wesentlichen Merkmale einer ganzheitlichen Pädagogik hinzuweisen.    

Merkmale einer ganzheitlichen Pädagogik Merkmale einer funktionsorientierten Förderpädagogik
Sicherheit, Geborgenheit, ein Gefühl des Verstandenwerdens, ein persönliches Wertigkeitsempfinden, Angstfreiheit, ein Erleben von Freude und psychische und physische Gewaltfreiheit bilden die Grundlage für ein angenehmes Entwicklungsklima. Allzu schnell werden die für Kinder so bedeutsamen Grundbedürfnisse wie „ungeteilte (Spiel- und Aktivitäts-) zeiten“ durch Förderangebote unterbrochen, Ruheerlebnisse kaum ermöglicht und zugestanden, wobei gleichzeitig einem angenehmen Entwicklungsklima wenig Beachtung geschenkt wird. 
Die Fachkräfte gestalten ihre Arbeit auf der Grundlage eines aktuell vorhandenen Wissens aus den Bereichen der Neurobiologie, der Lernpsychologie, der Bildungs- und Bindungsforschung sowie der Entwicklungspsychologie. Die Fachkräfte gestalten ihre Arbeit auf der Grundlage ihres zurückliegenden Ausbildungswissens, persönlicher Vorlieben und alltagstheoretischer Annahmen sowie auf Basis von elterlichen oder trägerspezifischen Erwartungen.
Die Arbeitsschwerpunkte entstammen der gegenwärtigen Lebenswelt der Kinder. Die Beschäftigungsangebote leiten sich aus den länderspezifischen Bildungsrichtlinien ab.
Aktivitätsbedürfnisse und Interessen der Kinder werden zu Projekten gestaltet. Ausgewählte Bildungsbereiche werden Kindern im Kita-Alltag vorgegeben.
Im Vordergrund steht die Unterstützung der Selbstbildung des Kindes (= Bildung aus I. Hand). Kinder sollen durch Bildungsangebote mehr Bildung aufnehmen (= Bildung aus II. Hand).
Alltagsherausforderungen, mit denen Kinder konfrontiert sind, werden mit ihnen gemeinsam aufgegriffen und mit ihnen bewältigt. Alltagsherausforderungen, mit denen Kinder konfrontiert sind, werden entweder beiseitegeschoben oder für Kinder geregelt und gelöst.
Hier wird der Tagesablauf, die Alltagsgestaltung mit Kindern erlebt, wobei so viel wie möglich durch die Kinder selbst geschaffen wird.  Ein typisches Kennzeichen offenbart sich schon durch die häufig genutzte Formulierung: Unser Arbeitsauftrag bedeutet, nah am Kind zu sein.
Die Innen- und Außenräume bieten viele Erfahrungsmöglichkeiten zum Entdecken und Erforschen ihrer Lebenswelt. Die Innen- und Außenräume sind „genormt“, bieten wenig oder gar keine Erlebnis- und Entdeckungsmöglichkeiten.
Hier werden – soweit wie möglich und so oft wie möglich – Außenräume genutzt, um Kindern auch viele außerinstitutionelle Erfahrungs-, Wirkungs- und Bildungsorte nahezubringen. Die meiste Zeit verbringen die Fachkräfte mit den Kindern innerhalb der Kindertagesstätte, in den Funktions- oder Gruppenräumen und nutzen wenige Möglichkeiten, den Kindern Außenraumerfahrungen zu ermöglichen.
Fühlen, Denken, Handeln bilden eine Einheit im Kita-Alltag. Bildungsbereiche und -felder werden aufgeteilt in kognitive, motorische, soziale + emotionale Schwerpunkte.
Hier wird der Fokus auf die Entwicklung und Stärkung des Selbstwertgefühls, der emotionalen Intelligenz sowie der Empathie gerichtet. Der Fokus liegt vor allem auf einem Aufbau und einer Erweiterung der kognitiven Intelligenz sowie einer Soziabilität.
Hier stehen Projekte im Vordergrund der Pädagogik und keine themenorientierten Schwerpunkte. Hier stehen themenorientierte Schwerpunkte (mit Zeitbegrenzungen) im Vordergrund.
Sprachentwicklung geschieht durch eine sorgsame, alltagsgepflegte Kommunikationskultur – ebenso wie alle Bildungsfelder durch ein „concomitant learning“ (= ein Lernen nebenbei) in die Alltagsarbeit integriert werden. Die Förderung der Sprachentwicklung und die Bildungsvermittlung im Feld der MINT-Fächer werden den Kindern durch eigens dafür entwickelte Förderprogramme oder „Bildungseinheiten“ angeboten.
Hier gibt es weder eine „Vorschulpädagogik“ noch ein letztes „Vorschuljahr“; auch der Begriff der „Vorschulkinder“ ist hier nicht zu finden. Hier findet eine unsichtbare, aber vorhandene Trennung von ‚“spielen und lernen“ statt! Insofern werden „Vorschulprogramme“ mit „Vorschulkindern“ durchgeführt.
Im Vordergrund der Kita-Arbeit steht die „Unterstützung der Stärken der Kinder“ (= ressourcenorientierte Sicht). Ausgangspunkt der Bildungsangebote ist eine „Schwächung der Schwächen“ (= defizitäre Sicht).
Kinder werden in Entscheidungsprozesse miteinbezogen (Partizipation). Die Fachkräfte geben das Programm und damit die Beschäftigungsschwerpunkte vor.
Kinder werden als Akteure eigener Entwicklungsprozesse gesehen und lernen damit ihre Selbstständigkeits- und Autonomieentwicklung aufzubauen und zu stabilisieren.   Kinder entwickeln sich durch eine Angebotspädagogik zu Reakteuren und werden dadurch in ihrer Selbstständig-keits- und Autonomieentwicklung ausgebremst.
Die Fachkräfte verstehen sich als mitlernende Wegbegleiter*innen der Kinder. Die Fachkräfte verstehen sich als (be)lehrende Förderkräfte, die Kinder als „Lernobjekte“ ansehen.
Die Fachkräfte sind sich ihrer Vorbildfunktion bewusst und arbeiten an ihrer authentischen Haltung. Die Fachkräfte delegieren ihre beabsichtigten Erziehungserfolge an Angebote und Förderprogramme.
Die Fachkräfte sehen Selbsterfahrung und Reflexionsaufgaben als bedeutsamste, persönlichkeitsbildende Fortbildungsnotwendigkeiten an, um persönliche Kompetenzen zu vertiefen.  Die Fachkräfte besuchen hauptsächlich methodisch und didaktisch konzipierte Fortbildungsmaßnahmen, um thematische Kompetenzen zu verbessern.
Die Fachkräfte bieten den Kindern durch ihre wertschätzenden Verhaltensweisen Beziehungsangebote an, durch die die Kinder Bindungswünsche aufbauen.  Die Fachkräfte verstehen sich als Vermittler*innen von Inhalten, die durch methodisch und didaktische Merkmale strukturiert sind.
Die Alltagspädagogik ist durch „(vor)gelebte Werte“ (ethische, ästhetische, kulturelle, künstlerische Werte) gekennzeichnet.  Die Alltagspädagogik ist hauptsächlich durch normative Vorgaben (Zeitbegrenzung; Raumvorgaben; Verhaltenshinweise…) gekennzeichnet.
Innerhalb der Projekte werden die verschiedenen Spielformen mit Kindern erlebt, wobei dem Spiel die höchste Priorität des Lernens zugestanden wird. Zwar wird dem „Spiel der Kinder“ eine gewisse Bedeutsamkeit zugesprochen, doch gleichzeitig erhalten zusätzliche „‚Fördereinheiten“ eine höhere Wertigkeit. 
Kinder werden als individuelle Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Stärken gesehen und verstanden. Kinder werden vor allem als Sozialisationsobjekte betrachtet, wodurch die Individualität des Kindes wenig Berücksichtigung findet.
Ein Hauptaugenmerk liegt in der Unterstützung des Kindes, seine inne liegenden Fähigkeiten weiter auf- und auszubauen. Das Hauptaugenmerk ist hauptsächlich darauf ausgerichtet, kognitive, motorische und soziale Fertigkeiten zu verbessern.
Musik, Tanz, Theaterspiel und der Einsatz von Märchen eröffnet den Kindern vielfältige Möglichkeiten, erlebte Eindruckswerte in Ausdruckswerte umzusetzen. In teilheitlich geprägten Kitas werden „Bewegungsaktivitäten“ eher in Bewegungsräumen ermöglicht und eher viel an Tischen gearbeitet, gebastelt und mit Tischregelspielen die Zeit verbracht.  
Inklusion ist hier kein Instrument, sondern eine humanistisch geprägte Philosophie, die der Haltung der Fachkräfte entspricht. Inklusion wird in der Regel als eine Integration von Kindern mit besonderem Förderbedarf in eine Regelgruppe mit gleichen Regeln für alle verstanden. 

Diese Gegenüberstellung soll als Reflexionsanregung und -hilfe dienen, um wieder als Fachkraft eine entwicklungspädagogische Bodenhaftung zu bekommen bzw. eine bereits vorhandene Bodenhaftung als Selbststärkung zu erleben.

(Anmerkung: Eine ganzheitliche Pädagogik umfasst dabei alle Merkmale als Ganzes, die auf der linken Spalte aufgeführt sind.)

Diejenigen, die aus einer inneren Vernunft denken, können erkennen, dass alle Dinge durch Verbindungsglieder miteinander zusammenhängen, und dass alles, was nicht im Zusammenhang steht, zerfällt.
(Emanuel Swedenborg)

Nachwort

Es ist sicher sehr hilfreich, sich noch einmal etwas ältere Literatur vorzunehmen, um sich in der Entwicklungspädagogik erneut auf die Entwicklungsbedürfnisse und -notwendigkeiten von Kindern einzulassen. Auch um der kaum noch zu überschauenden Literatur bzw. der Fülle an ständig neuen Förderprogrammen, die einer funktionsorientierten und teilheitlich konzipierten Elementarpädagogik den Einhalt zu gebieten. Dabei sind vor allem folgende Publikationen grundlegend und besonders empfehlenswert (und alle noch erhältlich!):

  • Bergmann, Wolfgang: Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn der Erziehung. Verlag Kösel
  • Dolto, Francoise: MEIN LEBEN AUF DER SEITE DER KINDER. Eine ungewöhnliche Therapeutin erzählt. Kösel Verlag, München
  • Hauser, Uli: Eltern brauchen Grenzen. Lasst die Kinder Kinder sein. Piper Verlag, München
  • Hüther, Gerald & Nitsch, Cornelia: Wie aus Kindern glückliche Erwachsene werden. GRÄFE und UNZER Verlag, München
  • Krenz, Armin. Kinder brauchen Seelenproviant. Was wir ihnen für ein glückliches Leben mitgeben können. Kösel Verlag, München  
  • Lee, Jeffrey: Abenteuer für eine echte Kindheit. Die Anleitung. Piper
  • Lewis, Richard: Leben heißt Staunen. Von der imaginativen Kraft der Kindheit. Beltz Verlag, Weinheim
  • von Schönborn, Felizitas: Astrid Lindgren – Das Paradies der Kinder. Verlag Herder, Freiburg
  • Weber, Andreas: MEHR MATSCH! Kinder brauchen Natur. Ullstein Taschenbuch, Berlin
  • Weber, Andreas (mit Emma & Max): Das Quatsch Matschbuch. Das AKTIONSBUCH: großstadttauglich & baumhausgeprüft. Kösel Verlag, München

Es ist seltsam: Die Menschen klagen darüber, dass die Zeiten böse sind. Hört auf mit dem Klagen. Bessert euch selber. Denn nicht die Zeiten sind böse, sondern unser Tun. Und wir sind die Zeit.

(Aurelius Augustinus, Bischof und Kirchenlehrer, 354 – 430 n.Ch.)

Literaturhinweise:

Carter, Rita: Das Gehirn. Anatomie, Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Bewusstsein, Störungen. Verlag Dorling Kindersley, London 2019

Forstreuter, Hannelore: Was Kindertagesstätten für Kinder sein sollten… Praxisanleitung für eine ganzheitliche Bildungsarbeit. Books on Demand, Norderstedt 2025 

Gilsdorf, Rüdiger: Abenteuer Natur im Spiel. Eine Sammlung zum Erleben, Entdecken und gemeinsamen Lernen. Kallmeyer, Hannover 2023

Jackel, Birgit: Lernen, wie das Gehirn es mag. Praktische Lern- und Spielvorschläge für Kindergarten, Grundschule und Familie. VAK Verlag, Kirchzarten 2008

Ellneby, Ylva: Die Entwicklung der Sinne: Wahrnehmungsförderung im Kindergarten. 3. Aufl. Lambertus Verlag, Freiburg 2024

Kaul, Claus-Dieter: Die zehn Wünsche der Kinder. Ein ganzheitlicher Weg im Miteinander von Kindern und Erwachsenen. Brigg Verlag, Friedberg 2023

Klein, Ferdinand: Neue Herausforderungen der pädagogischen Fachkraft. Aus der Idee des Guten die Praxis in Kindertageseinrichtungen gestalten. Walhalla Fachverlag, Regensburg 2024  

Krenz, Armin: Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik. Kinder sehen, verstehen und entwicklungsunterstützend handeln. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2013 

Liebertz, Charmaine: Spiele zum Ganzheitlichen Lernen. Bewegung, Wahrnehmung, Konzentration, Entspannung und Rhythmik in der Kindergruppe. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2014

Renz-Polster, Herbert: Die Kindheit ist unantastbar. Beltz Verlag, Weinheim 2014

Ungerer-Röhrich, Ulrike et al: Bildung durch Bewegung. Kita-Kinder ganzheitlich in ihrer Bewegung fördern. Cornelsen, Berlin 2015 

Zimmer, Renate: Handbuch Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung. Herder, Freiburg 2019

 Armin Krenz, Hon.-Prof. (a.D.) Dr. et Prof. h.c. (armin.krenz@web.de)




Misshandlung in der Kindheit schwächt das Körpergefühl

Studie zeigt: Wer als Kind emotional verletzt wurde, hat oft weniger Vertrauen in den eigenen Körper

Eine neue Auswertung von Studien zeigt: Menschen, die als Kinder seelisch misshandelt oder vernachlässigt wurden, vertrauen ihrem Körper oft weniger. Das bedeutet, dass sie innere Signale wie Herzklopfen, Hunger oder Anspannung nicht so gut wahrnehmen und deuten können wie andere.

Diese Fähigkeit, den eigenen Körper von innen zu spüren, spielt eine wichtige Rolle für das Wohlbefinden. Sie hilft dabei, mit Gefühlen und Stress umzugehen und die eigenen Bedürfnisse zu erkennen. Wenn dieses Körpergefühl gestört ist, kann das auch später im Leben Probleme machen.

Weniger Körpervertrauen kann seelische Krankheiten begünstigen

Die Forscherinnen und Forscher berichten: Wer in der Kindheit seelisch vernachlässigt oder beleidigt wurde, hat oft Schwierigkeiten, die Signale des Körpers richtig einzuordnen. Das kann dazu führen, dass man Gefühle schlechter steuern kann, Stress schwerer verkraftet und die eigenen Grenzen nicht gut erkennt.

Die Folge: Das Risiko für seelische Erkrankungen wie Angst, Niedergeschlagenheit oder Essstörungen steigt. „Seelische Gewalt ist oft unsichtbar – aber sie hat starke Auswirkungen“, sagt Julia Ditzer, die Hauptautorin der Studie. Auch ihre Kollegin Dr. Ilka Böhm betont: „Diese Erfahrungen bleiben nicht ohne Folgen – auch wenn sie niemand sieht.“

Kinder brauchen auch Schutz für ihre Gefühle

Die Studienleiterin Prof. Dr. Anna-Lena Zietlow macht deutlich: „Kinder brauchen nicht nur Schutz vor Schlägen oder Übergriffen. Sie brauchen auch liebevolle Zuwendung, Aufmerksamkeit und echte Nähe.“

Zietlow und ihr Team hoffen, dass ihre Forschung dabei hilft, seelische Misshandlung und Vernachlässigung ernster zu nehmen – in der Öffentlichkeit, in der Forschung und in der Arbeit mit Familien.

So wurde die Untersuchung gemacht

Die Forschenden haben Ergebnisse aus 17 Einzelstudien zusammengetragen. Dabei wurden die Daten von 3.705 Personen ausgewertet. Ziel war herauszufinden, ob es einen Zusammenhang zwischen schlechter Behandlung in der Kindheit und einem gestörten Körpergefühl gibt – und welche Art von Misshandlung dabei am stärksten wirkt.

Die Untersuchung zeigt: Körperliche oder sexuelle Gewalt wirken sich weniger stark auf das Körpergefühl aus als seelische Misshandlung und Vernachlässigung. Das heißt: Wenn ein Kind oft ignoriert, beschimpft oder abgewertet wurde, kann es später Schwierigkeiten haben, auf seinen Körper zu hören.

Neue Studie mit Jugendlichen gestartet

Die Forscherinnen und Forscher wollen nun noch genauer hinschauen. In einer neuen Studie untersuchen sie gerade, wie sich schlechte Kindheitserfahrungen auf das Körpergefühl von Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren auswirken. Ziel ist es, mehr darüber zu lernen, wie solche Erfahrungen die Entwicklung junger Menschen beeinflussen.

Veröffentlicht wurde die Auswertung in der Fachzeitschrift „Nature Mental Health“.

Beteiligt sind Teams der Technischen Universität Dresden und der Freien Universität Berlin.

Originalpublikation:

Ditzer, J., Woll, C. F. J., Burger, C., Ernst, A., Boehm, I., Garthus-Niegel, S., & Zietlow, A.-L. (2025). Childhood maltreatment and interoception: A meta-analytic review. Nature Mental Health. DOI: https://www.nature.com/articles/s44220-025-00456-w

Gernot Körner




Verbal oder Zahl? – Schulzeugnisse verändern den Blick von Eltern

Neue BiB-Studie zeigt: Klare Noten statt blumiger Worte fördern das Engagement von Eltern

Sommerzeit ist Zeugniszeit – für viele Familien ein emotionaler Moment, der nicht nur Rückblick, sondern auch Weichenstellung für die Zukunft bedeutet. Passend zum Schuljahresende hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) eine neue Studie veröffentlicht, die beleuchtet, wie Schulzeugnisse das elterliche Verständnis für die Leistungen ihrer Kinder beeinflussen – und wie sich dies auf das Bildungsengagement zuhause auswirkt.

Eltern schätzen Leistungen oft zu positiv ein

Das zentrale Ergebnis: Viele Eltern überschätzen die schulischen Fähigkeiten ihrer Kinder, besonders in Deutsch, Mathematik und den Naturwissenschaften. Dies gilt vor allem in Haushalten mit niedriger formaler Bildung oder Migrationshintergrund. Die Forscherinnen der Studie, Elena Ziege und Ariel Kalil, warnen: Diese Fehleinschätzungen können dazu führen, dass Kinder nicht in dem Maße gefördert werden, wie es ihrem tatsächlichen Lernstand entspricht.

Format entscheidet: Noten wirken besser als Texte

Doch das muss nicht so bleiben. Wie die Untersuchung zeigt, können Schulzeugnisse diese Wahrnehmung wirksam korrigieren – vorausgesetzt, sie sind klar und verständlich. Dabei spielt das Format der Leistungsrückmeldung eine entscheidende Rolle: Während schriftliche Lernstandsbeschreibungen – wie sie in vielen Grundschulen für die ersten Jahrgangsstufen üblich sind – oft nicht richtig gedeutet werden, führen klare numerische Noten oder Gespräche mit Lehrkräften deutlich häufiger zu einer aktiveren Unterstützung der Kinder durch die Eltern.

Mehr Engagement durch bessere Information

„Väter und Mütter, die präzise Informationen zum Leistungsstand erhalten, lesen häufiger mit ihren Kindern oder spielen gezielter mit ihnen – insbesondere, wenn es sich um das erste Zeugnis handelt“, fasst Bildungsforscherin Elena Ziege zusammen. Besonders bedeutsam sei dies für Kinder aus sozial benachteiligten Haushalten. Hier könne eine frühzeitige, transparente Rückmeldung über die Schulleistungen ein Schlüssel sein, um Bildungspotenziale besser zu nutzen.

Frühe Rückmeldung als Chance für mehr Bildungsgerechtigkeit

Die Datenbasis der Studie stammt aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS) und bezieht sich auf das erste Grundschuljahr. Die Autorinnen empfehlen, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auf klar strukturierte Rückmeldungen zu setzen – idealerweise in Form von Noten oder standardisierten Einschätzungen, ergänzt durch persönliche Gespräche. Denn: Gut informierte Eltern sind besser in der Lage, ihre Kinder beim Lernen zu begleiten.

Quellenhinweis:

Ziege, Elena & Kalil, Ariel (2025): How Information Affects Parents‘ Beliefs and Behavior: Evidence from First-Time Report Cards for German School Children
Veröffentlichung beim Becker Friedman Institute, University of Chicago
Link zur Studie

Quelle: Dr. Christian Fiedler, Pressestelle, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB)




Kindermüsli im Test: Öko-Test findet Zuckerfallen und Schadstoffe

Sechs von zehn getesteten Kindermüslis schneiden „sehr gut“ ab – doch einige Produkte enthalten bedenkliche Stoffe und zu viel Zucker.

Kindermüslis sollen kindgerecht, gesund und ausgewogen sein – so suggerieren es Verpackung und Vermarktung. Doch eine aktuelle Untersuchung von Öko-Test zeigt: Nicht alle Produkte halten dieses Versprechen. Zehn Müslis, die sich speziell an Kinder richten, wurden im Labor auf Schadstoffe und Nährwerte geprüft – mit gemischten Ergebnissen. Besonders kritisch bewertet wurden Zuckeranteile, Acrylamid, Pestizidrückstände und Mineralölbestandteile.

Acrylamid: Potenziell krebserregender Stoff in Knuspermüslis

Ein getestetes Müsli enthielt einen stark erhöhten Gehalt an Acrylamid, das sich beim Rösten bildet. Die Substanz gilt laut der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) als potenziell krebserregend. Zwar existieren keine verbindlichen Grenzwerte, die EU-Kommission gibt aber Richtwerte vor – gerade für Produkte auf Vollkornbasis. Öko-Test orientiert sich an diesen Werten und fordert besonders bei Lebensmitteln für Kinder Zurückhaltung.

Pestizidrückstände bei konventionellen Produkten

Acht der zehn getesteten Müslis stammen aus biologischem Anbau – entsprechend selten wurden Pestizide nachgewiesen. Bei einem konventionellen Produkt fanden sich jedoch Rückstände von zwei Wirkstoffen: Piperonylbutoxid und Chlormequat. Zwar lagen die Mengen im Spurenbereich, doch Öko-Test wertet bei mehrfachen Rückständen grundsätzlich ab – aus Vorsorgegründen.

Mineralölbestandteile: Vermeidung ist möglich

In mehreren Produkten wurden MOSH-Verbindungen gefunden – gesättigte Mineralölkohlenwasserstoffe, die sich im menschlichen Fettgewebe anreichern können. Ob diese langfristig gesundheitsschädlich sind, ist wissenschaftlich nicht abschließend geklärt. Dennoch sollten sie laut Öko-Test insbesondere in Kindermüslis vermieden werden, etwa durch geeignete Verpackung und schonende Verarbeitung.

Zucker: Große Unterschiede zwischen den Produkten

Am deutlichsten zeigen sich die Qualitätsunterschiede beim Zuckergehalt. Während einige Müslis unter 8 Gramm Zucker pro 100 Gramm enthalten, überschreitet ein Produkt den Wert von 29 Gramm. Das entspricht mehr als der Hälfte der von der WHO empfohlenen Tageshöchstmenge für Kinder im Alter von vier bis sieben Jahren – allein mit einer einzigen Portion. Problematisch ist laut Öko-Test auch, dass überzuckerte Müslis mit kinderfreundlichem Design beworben werden – trotz gegenteiliger Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation.

Weitere Informationen finden Sie hier…

Quelle: Pressemitteilung Öko-Test




Schulstraßen: Neue Chancen für sichere Schulwege und die Mobilitätswende vor Ort

schulstraßen

Schulstraßen jetzt! Rechtssichere Lösungen für mehr Sicherheit im Straßenverkehr durch ein neues Rechtsgutachten und den aktualisierten Leitfaden für Kommunen

Schulstraßen können mehr! Sie bieten nicht nur eine Entlastung vor dem Schultor, sondern sind auch ein zentraler Baustein für sichere Schulwege und die Mobilitätswende. Diese Veränderungen beginnen bei den Jüngsten und können weit mehr erreichen als reine Verkehrssicherheit. Mit der Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) wurden rechtliche Hürden abgebaut, was neue Gestaltungsmöglichkeiten für Kommunen schafft. Ein kürzlich veröffentlichtes Rechtsgutachten und ein praxisorientierter Leitfaden geben Kommunen wertvolle Hinweise, wie sie Schulstraßen rechtssicher und dauerhaft umsetzen können.

In einem Online-Fachgespräch mit rund 300 Teilnehmern aus Verwaltungen, Ministerien, Straßenverkehrsbehörden, Politik, Planungsbüros, Organisationen und der Zivilgesellschaft betonte Steffen Brückner, Sprecher des Kidical Mass Aktionsbündnisses:

„Schulstraßen sind mehr als nur sichere Schulwege – sie sind ein Schritt hin zu einer Verkehrsberuhigung und lebenswerteren Orten für alle Generationen.“

Schulstraßen rechtssicher umsetzen – Kommunen haben jetzt alle Werkzeuge in der Hand

Das Kidical Mass Aktionsbündnis hat gemeinsam mit re|Rechtsanwälte und bundesweiten Partnern eine aktualisierte Version des Rechtsgutachtens und einen Leitfaden zur Umsetzung von Schulstraßen veröffentlicht. Beide Dokumente berücksichtigen die neue Rechtslage und benennen die Handlungsspielräume für Kommunen. Eines wird klar: Es gibt keine rechtlichen Hürden mehr. Es braucht lediglich den politischen Willen und entschlossenes Handeln von Verwaltungen.

Vom Pilotprojekt zur Struktur: Städte können jetzt handeln

Erfolgreiche Beispiele aus Städten wie Köln, Berlin, Hennef und Leipzig zeigen, dass Schulstraßen funktionieren. Auch auf Landesebene gibt es Fortschritte: Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Schleswig-Holstein haben bereits Handlungsempfehlungen oder Erlassvorschriften verabschiedet.

Das Aktionsbündnis fordert deshalb:

  • Eine Stadtplanung, die Schulmobilität konsequent berücksichtigt.
  • Schulstraßen als Ausgangspunkt für ein flächendeckendes und sicheres Schulwegenetz.
  • Tempo 30 auf allen Schulwegen – auch auf Landes- und Hauptstraßen.
  • Verbindliche Zielvorgaben für Bund, Länder und Kommunen.

Mobilität aus der Kinderperspektive denken – für alle Generationen

„Schulstraßen zeigen, wie sichere Mobilität vor Ort konkret, sichtbar und wirksam umgesetzt werden kann. Wer Straßen für Kinder sicher macht, verbessert die Sicherheit für alle“, sagt Simone Kraus, Sprecherin des Kidical Mass Aktionsbündnisses. Das Bündnis fordert einen Paradigmenwechsel in der Verkehrsplanung: weg vom autozentrierten Verkehr hin zu einer kindgerechten Mobilitätsplanung. Denn: Was den Kindern zugutekommt, kommt auch den Eltern, Senior:innen, dem Klima und der Zukunft unserer Städte zugute.

Download Schulstraßen Gutachten & Leitfaden:

Schulstraßen Gutachten (PDF)

Schulstraßen Leitfaden (PDF)

Factsheet Schulstraße Download PDF

Quelle: Gemeinsame Pressemitteilung von Kidical Mass Aktionsbündnis, Campact, Changing Cities, Deutsches Kinderhilfswerk und Verkehrsclub Deutschland




Wie Religion in der Familie weiterlebt – oder endet

Ob Glaube weitergegeben wird, hängt entscheidend von den Eltern ab – mit besonderer Rolle der Mütter. Im Osten Deutschlands ist Nicht-Religiosität zur Norm geworden

Ob Kinder religiös werden oder nicht, entscheidet sich laut einer neuen internationalen Studie der Universität Münster vor allem in der Familie. Besonders dann, wenn beide Elternteile derselben Konfession angehören, religiöse Rituale gemeinsam gepflegt werden und ein klares religiöses Selbstverständnis besteht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Glaube an die nächste Generation weitergegeben wird. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Rolle der Mütter, wie die Religionssoziologinnen Christel Gärtner und Linda Hennig sowie ihr Kollege Olaf Müller vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ betonen.

Aber auch religiöse Institutionen bleiben ein wichtiger Faktor. Der persönliche Austausch mit religiösen Autoritäten trägt wesentlich zur Festigung der Glaubenspraxis bei. Dennoch: In einem zunehmend säkularen Umfeld werden religiöse Erziehung und Weitergabe seltener. Eltern selbst sind heute oft kaum noch religiös – und vermitteln entsprechend auch keine religiösen Inhalte mehr an ihre Kinder.

Ostdeutschland als Vorreiter säkularer Sozialisation

Die Studie vergleicht Familien in Deutschland, Finnland, Italien, Ungarn und Kanada – alles Länder mit christlich geprägter Geschichte, aber unterschiedlichen Säkularisierungsverläufen. Besonders deutlich wird der Wandel in Ostdeutschland. Dort setzte der Bruch in der religiösen Weitergabe bereits früh ein: In der Generation der bis 1948 Geborenen war er bereits sichtbar. Bei den nach 1985 Geborenen stammt heute fast jede*r Zweite aus einer konfessionslosen Familie.

In Westdeutschland hingegen ist die Weitergabe von Religion nach wie vor verbreiteter: Rund 70 Prozent der jüngeren Befragten stammen aus Haushalten mit zumindest einem konfessionell gebundenen Elternteil. Der Unterschied lässt sich unter anderem mit der antireligiösen Politik der DDR erklären, so Olaf Müller: „Wenn die Weitergabe von Nicht-Religiosität zum gesellschaftlichen Normalfall wird, fällt es Eltern schwer, ihren Kindern eine religiöse Lebensweise zu vermitteln.“

Die Adoleszenz als kritischer Wendepunkt

Ob ein Mensch religiös bleibt oder wird, entscheidet sich laut den Forschenden meist in der Jugendphase. In dieser Zeit hinterfragen junge Menschen die religiösen Praktiken ihrer Herkunftsfamilie, entwickeln eigene Haltungen – und treffen zunehmend autonome Entscheidungen.

Zugleich zeigen sich seit den 1980er Jahren neue Erziehungsideale: Eltern fördern verstärkt die Selbstbestimmung ihrer Kinder – auch im religiösen Bereich. Ob ein Kind getauft wird oder sich konfirmieren lässt, ist häufig eine Entscheidung, die der Nachwuchs selbst treffen soll.

Besonders nachhaltig wirkt religiöse Sozialisation, wenn mehrere Generationen zusammenwirken – etwa wenn Großeltern ebenfalls zur religiösen Erziehung beitragen. Allerdings, so die Studienautor*innen, können Großeltern einen fehlenden religiösen Einfluss der Eltern nicht ersetzen.

Werte bleiben – auch ohne Religion

Während sich in der religiösen Praxis zwischen den Generationen oft Brüche zeigen, bleiben zentrale Werte erstaunlich konstant. Solidarität, Toleranz und Nächstenliebe – ursprünglich religiös vermittelt – werden von vielen jungen Menschen zwar übernommen, jedoch ohne religiöse Begründung. Sie gelten heute zunehmend als allgemein gesellschaftliche Werte.

Interessant ist dabei auch die Feststellung: Nicht nur Religion kann dominant weitergegeben werden – auch eine gefestigte Haltung der Nicht-Religiosität prägt die nächste Generation nachhaltig. In Familien, in denen etwa der Vater betont säkular lebt, kann dieser Einfluss ebenso stark wirken wie eine überzeugte religiöse Praxis.

Die Studie wurde von 21 Forscher*innen aus fünf Ländern durchgeführt und durch die John Templeton Foundation gefördert. Die Ergebnisse sind im Buch „Families and Religion. Dynamics of Transmission across Generations“ im Campus Verlag erschienen. Das Projekt war am Centrum für Religion und Moderne (CRM) sowie am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster angesiedelt.




Bürgergeld-Studie: Eltern verzichten auf Essen, um Kinder zu versorgen

Mehr als die Hälfte der Eltern im Bürgergeldbezug berichten von regelmäßigen Entbehrungen. Die aktuelle Studie des Vereins Sanktionsfrei stellt grundlegende Fragen zur sozialen Sicherung – und zur Wahrung der Menschenwürde

„Ich esse nicht, damit meine Tochter satt wird.“ Solche Aussagen prägen das Bild, das eine neue Studie des Vereins Sanktionsfrei zur Lebensrealität von Bürgergeldbeziehenden in Deutschland zeichnet. Die Online-Befragung von 1.014 Betroffenen offenbart: Für viele Familien reicht der aktuelle Regelsatz von 563 Euro nicht aus, um die grundlegenden Bedürfnisse zu decken.

72 Prozent der Befragten geben an, dass dieser Betrag für ein menschenwürdiges Leben nicht genügt. Besonders Eltern geraten dabei unter Druck: 54 Prozent verzichten regelmäßig auf Mahlzeiten, damit ihre Kinder genug zu essen haben. Auch Schulmaterial, Kleidung, Mobilität oder Teilhabe am sozialen Leben bleiben häufig unerreichbar.

Eine Mutter berichtet: „Manchmal muss ich mein Kind vom Kindergarten zuhause lassen, weil ich mir das Tanken nicht leisten kann. Ausflüge sind nie drin, Kleidung gibt’s nur gebraucht. Es ist grausam.“

Grundgesetz und Realität: Die Menschenwürde als Maßstab

Artikel 1 des Grundgesetzes verpflichtet den Staat, die Würde jedes Menschen zu achten und zu schützen. Daraus leitet sich auch das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ab – ein Grundsatz, den das Bundesverfassungsgericht wiederholt betont hat.

Doch die Ergebnisse der Studie werfen Zweifel auf, ob das Bürgergeld in seiner aktuellen Ausgestaltung diesem Anspruch gerecht wird. Wenn Eltern regelmäßig hungern, Schulalltag zur finanziellen Belastung wird und Kinder ausgegrenzt sind, ist die Menschenwürde zumindest gefährdet – systematisch und nicht nur im Einzelfall.

„Diese Stimme im Kopf ist immer präsent: Wie soll es morgen weitergehen?“, schildert Thomas Wasilewski, Bürgergeldbezieher und Vater von zwei Kindern. „Es ist unerträglich zu erleben, wie meine Söhne leiden, weil ihnen das Allernötigste fehlt.“

Zur Methodik: Repräsentative Datenlage

Die Studie wurde vom Institut Verian im Auftrag des Vereins Sanktionsfrei im Mai 2025 durchgeführt. Befragt wurden 1.014 Bürgergeldempfänger*innen zwischen 18 und 67 Jahren über ein Online-Access-Panel. Durch eine abschließende soziodemografische Gewichtung auf Basis amtlicher Daten erlaubt die Untersuchung belastbare Aussagen über die Gesamtheit der Bürgergeldbeziehenden in Deutschland.

Wunsch nach Teilhabe – aber geringe Perspektiven

Trotz der angespannten Lage ist die Motivation hoch: 74 Prozent der Befragten möchten den Bürgergeldbezug hinter sich lassen. Doch nur 26 Prozent glauben, dass ihnen dies in absehbarer Zeit gelingen wird. Die Ursachen sind vielfältig: gesundheitliche Einschränkungen, fehlende Kinderbetreuung, mangelnde Qualifizierungsangebote und strukturelle Probleme auf dem Arbeitsmarkt.

Eine Befragte schreibt: „Ich bemühe mich seit Jahren aktiv um Arbeit. Aber ich bin alleinerziehend, habe keine Betreuung und niemand stellt mich ein.“ Ein anderer ergänzt: „Unser Bürgergeld wurde um 170 Euro gekürzt, weil die Miete angeblich zu hoch ist – obwohl es in Leipzig keinen bezahlbaren Wohnraum gibt.“

Die Rolle der Jobcenter wird dabei ambivalent gesehen: Während einige Unterstützungsangebote wahrgenommen werden, überwiegt bei vielen der Eindruck von Druck und Kontrolle statt Hilfe und Förderung.

Stigmatisierung und Angst vor Verschärfungen

42 Prozent der Befragten schämen sich für ihren Bürgergeldbezug. Nur 12 Prozent fühlen sich gesellschaftlich zugehörig. Noch gravierender: 72 Prozent fürchten sich vor weiteren Leistungskürzungen – insbesondere vor einem vollständigen Leistungsentzug, wie er in politischen Debatten wieder verstärkt diskutiert wird.

Ein Befragter beschreibt die möglichen Folgen so: „Ein kompletter Entzug der Leistungen würde bedeuten, dass ich entweder Miete oder Essen zahlen kann – beides nicht. Ich wäre obdachlos.“ Ein anderer sagt: „Wie soll ich mich um Arbeit bemühen, wenn ich nicht weiß, ob ich morgen noch eine Wohnung habe?“

Ökonomische Bewertung: Kürzungen als Risiko für alle

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnt vor einer falschen Richtung in der Sozialpolitik: „Das Bürgergeld muss so ausgestaltet sein, dass es Teilhabe ermöglicht. Eine Kürzung ist kontraproduktiv – nicht nur für Betroffene, sondern auch für Wirtschaft und Gesellschaft.“ Er plädiert für Investitionen in Bildung, Stabilität und Förderung statt Sanktionen: Nur so könne die Integration in den Arbeitsmarkt nachhaltig gelingen.

Forderungen an die Politik: Menschenwürde praktisch umsetzen

Der Verein Sanktionsfrei fordert auf Basis der Studienergebnisse:

  • einen bedarfsdeckenden Regelsatz von mindestens 813 Euro,
  • die vollständige Abschaffung von Sanktionen,
  • Qualifizierung und Weiterbildung statt Vermittlungsdruck.

Die zentrale Frage, so der Verein, müsse lauten: Wie gelingt es, den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Menschenwürde auch im Alltag von Familien im Bürgergeldbezug zu gewährleisten? Zur Studie: www.sanktionsfrei.de/studie25

Quelle: Pressemitteilung Sanktionsfrei e.V.




Aktionswoche zum Schutz von Kinderbildern im Netz

KindersindkeinContent

Warum Kinderfotos nicht ins Internet gehören

Ob im Urlaub, beim Spielen oder bei besonderen Familienmomenten – es ist verständlich, dass Eltern stolz auf ihre Kinder sind und diese Freude in sozialen Medien teilen möchten. Doch was viele nicht bedenken: Kinderfotos im Internet können gravierende Folgen haben. Am Montag, den 23.06.2025, startet die Aktionswoche auf Social Media „Kinder sind kein Content!“

Risiken durch das Teilen von Kinderbildern

Das Internet vergisst nicht – und mit der zunehmenden Verbreitung von Künstlicher Intelligenz steigen die Risiken weiter. Bilder von Kindern werden nicht nur ohne deren Zustimmung veröffentlicht, sondern können von Dritten zweckentfremdet werden – etwa für Erpressung, Identitätsdiebstahl oder sogar zur Erstellung von Missbrauchsdarstellungen. Während früher ein Emoji über dem Gesicht als Schutz reichte, sind moderne KI-Tools inzwischen in der Lage, solche Maßnahmen zu umgehen.

Warnung vor den Sommerferien: Achtung, Kinder sind kein Content!

Zum Start der Ferienzeit rufen fünf Organisationen zu besonderer Achtsamkeit auf:

  • klicksafe
  • SCHAU HIN! Was Dein Kind mit Medien macht
  • Gutes Aufwachsen mit Medien
  • Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ)
  • Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM)

Diese Partner starten gemeinsam eine Aktionswoche in sozialen Medien, um auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die das Veröffentlichen von Kinderbildern mit sich bringt.

Aufklärung und Tipps für Eltern

Die Kampagne will Eltern und Erziehungsberechtigte für den verantwortungsvollen Umgang mit Kinderbildern sensibilisieren. Denn Studien zeigen: Viele Kinderfotos werden online gestellt, ohne dass die Kinder selbst zugestimmt haben. Gleichzeitig fühlen sich viele Eltern unsicher im Umgang mit digitalen Plattformen und wissen nicht genau, wie ihre Daten – und die ihrer Kinder – verwendet werden.

KindersindkeinContent

Ziel der Kampagne: Bewusstsein schaffen und Handlungssicherheit geben

Im Zeitraum vom 23. bis 30. Juni 2025 stellen die beteiligten Organisationen auf ihren Social-Media-Kanälen praktische Tipps, Informationen und Entscheidungshilfen bereit. Ziel ist es, Eltern zu bestärken, bewusste Entscheidungen zu treffen und die Persönlichkeitsrechte ihrer Kinder zu wahren – insbesondere im digitalen Raum.

Folgen Sie der Kampagne auf Social Media unter #KindersindkeinContent

Auf diesen Social Media-Kanälen läuft die Kampagne:

klicksafe:
https://www.instagram.com/klicksafe/
https://www.facebook.com/klicksafe
https://www.linkedin.com/company/klicksafe/

SCHAU HIN!:
https://www.instagram.com/initiative_schau_hin
https://www.facebook.com/schauhin/

Gutes Aufwachsen mit Medien:
https://www.linkedin.com/company/gutes-aufwachsen-mit-medienhttps://www.instagram.com/gutes_aufwachsen_mit_medien/
https://www.facebook.com/IniGAmM

BzKJ:
​​​​​​​https://www.linkedin.com/company/bundeszentrale-fuer-kinder-und-jugendmedienschutzhttps://social.bund.de/@BzKJ

UBSKM:
​​​​​​​https://www.instagram.com/missbrauchsbeauftragte

Weitere Informationen erhalten Sie unter:

www.klicksafe.de
www.schau-hin.info
www.gutes-aufwachsen-mit-medien.de
www.bzkj.de
​​​​​​​www.beauftragte-missbrauch.de

Quelle: Pressemmitteilung klicksafe