Gericht stoppt „Immun-Smoothie“ für Kinder: Foodwatch setzt sich durch

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Das Landgericht Karlsruhe erklärt die Bezeichnung eines Kinder-Quetschies als „Immun-Smoothie“ für irreführend. Foodwatch begrüßt das Urteil als wichtigen Sieg gegen Gesundheitswerbung, die Eltern täuscht.

Foodwatch gewinnt Klage gegen dm

Die Verbraucherorganisation Foodwatch hat vor dem Landgericht Karlsruhe einen wichtigen Erfolg erzielt: Die Drogeriekette dm darf ihr Kinderprodukt nicht länger als „Immun-Smoothie“ bewerben. Das Gericht entschied, dass die Bezeichnung gegen die europäische Health-Claims-Verordnung verstößt.

Der Begriff erwecke den falschen Eindruck, das Produkt könne das Immunsystem stärken. Laut Richter handelt es sich um eine gesundheitsbezogene Angabe, die nicht auf der EU-Liste zugelassener Health Claims steht – und damit unzulässig ist.

Irreführung von Eltern und Kindern

„Wer Fruchtpüree mit Vitaminzusatz und zehn Prozent Zucker als ‚Immun-Smoothie‘ verkauft, führt Eltern in die Irre – und zieht ihnen obendrein das Geld aus der Tasche. Das ist nicht nur dreist, sondern schlicht illegal“, erklärte Rauna Bindewald von Foodwatch.

Das Produkt, ein Quetschie aus Fruchtpüree mit zugesetzten Vitaminen, enthält trotz der Aufschrift „ohne Zuckerzusatz“ rund zehn Prozent Fruchtzucker. Damit ist es für Kinder ebenso kritisch wie herkömmlicher Haushaltszucker und erreicht im Nutri-Score nur die Bewertung D.

Zudem kritisiert Foodwatch, dass dm das Produkt in der Nähe von Nahrungsergänzungsmitteln platzierte und so gezielt einen gesunden Eindruck erweckte.

Hintergrund: Was die Health-Claims-Verordnung schützt

Die europäische Health-Claims-Verordnung regelt, welche gesundheitsbezogenen Aussagen erlaubt sind. Zulässig sind nur Angaben, die zuvor ein wissenschaftliches Prüfverfahren bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) durchlaufen haben.

So darf beispielsweise der Hinweis, dass Vitamin D „zu einer normalen Funktion des Immunsystems beiträgt“, verwendet werden. Doch selbst ein solcher Satz darf nicht dazu dienen, ein komplettes Produkt unter dem Etikett „Immun-Smoothie“ zu vermarkten – insbesondere nicht, wenn der Hinweis im Kleingedruckten versteckt wird.

Mehr Fälle von irreführender „Immun-Werbung“

Der „Immun-Smoothie“ ist kein Einzelfall:

  • Das Barnhouse-Kinder-Müsli „Krunchy Immune Plus“ wurde nach einer Abmahnung von Foodwatch vom Markt genommen.
  • Gegen den Saft „BioC Immunkraft“ von Voelkel läuft aktuell noch eine Klage.

Foodwatch hatte in den vergangenen Monaten drei Produkte wegen irreführender Gesundheitsversprechen abgemahnt.

Bedeutung für Eltern und Pädagog:innen

Das Urteil ist ein starkes Signal für alle, die Kinder begleiten: Gesundheitsversprechen auf Lebensmitteln sind oft trügerisch. Gerade Eltern, die bewusst einkaufen wollen, können durch wohlklingende Produktnamen getäuscht werden.

Für Pädagog:innen ist der Fall ein Beispiel, wie wichtig Ernährungsbildung und ein kritischer Blick auf Werbung sind. Denn hinter bunten Verpackungen und Gesundheitsclaims steckt nicht immer ein gesundes Produkt.

Rechtslage und Ausblick

Das Urteil des Landgerichts Karlsruhe ist noch nicht rechtskräftig. dm kann bis Mitte September 2025 Berufung einlegen. Foodwatch kündigte an, auch in Zukunft genau hinzusehen und unzulässige Gesundheitsversprechen aufzudecken.

Weiterführende Informationen:

Quelle: Foodwatch (Pressemitteilung, 20. August 2025)




Jugendliche wünschen sich weniger Bildschirmzeit

Studien belegen den Wunsch nach mehr analogen Erlebnissen statt Dauer-Scrollen

In einer europaweiten Untersuchung im Auftrag von Vodafone wurden rund 4 000 Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren befragt, darunter 500 in Deutschland. Drei von vier Teilnehmenden empfinden zu viel Bildschirmzeit als ein gesellschaftliches Thema. Viele formulieren den Wunsch, ihre Smartphone-Nutzung bewusst zu reduzieren – zugunsten analoger Aktivitäten wie Zeit mit Familie, Outdoor-Erlebnissen oder kreativen Hobbys. (Vodafone‑Studie, März 2025) [Link zur Studie]

Social Media Verbot: Mehrheit spricht sich für Altersgrenzen aus

Nahezu zwei Drittel der Jugendlichen ab 16 Jahren befürworten ein Social‑Media‑Verbot für Kinder unter zwölf Jahren – bei den 11‑ bis 15‑Jährigen ist es etwa die Hälfte. Damit äußern Jugendliche selbst einen Wunsch nach klareren Regeln und Schutz beim Umgang mit digitalen Medien. (Vodafone‑Studie, März 2025) [Link zur Studie]

Smartphone ab wann? Geräte gehören früh zum Alltag

Laut einer Bitkom-Erhebung besitzen 76 % der 10‑ bis 12‑Jährigen ein eigenes Smartphone, bei den 13‑ bis 15‑Jährigen sind es 90 %, und ab 16 Jahren nahezu alle (95 %). Digitale Geräte gehören somit bereits früh zur Lebenswelt der Kinder.

Früher Smartphone-Besitz und psychisches Wohlbefinden

Eine internationale Analyse von Sapien Labs mit mehr als 100 000 jungen Erwachsenen zeigt ein Muster: Je früher das eigene Smartphone vorhanden war, desto häufiger liegen später Einschränkungen im psychischen Wohlbefinden vor – vor allem bei einem Einstiegsalter unter 13 Jahren.

Gesunder Umgang mit digitalen Medien: Begleitung ist entscheidend

Studien unterstreichen, dass nicht das Gerät allein entscheidend ist, sondern wie es genutzt wird: klare Regeln, gemeinsame Reflexion und Förderung von Offline-Aktivitäten durch Eltern und pädagogische Fachkräfte tragen zu einem ausgewogenen Medienumgang bei.




Babys denken zuerst an andere und dann an sich

Vom „Other-Referenz-Effekt“ zum „Selbstreferenz-Effekt“ – oder: Der Selbstreferenz-Effekt entsteht erst mit dem Selbstkonzept

Babys merken sich nicht in erster Linie, was für sie selbst wichtig ist – sondern, was für andere von Bedeutung ist. Das zeigt eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften gemeinsam mit der Technischen Universität Nürnberg und der Universität Kopenhagen.

„Überraschenderweise konnten wir feststellen, dass jüngere Babys sich besser merken, was der andere bekommen hat und nicht sie selbst“, erklärt Studienleiterin Charlotte Grosse Wiesmann.

Erst wenn Babys im zweiten Lebensjahr beginnen, sich selbst im Spiegel zu erkennen, zeigt sich der bekannte Selbstreferenz-Effekt: Informationen, die sie selbst betreffen, bleiben dann besser im Gedächtnis als solche, die andere betreffen.

Schlussfolgerungen: Lernen durch Beobachtung und Abhängigkeit von anderen

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass im zweiten Lebensjahr ein Umbau im Gedächtnis stattfindet. Während jüngere Babys noch stärker auf andere fokussiert sind, da sie selbst wenig handeln können, verschiebt sich die Priorität mit wachsender Selbstwahrnehmung hin zum Eigenen.

„Das macht insofern Sinn, als dass junge Babys selbst noch gar nicht so viel handeln können, sondern vielmehr andere beobachten und von ihnen lernen. Sie sind in starkem Maße von anderen abhängig. Daher priorisieren sie den anderen und merken sich alles, was für die andere Person wichtig ist“, so Grosse Wiesmann.

Mit der Entwicklung des Selbstkonzepts entsteht dann eine neue Strategie: Das Gedächtnis dient stärker der eigenen Handlungsplanung und Selbstwirksamkeit.

Methode: Gedächtnistest mit 18 Monate alten Babys

Für die Studie führten die Forschenden einen Gedächtnistest mit 18 Monate alten Kindern durch. Dabei wurden neue Objekte entweder den Babys selbst oder einer Puppe zugeordnet. Die Kinder lernten zuvor, dass sie später mit den „eigenen“ Objekten spielen könnten, während die Puppe ihre eigenen Objekte erhalten würde.

Im Experiment war der „andere Akteur“ einen Puppe, von der die Babys lernten, dass diese mit den Objekten würde spielen können,
die ihr zugeordnet wurden. © MPI CBS

Geprüft wurde, wie gut sich die Babys an die verschiedenen Objekte erinnerten. Entscheidend war dabei, ob sie bereits ein Selbstkonzept entwickelt hatten – gemessen an der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis im Spiegel.

Das Ergebnis: Babys mit Selbstkonzept erinnerten sich besser an ihre eigenen Objekte, Babys ohne Selbstkonzept dagegen an die der Puppe.




Gewaltfreie Erziehung im Gesetz: Die Schweiz zieht nach

Die Schweiz plant ein Gesetz zur gewaltfreien Erziehung – ein Blick nach Deutschland, Österreich und andere Länder zeigt, welche Wirkung klare Regeln entfalten können

Die Schweiz steht kurz vor einer gesetzlichen Verankerung des Prinzips der gewaltfreien Erziehung.  Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats (RK-S) sprach sich mit überwältigender Mehrheit dafür aus, das Recht auf gewaltfreie Erziehung klar im Zivilgesetzbuch (ZGB) zu verankern. Nun liegt der Entwurf beim Ständerat in der Herbstsession.

Schweiz: Ein klares Signal im Zivilgesetzbuch

Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats (RK-S) hat sich für eine Gesetzesänderung ausgesprochen, die das Prinzip der gewaltfreien Erziehung ausdrücklich ins Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) aufnehmen soll. Künftig soll unmissverständlich gelten: Gewalt – körperlich wie seelisch – ist in der Erziehung unzulässig. Damit folgt die Schweiz einem Weg, den viele europäische Länder bereits gegangen sind.

Studien verdeutlichen den Handlungsbedarf: Rund 40 % der Schweizer Eltern gaben an, schon einmal körperliche Gewalt angewendet zu haben, ein Viertel der Kinder erlebt regelmäßig psychische Gewalt. Mit der neuen Norm will der Gesetzgeber nicht primär bestrafen, sondern ein Bewusstsein schaffen und so Prävention stärken.

Deutschland: Bewusstseinswandel seit 2000

Deutschland verankerte 2000 das „Recht auf gewaltfreie Erziehung“ im Bürgerlichen Gesetzbuch. Innerhalb von 25 Jahren hat sich dadurch viel verändert: Während Anfang der 2000er Jahre noch die Mehrheit einen „Klaps“ für harmlos hielt, ist die Zustimmung heute auf rund ein Drittel gesunken. Noch drastischer: Nur noch etwa fünf Prozent finden eine „Tracht Prügel“ akzeptabel.

Parallel haben Schulen und Kitas zahlreiche Programme zur Gewaltprävention und Wertebildung eingeführt. Bekannte Beispiele sind „Faustlos“, ein Curriculum zur Förderung von Empathie und Impulskontrolle, oder „Klasse2000“, das Kindern in Grundschulen gesundheitsförderliche Lebensweisen vermittelt – inklusive gewaltfreier Konfliktlösung. Solche Programme zeigen, dass Gesetze ihre Wirkung vor allem dann entfalten, wenn pädagogische Praxis anschließt.

Österreich: Früher Schritt, langsamer Wandel

Österreich hat Gewalt in der Erziehung bereits 1989 gesetzlich verboten – und später sogar in der Bundesverfassung über Kinderrechte abgesichert. Doch der gesellschaftliche Wandel verlief langsamer: Noch 2019 kannten nur 63 % der Eltern das Verbot, und psychische Gewalt wurde oft nicht als solche wahrgenommen.
Inzwischen fördern Initiativen wie „Starke Eltern – starke Kinder“ oder das Kinderschutz-Zentrum Wien Aufklärung und Elternbildung. Auch hier zeigt sich: Gesetzgebung allein reicht nicht – sie muss durch kontinuierliche pädagogische Arbeit begleitet werden.

Schweden: Pionier mit Vorbildfunktion

Schweden war 1979 das erste Land der Welt, das ein ausdrückliches Verbot von Körperstrafen in der Erziehung einführte. Dort hat sich über Jahrzehnte ein neues gesellschaftliches Verständnis entwickelt: Körperliche Gewalt wird kaum noch akzeptiert, und Kinderrechte haben einen hohen Stellenwert. Die Erfahrung zeigt: Der Weg zu einer gewaltfreien Kultur ist langfristig, aber möglich.

Internationale Perspektive

Heute haben über 65 Länder weltweit ein gesetzliches Verbot körperlicher Strafen in der Erziehung eingeführt – darunter auch Frankreich, Irland und Spanien. Andere, wie die USA, kennen kein landesweites Verbot: Dort sind körperliche Strafen im familiären Rahmen vielerorts weiterhin erlaubt. Die internationale Entwicklung zeigt: Rechtliche Rahmenbedingungen sind sehr unterschiedlich, und die Umsetzung hängt stark von kulturellen Traditionen und gesellschaftlichen Debatten ab.

Gernot Körner




Start in Regelklassen beschleunigt Deutschlernen geflüchteter Kinder

Forschende der Universität Halle zeigen: Vorbereitungsklassen bringen oft weniger Fortschritte als erwartet – frühe Integration und sichere Bleibeperspektive sind entscheidend.

Kinder und Jugendliche, die nach ihrer Flucht nach Deutschland sofort in reguläre Schulklassen aufgenommen werden, entwickeln ihre Deutschkenntnisse deutlich schneller als Gleichaltrige, die zunächst in speziellen Willkommens- oder Vorbereitungsklassen unterrichtet werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Untersuchung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), in der Daten von über 1.000 geflüchteten Schülerinnen und Schülern ausgewertet wurden.

Lange Wartezeiten führe zu nachteiligen Effekten

Die Analyse verdeutlicht zudem, dass lange Wartezeiten bis zum Schulstart nachhaltig nachteilige Effekte haben. In vielen Bundesländern beginnt der Unterricht für geflüchtete Kinder erst nach Abschluss der kommunalen Zuweisung – häufig Monate nach der Ankunft. Diese Zeit ohne regelmäßigen Kontakt zu deutschsprachigen Mitschülerinnen und Mitschülern bremst den Spracherwerb deutlich.

Auch der Aufenthaltsstatus beeinflusst den Lernerfolg: Jugendliche mit unsicherer Bleibeperspektive verfügen im Durchschnitt über schwächere Deutschkenntnisse. Forschende vermuten, dass fehlende Planungssicherheit die Motivation zum intensiven Lernen mindert.

Politische Konsequenzen laut Studie

Das Forschungsteam empfiehlt, geflüchtete Kinder so schnell wie möglich in den Regelunterricht aufzunehmen und vor allem in Grundschulen auf längere Phasen in separaten Klassen zu verzichten. Ebenso könne ein sicherer Aufenthaltsstatus dazu beitragen, die Sprachentwicklung zu fördern.

Für die Untersuchung wurden Daten aus dem Panel „Refugees in the German Educational System“ (ReGES) genutzt. Erfasst wurden dabei sowohl Befragungsergebnisse als auch Sprachtests von 14- bis 16-jährigen Jugendlichen in Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt gefördert.

Originalstudie: Winkler, O. & Carwehl, A.-K. (2025). Institutional conditions and acquisition of language skills among young refugees: Investigating the German context. Acta Sociologica. https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/00016993251351531




Schlusslicht bei der Inklusion: Baden-Württemberg vor der Bildungswahl 2026

Freiburger Initiativen fordern konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention – Wahljahr als Chance für echten Wandel

Von außen betrachtet wirkt Baden-Württemberg modern, wirtschaftsstark und bildungspolitisch gut aufgestellt. Doch wenn es um schulische Inklusion geht, ist das „Ländle“ bundesweit Schlusslicht. Das belegt die Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und der Bertelsmann Stiftung des Soziologen Sebastian Steinmetz und anderer (2021) zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in den Bundesländern. In keinem einzigen der geprüften Kriterien erfüllte Baden-Württemberg seinerzeit die Vorgaben von Artikel 24 UN-BRK. Seither hat die Grün-Schwarze Landesregierung unter der Leitung des Ministerpräsidenten und langjährigen Gymnasiallehrers Winfried Kretschmann nur wenig getan.

Dabei gibt es seit dem 1. August 2015 ein „inklusives Schulgesetz“. Die Sonderschulpflicht wurde abgeschafft, Kinder mit Behinderungen dürfen theoretisch jede allgemeine Schule besuchen. In der Praxis funktioniert das jedoch selten. Viele Eltern berichten von fehlenden Ressourcen, überlasteten Lehrkräften, mangelnder Unterstützung sowie Diskriminierung und Mobbing. „Wir sprechen mit Eltern, die alles versucht haben, um ihr Kind in einer Regelschule zu halten – und am Ende doch aufgeben“, sagt Simone Ruser, Vorstandsmitglied von buntes wir e.V.. „Sie sind frustriert, weil das Versprechen von Inklusion in Baden-Württemberg oft nur auf dem Papier steht.“

Wir sprechen mit Eltern, die alles versucht haben, um ihr Kind in einer Regelschule zu halten – und am Ende doch aufgeben.
– Simone Ruser

„Ein Menschenrecht, das eingeklagt werden könnte“

Dass Inklusion in Baden-Württemberg noch so unzureichend umgesetzt ist, kann Eckhard Feige, Inklusionspädagoge und ehemaliger Schulleiter aus Bremen, kaum fassen. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Bremen heute als Vorreiter der schulischen Inklusion gilt. „Alle Argumente und Bezüge zur UN-Konvention, die die Initiativen in Baden-Württemberg vortragen, sind absolut richtig. Tragisch ist nur, dass diese Debatte dort – wie auch in Bayern – noch keinen nennenswerten Niederschlag in der Schulrealität gefunden hat.“

Dass sich eine Landesregierung diesem Auftrag seit so vielen Jahren verweigert, ist beschämend. Es ist nicht nur ein Versäumnis – es ist eine Missachtung der Rechte von Kindern und Jugendlichen.
— Eckhard Feige

Feige verweist auf den klaren rechtlichen Rahmen: „Der Anspruch auf inklusive Bildung ist laut UN-Konvention ein Menschenrecht – und könnte im Grunde eingeklagt werden. Dass sich eine Landesregierung diesem Auftrag seit so vielen Jahren verweigert, ist beschämend.“

Wahljahr 2026: Druck auf die Parteien steigt

Am 8. März 2026 wählt Baden-Württemberg einen neuen Landtag. Für die Freiburger Initiative „buntes wir e.V.“ der perfekte Zeitpunkt, um den Parteien klare Forderungen vorzulegen. Der zehn Punkte umfassende Katalog reicht vom Moratorium für den Neubau von Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) über verbindliche Reduktionsziele für die Segregationsquote bis zur verpflichtenden Aufnahme inklusiver Unterrichtsinhalte in Lehramtsstudiengänge.

„Wir wollen der Finger in der Wunde der Bildungspolitiker im The Länd sein“, betont Ruser. „Wir haben genug von unverbindlichen Bekenntnissen. Jetzt ist der Moment, dass sich im Wahlkampf alle Kandidatinnen und Kandidaten klar zur UN-BRK bekennen – mit konkreten Schritten und einem verbindlichen Zeitplan.“

Wir fordern ein klares Bekenntnis zur UN-BRK / Artikel 24 inklusive dem dort geforderten Rückbau von segregativen Schulformen.
— Forderungspapier buntes wir e.V.

Besonders kritisch sieht die Diplom-Volkswirtin den oft beschworenen „Elternwunsch“ als Argument für den Fortbestand zweier getrennter Schulsysteme: „Das ist eigentlich gar kein Wunsch, sondern eine Notlösung. Die Eltern dürfen sich zwischen einem gut ausgestatteten Förderschulsystem und einer Inklusion entscheiden, die in vielen Schulen schlicht nicht umgesetzt wird.“

Beispiele, die wütend machen

Ein aktueller Streitpunkt ist der geplante Neubau eines neuen SBBZ in Niederrimsingen für rund elf Millionen Euro. „Ich habe noch nie davon gehört, dass so viel Geld in inklusive Bildung investiert wurde“, sagt Ruser. „Das ist wieder eine verpasste Chance. Statt Barrieren abzubauen, werden neue Mauern hochgezogen.“

Feige macht deutlich, dass es auch anders geht: „In Bremen haben wir seit der Schulgesetznovelle 2009 konsequent Förderschulen abgebaut – von 25 blieben nur drei spezialisierte Förderzentren. Neue Förderschulen werden nicht errichtet. Alle anderen Kinder lernen gemeinsam im Regelsystem – mit individueller Förderung.“

Neue Förderschulen werden bei uns auf gar keinen Fall errichtet – jeder Euro fließt in den gemeinsamen Unterricht.
— Eckhard Feige

Noch ein alarmierender Befund: Über 60 Prozent der Kinder in Freiburg mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben einen Migrationshintergrund. „Das steht schwarz auf weiß im Schulentwicklungsbericht der Stadt“, so Ruser. „Hier werden Kinder ‚behindert‘ gemacht, statt sie gezielt zu fördern. So beginnt oft eine lebenslange Kette der Ausgrenzung – bis hin zur Werkstatt für Menschen mit Behinderung.“

„Inklusion ist kein Luxus“

Auch Cornelia Bossert von der Initiative Inklusion neu denken spricht Klartext: „Inklusion ist kein Extra, sondern eine Investition in eine starke, kreative und gerechte Gemeinschaft, von der jeder profitiert. Je vielfältiger eine Gruppe, desto reicher die Ideen, desto größer die Lösungskompetenz.“

Inklusion ist kein Extra, sondern eine Investition in eine starke, kreative und gerechte Gemeinschaft.
— Cornelia Bossert

Sie verweist auf die wirtschaftlichen Vorteile einer inklusiven Gesellschaft: „Der Fachkräftemangel ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Menschen mit Behinderung sind oft motivierte und gut ausgebildete Fachkräfte, die wir uns nicht leisten können zu übersehen. Inklusion ist also auch eine kluge wirtschaftliche Entscheidung.“

Für Bossert ist Inklusion ein Lackmustest für die Demokratie: „Eine inklusive Gesellschaft ist wie ein großer Tisch, an dem jeder Platz hat – egal, ob mit oder ohne Behinderung, egal welcher Herkunft, Religion oder Lebensweise. Wenn wir diesen Anspruch nicht im Schulsystem umsetzen, schwächen wir unsere Gesellschaft von innen.“

Hürden in Köpfen und Strukturen

Die Aktivistinnen sehen die Ursachen für die Misere in einem Zusammenspiel aus fehlender Betroffenheit in der Mehrheitsgesellschaft, stereotype Vorstellungen, mangelnde Sanktionen bei Diskriminierung und hohen bürokratischen Hürden. „Ohne gesellschaftlichen Druck, klare Zielvorgaben und den Mut, das Schulsystem strukturell zu verändern, bleibt es beim Inklusions-Blabla“, warnt Ruser.

In Bremen gehört individuelle Förderplanung für alle Schüler*innen zum Standard – unabhängig davon, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt oder nicht. Das ist kein ‚Luxus‘, sondern schlicht professionelle Pädagogik.
— Eckhard Feige

Feige ergänzt: „Bremen hat gezeigt, dass Wandel möglich ist – wenn der politische Wille da ist und alle Ebenen, von der Universität bis zur Schulbehörde, konsequent auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten.“

Wahl 2026: Die Stunde der Wahrheit

Die Freiburger Initiativen Inklusion neu denken, buntes wir, Freiburger Bündnis – Eine Schule für alle und der Grundschulverband Baden-Württemberg bündeln ihre Kräfte, um die Landtagswahl 2026 zu einem Wendepunkt zu machen.

„Wir werden alle Parteien daran messen, ob sie sich klar für die Umsetzung der UN-BRK und den Rückbau segregierender Schulformen positionieren“, kündigt Ruser an. „Die Wählerinnen und Wähler, die sich für eine inklusive Gesellschaft einsetzen, werden genau hinschauen – und wir werden nicht locker lassen.“

Bossert ergänzt: „Wahlkampf ist immer auch ein Wettbewerb der Visionen. Wir wollen, dass Inklusion in Baden-Württemberg endlich nicht mehr als Kostenfaktor, sondern als Zukunftsinvestition begriffen wird.“

Jetzt, so sind sich die Aktivistinnen einig, sei der Moment, in dem die Weichen gestellt werden: Entweder bleibt Baden-Württemberg Schlusslicht in Sachen schulischer Inklusion – oder es wird Vorreiter. „Am 8. März 2026 haben die Menschen im Land die Möglichkeit, mit ihrer Stimme zu zeigen, wie wichtig ihnen die Rechte aller Kinder sind“, sagt Ruser. „Diese Chance sollten wir nicht verpassen.“

Gernot Körner




Wie die Inklusion in deutschen Schulen stockt

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Barrieren in deutschen Schulen: Warum inklusiver Unterricht nicht vorankommt

Eine repräsentative forsa-Umfrage unter 2.737 Lehrkräften zeigt: Zwischen inklusiven Ansprüchen und schulischer Realität klafft weiterhin eine große Lücke. Seit der letzten Erhebung 2020 hat sich in Sachen Inklusion kaum etwas bewegt.

Tomi Neckov, stellvertretender Bundesvorsitzender des VBE, kommentiert: „Die Inklusion in der Schule ist in den letzten fünf Jahren kaum vorangekommen“ Die Befragung offenbart strukturelle Defizite: 41 % der Lehrkräfte berichten, dass ihre Schule nicht barrierefrei sei — ein alarmierendes Zeichen. Barrieren betreffen nicht nur Schülerinnen und Schüler mit Behinderung, sondern auch Lehrkräfte und Eltern. Sie verstoßen gegen das Grundrecht auf Teilhabe und freie Berufswahl.

Hohe Zustimmung – aber Zweifel an der Durchführbarkeit

Die grundsätzliche Zustimmung zur Inklusion ist groß: 62 % der Lehrkräfte (2015: 57 %) bewerten inklusiven Unterricht als sinnvoll – bei Lehrkräften mit praktischen Erfahrungen sind es sogar 69 %. Doch nur 28 % sehen die aktuelle Umsetzung als realistisch an – Gründe sind Personalmangel, große Klassen und fehlende individuelle Förderung. Als Konsequenz befürwortet fast die Hälfte den mehrheitlichen Erhalt von Förderschulen, ein Drittel sogar deren vollständige Beibehaltung. Lediglich knapp 20 % sprechen sich für ihre Abschaffung aus.

Personalknappheit und fehlende Unterstützung

In zwei Dritteln der Fälle reduziert sich die Klassengröße nicht, wenn inklusionsbedürftige Kinder hinzukommen. Zwar arbeiten inklusiv tätige Lehrkräfte häufig mit sonderpädagogischen Fachkräften zusammen – dies ist aber nur für die Hälfte der Befragten gegeben. Nur 20 % berichten von effektiven Unterstützungsmaßnahmen. Laut Neckov führt das zu Überlastung und Frustration. Die Politik ist gefordert: schnelle und wirkungsvolle Entlastung notwendig.

Qualifikation und Austausch fehlen

Viele Lehrkräfte fühlen sich ungenügend vorbereitet: Zwei Drittel erhielten keine Inklusions-Ausbildung, fast die Hälfte besitzt kein sonderpädagogisches Wissen. Fortbildungen werden zwar von über der Hälfte besucht, doch Angebots- und Zeitmangel blockieren eine flächendeckende Weiterbildung. Feste Koordinationsstrukturen würden zwar zunehmen, bleiben aber unzureichend — mit fatalen Folgen für die Motivation.

Digitale Mittel unterstützten, ersetzen aber nicht den Unterricht

75 % der Lehrkräfte nutzen digitale Endgeräte zur individuellen Förderung — häufiger an Grund‑ und Förderschulen, als an Gymnasien. 50 % verwenden Lern-Apps und ähnliche Tools mindestens wöchentlich. Digitale Medien erleichtern differenziertes Lernen und Zugänge für Kinder mit körperlichen Einschränkungen. Neckov mahnt jedoch: Technik ist ergänzend, kein Ersatz für zwischenmenschliche Unterstützung.

Fazit: Jetzt ist ein echter Aufbruch für Inklusion nötig

Neckov zieht ein nüchternes Fazit: „Auf die Lehrkraft kommt es an. Und wenn die nicht angemessen unterstützt wird, kann Inklusion nicht gelingen.“ Bislang ist das nicht der Fall — die Zufriedenheit mit der Inklusionspolitik bleibt niedrig, besonders bei Lehrkräften in inklusiven Settings (44 % sehr unzufrieden). Die Forderung: mehr Personal, bessere Qualifikation, mehr Zeit für Kooperation und barrierefreie Infrastruktur, damit Inklusion zur Norm wird.

Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland –
Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen
Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von Lehrkräften

Ergebnisse der Befragung als PDF

Quelle: Pressemitteilung VBE




Was Demokratiebildung im Kindesalter braucht

kinderwelten

Die Broschüre „Kinderwelten Info 10/2024“ zeigt, wie Demokratiebildung im Kita- und Grundschulalter praktisch umgesetzt werden kann

Die Broschüre „Kinderwelten Info 10/2024 – Was Demokratiebildung im Kindesalter braucht“ zeigt, wie demokratische Werte schon im Kita- und Grundschulalter vermittelt werden können. Sie betont, dass Demokratiebildung mehr ist als die Schaffung barrierefreier Zugänge. Notwendig ist auch die Förderung von Gleichheit, Solidarität und Toleranz als Fundament für ein funktionierendes Gemeinwesen. Besonders in herausfordernden Zeiten wird die Wichtigkeit von Inklusion, Vielfalt und gegen Diskriminierung gelebter Demokratie hervorgehoben.

Die Publikation richtet sich an pädagogische Fachkräfte und Träger. Sie gibt praxisnahe Impulse, um Mitbestimmung und Beteiligung von Kindern zu fördern, unabhängig von Herkunft, Sprache oder Einschränkungen. Sie fordert dazu auf, Diskriminierung und Ausschluss aktiv zu erkennen und zu handeln.

Ein wichtiges Werk für alle, die Demokratiebildung als Teil ihres pädagogischen Auftrags verstehen und Kinder früh für ein demokratisches Miteinander sensibilisieren möchten.