Ein liebevolles Mutmachbuch, das die Fantasie beflügelt

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Susanna Isern und Rocio Bonilla: Was ist, wenn mich ein Wal verschluckt?

Als ein Schulausflug in den Wald bevorsteht, macht sich Noah, wie so oft, Sorgen. Viele Fragen, die mit „Was, wenn…?“ beginnen, wirbeln in seinem Kopf durcheinander. Gut, dass seine Mutter Maria seine Ängste ernst nimmt und sie mit ihm bespricht: Was wäre denn, wenn Noah von einem fallenden Baum getroffen, von einem Wal verschluckt oder auf dem Mars landen würde? Maria beschreibt ihm aufregende, fantastische Abenteuer, hilfsbereite Tiere und freundliche Wesen. Schließlich hat Noah nur noch eine Frage: „Aber was ist, wenn das alles nicht passiert?“

Dieses Bilderbuch greift witzig absurde Gedankensprünge und verrückte Ideen auf, wie sie Kinder in Noahs Alter eben manchmal haben. Dabei wird deutlich, dass Noah vor allem Angst hat, sich zu verletzen, verloren zu gehen oder nicht mehr nach Hause zu können.

Gleichzeitig ist er aber voll Abenteuerlust. Die Szenen und Erlebnisse, die Maria ihm ausmalt, machen ihm nicht nur Mut, sondern regen auch die Fantasie der Leserinnen und Leser an. Da ist es passend, dass die liebevollen Illustrationen von Rocio Bonilla gar nicht alles abbilden, wovon die kurzen Texte auf jeder Seite erzählen.

Aber es gibt auch lustige Details auf den Bildern zu entdecken, die im Text gar nicht vorkommen: die Katze, die im Rucksack feststeckt oder im Garten auf eine Schnecke trifft; die Herzchen-Unterhose, die beim Bären auf der Wäscheleine hängt oder die Zahnspange der Meerjungfrau…

Ein paar Details lassen den Illustrationsstil allerdings auch etwas befremdlich wirken: Noah und die anderen Kinder sind mit überproportional großen Augen und Köpfen und gezeichnet. Und einer der Seeräuber hat einen unglaublich langen, dicken Hals. Der Baum, auf dem der Bär sein Haus hat, ist keine Kiefer, wie es im Text heißt. Auf einer solchen ließe sich allerdings auch kein Baumhaus bauen.

Insgesamt ist „Was ist, wenn mich ein Wal verschluckt?“ ein sympathisches Bilderbuch, das Ängste von Kindern ernst nimmt und hilft, sie zu überwinden. Noah kommt schließlich zu der Erkenntnis:

„Es ist wohl besser, sich nicht so viele Gedanken über alles Schlimme zu machen. Lieber erleben, was es zu erleben gibt. Oder?“

Lena Schwarz

Deutschsprachige Erstausgabe: JUMBO Verlag 2024,
Autorin: Susanna Isern,
Illustratorin: Rocio Bonilla,
aus dem Spanischen übersetzt von: Ulrich Maske,
Umfang: 40 S.,
Maße: 240 x 300 mm,
Hardcover,
ISBN: 978-3-8337-4621-5, Preis: 17,00 €




Echte Freundschaft gibt es manchmal gleich nebenan

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Petr Horácek: Ein bester Freund für Bär

Warum sehen wir die Dinge nicht, die wir suchen? Eine Möglichkeit wäre, dass wir zwar eine konkrete Vorstellung von dem haben, was wir suchen, aber nicht verstehen, wie wir es finden können. Dabei scheidet oftmals das Offensichtliche aus.

So ergeht es den Bären in Petr Horáček Geschichte. Sehnsüchtig sucht Schwarzer Bär einen Freund. Dabei trifft er Brauner Bär und beide beschließen gemeinsam die Suche fortzusetzen. Dabei erleben sie die Freude der Gemeinsamkeit und der gegenseitigen Unterstützung.

Horáček nutzt in seinem Bilderbuch „Ein bester Freund für Bär“ ein altbekanntes Muster der Dramaturgie. Während der Zuschauer das Offensichtliche längst entdeckt hat, sucht der Protagonist lange Zeit verzweifelt danach. Man möchte brüllen, hinlaufen und das begehrte Stück dem hilflos Suchenden in die Hand drücken. Leider geht das aber nicht. So entsteht Spannung, die den Betrachter fast platzen lässt, bis das Objekt der Begierde endlich den Suchenden erreicht.

Im Fall der beiden Bären geht es ganz offensichtlich um den passenden Freund. Beide sind davon überzeugt, dass er nur schwer zu finden ist. Und so begleitet der Betrachter die beiden von Seite zu Seite auf ihrer Suche und darf sich an den schönen Wachs- und Buntstiftzeichnungen von Horáček freuen. Typisch für den tschechischen Künstler sind die farbenprächtigen, kräftigen Zeichnungen, in denen es ihm gelingt Stimmungen und Beziehungen auszudrücken.

Und so entwickelt sich das Nachdenken über die Bedeutung von Freunden und von Freundschaft bei der Beschäftigung mit der bunten Geschichte, die nur ein fröhlicher Anlass ist, ohne Antworten zu bieten. Vielleicht möchte Horáček uns sagen, dass wir das Angebotene einfach annehmen und wertschätzen sollten, statt es auf komplizierten, langen Wegen erreichen zu wollen. Und dass Freundschaft eine einfache Entscheidung für Gemeinsamkeit, Vertrauen und gegenseitiges füreinander da sein ist, ohne komplizierte Qualifikationsprozesse. Ein wunderbarer Auftakt für lange Gespräche.  

Gernot Körner

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Ein bester Freund für Bär
Petr Horácek

Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 32 Seiten
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3968260419
Lesealter ‏ : ‎ 4–8 Jahre
16,00 €
Von Hacht Verlag GmbH; 1. Auflage 2024




Ein charmantes Bilderbuch über das Glück der Freundschaft

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Roel Seidell: Der Glücksstab

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Bär hat schlechte Laune, aber Maus kann ihn aufheitern: Sie leiht ihm einen Stab, der glücklich macht. Klar, dass die anderen Tiere in der Stadt auch solche Glücksstäbe haben wollen. Aber die Stöckchen, die der schlaue Fuchs ihnen verkauft, scheinen nicht zu wirken. Also wird beschlossen, dass der Glücksstab für die Allgemeinheit ins Museum kommt. Bär ist wieder traurig – was soll er jetzt zu Maus sagen?

Ob listiger Fuchs, mürrischer Ziegenbock oder das Schaf als steife Bürgermeisterin – die Tiere in diesem Bilderbuch sind sehr charakterstark gezeichnet. Besonders die Hauptfiguren, die sorglose Maus und der brummige Bär haben großen Charme. Leicht lassen sich in allen Tieren menschliche Persönlichkeiten erkennen. Sie gehen aufrecht auf zwei Beinen und tragen Kleidungsstücke. Roel Seidell gelingt es ausgezeichnet, auf den Tiergesichtern Entrüstung, Begeisterung, schlechte Laune oder Zufriedenheit auszudrücken. Und wenn der große Bär und die klitzekleine Maus am Ende auf einer ganzen Doppelseite Tränen lachen, müssen wir einfach mitlachen. Hier wird der bisher weiß-grau bis braun gehaltene Hintergrund nun auch ein fröhliches Gelb.

„Der Glücksstab“ ist ein Buch über die Kraft der Gedanken und die Macht von freundlichen Gesten. Die Psychologie würde vom Placeboeffekt sprechen. Dabei regt die Geschichte große philosophische und ethische Fragen an: (Wann) ist es in Ordnung, jemanden anzuschwindeln? Was ist Betrug? Wem gehört das Glück? Kann man es besitzen oder teilen? Ist Glück käuflich?

So legt Seidell der Bürgermeisterin der Tiere folgende Worte in den Mund:

„Fuchs hat Recht. Glück sollte man nicht für sich behalten. Man muss es teilen. Darum nehme ich diesen Stab im Namen der Stadt an mich. Wir stellen ihn im Museum für Besondere Dinge aus. Dann können alle, die Eintritt zahlen, etwas von dem Glück abbekommen, das dieser Stab bringt.“

Am Ende schließt sich die Geschichte zu einem Kreis. Mit einer freundlichen Geste kann nun der Bär selbst jemanden aufheitern: Den mürrischen Esel, der dann auf dem Nachsatz mit dem vermeintlichen Lachsteinchen glücklich aus dem Buch herausspaziert…

Insgesamt ein sehr schönes Bilderbuch, das zum Nachdenken anregt und gute Laune macht!

Lena Schwarz

Roel Seidell
Der Glücksstab
aus dem Niederländischen übersetzt von: Inga Reuters
Hardcover, 32 Seiten, 215 x 280 mm
ISBN: 978-3-8337-4772-4, Preis: 17,00€




Ein neuer Blick auf die Besonderheiten im Verhalten besonderer Kinder

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Hoppla und Juchhu – „Euch nervt’s – für mich ist es sinnvoll“

Viele von uns kennen das: Probleme beim Anziehen der Socken oder kratzende Etiketten im Pullover. Viele von uns ernteten für unser Unwohlsein ein genervtes Lächeln ihrer Eltern. Anders sieht es mit dem Verhalten aus, das als übergriffig oder auch gewalttätig empfunden wird, oder wenn sich Kinder ganz zurückziehen. Deren Eltern sind meist ziemlich verzweifelt und das betreffende Kind erfährt oft Ausgrenzung eventuell. Mit Glück landen die Kinder bei einer guten Ergotherapie und bekommen gute Tipps, die helfen und unterstützen.

Andreas Heimer ist Therapeut für Sensorische Integration. Er therapiert Kinder mit Wahrnehmungsbesonderheiten. Aus seiner jahrelangen Erfahrung und seinem vertieften Studium einschlägiger Literatur heraus hat er zwei Bücher geschrieben, die Eltern aber auch Mitarbeitenden in Einrichtungen einen neuen und öffnenden Blick auf diese Besonderheiten im Verhalten der Kinder vermitteln und Hilfen bieten.

Sein Blick, das Verhalten der Kinder als ein für sie sinnvolles Verhalten zu begreifen, ist eine äußerst wertvolle Herangehensweise. In seinem großformatigen, übersichtlichen und klar strukturierten Buch „Hoppla und Juchhu – Was mir passiert und euch nervt… für mich aber sinnvoll ist“ verdeutlicht er mit den passenden Bildern des Illustrators Patrick Schoden auf einer Doppelseite, woher das Bedürfnis für dieses Verhalten kommt und warum sich die Kinder damit zu helfen versuchen: Sie versuchen ihre Eindrücke und Wahrnehmung auf diese Weise zu verarbeiten.

Die Informationen, die das Gehirn benötigt, um sich „angemessen“ zu verhalten, gehen bei betroffenen Kindern entweder nicht oder nur ungenügend ein oder sie werden davon geflutet und können nicht selektieren. Um dieser Informationsunter- oder -überforderung gerecht zu werden, suchen oder vermeiden sie Reize und fallen dann in ihrem ungewöhnlichen Verhalten auf.

Mit dieser detaillierten Auflistung sind seine Bücher nicht nur eine gute Hilfe, um Kindern akut zu helfen, sondern auch ein guter Beleg dafür, dass wir alle besonders sind und auch mit uns gnädiger verfahren sollten. Diese Herangehensweise wird auch durch die Erklärung für das besondere Verhalten deutlich.

Sehr genau legt er in seinem zweiten Buch „Euch nervt’s – für mich ist es sinnvoll“ die Grundlage der Wahrnehmung dar und erklärt sein Basissinn Konzept®. Zu den Basissinnen gehören das Taktile System, der Gleichgewichtssinn und die Tiefensensibilität. Die aktuelle Forschung zur Bedeutung der Faszien bestätigt diese Auflistung der Sinne für die Wahrnehmung und eröffnet eine weitreichendere Bedeutung, um Verhalten zu verstehen. Nach der Darlegung dieser Basis bietet das Buch nach einem Fragenkatalog mit 111 Fragen im zweiten Buchteil Verhaltensbeispiele, bei denen man nach dem übereinstimmenden Verhalten bei einem vorliegenden Fall suchen kann. Hier beschreibt Heimer detailliert das Verhalten und erläutert die dahinter liegenden Wahrnehmungsbereiche. Mit Hilfe von Auswertungsschablonen für Beobachtungen zu jeweiligen Wahrnehmungsbesonderheiten im 7. Kapitel lässt sich dann eine systematische Einordnung vornehmen. Laien können so eine Eingangsdiagnose erstellen, sich das Verhalten bessere erklären und dann Fachleute hinzuziehen.

Die Erkenntnis, dass wir weit mehr Sinne haben als unsere bekannten fünf, und dass die Auswirkung dieser Basissinne auf die Körperwahrnehmung und die daraus resultierenden Verhaltensweisen in den Blick genommen werden müssen, um das Verhalten zu verstehen, ist enorm wichtig. Dieser Blick ermöglicht es, wirklich wertschätzend mit den Kindern und deren Familien umzugehen. Beide Bücher helfen dabei, schwierige Situationen anzugehen und Lösungen zu finden.

Dabei werden die Kinder immer mit einbezogen und somit auch mit sich selbst und ihrer Wahrnehmung konfrontiert. Diese Selbstreflexion ist in jedem Fall ein wichtiger Schritt, um sich nicht einfach ausgeliefert zu fühlen. Im Ganzen helfen die beiden Bücher, sich auf einen neuen Weg zu gehen und können damit auch den Eltern eine Form der Pädagogik nahebringen, die ein gesundes Familienleben wieder möglich macht, auch wenn die Kinder sich eben sehr besonders verhalten.

Daher sind die beiden Bücher eine hervorragende Handreichung für einen inklusiven Weg in den Einrichtungen und in unserer Gesellschaft. Sie sind ein Muss für jede Kindereinrichtung und auch für alle Grundschulen. Es sollten sich je nach Größe der Einrichtung zwei oder mehrere Mitarbeitende gut einarbeiten, damit sie ihren Kollegen und Kolleginnen zur Seite stehen können.

Ich hoffe sehr, dass sich dieser Blick weiterverbreitet, damit es Kindern mit besonderer Wahrnehmung, und das sind wir ja eigentlich alle mehr oder weniger, besser geht und sie sich mit ihrem Körper und ihrer Wahrnehmung auseinandersetzen können, denn diese Vorbereitung ist für die Lebensfreude und das Lernen immens wichtig und kann die ewigen Vorwürfe des unerzogenen, bösen, faulen oder uneinsichtigen Kindes durchbrechen und Lebensenergie fördern, anstelle von Selbstzweifeln und Selbskritik.

Daniela Körner

Andreas Heimer / Patrick Schoden

Euch nervt’s – für mich ist es sinnvoll“
Neue Blickwinkel für schwierige Verhaltensweisen von wahrnehmungsbesonderen Kindern
– Das Basissinn-Konzept®
2022, 352 S., farbige Abb., Beigabe: Checklisten als Download, Format 16x23cm, Klappenbroschur
Zielgruppen: Alter: 3-14 oder älter
ISBN: 978-3-8080-0916-1
22,95 Euro
verlag modernes lernen

Andreas Heimer / Patrick Schoden

Hoppla und Juchhu
Was mir passiert und euch nervt … für mich aber sinnvoll ist

  • Wie sich Wahrnehmungsbesonderheiten auf Verhalten auswirken
  • Das Basissinn-Konzept® für Kinder, ihre Eltern & Begleitende

2024, 96 S.
Zielgruppen: Alter: 3-14 oder älter
ISBN: 978-3-8080-0947-5
24,80 Euro
verlag modernes lernen




Die fröhliche Entdeckungsreise führt geradewegs zu den großen Fragen

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Olivier Tallec: Nichts für den König

Voller Verzweiflung lässt Georg Büchner in Dantons Tod seinen Titelhelden beklagen: „Die Schöpfung hat sich so breit gemacht, da ist nichts leer. Alles voll Gewimmels.“ So ergeht es auch dem kleinen König in Olivier Tallecs neuem Bilderbuch „Nichts für den König.“ Denn als dieser endlich alles hat, wünscht er sich auch das Nichts zu besitzen. Und das ist offenbar viel schwieriger als alles andere jemals zuvor. Aber anders als Danton setzt der kleine König alle Energie daran, das Nichts zu aufzuspüren.

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Über 60 Bücher hat der bretonische Illustrator und Kinderbuchautor Tallec bereits illustriert; einige davon selbst geschrieben. Seine Zeichnungen sind schon mit vielen Superlativen tituliert worden. Neben seiner Kreativität ist es vor allem sein sensibler und tiefsinniger Humor in jedem seiner Bilder, das kleine wie große Leser schmunzeln lässt und begeistert. Ebenso verhält es sich in seiner neuen Geschichte auf der Suche nach dem Nichts. Was zunächst absurd erscheint, erweist sich als eine tiefsinnige Entdeckungsreise, auf der sich der Weg als das Ziel erweist. Jede Doppelseite erweist sich als erfrischende, farbenfrohe Idee, die zum intensiven Betrachten und fröhlichen Philosophieren einlädt.

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Dabei geht es genauso um kleine wie ganz großen Fragen, die letztlich auch wieder die Schöpfung in den Fokus stellen. Diesmal aber eben nicht in Form von Büchners großen Historiendrama, sondern in einer kindgerechten Form, die bald ebenso viel Tiefsinn zu bieten hat, aber viel mehr Freude. Ob der König nun das Nichts findet oder nicht, ist zwar weniger wichtig. Letztlich ist es aber absolut lohnenswert ihn auf seiner Suche zu begleiten. Genau das Richtige für Jungphilosophen oder einfach fröhliche Kinder.

Gernot Körner

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Olivier Tallec
Nichts für den König

übersetzt von Ina Kronenberger
durchgehend farbig, ab 4 Jahren
40 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-8369-6238-4
15,00 €
Gerstenberg Verlag




Leider haben wir keinen Tiger, der Handys frisst

Mariesa Dulak/Rebecca Cobb: Ein Tiger im Zug

Der erste Mensch, der durch den Gebrauch eines Mobiltelefons gestorben ist, war ein Japaner. Er war so auf das Gerät fixiert, dass er aus Unachtsamkeit mit seinem Kopf gegen einen Briefkasten knallte, umfiel und starb. Anders als vor 30 Jahren wundert das heute wohl niemanden mehr. Abgewendet von der Welt marschieren etliche Menschen durch die Straßen, den Blick starr auf das Mobiltelefon fixiert, ohne etwas von ihrer Umgebung wahr zu nehmen.

So ergeht es auch dem Vater des kleinen Jungen auf ihrer Zugfahrt an den Strand. Erst ist es ein Tiger und schließlich ein ganzer Zoo, die ebenfalls in den Waggon einsteigen. Auch die bewegte Party der Tiere bemerkt er nicht. Erst als sich der Tiger das Mobiltelefon schnappt und verschlingt kehrt er in die Realität zurück.

Mariesa Dulak erzählt ihre phantastische Geschichte aus der Perspektive des kleinen Jungen. Sie ist spannend weil sehr überraschend. Auf jeder Doppelseite geschieht etwas Neues, Unglaubliches, Aufregendes. Der farbintensive Stil der Illustrationen von Rebecca Cobb unterstreicht diese Stimmung. Cobb gelingt es, mit wenigen Strichen die Dynamik des Geschehens auszudrücken, während „Vater“ unbeweglich auf sein Mobiltelefon starrt. Die Tiere sind witzig. Sie tragen Sonnenbrillen in Herzchenform, Schwimmreife und -flügel, Sandeimer und zwei Mopsdamen sogar schicke Kleider. Die Szene ist lebendig. Die Passagiere spielen miteinander und versorgen sich gegenseitig mit ihrem Proviant.

Die junge und ältere Zielgruppe dieses Buchs wird wohl ihre Freude beim Betrachten haben. Dabei ist Dulak in ihrem Erstlingswerk ein großes Kunststück gelungen. Ohne zu moralisieren weist sie auf ein großes Problem unserer Zeit hin. Wir erleben die fröhliche Gemeinschaft der tierischen Fahrgäste einerseits und den von seinem Smartphone hypnotisierten Vater auf der anderen Seite. Dazwischen der kleine Junge, der die Anwesenheit der Tiere genießt, sich gleichzeitig nach der Aufmerksamkeit seines Vaters sehnt. Schön, dass der Tiger das Smartphone frisst, statt daß das Kind mit einem zweiten Bildschirmgerät ruhiggestellt wird, wie wir das tagtäglich erleben.

So ist „Ein Tiger im Zug“ nicht nur ein tolles witziges Bilderbuch für Kinder, sondern auch eine fröhliche Geschichte, die alle auf humorvolle Weise daran erinnert, dass wir nicht in der digitalen sondern in der wirklichen Welt das echte Leben finden, in der wir Gemeinschaft erleben können. Das gilt selbstverständlich besonders für Eltern mit ihren Kindern.

Gernot Körner

Bibliographie

Mariesa Dulak/Rebecca Cobb
Ein Tiger im Zug
Hardcover, 40 Seiten
ISBN 978-3-8337-4747-2
16,00 €




„Was ist Was Demokratie“ kostenlos, aber mit großen Schwächen

Unter dem Motto „Gemeinsam für alle“ stellt der Tessloff-Verlag eine Broschüre zur Demokratie zur Verfügung

„Gemeinsam für alle“ – unter diesem Motto hat der Tessloff Verlag jetzt seine Broschüre WAS IST WAS Demokratie veröffentlicht, die kostenlos zum Download bereitsteht. Die 16-seitige Broschüre gibt viele Informationen über Demokratie und ist gut strukturiert. In die Tiefe geht sie aufgrund ihrer Kürze nicht. Bevor die Broschüre zum Einsatz kommt, empfiehlt es sich, genau hinzusehen. Denn entgegen der landläufigen Meinung, einem geschenkten Gaul nicht ins Maul zu schauen, ist das in solchen Fällen ein besonders empfehlenswert.

Idealbild mit Tatsachenbehautpungen mit bedingtem Wahrheitsgehalt

In der Broschüre wird ein Idealbild der Demokratie skizziert. Da diese voller Tatsachenbehauptungen steckt, die sich schon mit der bundesdeutschen Wirklichkeit brechen, wirkt sie recht naiv. An erster Stelle steht der Satz „Alle dürfen also frei sagen, was sie denken“. Kinder begreifen schnell, dass dem nicht so ist. Und gerade vor den Gefahren, die von Verschwörungstheroretikern und Populisten ausgeht, sollte den Kindern klar gesagt werden, warum das auch Grenzen hat. Hass, Hetze, Diskriminierung, Verherrlichung des Nationalsozialismus und vieles andere liegen außerhalb dieser Grenzen.

Pflichten und Rechte sind nicht gleich

Auch Pflichten und Rechte sind hierzulande nicht für alle gleich. Das und auch, dass die Macht ungleich verteilt, bekommen die Kinder früh mit. Vor diesem Hintergrund wäre es dann vielleicht doch sinnvoll gewesen, auf die Grundgedanken des „Erfinders“ der Demokratie einzugehen, der schon vor 2500 Jahren auf das Risiko sozialer Verwerfungen mit der dazugehörigen Ungleichverteilung der Macht hingewiesen hat. Für den antiken Denker Aristoteles waren etwa Armut und Demokratie nicht miteinander vereinbar.

Bedingte Anwendung des Rechts

Auch dass das Recht in einer Demokratie nicht immer Anwendung findet, sollten Kinder wissen. Wer etwa in der dritten Klasse den Fahrradführerschein macht, kann kaum verstehen, warum es heute üblich ist, dass viele Radfahrer mit nicht verkehrssicheren Rädern sogar auf Gehwegen unterwegs sind, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Nicht nur aus pädagogischer und soziologischer Sicht ein verheerender Zustand. Und wer sich zum Klassensprecher wählen lässt, stößt sehr schnell an die Grenzen der Demokratie seiner Schule.

Handwerkliche Fehler

Hinzu kommt der ein oder andere handwerkliche Fehler. So suchen wir die Zahl der Menschen, die in einer Demokratie leben, noch immer vergeblich. Auch stimmt die Behauptung einfach nicht, dass Wir unsere Vertreter und Vertreterinnen direkt, also „unmittelbar“ wählen. Oder ist sind Bundespräsident, bundeskanzler und Minister nicht Vertreter des deutschen Volkes? Und so ist eben die Wahl über Wahlfrauen und -männer nicht die einzige Variante der indirekten Wahl, wenn wir uns etwa die Bundesversammlung und zahlreiche andere Modi vor Augen führen. Und letztlich stimmt eben auch die Behauptung nicht, dass die Mehrheit immer entscheidet. Ein ordentlicher Teil von Entscheidungen wird durch Fachleute und Fachgremien herbeigeführt.

Bewusstsein gefragt

Eigentlich darf so etwas einem Verlag wie dem Tessloff Verlag nicht passieren. Auch wenn für die junge Zielgruppe vieles vereinfacht sein muss, darf es in keinem Fall falsch oder mangelhaft sein. Schließlich lässt sich auch falsch Erlerntes nur noch schwer aus dem Kopf verbannen.

Wer die Broschüre dennoch herunterlädt oder bestellt, sollte sich solcher Defizite bewusst sein und sie im Unterricht mit den Schülerinnen und Schülern kritisch betrachten. Zur Demokratiebildung ist sie so nicht besonders gut geeignet, aber vielleicht zur Diskussion. Die Broschüre steht auf https://www.tessloff.com/Demokratie.html kostenlos zum Download bereit. Das Heftchen kann auch die gedruckte Version in Verpackungseinheiten von je 30 Stück über vertrieb@tessloff.com bestellt werden.

Gernot Körner




Wozu Kinder einen Vormund brauchen

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Claudia Gliemann/Natascha Berger: Frau Frühling hat 30 Kinder

Vormund – hat das etwas mit „Mund“ zu tun? Das fragt Paul Frau Frühling. Die hat immerhin 30 Kinder und muss es ja wohl wissen. Also, die hat sie nicht geboren, sondern sie ist deren Vormundin. So wird sie jedenfalls in diesem Bilderbuch, das Claudia Gliemann mit einer Begleitgruppe aus Vormunden, Erzieherinnen, Jugendamtsmitarbeitern, Kinderdorfmüttern und anderen Fachleuten geschrieben hat, ganz sternchenfrei benannt.

Und die Antwort? Ein klares Nein.

Vormund sein bedeutet, dass Frau Frühling dazu da ist, Kinder zu beschützen. In mehreren kurzen Geschichten erklärt sie Kindern verschiedenen Alters ihre Arbeit. Dass sie eingesetzt wird, wenn die Eltern sich nicht ausreichend um ihr Kind kümmern können. Dass manche dieser Kinder in Pflegefamilien, andere in Wohngruppen leben. Dass sie nicht jeden Tag mit ihren Schützlingen zusammen ist. Dass sie aber dazu da ist, Probleme zu regeln, z.B. wenn ein Kind die Schule wechseln will. Dass sie in solchen Fällen Gespräche mit den Eltern oder Pflegeeltern führt. Dass sie all das entscheidet, was Mama und Papa sonst entscheiden.

Keine Angst vor der „Frau vom Amt

Allerdings wird sie nie am Schreibtisch beim Ausfüllen von Formularen oder beim Telefonat mit anderen Behörden gezeigt. Obwohl das sicher einen großen Teil ihrer praktischen Arbeit ausmacht. Den die Kinder allerdings selten direkt erleben. Die Bilder zeigen sie im Gespräch, beim Spielen, beim Sommerfest. Und das ist gut so, schließlich will dieses Buch Kindern die Angst vor der „Frau vom Amt“ nehmen.

Das gelingt, weil Frau Frühling ihre Schützlinge ernst nimmt. Sie nicht ausfragt, sondern Interesse zeigt. Und nachfragt, wenn sie etwas nicht versteht. Bei Emre zum Beispiel. Denn der wendet immer den Blick ab, wenn sie ihn anspricht. Er erklärt, dass in dem Land, aus dem er kommt, es als unhöflich gilt, wenn Kinder Erwachsenen in die Augen schauen. Und das Missverständnis, er würde sie vielleicht nicht mögen, ist damit ausgeräumt.

Vormundschaft wird hier einfach, knapp und vor allem in kindgerechter Sprache erklärt. Ein kurzer Anhang wendet sich an Eltern und andere Erwachsene, die mit Kindern zu tun haben, erläutert den Unterschied zwischen Vormundschaft und Ergänzungspflegschaft sowie die Zusammenarbeit mit den Eltern.

Ein gutes Buch für eine besondere Zielgruppe. Die aber gar nicht so klein ist. Und das gut geeignet ist, die Verwirrung über die Aufgaben der Erwachsenen, die mit einem Kind zu tun haben, aufzulösen.

Ralf Ruhl

Claudia Gliemann & Bundesforum Vormundschaft e.V. (Text), Natascha Berger (Ill.)
Frau Frühling hat 30 Kinder
Monterosa-Verlag
26 Seiten
ab 4 Jahre
ISBN 978-3-942640-18-3
19 Euro