Jede Fünfte stellt Kinderwunsch wegen schlechter Betreuungsangebote zurück

HDI Berufe-Studie 2024: 49 Prozent der berufstätigen Eltern halten die Angebote zur Kinderbetreuung für unzureichend, 41 Prozent würden bei längeren Betreuungszeiten gern mehr arbeiten

Der Personalmangel in Deutschland verschärft sich deutlich. Grund dafür: jetzt gehen auch die sogenannten Babyboomer millionenfach in Rente. Fast jeder zweite (42 %) Berufstätige sieht dadurch in seinem Unternehmen bereits Gefahren bzw. große Gefahren. Dennoch bleiben Potenziale auf dem Arbeitsmarkt ungenutzt. So würden vier von zehn (41 %) berufstätigen Eltern gerne mehr arbeiten, wenn die Möglichkeit von längeren Kinderbetreuungszeiten vorhanden wäre.

Jeder fünfte Berufstätige stellt Kinderwunsch zurück

Jeder Fünfte (20 %) unter berufstätigen Frauen und Männern gibt an, wegen mangelhafter Kinderbetreuungsangebote den Wunsch nach Kindern oder weiteren Kindern zurückgestellt zu haben. Zugleich steigt der Wunsch nach Teilzeit-Arbeit immer weiter, insbesondere bei jüngeren Arbeitnehmern.

Das sind zentrale Ergebnisse der HDI Berufe-Studie 2024, für die rund 4.000 Erwerbstätige ab 15 Jahren repräsentativ nach Alter und Geschlecht in allen Bundesländern im Juni und Juli 2024 befragt wurden.

Fachkräftemangel erreicht neue Dimension

Jens Warkentin, Vorstandsvorsitzender von HDI Deutschland: „Mit dem Ausscheiden der sogenannten Babyboomer bekommt der Fachkräftemangel in Deutschland eine neue Dimension. Gleichzeitig gelingt es nicht, mit bedarfsgerechten Kinderbetreuungsangeboten diejenigen zu unterstützen, die eigentlich gerne mehr arbeiten wollen. Dieses Spannungsfeld stellt die gesamte deutsche Gesellschaft vor große Herausforderungen, deren Lösung existenziell für Deutschland ist.“

Berufstätige Eltern fehlen dem Arbeitsmarkt

Die Hälfte (49 %) aller Berufstätigen mit Kindern unter 18 Jahren hält das Angebot an Kinderbetreuung für unzureichend und fast ebenso viele Befragte (44 %) finden, dass sich ihr Arbeitgeber nicht genug um das Thema kümmert. So würden vier von zehn berufstätigen Eltern “gern mehr Stunden in der Woche arbeiten, wenn die angebotenen Kinderbetreuungszeiten länger wären bzw. dies zulassen würden”. Ähnlich groß (43 %) ist der Anteil berufstätiger Eltern, die in ihren Unternehmen “grundsätzlich schlechtere Aufstiegschancen für Beschäftigte mit Kindern” beklagen. Ein weiteres Umfrageergebnis: Jeder Fünfte (20 %) unter berufstätigen Frauen und Männern gibt an, wegen mangelhafter Kinderbetreuungsangebote den Wunsch nach Kindern oder weiteren Kindern zurückgestellt zu haben. Unter den aktuell 30- bis 34-jährigen Erwerbstätigen stellt sogar mehr als jeder Dritte (35 %) seinen Kinderwunsch wegen des mangelhaften Betreuungsangebot zurück.

Mütter und Väter möchten gerne aus der Elternzeit an den Arbeitsplatz zurückkehren

Caroline Schlienkamp, Personalvorständin der HDI Group und Vorstandsmitglied der Talanx AG: „Mütter und Väter möchten gerne aus der Elternzeit an den Arbeitsplatz zurückkehren. Und auch Eltern von kleinen Kindern möchten Karriere machen. Arbeitgeber können Plätze in betriebseigenen Kitas und über Kooperationen bedarfsgerechte Kinderbetreuungsmöglichkeiten bieten, auch wir tun das. Aber das Thema müssen Bund, Länder und Kommunen weiter forcieren.“

Erstmals strebt die Hälfte aller Vollzeit-Beschäftigten nach Teilzeit

Die für viele berufstätige Eltern unzureichende Situation bei der Kinderbetreuung spielt offenbar auch eine Rolle beim wachsenden Wunsch nach Teilzeit-Angeboten. So ergibt die diesjährige HDI Berufe-Studie nicht nur, dass es 2024 erstmals mehr als die Hälfte aller Vollzeit-Beschäftigten zu Teilzeitangeboten hinzieht. Zudem ist der Teilzeit-Wunsch auch bei den unter 45-Jährigen mit 56 Prozent (Vorjahr 51 %) viel stärker ausgeprägt als bei älteren Beschäftigten (45 %, Vorjahr 47 %). Und das stärkste Interesse an Teilzeitarbeit zeigen dabei die Vollzeitbeschäftigten zwischen 25 und 34 Jahren (57 %).

Personalmangel wird immer größeres Problem

Über negative Folgen von Personalmangel in ihren Unternehmen berichten inzwischen 63 Prozent (Vorjahr: 59 %) aller Berufstätigen in Deutschland. “Gefahr” oder sogar “große Gefahr” sehen 42 Prozent insbesondere durch das zeitgleiche Ausscheiden der sogenannten „Babyboomer“ (Ende der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre Geborene). So gibt etwa jeder dritte Arbeitnehmer (35 %) an, dass der Wissenstransfer im Unternehmen beim Ausscheiden der Babyboomer “gar nicht gut” oder “weniger gut” gelingt. Im Bereich Recht und Verwaltung sind es sogar mehr als die Hälfte.

Künstliche Intelligenz (KI) weckt Hoffnungen

Die künftige Bedeutung von Digitalisierung und vor allem Künstlicher Intelligenz (KI) in den Unternehmen wird unter den Berufstätigen differenziert beurteilt. Mit Ausnahme der Bereiche Touristik sowie Hauswirtschaft und Erziehung sehen die Beschäftigten in allen anderen Branchen deutlich häufiger mehr Chancen als Risiken durch den Einsatz von KI in ihren Unternehmen. Insgesamt ist jeder fünfte Berufstätige (19 %) der Meinung, dass sein Unternehmen durch den Einsatz von KI erfolgreicher wird. Allerdings lehnen immerhin 13 Prozent den Einzug von KI grundsätzlich ab. Und jeder vierte Beschäftigte ab 45 Jahren würde eine beruflich angezeigte Einarbeitung in das Themenfeld KI nicht mitmachen wollen (24 %).

In den Stadtstaaten gelingt die Regeneration nach der Arbeit am ehesten

Die HDI Berufe-Studie kann durch die hohe Zahl der Befragten auch repräsentative Ergebnisse in den einzelnen Bundesländern ermitteln und vergleichbar machen. So geben etwa im Bundesdurchschnitt nur 42 Prozent aller Erwerbstätigen an, sich ausreichend von ihrem Beruf regenerieren können.

Auffallend besser ist die Situation aber bei Beschäftigten in den Stadtstaaten. In Hamburg (55 %), Bremen (54 %) und Berlin (51 %) bekundet jeweils eine Mehrheit ausreichende Erholungschancen. Diese Bundesländer erreichen damit auch die drei absoluten Spitzenplätze. Am anderen Ende des Rankings stehen dagegen Thüringen (33 %) sowie Sachsen und Sachsen-Anhalt (jeweils 36 %).

3.748 erwerbstätige Personen befragt

Die HDI Berufe-Studie wird jährlich bundesweit durchgeführt in Zusammenarbeit mit dem Markt- und Meinungsforschungsinstitut YouGov Deutschland. Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage im YouGov Panel, an der 3.748 erwerbstätige Personen zwischen dem 15. Juni und 4. Juli 2024 teilnahmen. Die Daten wurden mit den Quotenmerkmalen Alter und Geschlecht innerhalb der einzelnen Bundesländer erhoben. Die Ergebnisse wurden gewichtet und sind repräsentativ für die erwerbstätige Bevölkerung in jedem einzelnen Bundesland ab 15 Jahren nach Alter und Geschlecht sowie für die erwerbstätige Bevölkerung in Deutschland gesamt ab 15 Jahren nach Alter, Geschlecht und Region.

Alle Informationen zur HDI Berufe-Studie 2024 finden Sie hier: https://www.berufe-studie.de/

Quelle: HDI




Geschlechterstereotypen sind schon bei kleinen Kindern vorhanden

Mädchen zeigen sich mitfühlender, Konkurrenzverhalten bei Jungen ausgeprägter, aber Neid gegenüber Jungen allgemein größer

Das Szenario ist bekannt: Der siebenjährige Lukas beschwert sich lautstark, wenn sein Freund Henry eine Eiskugel mehr bekommt als er selbst. Obwohl – oder gerade weil (?) – er sich unfair behandelt fühlt, gibt er seinem Freund Leo, der gar kein Eis hat, keinen Happen ab. Lisa dagegen teilt ihr Eis mit Leo. Dann aber, am folgenden Tag, hat Lukas Schokolade dabei, von der er bereitwillig Lisa etwas abgibt.

Das erste Beispiel scheint stereotyp: Jungen erkennen zwar sehr genau Ungerechtigkeiten, die gegen sie wirken, behandeln aber im selben Moment andere Kinder genauso unfair. Mädchen sind dagegen eher dazu bereit zu teilen. Doch im Fall der Schokolade funktioniert das Stereotyp nicht.

Verhaltensexperimente mit 332 Kindern im Alter von drei bis acht Jahren

Wie sich der Sinn für Fairness und Unfairness bei Kindern entwickelt, untersuchten Prof. Dr. Tobias Kalenscher, Lehrstuhlinhaber für Vergleichende Psychologie in Düsseldorf, Dr. Lina Oberließen, Wolfsforschungszentrum der Veterinärmedizinischen Universität Wien und Prof. Dr. Marijn van Wingerden vom Department of Cognitive Science and Artificial Intelligence der Universität Tilburg. In Communications Psychology beschreiben sie Verhaltensexperimente, die sie dazu mit 332 Kindern im Alter von drei bis acht Jahren gemacht haben.

Prof. van Wingerden: „Bei uns gab es allerdings weder Eis noch Schokolade, sondern die Kinder sollten sich paarweise Smiley-Sticker zuschieben. Teilweise bauten wir auch für das Kind, dass die Verteilung vornimmt, zusätzliche Kosten ein, wenn es zum Beispiel die Sticker gleich verteilt. Und dann beobachteten wir, wie sich die Kinder in verschiedenen Geschlechterkonstellationen verhielten.“

Neid gegenüber Jungen offenbar allgemein größer

Dr. Oberließen zu den Ergebnissen: „Wir fanden tatsächlich geschlechtsspezifische Effekte. Mädchen zeigten sich mitfühlender als Jungen. Interessanterweise gab es aber bei beiden Geschlechtern den gleichen Unmut, wenn ein Junge der Empfänger einer größeren Portion war. Dies deutet darauf hin, dass Neid gegenüber Jungen allgemein größer ist.“ Ebenfalls scheinen Jungen ihrem eigenen Geschlecht gegenüber gehässiger zu sein: Sie wählten immer die größtmögliche Anzahl Sticker für sich selbst, auch wenn ihr Gegenüber dann leer ausging.

Die Fairnesseinstellung von Kindern ist also tatsächlich geschlechtsabhängig. Sie hängt aber nicht nur vom eigenen Geschlecht ab, sondern auch vom Geschlecht der Kinder, mit dem sie interagieren. Van Wingerden: „Wir haben die typischen Geschlechterstereotypen gefunden – Mädchen sind mitfühlender, das Konkurrenzverhalten von Jungen ist ausgeprägter.“ Oberließen ergänzt: „Die Geschichte ist aber doch komplizierter. So wird Neid etwa bei beiden Geschlechtern eher gegen Jungen ausgedrückt als gegen Mädchen. Und Jungs sind, wenn sie ihre Ressourcen mit Mädchen teilen, wesentlich mitfühlender als mit anderen Jungen.“

Geschlechterstereotypen sind allgegenwärtig

Prof. Kalenscher folgert aus den Ergebnissen: „Geschlechterstereotypen sind in der heutigen Gesellschaft allgegenwärtig. Unsere Studie unterstreicht, dass geschlechtsspezifische Unterschiede im Sozialverhalten tatsächlich empirisch beobachtbar sind, selbst bei kleinen Kindern. Dies trägt möglicherweise zu kulturellen, stereotypen Geschlechterrollen im Erwachsenenalter bei. Wir sehen aber auch, dass sich geschlechtsspezifische Unterschiede, zumindest im Bereich der Fairnesspräferenzen, über einen längeren Zeitraum verfestigen. Diese Beobachtung lässt Raum, um während der kritischen Phase der Kindheit nicht-geschlechtsstereotype Fairness-Einstellungen zu fördern.“

Originalpublikation:

Marijn van Wingerden, Lina Oberließen & Tobias Kalenscher. Egalitarian preferences in young children depend on the genders of the interacting partners. Communications Psychology 2, 89 (2024).

Dr. rer .nat. Arne Claussen, Heinricht-Heine-Universität Düsseldorf




Runter vom Gas 2 – Disziplin und Classroom Management

Wie ein funktionierender Ordnungsrahmen gelingt und jede Menge Zeit spart

Die Zeit ist schlecht? Wohlan. Du bist da, sie besser zu machen. (Thomas Carlyle)

Während die Kinder Schule so hinnehmen müssen, wie sie nun einmal ist, hast du die Macht und die Möglichkeit, Schule so zu gestalten, dass sie zu einem guten Ort für dich und die Kinder wird.

Du hast ganz richtig gelesen: Für dich auch, eigentlich sogar an erster Stelle für dich.

Vor vielen Jahren gab es eine Werbung für Glücksklee-Dosenmilch: Nur glückliche Kühe geben gute Milch. Nun sind wir Lehrer zwar keine Kühe, aber unser Produkt „Unterricht und Klassenführung“ kann nur dann langfristig und nachhaltig „gut“ sein, wenn es uns selbst gut geht.

Und was brauchen wir Lehrer, damit es uns gut geht? Böse Stimmen werden sagen: Viel Ferien und wenig Arbeit. Aber das ist einfach nur dummes und bösartiges Geschwätz.

Engagierten Lehrern geht es dann gut,

  • wenn es ihnen gelingt, Kinder für das Lernen zu begeistern,
  • wenn sie mit ihren Schülern gut zurechtkommen,
  • wenn es ihnen gelingt, allen Schülern Lernerfolge zu ermöglichen,
  • und wenn sie mit ihrer Klasse immer wieder „schöne“ Vorhaben realisieren können, ganz egal, welche das sind.

Allerdings ist es auch bei Berufsanfängern oft nicht anders als bei unseren Erstklässlern, die voller Schwung, Vorfreude und positiver Aufgeregtheit in ihre Schullaufbahn starten und deren anfängliche Begeisterung dann – wie verschiedene Untersuchungen belegen – bereits nach einigen Wochen abnimmt und im Lauf der Schulzeit kontinuierlich weiter sinkt. Und genauso geht es vielen Lehrern: Aus Schwung und Motiviertheit werden – und das oft ziemlich schnell – Unlust und Resignation. 

Der viel beschriebene Praxisschock der jungen Kolleginnen und Kollegen hat sicher damit zu tun, dass sie auf das, was sie täglich in den Klassenzimmern erwartet, nicht gut genug – oder, wie man manchmal hört, gar nicht – vorbereitet wurden.

Aber auch Lehrer mit einiger Unterrichtspraxis haben oft mit ihrem Alltag zu kämpfen. Viele von uns fühlen sich gehetzt und sehen dann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Oder, anders ausgedrückt, sie verlieren den Blick für das große Ganze und das, was wirklich wichtig ist. Das betrifft sowohl die Inhalte als auch den äußeren Rahmen.

Diesem äußeren Rahmen möchte ich mich im vorliegenden Artikel widmen.

Der eigentliche Lehrplan: Disziplin und Classroom Management

Kennst du das auch?

Du hast für deine Klasse etwas Besonderes vorbereitet, präsentierst das in der Schule voller Freude und bist dann enttäuscht, weil die mangelnde Disziplin der Kinder dein Vorhaben längst nicht so gelingen lässt, wie du dir das ausgemalt hast.

Oder: An einem Unterrichtstag kannst du wieder einmal nicht annähernd das durchnehmen, was du geplant hast, weil einfach keine richtige Ruhe in die Klasse kommt. Und bei jedem Arbeitswechsel viel zu viel Zeit damit vertan wird zu warten, bis alle ihre Sachen hergerichtet haben und bis jeder ruhig und aufmerksam ist.

  • In vielen Klassen ist das die tägliche pädagogische Realität:
    Der Geräuschpegel ist zu hoch, wirklich still und konzentriert ist die Atmosphäre im Klassenzimmer, wenn überhaupt, immer nur für kurze Zeit.
  • Jeder Übergang, sei es das Herausnehmen oder Wegräumen von Material, das Ändern der Sozialform oder ein Themen- oder Aufgabenwechsel dauert „ewig“, stört den Unterrichtsfluss und verursacht unnötige und langweilige Wartezeiten.

Auf diese Weise können in einer einzigen Unterrichtsstunde leicht zwischen fünf und zehn Minuten verloren gehen. Das sind dann an einem ganzen Unterrichtsvormittag 30 bis 60 Minuten. In einer Woche zweieinhalb bis fünf Stunden, in einem Monat ca. zehn bis zwanzig Stunden. Diese kleine Hochrechnung ist doch beeindruckend, nicht wahr?

Bei Störungen und Trödeleien wird dann oft ermahnt, auch geschimpft und in manchen Klassen sogar gebrüllt und geschrien. Wenn wir uns dazu hinreißen lassen, tappen wir in die Ohnmachtsfalle. Denn bewirkt wird dadurch wenig bis gar nichts. Und uns tut das nicht gut, macht uns auf die Dauer nur krank.

Wie kann nun aber erreicht werden, dass ein Unterrichtsvormittag reibungslos verläuft, dass Störungen die große Ausnahme sind und damit auch die täglichen Zeitverluste wegfallen?

Jacob Kounin (Jacob Kounin, Techniken der Klassenführung, Münster, 2006 (Reprint der Originalausgabe von 1976)) hat schon in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts darüber geschrieben, dass es nicht von Bedeutung ist, was nach einem Regelverstoß erfolgt. Vielmehr gilt es zu analysieren, was vorher geschieht und entsprechende Präventionsmaßnahmen zu treffen.

Wir Lehrer sind immer in einer schwächeren Position, wenn wir re-agieren.
Gelingt es uns, vorausschauend zu agieren, tun wir das hingegen aus einer Position der Stärke heraus.

Es lohnt sich deshalb unbedingt, zuallererst und vor jeglicher Didaktik unsere Energie und Aufmerksamkeit auf das Installieren eines funktionierenden Ordnungsrahmens in der Klasse zu richten.

Sicher, das kostet Zeit, verlangt vom Lehrer die Mühe der Konsequenz. Und es erfordert die pädagogische Kompetenz, die Notwendigkeit und den Nutzen zu erkennen.

Aber dieser Preis ist keineswegs zu hoch, denn was du dafür bekommst, ist ein Vielfaches wert. Und letztendlich sparst du dadurch – siehe oben! – eine Menge Zeit. Denn je mehr nach der Devise „Dafür haben wir jetzt keine Zeit!“ gehetzt wird, desto langsamer geht alles. Kinder kann man nicht hetzen. Deshalb ist es – einmal ganz abgesehen von den ethischen Einwänden, die man hier anbringen könnte – schlicht unvernünftig, das überhaupt erst zu versuchen.

Also investiere dort Zeit, wo du einen Ertrag erzielen kannst: in das Installieren eines tragfähigen Ordnungsrahmens und in das Aufstellen funktionierender Regeln in deiner Klasse.

Was haben geordnete Abläufe mit dem Einmaleins zu tun?

Jeder Unterrichtstag hat einen Anfang, ein Ende und dazwischen liegen verschiedene Lerneinheiten. Damit so ein Vormittag geordnet und reibungslos abläuft, genügt es nicht, dass du das gerne hättest. Du musst vielmehr die gewünschten Abläufe analysieren, sie in deiner Klasse gut erklären und begründen und – hier kommt die Gemeinsamkeit mit dem Einmaleins – du musst diese Abläufe üben.

Du kannst nicht erwarten, dass eine bestimmte Aufforderung, wie z.B. das Wegräumen des Rechenmaterials und das Herausnehmen der Schreibsachen, in den Köpfen deiner Schüler den gleichen Kurzfilm erzeugt wie bei dir.

Für die Kinder ist das vielleicht eine kurzweilige Unterbrechung, bei der man sich nicht sonderlich beeilen muss und die man auch durchaus mit einem kleinen Schwätzchen verbinden kann.

Du allerdings hättest sicher die Wunschvorstellung, dass das Ganze flott und ruhig abläuft. Dann solltest du das zuallererst einmal transparent machen, also genau erklären, wie es „richtig“ geht, vielleicht auch von einer Gruppe vormachen lassen.

Danach solltest du die Vorteile eines solchen Ablaufs mit den Schülern besprechen, also die Frage klären: Was haben wir alle davon?

Und zum Schluss solltest du den Ablauf üben. Das kann durchaus auch spielerisch geschehen, z.B. mit der Stoppuhr in der Hand.

Dieser Dreierschritt ist das Grundgerüst für jeden Ablauf, der an  einem Schultag vorkommt:

  • Anstellen zum Raumwechsel
  • Arbeitsmaterial her- oder wegräumen
  • In den Sitzkreis gehen oder zurück zum Platz
  • Am Platz aufstehen für Gymnastik oder zum Singen oder Tanzen
  • Freiarbeitsmaterial holen oder wegräumen

Ich nenne dieses Grundgerüst das goldene Dreieck:

Transparenz – Was genau soll ich tun, wie geht das genau?
Relevanz – Was ist der Nutzen, was habe ich davon?
Konsequenz – der Ablauf wird geübt, eingefordert und ggf. auch wiederholt.

Je gefestigter der Ordnungsrahmen ist, desto mehr Freiheit ist innerhalb dieses Rahmens möglich. Ich weiß zum Beispiel von einigen Kolleginnen, dass sie sehr ungern Bewegungssequenzen in den Vormittag einbinden, weil sie danach die größte Mühe haben, die Klasse wieder zum geordneten Arbeiten zu bringen.

Das gilt auch für viele andere „lockere“ Aktivitäten: Wenn du die Herrin des Verfahrens bist, dann kannst du tägliche Freiarbeitssequenzen, Bewegung, Spiele, Tanzen und Rhythmik, Theaterproben und Projektarbeit ohne Schwierigkeiten in einen Vormittag integrieren, weil der Übergang in den gebundenen Unterricht jederzeit möglich ist.

Soviel zum Einüben immer wiederkehrender Abläufe. Dann gehören zu einem funktionierenden Ordnungsrahmen auch noch einzelne Verhaltensregeln, die für ein gutes Miteinander in der Schule wichtig sind.

Über Wirksamkeit und Unwirksamkeit von Regeln

An vielen Klassenzimmerwänden hängen Regeln, wie zum Beispiel:

  • Ich melde mich.
  • Ich warte, bis ich aufgerufen werde.
  • Ich lasse andere ausreden.

Werden diese eingehalten? Die Antwort kennst du.

Und was passiert, wenn sie nicht eingehalten werden? Es wird vielleicht wie bereits erwähnt ermahnt und geschimpft, vielleicht aber auch, weil die Lehrerin irgendwann resigniert hat, einfach nur ignoriert.

Doch das ist verhängnisvoll. Wenn einerseits Regeln aufgestellt – und oft auch noch schriftlich fixiert – werden und diese Regeln andererseits völlig unverbindlich sind, weil es möglich ist, sie ohne Konsequenzen zu verletzen, dann ist damit eine für uns Lehrer sehr abträgliche nonverbale Botschaft verbunden: Regeln braucht man nicht zu halten!

Das aber wünschen wir uns doch alle nicht. Wie also können wir Regeln zur Durchsetzungskraft verhelfen? Dafür gibt es einige Grundsätze, sozusagen „Regel-Regeln“, die meiner Erfahrung nach unumgänglich sind.

Die Sache mit dem Priming

Im Vorfeld solltest du noch ein Forschungsergebnis aus der Verhaltensökonomie kennenlernen. Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann (Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken, München, 2014, S. 72 ff.) berichtet von einigen faszinierenden Versuchen über das „Wunder des Priming“. Er konnte nachweisen, dass sprachliche Inputs (Welche Wörter höre oder lese ich?), optische oder sensorische Eindrücke, Bewegungsabfolgen, kurz, das, was als primärer Eindruck im Gehirn landete, eine nachfolgende Aktion beeinflusste.

  • Wähler, die in einer Schule abstimmten oder Bilder von Schulen und Klassenzimmern sahen, zeigten sich anschließend aufgeschlossener für Bildungsinitiativen als solche, bei denen das nicht der Fall war.
  • Wer eine Wörtersuchaufgabe mit alters- und krankheitsbezogenen Wörtern löste, legte hinterher eine bestimmte Wegstrecke langsamer zurück als Mitglieder einer Vergleichsgruppe, die mit neutralen Wörtern gearbeitet hatten.
  • Wer  eine Minute lang einen Bleistift quer zwischen den Zähnen hielt – und damit automatisch eine Lächelmimik hatte – fand anschließend gezeigte Cartoons häufiger lustig als eine Vergleichsgruppe, die den Bleistift senkrecht zwischen den Zähnen hielt, denn die Mitglieder dieser Gruppe runzelten automatisch die Stirn.

Diese Erkenntnisse sind für unser Classroom Management von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, wie du im nächsten Abschnitt gleich sehen wirst.

Regeln müssen einvernehmlich aufgestellt und transparent sein

Du wirst Kinder nicht dazu bringen, sich an Regeln zu halten, die ihnen einfach nur vorgesetzt werden. Deshalb ist der Deal mit den Schülern so wichtig, das einvernehmliche Aufstellen von Regeln.

Und dann müssen die Kinder auch noch wissen, welches Verhalten genau mit einer Regel gemeint ist, die Regel muss transparent sein. Das ist nicht immer der Fall und es kommt durchaus vor, dass Kinder für etwas getadelt werden, was ihnen als falsches Verhalten gar nicht bewusst war.

Was für gedeihliches Lernen in der Schule wichtig ist, gilt in allen Klassen, und die Kinder wissen das im Allgemeinen auch sehr gut. Unsere Aufgabe als Lehrer ist es, darauf hinzuwirken, dass dieses gedeihliche Verhalten auch wirklich an den Tag gelegt wird.

Eigenartigerweise sind es gerade die Schüler, die, wenn man sie einfach lässt, die größte Unruhe verursachen, die am dringendsten Ruhe beim Lernen brauchen und wollen. Sie profitieren am meisten von einem gut funktionierenden Ordnungsrahmen.

Das grundsätzliche Vorgehen beim Aufstellen von Regeln führe ich exemplarisch am Beispiel der Gesprächsregeln aus. Denn das Thema „Sprechen im Unterricht“ steht im Ranking der Verhaltensregeln ganz weit oben.

Es hat sich bei mir und bei vielen Kolleginnen bewährt, diesen Verhaltensbaustein mit den Schülern erst einmal gründlich zu besprechen. Das geht sehr gut anhand von einigen Leitfragen:

  • Wie geht es dir beim Lernen, wenn es in der Klasse sehr laut ist?
  • Wir sind 25 Kinder. Findest du es gerecht, wenn immer die gleichen Kinder reden?
  • Wie geht es dir, wenn du eine Antwort weißt und du meldest dich und ein anderer ruft die Antwort einfach heraus?

Und, ganz wichtig, auch eine Frage zum Lehrerverhalten:

Stell dir vor, du bist gerade konzentriert beim Rechnen oder Schreiben. Würde es dich stören, wenn ich (die Lehrerin) von meinem Platz an der Tafel aus ganz laut mit einem Schüler, der ganz hinten sitzt, reden würde?

Bei der Beantwortung dieser Fragen ergibt sich in jeder Klasse, dass die Schüler – und es sind so gut wie immer alle – …

  • sich bei der Arbeit durch Lärm in der Klasse gestört fühlen,
  • sich ärgern, wenn jemand herausruft,
  • wollen, dass alle eine Chance zum Reden bekommen,
  • sich auch durch die Lehrerin gestört fühlen würden, wenn diese bei der Stillarbeit laut redete.

Nach erfolgter Bestandsaufnahme wird dann beraten, wie man das alles zufriedenstellend regeln könnte und das ergibt sich ganz von selbst:

Nun geht es darum, diese Regel – im Sinne des Priming – immer so vor Augen zu haben, dass sie wirklich in den Köpfen präsent ist.

Da nützt es wenig, einen Merksatz an die Wand zu hängen. Bilder hingegen finden unmittelbar Eingang in unsere Wahrnehmung und damit in unser Gehirn, deshalb wurde bei mir diese Regel, die alle wichtig und einsehbar fanden, als Piktogramm an die Wand gehängt und zwar mit einem der beiden:

Das sollte natürlich nicht heißen: Bei uns darf nicht gesprochen werden, sondern die Bedeutung war: Für das Reden gibt es Regeln. Das war der „Regel-extrakt“ und welche Regeln das genau waren, musste nicht mehr aufgeführt werden. Das wusste jeder.

Aus dieser grundsätzlichen Regel für das Reden lässt sich auch mühelos ableiten, was für die freie Arbeit, für Partner- oder Gruppenarbeit, für Rechen- und Schreibkonferenzen oder für Projekte gilt: Wir verwenden Flüstersprache (Freiarbeit) oder manchmal auch Murmelsprache, aber wir stören andere nicht.

Wenig Regeln erleichtern das Einhalten und Durchsetzen

Genauso wie ein ganzes Bündel von Gesprächsregeln auf ein einziges Piktogramm reduziert werden kann, geht es auch mit den anderen Bereichen des schulischen Miteinander, für die gemeinsam Regeln gefunden werden.

Weniger ist mehr.

Was unter Kindern zum Beispiel immer wieder für Ärger sorgt, wenn es nicht in den Griff zu bekommen ist, das sind kleine Übergriffigkeiten wie diese:

  • Kinder nehmen ungefragt die Sachen anderer Kinder.
  • Kinder geben beim Gehen durch die Klasse anderen Kindern Klapse oder streichen ihnen über die Haare.

Auch diese Fälle wurden in meinen Klassen immer erst einmal besprochen. Dann waren wir uns einig, dass wir das nicht wollen. Und in einem letzten Schritt wurde auch hier wieder ein Piktogramm  aufgehängt.

Seine Bedeutung: Hände weg von anderen Kindern und den Sachen anderer Kinder.

Du kannst mit vier bis fünf Piktogrammen durch den Schulalltag kommen, auf die alles Wichtige verdichtet wird.

Regeln auf wirkungsvolle Weise im Gespräch mit den Kindern aufstellen ist das eine. Das andere ist: Diese Regeln müssen eingefordert und durchgesetzt werden.

  • Es wird wahrscheinlich immer einzelne Kinder geben, denen es schwerfällt, Regeln einzuhalten, auch wenn sie diese grundsätzlich bejahen. Das ist normal und das sind deswegen keine schlechten oder unartigen Kinder. Es sind einfach Kinder.
  • Schimpfen und Strafen bringen keinen nachhaltigen Erfolg, das hatten wir schon.
  • Also was tun? Detailliert habe ich diese Problematik in meinem Buch „Disziplin“ abgehandelt. (Christina Buchner, Disziplin, Norderstedt, 2018)
  • Am Beispiel des Herausrufens in der Klasse möchte ich das wieder exemplarisch beschreiben.

Das Wunder des Priming

Die erste Herangehensweise nutzt das, was wir über das Priming wissen. Du kennst ja deine Pappenheimer und weißt also auch sehr genau, auf wen du dein pädagogisches Augenmerk richten musst. Du kannst nun diese „Kandidaten“ vor Beginn eines Schultages, vor einer Unterrichtsstunde oder einer Sequenz, in der Schülerbeiträge abgerufen werden sollen, fragen, ob sie wohl glauben, sie könnten sich heute (in der nächsten Stunde – in der folgenden Unterrichtssequenz) an die Gesprächsregel halten. Allein diese Frage setzt im Gehirn einen Impuls, der es erleichtert, eine Regel zu befolgen.

Allerdings gilt das für die Grundschule, in der Kinder noch andere Beweggründe für ihr Verhalten haben als Jugendliche, die nach vielen Misserfolgserlebnissen oft destruktiv sein wollen, während es meine feste Überzeugung ist, dass Grundschüler sich vielleicht destruktiv verhalten, aber im Grunde „gut“ sein wollen.

Die Magie der Wattekugeln

Die zweite Herangehensweise macht Verhalten sichtbar und hat schon viele Kolleginnen durch ihre Wirksamkeit verblüfft. (Christina Buchner, a.a.O., S.135 ff.)

Wenn ein Schüler es nicht schafft abzuwarten, bis er aufgerufen wird oder auch sonst im Unterricht zur Unzeit redet, so ist in meinen Augen nicht seine „Schlechtigkeit“ der Grund dafür, sondern vielmehr seine Schwäche. Er möchte gerne „brav“ sein, aber es passiert ihm halt immer wieder das Missgeschick der Undiszipliniertheit.

Es macht einen sehr großen Unterschied, mit welcher inneren Haltung eine Lehrkraft mit einem „Übeltäter“ umgeht. Natürlich kann die wiederholte Störung nicht hingenommen werden, aber das „Delikt“ ist nicht identisch mit dem Kind. Dieses ist in Ordnung, die Störung aber nicht.

Ich halte sehr viel von einem sachlichen Gespräch, bei dem mit einem Kind ohne Abwertung darüber gesprochen wird, dass es ihm „blöderweise“ immer wieder passiert, einfach dazwischenzureden oder herauszurufen, obwohl es das eigentlich gar nicht will. Nach dieser Einleitung habe ich den Kindern immer meine Hilfe angeboten, aus diesem Dilemma herauszukommen:

„Weißt, Franzi, ich könnte dir da schon helfen, dass dir das nicht mehr passiert, aber das geht nur, wenn du auch selber magst. Magst du?“

Ich habe noch nie erlebt, dass ein Schüler zu mir „nein“ gesagt hätte. Dann spreche ich mit Franzi noch darüber, dass es ihm wahrscheinlich gar nicht bewusst ist, wie oft er stört und dass wir deshalb erst einmal zählen müssen, wie oft das vorkommt. Das hat nun aber gar nichts mit Strichlisten für Fehlverhalten zu tun, sondern folgt einer ganz anderen Absicht.

Wir starten mit dem Zählen der Störereignisse, indem wir für jedes einzelne Mal eine bunte Filzperle (ich nenne sie immer Wattekugeln) in ein schmales Olivenglas werfen. Das geschieht ohne Tadel, ohne strafenden Blick, ganz einfach nur sachlich zählend. Am Ende des Tages wird das Glas gemeinsam betrachtet. Besonders der Delinquent ist immer sehr erstaunt, wie oft er sich doch danebenbenommen hat, das hätte er nicht gedacht.

Danach kommt etwas unverzichtbar Wichtiges: Das Glas wird ausgeleert. Der nächste Tag beginnt mit neuen Chancen, ohne Schuldenkonto.

Im Regelfall – anders habe ich das noch nicht erlebt – ist die Kugelmenge am zweiten Tag wesentlich kleiner. Wenn etwa am ersten Tag zehn Kugeln im Glas waren und am zweiten Tag sind es nur noch fünf, dann hat das bei der gemeinsamen Betrachtung ein großes Hallo und viel Lob zur Folge. Das heißt also, dass der Schüler fünfmal gestört hat und dennoch gelobt wird – eine paradoxe Intervention.

Es dauerte nie sehr lange, dann blieb das Glas gänzlich leer.

In dieser Wattekugel-Intervention stecken einige sehr wirkungsvolle pädagogische und psychologische Prinzipien:

  • Priming – bereits das Vorhandensein des Kugelglases dient als Anker.
  • Verhalten wird sichtbar und objektivierbar gemacht.
  • Wertschätzender Umgang mit dem Delinquenten: Es wird deutlich unterschieden zwischen dem Verhalten und der Person.
  • Das Kind erhält eine Perspektive: Jede Verbesserung wird sichtbar und wird auch explizit gewürdigt.
  • Selbstwirksamkeit wird erlebt: Ich kann mich verbessern.

Dass das Wattekugelglas überhaupt nicht als negativ betrachtet wird, zeigen mir viele kleine Erlebnisse, die ich im Lauf der Jahre damit hatte.

So fragten – wenn die Methode wieder einmal zum Einsatz kam – regelmäßig auch andere Kinder bei mir an, ob sie denn nicht auch so ein Glas bekommen könnten, sie würden doch auch manchmal stören und das würden sie gerne ändern. Ich hatte allerdings nie mehr als drei Gläser parallel „am Laufen“ und versah die dann auch immer mit Namensschildern, um den Überblick zu behalten.

Meine Schülerin Denise hatte die Angewohnheit, beim Arbeiten immer das, was sie aufschrieb, leise vor sich hinzumurmeln und das störte die anderen Kinder an ihrer Sitzgruppe. Denise wollte nicht stören, schaffte es aber aus eigener Kraft nicht, das Gemurmel zu unterdrücken und bat mich darum, ein Kugelglas und ein Schüsselchen mit Filzperlen auf den Gruppentisch zu stellen und die anderen Kinder sollten immer dann, wenn sie störte, eine Filzperle einwerfen. Das Glas blieb von Anfang an leer, ein Paradebeispiel für das Priming.

Und ein besonders nettes Erlebnis hatte ich mittelbar mit Patrick. Seine Mutter erzählte mir davon, als sie in der Sprechstunde nachfragte, was es denn mit diesem Glas auf sich habe. Patrick hatte daheim berichtet, er habe jetzt ein Glas in der Schule, in das die Lehrerin so schöne bunte Kugeln für ihn einwerfe. Auf die Frage, ob das denn alle Kinder hätten, antwortete er stolz: „Nein, das hab nur ich!“ Die Mutter amüsierte sich sehr, als ich ihr den Zusammenhang erklärte.

Was aus diesen Begebenheiten klar wird, ist die Tatsache, dass diese Disziplinierungsmaßnahme weder als Tadel noch als Strafe empfunden wurde, sondern viel eher als Zuwendung und Hilfe.

Ich höre manchmal den Einwand, das sei doch eine Bloßstellung, wenn das Verhalten eines Schülers vor der Klasse thematisiert werde. Dem kann ich nur entgegenhalten, dass jedes Fehlverhalten für die ganze Klasse sichtbar ist. Und dass auch Tadel oder Schimpfen nicht unbemerkt bleiben. Da ist das sachliche Besprechen mit der Chance auf Lob und Würdigung alles andere als negativ. Sondern es dient im Gegenteil eher dem Integrieren eines Schülers in die Gemeinschaft und somit dem Stärken der Gruppenkohäsion. Nehmen doch alle Anteil an der Aktion und freuen sich über die Verbesserung und den Erfolg.

Fazit: Ein funktionierender Ordnungsrahmen ist äußerst nützlich

Er verhilft zu reibungslosen – oder zumindest sehr „reibungsarmen“ – Abläufen und du gewinnst jede Menge Zeit, die du dann für all das verwenden kannst, was Schule zum Lebensraum macht und für dich und deine Schüler den Alltag verschönert.
Darum sei es abschließend nochmal betont: Die Zeit, die du für den Aufbau dieses Ordnungsrahmens verwendest, ist fruchtbare Zeit, sozusagen ein AAA-Investment. Lass dich nicht durch zahllose Arbeitsblätter und wenig zielführende Splitterthemen hetzen, arbeite lieber langsam und gründlich mit dem, was wesentlich und nachhaltig ist und verweigere – frei nach Michael Endes Momo – den Zeitdieben in Gestalt der grauen Herren die Gefolgschaft. Dann kannst du deine Zeit dort investieren, wo sie dir und den Kindern wirklich etwas bringt.

Möchten Sie noch mehr erfahren? Hier geht es zum ersten Teil unserer Grundschulreihe mit Christina Buchner mit dem Titel: Wie Sie Ihren Unterricht entschleunigen, um stressfrei und entspannt zu unterrichten

Die Autorin:

Christina Buchner arbeitete viele Jahre als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen. Und sie war 16 Jahre Rektorin an Grundschulen im Landkreis München.
Sie ist in Oberbayern auf dem Land aufgewachsen. Ihre Kindheit war geprägt durch große Freiheit, Nähe zur Natur, Freude an Büchern und die Möglichkeit, kreative Einfälle in die Tat umzusetzen.
Vor diesem Hintergrund war es ihr von Anfang an ein zentrales Anliegen, für ihre Schüler eine bunte und anregende Lernwelt zu schaffen.

Sie ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass in der Schule ohne Freude, Begeisterung und ohne Erfolgserlebnisse sehr wenig läuft. Die Mischung aus Pflicht und Freude, aus Begeisterung und konsequenter Übung, aus Disziplin und individueller Freiheit beim Lernen ist ihr Markenzeichen. Für diese Mischung wirbt sie in ihren Büchern und in Vorträgen und Lehrerfortbildungen in Deutschland, Österreich, Italien, der Schweiz und Luxemburg.

Christina Buchner entwickelte eigene Methoden für das Lesenlernen, für Rechtschreiben und Schreiberziehung, für den elementaren Mathematikunterricht und für das Theaterspielen mit einer Klasse.
Ihr MatheBlog: www.die-rechentante.de
Ihre Website: www.christina-buchner.de


cover buchner

So wird Unterricht entspannt

Stress, Druck und Hetze bestimmen oft bereits in der Grundschule den Alltag von Lehrern, Schülern und Eltern. Doch es ist möglich, trotz starrer Rahmenbedingungen und zahlreicher Anforderungen den schulischen Alltag für alle Beteiligten angenehm zu gestalten – ohne Hektik und Stress.
Der Fokus liegt auf der Autonomie der einzelnen Lehrer. Du findest erprobtes Handwerkszeug für eine alternative Umsetzung des Lehrplans. Methodenfreiheit neu gedacht, fächerübergreifendes Unterrichten und Projektarbeit ermöglichen einen entschleunigten Unterricht. Zusätzlich gibt es noch Online-Materialien.

Buch, broschiert, 260 Seiten
ISBN:978-3-407-25762-8
24,95 €

Mehr zum Buch




Mit beleduc und zahlreichen Aktionen auf der Frankfurter Buchmesse

Bücher, Spielzeuge, Autoren, Künstler und eine Überraschung

Die Stars einer Buchmesse sind natürlich immer die Bücher. Besuchen Sie uns und entdecken sie nagelneue faszinierende Kinderbücher, spannende Elternratgeber und hochaktuelle pädagogische Fachbücher. Gemeinsam mit unseren beleduc Lernspielwaren und unseren Schwesterverlagen Oberstebrink und Burckhardthaus begrüßen wir Sie in Halle 3 an den Ständen C154 bis 157.

Denn die Philosophien und die Sortimente der Kooperationspartnerinnen und-partner ergänzen sich perfekt. Als Buch- und Spieleverleger bieten wir viele Geschichten und Themenwelten zum gemeinsamen Erleben.

beleduc mit bunten Themenwelten, Handpuppen, Puzzles und vielem anderen

Wie wir sind auch die Kolleginnen und Kollegen von beleduc davon überzeugt, dass Kinder nicht spielen, um zu lernen, sondern lernen, weil sie spielen. Dementsprechend ergänzen etwa die naturalistischen Handpuppen von beleduc die Kinderbücher über die Wald- und Wiesentiere von Oberstebrink perfekt. Sie laden zum interaktiven Mitspielen und Kommunizieren ein.

Mit dabei hat beleduc einiges zu den Themen Umweltschutz & Nachhaltigkeit und Spiele sowie Puzzle mit einem multisensorischen Ansatz, um grundlegende Fähigkeiten im Kindergarten- und Grundschulalter zu vermitteln. Alle Puzzle und Spiele von beleduc verfolgen einen ganzheitlichen Bildungsansatz. Sie fördern bei Kindern die Fähigkeit, eigenständig Lösungen für eine Aufgabe zu finden. Die bunten Themenwelten von beleduc regen Kinder zum Erleben und Erfahren und vor allem zum Spielen an.

Armin Krenz lädt ein zum Vortrag und zu Gesprächen

Am Messemittwoch und -donnerstag ist auch der Begründer des situationsorientierten Ansatzes Prof. Armin Krenz bei uns. Am 16.10. um 16 Uhr hält er in Halle 4 H104 auf Bühne 4.0 einen Vortrag mit dem Titel Berufsbild Erzieher*in – Grundsatzgedanken zum Selbstverständnis eines anspruchsvollen Berufs.

In seinem Vortrag spricht Prof. Armin Krenz über die wichtigsten berufsspezifischen Grundlagen für eine professionelle Elementarpädagogik. Er macht auf bedeutsame, basale Herausforderungen aufmerksam, damit der gesetzlich verankerte Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsauftrag unter Beachtung der jeweils länderspezifischen Bildungsrichtlinien, der UN-Charta Rechte des Kindes sowie der grundlegenden Ausgangsdaten aus den Feldern der Bildungs-/Bindungsforschung und Entwicklungspädagogik auch tatsächlich erfüllt werden kann. Der Zutritt ist für Messebesucher kostenlos.

Anschließend treffen wir uns an unserem Stand in Halle 3 C 154, um mit ihm zu reden und zu diskutieren.

Gleich am nächsten Tag am gleichen Ort, um 10 Uhr laden wir ein, zum Gespräch mit Armin Krenz zum Thema Die Bedeutung des SPIELS für die SELBSTBILDUNG am Stand. Dabei stellt er auch sein neues Buch vor, mit dem wir zu einer praxisorientierten Revolution in der Kita aufrufen.

Boris Zatko stellt sein neues Fantasy-Abenteuer mit Anna Fink vor

Der bekannte Schweizer Autor und Künstler Boris Zatko liest bereits am Mittwoch, den 16.10. ab 10 Uhr am Stand in Halle 3.0 C 154 aus seinem neuen Buch Anna Fink – Der Vogel der Welten vor. Im zweiten Band der preisgekrönten Fantasie-Reihe darf Anna ihre Ferien in Negasem verbringen und ihren besten Freund Alwin Fidelius besuchen, den König des Märchenreichs. Doch die Reise wird aufregender als Anna es sich hätte träumen lassen. Nicht nur ist Alwin als König völlig überfordert, auch zeigt ein junger Herzog, dessen Sippe eine offene Feindschaft gegen die Menschen und das Königshaus pflegt, ein zwielichtiges Interesse an ihr. Als dann auch noch ein uraltes Artefakt auftaucht, um das ein offener Streit entfacht, wird Anna in einen Machtkampf verwickelt, der ihr alles abverlangt.

Für alle, die am Mittwoch noch nicht auf der Messe sein können, wiederholen wir die Veranstaltung am Donnerstag, 17.10. am gleichen Ort um 14 Uhr.

Rund um Handy und Co mit dem Medienexperten Thomas Feibel

Ein weiteres Highlight am Stand sind die Gespräche mit dem bekanntesten Kindermedienexperten Thomas Feibel. Am 17.10. ab 15.30 Uhr und am 18.10. um 15 Uhr am Stand in Halle 3.0 C154. Dabei geht es um die Mediennutzung von Kindern und damit um das Streitthema Nummer eins in Familien. Als Medienexperte begegnet Thomas Feibel auf seinen Reisen durch die Republik fast täglich Müttern und Vätern, die in der Erziehungsarbeit an ihre Grenzen stoßen und nach bewährten Methoden suchen, um die übermäßige Nutzung einzudämmen. In Gespräch und seinem aktuellen Buch zeigt Tom Feibel anhand der besten Lösungsvorschläge, wie die digitale Erziehung gelingen kann. Aus zahlreichen Gesprächen mit Kinderärzten, Psychologen, Suchtexperten, Hirnforschern, Lehrern und Eltern hat er einen individuellen Leitfaden für jede Familie geschaffen.

Kunst, Natur und die Schönheit der Welt mit Loes Botman

Mit Loes Botman besucht uns eine der renommiertesten Pastellkünstlerinnen am 18.10. ab 12 Uhr und am 19.10. ab 10 Uhr am Stand in Halle 3.0 C154. Im Laufe der Zeit hat sie eine ganze Reihe Kinderbücher bei Oberstebrink geschaffen hat. Der Niederländerin liegen die Tiere am Herzen und vermittelt mit ihren Zeichnungen die Nähe zum Wesen der Natur. Verbringen Sie mit der Künstlerin eine faszinierende Stunde bei uns am Stand, erleben Sie Kunst und die Schönheit der Welt.

Nach dem Abschluss ihres Studiums an der „Königlichen Akademie für Bildende Künste“ in Den Haag hat Loes Botman sich auf das Zeichnen mit Pastellkreiden spezialisiert. Sie war von der Schlichtheit des Pastellmaterials fasziniert. Und sie ist seitdem eine leidenschaftliche Zeichnerin, der die Farben aus den Fingern zu fließen scheinen. Loes Botman ist eine der führenden Künstlerinnen in diesem Bereich und gibt Kurse für Hobbykünstler und Profis in den Niederlanden und den USA.

Ihre große Leidenschaft ist es Tiere darzustellen

Für viele sind diese Geschöpfe und ihre Anwesenheit eine Selbstverständlichkeit. Aber in einer Welt ohne Tiere wären die Menschen sehr einsam. Mit ihren Zeichnungen macht Loes Botman den Betrachter auf die Schönheit der Welt um uns herum aufmerksam und teilt damit die Schönheit mit uns allen.

Mit ihren Pastellkreiden zeichnet Loes seit einigen Jahren Kinderbücher

Im Oberstebrink Verlag sind von ihr eine Reihe kleiner Pappbilderbücher für Kinder ab 10 Monaten und großformatige Kinderbücher für Kinder ab 3 Jahren erschienen. Diese faszinierenden Bilder lassen schon kleine Kinder viel mehr über das Wesen eines Tieres erfahren als es beim Lesen oder Vorlesen einer einfachen Beschreibung möglich wäre. So gelingt es Loes Botman eine Nähe zur Natur zu schaffen, die Begeisterung und Verantwortung für die Welt schafft.

Ihr neuestes Buch Von den Wiesentieren ist eben bei Oberstebrink erschienen

Besuchen Sie uns also auf der Buchmesse. Für all unsere Leserinnen und Leser halten wir auch ein Überraschung bereit.




Es gilt die psychische Gesundheit der Fachkräfte zu fördern

Die großen Lösungen im frühpädagogischen Bereich dauern noch Jahre, umso wichtiger ist eine breite Unterstützung der Erzieherinnen und Erzieher

Kita-Mitarbeitende sind deutlich häufiger krank als der Durchschnitt aller Berufsgruppen. Insbesonders die Ausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen liegen über dem Schnitt aller Berufsgruppen. Das berichtete jüngst die Bertelsmann Stiftung und das Fachkräfte-Forum. Beide appellierten, die pädagogischen Fachkräfte zu entlasten und die Ausfallzeiten durch Vertretungen aufzufangen. Dafür brauche es Geld und pädagogisch qualifizierte Vertretungskräfte.

50 Prozent mehr Krankheitstage

Knapp 30 Tage waren Beschäftigte in der Kinderbetreuung und -erziehung im Jahr 2023 arbeitsunfähig, gegenüber rund 20 Tagen bei allen Berufsgruppen. Wenig überraschend ist, dass die weitaus meisten Krankheitsgründe aufgrund von Atemwegserkrankungen erfolgten. Bedrückend dagegen, dass an zweiter Stelle bereits die psychischen Erkrankungen folgen. Darin erkennt Anette Stein, Expertin der Bertelsmann Stiftung für frühkindliche Bildung, einen echten Teufelskreis: „Aufgrund der steigenden Krankenstände fallen immer mehr Fachkräfte aus, wodurch die Überlastung für die verbleibenden Beschäftigten weiter zunimmt. An gute frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung ist vielerorts gar nicht mehr zu denken.“

Forderungen sind gut, Lösungen wären besser

Woher die benötigten pädagogisch qualifizierten Fachkräfte kommen sollen, können Stiftung und Fachkräfte-Forum auch nicht so recht sagen. Zwar verweist Bertelsmann auf sein Fachkräfte-Radar für Kita und Grundschule, nach welchem aufgrund zurückgehender Kinderzahlen im Osten die Chance bestehe, freiwerdende Fachkräfte für Vertretungen zu nutzen. Bei der Veröffentlichung des Fachkräfteradars äußerte Stein jedoch: „Bis 2030 besteht für die ostdeutschen Bundesländer aufgrund der zurückgehenden Kinderzahlen die Chance, die Personalschlüssel an das Westniveau anzugleichen und die Elternbedarfe zu erfüllen. Brandenburg und Sachsen sowie – mit etwas mehr Anstrengung – Sachsen-Anhalt und Thüringen können bis 2030 sogar kindgerechte Personalschlüssel erreichen.“

Bessere Personalschlüssel und gleichzeitig mehr pädagogisch qualifizierte Vertretungskräfte? Zwei Dinge in einem? Und das bis 2030? Die pädagogischen Fachkräfte werden sich kaum zweiteilen lassen und zudem sind fünf Jahre eine lange Zeit. Errechnet die Stiftung doch, dass angesichts der Krankheitszahlen zusätzlich wohl 97.000 vollzeitbeschäftigte Fachkräfte als Vertretungskräfte fest eingestellt werden müssten. Angesichts der Tendenz zur Teilzeit dürfte der Bedarf wohl eher bei 150.000 liegen.

Individuelle Lösungen führen eher zum Ziel

Angesichts der über Jahrzehnte hinweg schrumpfenden Geburtenjahrgänge erfassen solche Zahlen die Realität nicht und können schon gar keine Lösungen bieten. Es ist sicher an der Zeit die Bankrotterklärung des Betreuungssystems ernsthaft zu akzeptieren. Dabei darf nicht die Qualität leiden, sondern die Quantität muss verringert werden. Weniger Betreuungszeit wird jedoch weitere Mängel in Wirtschaft und Gesellschaft offenbaren. Das Problem kann deshalb schon lange nicht mehr im Großen und Ganzen gelöst werden, ohne dass sich die Politik aus der Verantwortung stehlen darf. Die besten Lösungen werden sich jedoch vieltausendfach in individuellen Lösungen vor Ort finden lassen. Hier müssen alle Verantwortung für die Bildung und Betreuung der Kinder übernehmen. Besonders die Gemeinden sind hier mit erhöhten Aufwendungen und auch die Vereine sind gefragt.

Die eine richtige Lösung wird es dabei nicht geben. Aber es ist sicher besser, der Realität ins Auge zu sehen, statt auf eine qualifizierte Unterstützung von Menschen zu hoffen, die niemals geboren wurden. Übrigens auch ein Versagen der Familienpolitik in den vergangenen Jahrzehnten.

Konkrete Hilfen

Einen kleinen Anteil können auch einfache Präventionsmaßnahmen im Hygiene- und Gesundheitsbereich leisten. Mehr Bewegung und eine gesündere Ernährung gehören für Kinder wie Erwachsenen dazu.

Helfen können auch Informationen aus verschiedenen Bereichen. So hat etwa die Weiterbildungsinititative Frühpädagogische Fachkräfte ein Wegweiser zur Gesundheitsförderung in Kitas herausgegeben. Hier sind Handlungsanforderungen genauso enthalten wie Kompetenzprofile und Umsetzungsbeispiele.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat in ihrem alphabetischen Verzeichnis einen ausführlichen Beitrag zur Gesundheitsförderung in Kindertageseinrichtungen zu bieten. In der Zusammenfassung ihres Beitrags schreiben Antje Richter-Kornweitz und Christina Kruse: „Gesundheitsförderung in Kindertageseinrichtungen (Kitas) setzt im Alltag an: Sie soll Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Einrichtung berücksichtigen und ein positives Konzept von Gesundheit vermitteln. Ziel ist es, die Kita zu einer gesunden Lebenswelt zu machen. Im Mittelpunkt steht dabei ebenso die Förderung von gesundheitsrelevanten Einstellungen und Verhaltensweisen, wie die Entwicklung der nötigen Rahmenbedingungen bzw. Lebensverhältnisse. Zwischen beidem bestehen enge Wechselwirkungen.“

Eine Handlungshilfe zur Gefährdungsbeurteilung in Kindertageseinrichtungen hat die Unfallkasse Baden-Württemberg herausgegeben. Unter der Überschrift „Gesundheit von pädagogischen Fachkräften“ bilden die psychischen Faktoren einen besonderen Schwerpunkt der Handlungshilfe. Dabei möchte die Unfallkasse Trägern, Kita-Leitungen und Interessierten dadurch Mut machen, sich mit diesen zunehmend an Bedeutung gewinnenden Faktoren zu befassen, um für alle Beteiligten eine optimale, gesundheitsförderliche Gestaltung des Berufes von pädagogischen Fachkräften zu erreichen.

Denn nach der Lektüre all dieser Schriften zeigt sich, dass es in erster Linie auf die psychische Gesundheit der pädagogischen Fachkräfte ankommt. Sie ist die Grundlage für ein qualitätsvolles Bildungs- und Betreuungssystem. Grundlegende Lösungen werden jedoch noch lange auf sich warten lassen. Jetzt sollten sich vor allem Gemeinden, Vereine und jeder einzelne aufgefordert sehen, pädagogische Fachkräfte in ihrer Arbeit zu unterstützen. Konzepte dafür gibt es reichlich. Vielmehr hakt es an der Bereitschaft. Aber Bildung und Erziehung der Kinder ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Schließlich entscheiden deren Erfolg oder Misserfolg über deren Zukunft.




Damit Kinder weniger anfällig sind: sanfte Abhärtung

So können Sie die Abwehrkräfte von Kindern stärken

Viel frische Luft, viel Bewegung, eine ausgewogene Ernährung und ausreichend Schlaf helfen, das Immunsystem von Kindern zu stärken und die körpereigenen Abwehrkräfte zu mobilisieren. So können Sie bereits durch einige wenige „gesunde Alltagsroutinen“ einiges dafür tun, damit Kinder weniger anfällig für Krankheiten sind:

  • Geben Sie Kindern von Anfang an Gelegenheit, sich viel und ausgiebig zu bewegen.
  • Gehen Sie eher zu Fuß mit den Kindern, statt sie zu fahren.
  • Lassen Sie die Kinder auch bei Wind und Wetter nach Möglichkeit täglich ein bis zwei Stunden frische Luft tanken – am besten im Grünen.
  • Lüften Sie die Räume immer wieder gut durch.
  • Vermeiden Sie, dass die Kinder durch zu warme Kleidung schwitzen.
  • Achten Sie auf eine abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung mit viel Obst und Gemüse und wenig Süßem und Fettem.
  • Achten Sie darauf, dass die Kinder ihrem Alter und Schlafbedarf entsprechend genügend Schlaf bekommen.
  • Sorgen Sie dafür, dass Kinder weder Tabak- noch Cannabisrauch ausgesetzt sind.

Quelle: Stiftung Kindergesundheit

        




Kinder- und Jugendbericht: Sicherheit und Orientierung sind gefragt

Die meisten jungen Menschen in Deutschland blicken mit Zuversicht auf die kommenden Jahre

In Deutschland leben derzeit rund 22 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Der Bericht zeigt: Ihre Generation ist so vielfältig wie nie zuvor. Aber eins haben sie gemeinsam: Sicherheit und Orientierung sind notwendig für gutes Aufwachsen. Das ist jedoch aktuell geprägt von sich überlagernden Herausforderungen wie Krieg, Klimawandel, globale Fluchtmigration, Nachwirkungen der Pandemie, aber auch von Fachkräftemangel und dem Druck auf die Demokratie.

Zukunftsvertrauen hat abgenommen

Die meisten jungen Menschen in Deutschland blicken mit Zuversicht auf die kommenden Jahre. Ihr Zukunftsvertrauen hat jedoch abgenommen. Von den aktuellen Krisen sind sie unterschiedlich stark betroffen – je nachdem, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zugehörigkeiten und Zuschreibungen sie aufwachsen.

Die Gesellschaft verfügt über vielfältige Ressourcen für die junge Generation. Es gelingt ihr aber nicht, diese allen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen gleichermaßen zugänglich zu machen.

Die Berichtskommission sieht Politik und Gesellschaft gefordert, junge Menschen und künftige Generationen mit ihren Bedürfnissen stärker zu berücksichtigen.

Vertrauenswürdige Rahmenbedingungen

Der Bericht betont, dass junge Menschen auch in schwierigen Zeiten vertrauenswürdige Rahmenbedingungen brauchen. Dafür ist eine starke Kinder- und Jugendhilfe unverzichtbar. Dazu gehören viele Arbeitsfelder und Aufgaben – etwa die Kinderbetreuung in Kitas und Schulen, Jugendzentren, Jugendverbände, der internationale Jugendaustausch, die Jugendsozialarbeit und die vielfältigen Leistungen der Jugendämter vor Ort.

Jugendhilfe muss besser werden

Prof. Dr. Karin Böllert, Vorsitzende der Berichtskommission: „Die Kinder- und Jugendhilfe ist trotz der Ausnahmesituationen der letzten Jahre funktionsfähig, kommt aber zunehmend an ihre Grenzen. Zum guten Aufwachsen gehören Zuversicht und Vertrauen. Wenn die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren Leistungen auch weiterhin dazu beitragen soll, muss sie verlässlich sein und noch besser werden als sie es ist.“

Bei der Erstellung des Berichts hat die Berichtskommission großen Wert auf eine umfängliche Beteiligung junger Menschen gelegt. Insgesamt hat sie rund 5.400 junge Menschen zwischen fünf und 27 Jahren zu verschiedenen Fragestellungen beteiligt.

Hintergrund:

Gemäß § 84 SGB VIII ist die Bundesregierung verpflichtet, dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat in jeder Legislaturperiode einen Kinder- und Jugendbericht vorzulegen und dazu Stellung zu nehmen. Mit der Ausarbeitung des Berichtes wird jeweils eine unabhängige Sachverständigenkommission beauftragt. Mit einer Stellungnahme der Bundesregierung wird der Bericht Bundestag und Bundesrat zugeleitet.

Den Bericht, eine Kurzbroschüre und weitere Informationen finden Sie auf www.bmfsfj.de/kinder-und-jugendbericht.




Von der Herzensbildung zur emotionalen Intelligenz

Das Herz hat Gründe, von denen die Vernunft nichts weiß

Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts waren Gefühle in wissenschaftlichen Labors verpönt. Sie seien zu subjektiv, verschwommen und stünden im absoluten Gegensatz zur Vernunft. Doch diese These wurde im Laufe der Geschichte von vielen Philosophen, Pädagogen und Dichtern immer wieder in Frage gestellt. Der folgende Exkurs in die Vergangenheit der Herzensbildung macht dies deutlich:

„Das Herz hat Gründe, von denen die Vernunft nichts weiß“, gab schon im 17. Jahrhundert der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal 52 (1623 – 1662) zu bedenken, als er um das Recht auf intuitive Gewissheit kämpfte. Dem Naturwissenschaftler haben wir nicht nur viele Erfindungen (die Rechenmaschine, die Wahrscheinlichkeitsrechnung, das Barometer und das Pascalsche Dreieck) zu verdanken, sondern vor allem die wunderbare Wortschöpfung raison du coeur also die Vernunft des Herzens. Pascal vertrat die Ansicht, die Mathematik fördere mit ihrer streng geometrischen Methode rationales Denken, was in der Wissenschaft notwendig sei.

Aber es gäbe viele nichtwissenschaftliche Lebensfragen, die weder die mathematische Vernunft noch der geometrische Geist (esprit de geometrie) beantworten könnten. In den existentiellen Fragen des menschlichen Lebens sei vielmehr die gefühlsmäßige Intuition als feinsinniger Geist (esprit de finesse) gefragt. Pascal glaubte, dass nur die Gründe des Herzens und nicht die der Vernunft den irrenden und zweifelnden Menschen zu Wissen und Erkenntnis führen könnten. Das Herz habe dabei Gründe, die die Vernunft nicht kenne. Es folge somit einer eigenen Logik, einer Herzensvernunft (raison du coeur ). Erst diese – so meint Pascal – führe den Menschen zur Nächstenliebe und zum wahren christlichen Glauben.

Selbst der Vater des Wirtschaftsliberalismus, der Philosoph John Locke 53 (1632 – 1704) riet:

„Alles, was Sie zum Vorteil der Geister- und Herzensbildung Ihres Sohnes auslegen, wird Ihre wahre Güte bekunden, selbst wenn es zur Verminderung seines Habes und Gutes beiträgt.“

Wenige Jahrzehnte später formulierte der französische Dichter und Moralist Luc de Clapier Vauvenargues54 (1715 – 1749) treffend: „Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen.“ („Les grandes pensées viennent du coeur“).

Mitte des 18. Jahrhunderts verwendete der franz.-schweizerische Philosoph Jean-Jacques Rousseau55 (1712 – 1778) Begriffe wie education du coeur oder Menschenbildung. In seinem Erziehungsroman Émile ou de l’éducation von 1762 stellt er das Ideal einer naturnahen, undogmatischen Erziehung auf, in der sich die natürlichen Anlagen des Kindes frei entwickeln sollen. Und dazu gehört natürlich auch das Recht auf die Freiheit von Gefühl und ­Leidenschaft. Mit dieser Forderung gilt Rousseau als Wegbereiter einer kindgerechten ­Pädagogik.

Wissenswertes aus der Geschichte der Pädagogik:

Heute erscheint uns der Appell von Rousseau, die natürlichen Anlagen des Kindes müss­ten sich frei entwickeln, als selbstverständlich. Doch in der Geschichte der Pädagogik war dies nicht immer so. Zur Zeit Rousseaus, der Aufklärung, gab es noch keine Pädagogen als ausgewiesenen Berufsstand. Es waren die Philosophen, die das zeitgenössische Menschenbild und somit die Maßstäbe der Erziehung prägten. Damals rangen zwei philosophische Strömungen um die Vorherrschaft:

  1. die Idealphilosophie Platons bestimmte bis in die Neuzeit die Erziehungsmaßstäbe des Abendlandes. Sie wollte den Menschen nach Idealen ausrichten, d. h. das Kind auf ein vorgegebenes, von außen festgelegtes Ziel hin erziehen.
  2. die Existenzphilosophie hielt erst mit Rousseau Einzug in die Pädagogik. Ihr ging es erstmals darum, den Menschen nach seinen Fähigkeiten zu erziehen, seine Begabungen zu erkennen und zu fördern. Das Kind selbst, seine geistige und körperliche Entwicklung, seine Bedürfnisse und Gefühle rückten von nun an in den Mittelpunkt der Erziehung. Ein Meilenstein in der Pädagogik!

Der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi 56 (1746 – 1827) forderte:

„Der erste Unterricht des Kindes sei nie die Sache des Kopfes, er sei nie die Sache der Vernunft – er sei ewig die Sache der Sinne, er sei ewig die Sache des Herzens. Wenn es mir nur von ferne gelingen sollte, die abgestorbenen Fundamente der Geistes- und Herzensbildung und einer mit den veredelten Kräften des Geistes und des Herzens übereinstimmenden Kunstbildung dem Herzen meiner Zeitgenossen wieder näher zu bringen, so würde ich mein Leben segnen und die größten Hoffnungen meiner Bestrebungen erfüllt sehen.“

Pestalozzi betonte, dass die Lernschritte und die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes unmittelbar von den mitmenschlichen Qualitäten des Erziehers und Lehrers abhängen. In seinen zahlreichen Briefen57 an den Reformpädagogen Peter Petersen (1884 – 1952) betonte Pestalozzi immer wieder den Vorrang der Herzensbildung gegenüber der Geistesbildung.
Es ist sicher kein Zufall, dass Pestalozzi, der von seinem sechsten Lebensjahr an vaterlos aufgewachsen und trotz Mutter und Kinderfrau emotional verwahrlost war, in seinem pädagogischen Werk so viel Wert auf eine Gefühlserziehung legte. Aber ihm selbst war der Erfolg bei seinem eigenen Sohn nicht vergönnt. Er war zwar in der Lage fremden Waisenkindern genügend väterliche Wärme zu geben, sein Sohn jedoch wuchs verwahrlost auf, galt als Zehnjähriger als geistesschwach und starb mit 30 Jahren. Von Schuldgefühlen geplagt, schrieb Pestalozzi: „Du kannst den Teufel aus deinem Garten verjagen, doch im Garten ­deines Sohnes findest du ihn wieder.“

Die Vordenker kamen nicht nur aus den Reihen der Philosophen und Pädagogen

Auch der Theologe Adolf Kolping (1813 – 1865) erklärte die Herzensbildung zum Leitmotiv seines sozialreformerischen Erziehungs- und Bildungskonzeptes.

Der österreichische Neurologe Sigmund Freud58 (1856 – 1939) beschäftigte sich als erster in intensiven Studien mit dem Einfluss der Gefühle auf unser Denken und Handeln. Die von ihm entwickelte Psychoanalyse interessierte sich vor allem für die unbewussten Gefühle, die uns triebhaft steuern. Das Es wurde zum Sinnbild der unbewussten Triebe und Gefühle und das Ich verkörperte das vernünftig Handelnde. Freud war der erste, der das pathologische Potenzial gestörter Emotionen erforscht und beschrieben hat.

Die Stimmen, die die Einheit von Denken und Gefühl forderten, wurden zunehmend lauter und kamen aus den verschiedensten Bereichen. So meinte der französische Dramatiker Romain Rolland (1866 – 1944): „Die Intelligenz des Denkens ist nichts ohne die Intelligenz des Herzens. Und sie ist auch nichts, ohne den gesunden Menschenverstand.“ Selbst für den dänischen Physiker Niels Bohr (1885 – 1962) folgte das Denken nicht nur berechenbaren Regeln sondern auch spontanen Gefühlen. Sein Satz, den er einem Student tadelnd sagte, wurde zu einem bekannten Ausspruch: Sie denken nicht nach, Sie denken nur logisch!

Heute beschreibt der Philosoph Ronald De Sousa 59 in seinem epochalen Werk, dass Gefühle maßgeblich am Erwerb von Überzeugungen und Wünschen beteiligt sind. Für ihn entziehen sie sich keinesfalls der rationalen Beurteilung, sondern sie öffnen gemeinsam vor aller Rationalität dem Menschen die Welt. Gefühle – das zeigt de Sousa ausführlich – lenken und kontrollieren die Erfahrung. Immer steht der Mensch unzähligen Eindrücken gegenüber, deren Dringlichkeit man eiligst beurteilen muss. Erst die Gefühle machen die Rationalität der menschlichen Vernunft möglich.

Auch der bekannte Hirnforscher Antonio R. Damasio 60 betont:

„Meine Forschungsergebnisse haben mich überzeugt, dass die Emotion ein integraler Bestandteil des Denkprozesses ist“. Seiner Meinung nach leide „die Menschheit nicht an einem Defekt ihrer logischen Kompetenz, sondern vielmehr an einem Defekt ihrer Emotionen, die wichtige Informationen für den logischen Prozess bereitstellen.“ Für den Computerwissenschaftler David Gelernter61 sind „Emotionen nicht eine besondere Form von Gedanken, kein zusätzlicher Weg des Denkens, kein spezieller kognitiver Prozess, Emotionen sind vielmehr grundlegend mit dem Denken verwoben.“ Erst die Gefühle machen unser Denken flexibel. Während der logische Verstand die Gedanken lange abwägt, vermag das Gefühl rasche Entscheidungen zu treffen, die nicht aus der Logik entspringen. Die Urteile aus dem Gefühl entstammen aus zwei anderen Quellen: Aus der genetischen Programmierung unserer Intuition und aus unseren Erfahrungen. „Wie ein Bild mehr als tausend Worte ausdrücken kann, so sagt eine Emotion oft mehr als tausend Gedanken.“62

Auf meinem Exkurs in die Vergangenheit der Herzensbildung suchte ich nach den ersten ­zeitgenössischen Literaturbelegen und stellte mir die Frage nach dem Wortursprung 63. Der wertvollste Fund ist ein Beleg aus dem Jahr 1779.

Er stammt aus der Zeitschrift Zuschauer in Baiern 65 und lautet:

„So viel ich merke, sagte der Verwalter, so wird in dieser Monathschrift nicht einmal von den Türken, von den Engländern und Amerikanern etwas vorkommen, sondern bloß neue Worte und Redensarten, wie’s jetzt im Schwung gehen, und so abgeschmackte Dinge von Herzensbildung, wie sie’s nennen.“

Es klingt so, als sei der Begriff Herzensbildung damals gerade erst von bestimmten Leuten, die der Schreiber offenbar nicht mag, aufgebracht worden.

Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm gibt als ersten schriftlichen Beleg eine Literaturzeitung66 aus dem Jahre 1838 an. Es handelt sich dabei um einen Artikel über Astronomie, genauer um planetarische Seelenwanderung:
„So wie jemand durch Geistes- und Herzensbildung sich für diesen oder jenen Planeten qualifiziert, scheidet die Seele aus ihrer Hülle, und wird dort in einer neuen als Kind geboren.“


Diesen Text haben wir aus folgendem Buch:


Der nächste Beleg 67 aus dem Jahre 1855 stellt die Herzensbildung der Frauen in Frage:

„Was sind das für wechselnde Geschöpfe, die uns in ihrem Empfangszimmer durch ihre Freundlichkeit bezaubern und uns in der Küche, im Bügelzimmer, der armen Magd oder Näherin gegenüber, das Blut vor Entrüstung kochen machen? Die wahre, echte Herzensbildung besitzen sie freilich nicht, denn diese bewährt sich allenthalben, aber sie sind doch nicht so schlimm wie sie scheinen. Es ist gewiß häufiger Unkenntniß der Sache als innere Härte, die sie zu solchen häßlichen Ausbrüchen verleitet.“ Wie soll die Frau, wie soll das junge Mädchen gerecht sein, Dienstleistungen gegenüber, von deren Ausübung sie kaum eine Ahnung hat?“

Auch 1856 scheint Herzensbildung eine reine Frauenangelegenheit zu sein. So ist im Frauen-Brevier 68 zu lesen:

„Und wie viel kann eine edle, gebildete Frau wirken für die Linderung allgemein menschlicher Leiden, für die Verbesserung gesellschaftlicher Uebelstände, wenn sie sich diesen Pflichten aus wahrer Herzensneigung, mit ernster Hingebung und unter der Leitung eines aufge­klärten, gebildeten Verstandes widmet … ohne Verbitterung des Gemüths und ohne Verkümmerung des Geistes zu ertragen und an der Stelle des vom Schicksal ihnen versagten Looses sich ein anderes, möglichst befriedigendes für sie selbst und möglichst nutzbringendes für die Welt zu schaffen, auch dazu befähigt die Frauen nur eine wahre, gründliche ­Geistesbildung und Herzensbildung.“

Geht man heute ins Internet auf die Suche nach dem Begriff Herzensbildung so findet man unzählige Verweise z. B. auf die Universität St. Gallen in der Schweiz, deren Studiengänge von Kopf, Herz und Hand bestimmt werden oder auf die Gutenberg-Grundschule in Finnentrop, die lobenswerterweise in ihrem Schulprogramm die Herzensbildung als wichtigen Baustein ausweist.

Was Johann Wolfgang von Goethe noch zärtlich romantisierend Herzensbildung nannte, wird heute als emotionale Intelligenz bezeichnet

Der Begriff wurde erstmals 1986 von den beiden amerikanischen Psychologen Peter Salovey (Yale University) und John Mayer69 (University of New Hampshire) benutzt. Sie vertraten die Ansicht, die emotionale Intelligenz bilde eine Teilmenge der sozialen Intelligenz. Der Entwicklungspsychologe Howard Gardner70 (Harvard Graduate School of Education) unterteilt diese wiederum in eine intrapersonale Intelligenz, bei der es um das Verständnis der eigenen Gefühle geht, und in eine interpersonale Intelligenz, bei der es um das Verständnis der Gefühle unserer Mitmenschen geht.
Erst durch den Bestseller Emotionale Intelligenz des amerikanischen Psychologen und Publizisten Daniel Goleman71 wurde der Begriff weltweit bekannt. Er hat die seit der Aufklärung auseinanderdriftenden Welten von Ration und Emotion wieder zu einer griffigen Formel vereint: Emotionale Intelligenz. Lange Zeit galt der Intelligenz-Quotient (IQ) als der Maßstab für Erfolg. Doch immer mehr Kritiker bezweifelten dies: Was sagt schon eine im IQ-Test erworbene Punktzahl aus; hat der Kandidat mit 135 Punkten mehr Intelligenz als der mit 105 Punkten? „Ich kenne niemanden, der in diesem Sinne Intelligenz hat. Die Menschen, die ich kenne, tun manchmal etwas Kluges, und sie tun manchmal etwas Dummes – das hängt von den Umständen ab, unter denen sie handeln.“ 72
Goleman, der mit mehr als 500 Unternehmen zusammenarbeitet, hatte festgestellt, dass die emotionale Intelligenz der Mitarbeiter stärker am Erfolg einer Firma beteiligt sei als Intelligenzquotient und Sachverstand zusammengenommen.

„Emotionale Intelligenz bedeutet auch, die eigenen Gefühle zu kennen und sie optimal managen zu können. Empfindungen so zu regulieren, dass Zorn effektiv wird, Furcht bezähmbar. Ein emotional intelligenter Mensch findet fast immer selber aus einer Niedergeschlagenheit heraus, kann seine optimistische Stimmung bewahren und beispielsweise am Arbeitsplatz trotz Frustration unbeirrt weitermachen.“73

Rasch avancierte die emotionale Intelligenz zum soft skill der New Economy, die darin den eigentlichen Schlüssel zum Erfolg sah

Das neuartige an dem Begriff Emotionale Intelligenz ist die Verbindung von zwei Welten, die lange Zeit als unvereinbar galten: Diffuse Emotionen und konkrete Intelligenz. Denn in unserer Gesellschaft dominiert weithin das Bild vom vernunftgesteuerten, bewussten und frei entscheidenden Menschen. Gefühle gelten als schwer fassbar und beängstigend; sie haben im Gegensatz zu Gedanken keinen konkret benennbaren Inhalt, sind gegenstandsarm und daher unpräziser. Die Annahme Denken und Fühlen müssten streng unterschieden werden, ist zwar immer noch tief verwurzelt, aber sie entspricht schon lange nicht mehr den Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen Forschung. Die Hirnfoschung lehrt uns heute, dass Vernunft und Verstand eingebettet sind in die emotionale Natur des Menschen. Körper, Denken und Gefühle sind durch neuronale Netzwerke eng miteinander verbunden und funktionieren als Einheit.

Emotionale Reize wirken auf nahezu alle Bereiche der Großhirnrinde, die unsere Wahrnehmung und komplexen Denkabläufe steuert. Das limbische System bewertet und wägt alles, was wir tun mit unserem emotionalen Erfahrungsschatz ab. Unsere Gefühle gehen mit sicht- und messbaren körperlichen Empfindungen einher: Das Herz schlägt vor Freude höher, der Angstschweiß auf der Stirn entsteht, die Trauer lässt die Schultern hängen, der Schreck macht uns kreidebleich, die Wut zornesrot und der Neid macht uns blass.

Übrigens: Wissen Sie, warum Liebe blind macht und unseren Verstand vernebelt?

Der Schweizer Neurowissenschaftler Andreas Bartels stellte fest, dass der Serotoninwert (ein Botenstoff bzw. Neurotransmitter) im Hirn um 40 % unter den Normalwert sinkt, wenn wir verliebt sind. Dann ist unser Erregungsniveau erhöht, wir verspüren wenig Schlafbedürfnis und Appetit, unsere Wahrnehmung ist gestört, unsere Hemmungen sinken und unsere Bereitschaft zu irrationalen Handlungen steigt. Zum Glück hält dieser Zustand nur die ersten Monate des Verliebtseins an. Danach steigt der Serotoninwert langsam bis zum Normalwert an.
Eines ist jedenfalls klar: Jeder Mensch meistert kritische Augenblicke, schwierige Phasen, gefährliche Versuchungen, dauerhafte Belastungen und ungünstige Lebensbedingungen umso besser, je ausgeprägter seine emotionale Intelligenz ist. Er vermag seine Gefühle und Reaktionen und die anderer in verschiedenen Situationen einzuschätzen, zu handhaben und zu bewerten.
Die emotionale Intelligenz beinhaltet fünf Baustein, die in den nächsten Kapiteln ausführlich erläutert werden: Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Motivation, Empathie und soziale Kompetenz.

Was Pädagogen beherzigen sollten

  • Auch wenn emotionale Intelligenz nicht messbar ist, so ist sie doch erlernbar. Wer in seiner Kindheit und Jugend gelernt hat, mit seinen Gefühlen und denen seiner Mitmenschen umzugehen, vermag sein geistiges Potenzial voll auszuschöpfen ohne zum Spielball seiner Emotionen zu werden.
  • Überdenken Sie immer wieder den Appell des Neurobiologen Gerald Hüther74: „Die Kleinen sollten nicht ständig unterrichtet werden. Gedichte oder Vokabeln auswendig lernen sind relativ einfache Lernleistungen, die gar nicht einmal im Frontalhirn verankert werden, sondern in hinteren Hirnregionen. Kinder müssen in dieser Zeit vielmehr lernen können, wie man Beziehungen gestaltet: Zu anderen Kindern, zu den Eltern und Erziehern, zur äußeren Welt und zu sich selbst. In diesen Erfahrungen müssen sie sicher werden! Gemessen an diesen Leistungen sind Lesen, Schreiben und Rechnen lernen oder einen Computer bedienen ein Kinderspiel!“
  • Kinder und Jugendliche mit hoher emotionaler Intelligenz verfügen über ein stabiles Selbstwertgefühl, über Problemlösungsstrategien, über ein inneres Krisenmanagement und vor allem kennen sie Alternativen zu Gewalt und Drogen, um sich selbst zu spüren.
  • Die Lern- und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes hängt unmittelbar von den emotionalen Qualitäten seiner Eltern, Erzieher und ­Lehrer ab.

Emotionen und Gefühle sind die persönlichsten, elementarsten und mächtigsten Antriebskräfte des Menschen.
(Yehudi Menuhin)

Anmerkungen:

54 vgl. Vauvenargues, Luc de Clapiere: Introduction à la connaissance de l’ésprit humain, suvi de reflexions et de maximes. Paris 1747.
55 vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Emil oder Über die Erziehung. Paderborn 1975.
56 Pestalozzi, Heinrich: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Baden-Baden 1947. S. 175 ff.
57 vgl.: Pestalozzi, Johann H: Sämtliche Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Pestalozzianum Zürich und Pädagogisches Institut d. Universität Zürich
58 vgl. Freud, Sigmund: Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt a. M. 1970
59 vgl. De Sousa, Ronald: Die Rationalität des Gefühls. Frankfurt a.M. 2001
60 Damasio, Antonio R.: Descartes Error and the Future of Human Life. In: Scientific American, Okt. 1994, S. 144
61 Gelernter, David: The Muse in the Machine. Computerizing Poetry of Human Thought. New York 1994. S. 46 – 47.
62 Klein, Stefan: Die Glücksformel oder Wie die guten Gefühle entstehen. Hamburg 2002. S.43.
63 Ohne die freundliche Unterstützung des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim hätte ich diese sicher nicht beantworten können. Nach gründlicher Recherche fand man kleine lexikalische Edelsteine.
64 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Band IV,II. Leipzig 1877. S. 1233.
65 Zuschauer in Baiern. Erster Band 1779. S. 2.
66 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung. September 1838, Nr.179, S. 471.
67 Büchner, Luise: Die Frauen und ihr Beruf. (Erstdruck 1855, anonym) Band 4. vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig: Th. Thomas.1872. S. 42-43
68 Biedermann: Frauen-Brevier (Erstv. 1856), 1986, S. 83.
69 Salovey, Peter / Mayer, John: Emotional Intelligence. Imagination, Cognition an Personality. 1990.
70 vgl. Gardner, Howard: Abschied vom IQ. Die Rahmen-Theorie der vielfachen Intelligenzen. Stuttgart 1991.
71 vgl. Goleman, Daniel: Emotionale Intelligenz. München 2000. Daniel Goldman, geb. 1946, war klinischer Psychologe an der Harvard Universität, USA. Zur Zeit ist er Redakteur für Psychologie und Neurowissenschaften bei der New York Times.
72 Postmann, Neil: Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung. München 2001. 3.Aufl. S. 43; S. 210.
73 Goleman, Daniel: Unser Gehirn tanzt. Interview in : Der Spiegel. Nr.6, 1996. S.127.