Medienkompetenz beginnt bei den Erwachsenen und nicht beim Kind

medienkompetenz

Eine Streitschrift von Prof. Dr. Armin Krenz für eine sorgsamere Betrachtung eines umstrittenen Schwerpunktes in der Elementarpädagogik

Schon von klein an ist die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen mit einer weitreichenden und lebensweltumfassenden Einflussnahme und einer zunehmenden Inanspruchnahme von (digitalen) Medien durchsetzt. Sie nehmen die vielfältige digitale Mediennutzung bei ihren Eltern, älteren Geschwistern, Verwandten, Freund*innen und in der Öffentlichkeit wahr. Ihre Neugierde ist darauf ausgerichtet, was ‚man‘ mit diesen Geräten alles machen kann, wie sie funktionieren, welchen Zweck sie erfüllen können und wann ‚man‘ selbst in den Genuss kommen kann, auch damit hantieren und umgehen zu können. Insoweit entspricht der Wunsch nach einem solchen Erlebnisobjekt der ungebremsten kindlichen Entdeckerfreude und Erkenntnisneugierde! Kinder wollen daher Medien nutzen, erleben sie doch bei ihren Beobachtungen, wie konzentriert, spannungsorientiert und aufmerksam die Menschen um sie herum auf ihr Medium fixiert sind.

Kinder & Medienkompetenz – Fragen sind notwendig und erlaubt!

Wenn der Medienpädagoge Günther Anfang in seinem Artikel „Medienkompetenz im Kindergarten stärken“ (KiTa NRW, 11/24, S. 17 + 19) schreibt, „Auch die Kleinsten sind gefordert, kompetent mit Medien umzugehen“ (a), er die Mediennutzung den „Bedürfnissen der Kinder“ zuordnet (b), die Medienarbeit als eine „Stärkung der Kreativität der Kinder“ ansieht (c), es bei einer Skepsis aufseiten der Erzieher*innen einer „Überzeugungsarbeit“ bedarf (d), Medienprojekte in der Kita „Kindern auf alle Fälle erst einmal viel Spaß (machen) und Möglichkeiten eröffnen, sich kreativ zu betätigen“ (e) und Medienprojekte ein „ganzheitliches Lernen ermöglichen, bei dem Erkenntnisse durch „learning bei doing“ gewonnen werden“(f), dann seien schon zu Anfang folgende Anmerkungen vorgenommen:

  • Eine solche „FORDERUNG“ entspricht der ANNAHMEBEHAUPTUNG einer aufgestellten THESE, stringent abgeleitet aus der Sichtweise der ERWACHSENENWELT!
  • Gleichzeitig wird der Begriff „Bedürfnis“ eingesetzt. Nun: Die Entwicklungspsychologie versteht unter „Bedürfnissen“ festgelegte Bedürfnisstufen, die aufeinander aufgebaut und miteinander verzahnt sind. Somit geht es bei einer Medienaffinität des Kindes um einen „Wunsch“, der mit einem „Bedürfnis“ nicht gleichgesetzt/verwechselt werden darf.
  • Eine Stärkung der „Kreativität“ kann erst dann im Sinne einer Beweisführung festgestellt und postuliert werden, wenn entsprechende wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse bezüglich dieser Verhaltenskompetenz vorliegen: und das ist derzeit nicht der Fall.
  • Eine SKEPSIS ist in der Pädagogik eine der wichtigsten Kognitionskompetenzen, um aufkommende Fragestellungen/neuartige Herausforderungen und Neuorientierungen auf ihren Bedeutungswert für einen entwicklungsförderlichen Einsatz fachkompetent einschätzen zu können. Gleichzeitig darf es nie um eine „Überzeugungsarbeit“ gehen: alleine wissenschaftlich belegte/abgesicherte Erkenntnisse führen zu einer Entscheidung, ob/wie/in welcher Weise/in welchem Umfang/unter welchen Bedingungen eine „neue Didaktik“ in die Elementarpädagogik aufzunehmen ist.
  • Hier wird der überall gängige Begriff „Spaß“ eingesetzt. Doch in der Entwicklung eines Kindes und in der Lebensplanung/-gestaltung geht es nicht um möglichst viele „Spaßbefriedigungen“, sondern vielmehr um ein ausgewogenes Kennenlernen von RECHTEN und PFLICHTEN, bei dem die FREUDE – ein allumfassendes Lebensgefühl – eine bedeutsame Rolle spielt. Spaß und Freude sind zwei vollkommen gegensätzliche Anteile einer Lebensphilosophie und sollten in der Pädagogik entsprechend fachkompetent differenziert betrachtet werden. (vgl.: Wunsch, A., 2003/Boberski, H., 2004/ Hahne, P, 2009)
  • Bei einem „ganzheitlichen Lernen“ geht es darum, dass alle neun Entwicklungsfelder eines Menschen gleichzeitig bzw. kurz nacheinander vernetzt aktiviert und in Anspruch genommen werden. Bei der Durchsicht einer Vielzahl von publizierten Medienprojekten konnte bisher kein Beispiel gefunden werden, das den Anspruch eines vollständig „ganzheitlichen Lernens“ erfüllen konnte.

Digitale Medien gibt es überall und in vielfältigster Art

Ohne Frage sind digitale Medien bezüglich einer fortgeschritteneren Schul- und einer möglichen, späteren Studienzeit sowie im Berufsleben und in der Wissenschaft, der Forschung und in der Wirtschaft gar nicht wegzudenken! Gleichzeitig wachsen auch Kinder und jüngere Jugendliche mit sehr unterschiedlichen und mit zunehmendem Alter auch zur Verfügung stehenden digitalen Medien auf.

Neben den ‚alten‘ Klassikern wie Fernseher und Radios kamen im Vergleich zu früheren Kindheiten in den 60er, 70er, 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts Handys, Smartphones, Laptops und Computer, Tablets, Smartwatches, Spielkonsolen und Digitalkameras hinzu, wobei das ganz persönliche Nutzungsverhalten von individuellen Vorlieben/Motiven abhängt.

Zusätzlich eröffnet das Internet ein unüberschaubares Angebot an Informationsquellen und Streamingdiensten wie beispielsweise Disney+, NETFLIX, Apple TV+, wow, Paramount+, prime video oder Paramount+ sowie Apps in Hülle und Fülle; z.B. ChatGPT, Spotify, Apple Music, Snapchat, amazon music, DVD und Blue-ray Plus, Trading View, TikTok, unterschiedliche TV-Mediatheken oder Facebook, um nur einige zu nennen.

Laut KIM-Studie 2022 nutzen 28 Prozent der Kinder im Alter von sechs bis sieben Jahren ein Mobiltelefon und 21 Prozent das Internet. 96 Prozent der Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 19 Jahren ein eigenes Smartphone, 58 Prozent ein Laptop und 35 Prozent einen Stand-PC, 58 Prozent einen eigenen Fernseher, 51 Prozent ein Tablet, 61 Prozent eine Spielekonsole und 28 Prozent eigene Wearables (etwa eine Smartwatch). (Anmerkung: weitere, spezifizierende Angaben zum Alter der Nutzer*innen und zur Nutzungsdauer der unterschiedlichen digitalen Medien finden sich in „Eichenberg, Chr. & Auersperg, F., 2023“).

Digitale Mediennutzung im Kinderalltag – ein paar Beispiele

An dieser Stelle sei es erlaubt, einige Beispiele für eine häufige Mediennutzung durch Kinder und Jugendliche aufzuführen. Schon Grundschulkinder, vor allem aber sehr viele Jugendliche tragen ihre Smartphones auf dem Weg zur Schule in ihren Händen oder führen Telefongespräche. Smartphonefreie Gespräche bilden dabei eine Ausnahme. Kinder und Jugendliche bleiben mitten auf dem Bürgersteig stehen und zeigen sich gegenseitig aufgerufene Texte, Fotos oder Filmausschnitte. smartphonenutzende Kinder und Jugendliche überqueren eine Straße oder Straßenbahnschienen, ohne auf den Verkehr zu achten. Kinder/Jugendliche verabreden sich, um über Stunden hinweg ihre freie Zeit an einer Spielekonsole zu verbringen oder mit Freund*innen/ über eine social media-App, auch um sich mit persönlich unbekannten Gesprächspartner*innen auszutauschen oder im Tablet Seiten aufzurufen, die ihren Interessen entsprechen und denen sie sich mit einer ungeteilten Aufmerksamkeit zuwenden.

Digitale Mediennutzung im Erwachsenenalltag – ein paar Beispiele

Natürlich treffen diese selektiv ausgewählten und darüber hinaus reichhaltigen Beispiele für eine vielfältige und seit Jahren zunehmende Mediennutzung nicht nur Kinder und Jugendliche sondern auch Erwachsene. Wer kennt nicht die folgenden Situationen?

Mütter oder Väter schieben ihre Kinderwagen vor sich her und die Elternteile kommunizieren über eine sehr lange Zeit mit einer entfernten Person – per Smartphone, während das Kind im Kinderwagen mit dem Finger auf etwas, was es gesehen hat, zeigt. Die Elternteile schauen während ihres Telefonates nicht auf das Kind und bekommen gar nicht mit, dass ihr Kind ihre Aufmerksamkeit braucht.

Sie sitzen mit ihrer Familie, Freunden oder Bekannten in einem Restaurant und genießen ein leckeres Essen. Am Tisch nebenan sitzt eine Familie, wobei alle nicht nur Löffel, Gabel oder Messer in den Händen halten, sondern sich die drei Kinder auch parallel und ohne Pause ihren mitgebrachten Medien zuwenden: die Tochter und der Sohn – im Jugendalter – hantieren an ihrem Smartphone, das kleine Geschwisterkind hält ein Tablet in seinen Händen und nur die Mutter und der Vater scheinen das Essen zu genießen. Auch wenn die Eltern die Jugendlichen bitten, endlich einmal ihre Smartphones beiseite zu legen, kommt nur ein leises Gemurmel aus ihren Mündern, das sich in etwa so anhört wie: „Ja, gleich“, doch offensichtlich verläuft die Bitte der Eltern im Sand.

Während einer Zugfahrt von A nach B sitzen zwei Erwachsene und ein Kind zusammen im Abteil. Dabei hat die Mutter ein Tablet vor sich, auf dem sie sich einen Film anschaut. Der Vater schreibt etwas auf seinem Laptop und das Kind hört per Smartphone Musik. Während der nicht gerade kurzen Zugfahrt fragt nur einmal die Mutter in die Runde, ob jemand etwas essen möchte, um etwas aus der Reisetasche zu holen, zu verteilen und sich dann wieder dem Film zuzuwenden. Ein gemeinsames Gespräch findet während der gesamten Zugfahrt nicht statt.

Am frühen Morgen bringen Eltern ihre Kinder in die Krippe bzw. in den Kindergarten. Nicht nur, dass sie es eilig haben, weil sie ihre Kinder immer wieder auffordern, nicht stehenzubleiben, sich nicht zu bücken und irgendetwas auf dem Weg zur Eingangstüre aufzuheben und anzuschauen. Zusätzlich haben viele Eltern auch ihr Smartphone am Ohr und tauschen sich mit einer fernen Person aus, ohne sich zu hinterfragen, in welcher Reihenfolge sie die Wertigkeit ihrer Aufmerksamkeit verteilen.

Und dann gibt es die Eltern-Chats, ob für die Kita, den Sportverein oder die Schule: bei besonderen Anlässen ‚pingt‘ es auf den Smartphones der Eltern unaufhörlich, weil jedes Elternteil glaubt, eine persönliche Stellungnahme, einen neuen Vorschlag, eine Zustimmung oder Ablehnung eingeben zu müssen und am Ende kommen in kürzester Zeit ungezählte Nachrichten zusammen, die mehrere neue Diskussionspunkte aktiviert haben anstatt dass es zu konstruktiven, kurz und knapp gefundenen Lösungen gekommen ist. Matthias Johannes Bauer, Professor für Kommunikationsmanagement, rät daher Folgendes: „Alles, was schnell und einfach zu lösen ist, kann besprochen werden. Alles, was in die Diskussion geht, gehört nicht in den Eltern-Chat.“ Hier schlägt der Fachmann vor, die Diskussion am besten per Telefon 1:1 auszutragen, um nicht eine Endlosschleife zu provozieren. (NRZ, 07.12.2024)

Es ist auch keine Ausnahme mehr, dass pädagogische Mitarbeiter*innen während ihrer Dienstzeit – obgleich es laut Dienstvertrag untersagt ist – ihr Handy nutzen, etwa wenn Kinder sich in ihrer so genannten „Freispielzeit“ selber beschäftigen können/„sollen“ oder sich Fachkräfte – bei einer Doppelbesetzung – zurückziehen, um zu whatsappen oder Privatgespräche zu führen.

In einigen Kindertagesstätten steht zum Beispiel jeder Gruppenleitungskraft ein ‚walkie talkie Funkgerät‘ zur Verfügung, mit dem die Kolleg*innen kommunizieren, Informationen austauschen, Fragen stellen oder Stellungnahmen abgeben, wobei alle (!) Sprachnachrichten von allen Geräteinhaber*innen gleichzeitig gehört werden – auch von den Kindern, die sich bei ihren Spieltätigkeiten immer wieder durch die mit einem lauten Rauschen unterlegten Ansagen gestört fühlen.

Dann gibt es Kinderbuchreihen, die über eine Smartphone-App runtergeladen werden können und Eltern, die von ihren Kindern gefragt werden, ob sie ihnen vorlesen würden, verweisen auf die App und drücken ihren Kindern ihr Zweitsmartphone in die Hand.

Selbst die Nutzung eines Smartphones während einer Autofahrt stellt bei Weitem keine Ausnahme dar. An dieser Stelle könnten ungezählte Beispiele folgen…

Erwachsene brauchen eine Medienkompetenz von Anfang an!

Eine Durchsicht der inzwischen weitgefächerten Publikationen – sowohl als Buchpublikationen als auch in Form von Fachartikeln in vielen pädagogischen Zeitschriften – zum Themenschwerpunkt „Medienkompetenz“ offenbart, dass die gesamte Didaktik und Methodik ausnahmslos das KIND als „Lernobjekt“ – in den wenigsten Fällen als „Lernsubjekt“ in den Fokus nimmt, um zwei übergeordnete Ziele zu erreichen: einerseits um die „Medienpädagogik sowie die Medienkompetenz bei Kindern“ als zwei unverzichtbare Schwerpunkte für die Praxis in der Elementarpädagogik hervorzuheben, damit Kinder in Zukunft mit einer schon sehr früh erworbenen Medienkompetenz den Anforderungen in einer mediendurchsetzten Welt gewachsen sind. Andererseits um Beispiele für methodisch/didaktische digitale Medieneinsätze zu liefern. Auf diese Weise können auch zum Beispiel „Naturerfahrungen an der Wand“ gemacht werden, „Unterhaltungen über Tablets mit Bildtelefonie“ geführt, „Ritterspiele mit einem gebastelten Ritter-Szenario aus Pappe an der Schattenwand“ dargestellt oder „geometrische Formen mit dem Tablet aufgenommen und erkannt“ werden… (etwa Bostelmann, A. & Fink, M., 2014).


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Medienkompetenz beginnt mit der Sach- und Selbstkompetenz bei den Erwachsenen und nicht zuvorderst „am“ Kind!

Wenn ‚neue Schwerpunkte‘ in die Elementarpädagogik implantiert werden (sollen  /  müssen), bedarf es stets einer sorgsamen Betrachtung, was dabei zu berücksichtigen ist. Darum geht es in dieser Streitschrift von Armin Krenz.

Broschüre, 28 Seiten mit vielen Abbildungen, 14,8 x 21 cm
ISBN: 978-3-96304-619-3
5 €


Wozu – das werden sich digitale Mediennutzer*innen sagen – ist es dann noch nötig, Naturerfahrungen in der Natur zu machen, persönlich aufeinander zuzugehen und sich direkt „face to face“ persönlich über Wahrnehmungen und Beobachtungen zu unterhalten, Aggressionsspiele zum Austoben – im Freien oder in der Turnhalle – als eine wichtige Spielform zu ermöglichen oder auf Spaziergängen bzw. in Bauspielhandlungen geometrische Formen – etwa an Verkehrszeichen, Haus-, Dach- und Türformen, Pflastersteinen, Gehwegplatten, Wolkenformationen, Auslagen hinter Geschäftsfenstern, Briefästen… zu erkennen? Das Wahrnehmen und Beobachten – mit allen Sinnen – ist die Grundlage für eine „allseitige, ganzheitliche Pädagogik“, die aus Qualitätsgründen in allen Einrichtungskonzeptionen festgeschrieben ist.

Ein „digitaler Medieneinsatz“ bietet hingegen immer nur einen Teilausschnitt aus möglichen Wahrnehmungsbereichen. Gleichzeitig unterstützt – ob aus wissentlichen oder nicht bewussten Einstellungen – eine digitale ‚Erfahrungswelt‘, die immer nur ein AUSSCHNITT aus der analogen Erlebniswelt sein kann – die Überlegung vieler Erwachsener, dass es nicht unbedingt nötig ist, zum Beispiel eine „echte“ Dorf-/Stadterkundung zu unternehmen oder „echte Schnecken“ im Garten zu suchen als diese auf einer Internetseite zu betrachten, sich lieber über Regen bei Google zu informieren (warum es regnet, wie der Boden den Regen aufnehmen kann und bis zu welchen Mengen das möglich ist) anstatt im Regen nach draußen zu gehen, in Pfützen zu hüpfen, den Regen auf der Haut zu spüren, zu schauen, wie sich Pflanzen auf ursprünglich trockenem Boden durch den Regen wieder aufrichten, feuchte Erde zu riechen…

Ja: digitale Kenntniserhebungen (= ein Erkenntnissammeln „in senso“ = kognitiv, gedanklich) verleiten dazu, ein Erfahrungssammeln im Alltagsleben (= in vivo = im Leben) zu meiden, persönlichen Anstrengungen aus dem Wege zu gehen, einen einfacheren Weg zum Erfassen eines Umstandes zu beschreiten. Gleichzeitig ist in vielen Konzeptionen zu lesen, dass die Elementarpädagogik bei Kindern im Hinblick auf die Schulbereitschaft der Kinder dazu beizutragen hat, dass „Anstrengungsvermeidungstendenzen“ abgebaut werden sollen, die Belastbarkeit ausgebaut und die Selbststeuerung aufgebaut und stabilisiert werden soll. Nun: hier ist eine Vorbildfunktion der pädagogischen Fachkräfte angezeigt und gefordert!

Ohne Frage dürfen die Aufgaben einer Medienorientierung in der Elementarpädagogik sowie Überlegungen zum Aufbau und zur Stärkung einer Medienkompetenz bei Kindern weder unberücksichtigt bleiben noch darf eine generelle Ablehnung digitaler Medien durch elementarpädagogische Fachkräfte dazu führen, sich der Berücksichtigung digitaler Medien zu verschließen. Dies hieße in beiden Fällen, die Augen vor einer realen Welt mit ihren digitalen Herausforderungen zu verschließen. Hier gilt es allerdings auch deutlich klarzustellen: „Wenn Medienbildung oder Medienerziehung unter der Maxime verstanden werden „wir müssen Kindern das Nutzen digitaler Medien beibringen“, sind die Vorbehalte der pädagogischen Fachkräfte vollkommen nachvollziehbar. Denn das wäre eine problematische Reduktion von Erziehung auf Mediennutzung – und würde pädagogischen Grundanforderungen – wie beispielsweise zu reflektieren, was gerade in der Situation relevant ist, was pädagogisch sinnvoll ist und was das Kind braucht – widersprechen.“ (MKFFI/ MSB 2018, S.16).

So kann folgender Aussage uneingeschränkt zugestimmt werden:

„Eine Pädagogik, die sich stark an der kindlichen Lebenswelt orientiert und dementsprechend situationsorientiert arbeitet, hat die Aufgabe, sich allen Einflussfaktoren der sich ständig verändernden Lebenswelt von Kindern inhaltlich anzunehmen und Kinder bei dieser Entwicklungsaufgabe zu unterstützen. Daher kann medienpädagogische Arbeit im Sinne eines ganzheitlichen Förderansatzes als identitätsbildende Erfahrung integraler Bestandteil des Bildungskonzeptes sein.“ (MKFFI/ MSB 2018, S. 128)

Zielperspektive „MEDIENKOMPETENZ“

Der Begriff „Medienkompetenz“ taucht immer wieder in Diskussionen über Medienbildung, als ein Schwerpunkt für Fortbildungsveranstaltungen, in Vorträgen oder in Fachartikeln auf. Dabei ist es notwendig, diesen Begriff näher zu erfassen und die Frage zu beantworten, was genau mit diesem Begriff gemeint ist. Dieser wurde von dem Universitätsprofessor Dieter Baacke 1973 in seiner Habilitationsschrift konzeptuell vorbereitet und in den 1990er Jahren in die Wissenschaft, die (medien-) pädagogische Praxis und die Politik getragen. Er versteht darunter keine bloße, rezeptive, passive Nutzung von Medien, sondern sieht im Besitz einer Medienkompetenz den kreativen und kritisch-reflexiven Gebrauch der Medien. (https://dieter-baacke-preis.de/ueber-den-preis/was-ist-medienkompetenz/)

Baake differenziert das Vorhandensein einer Medienkompetenz in vier Dimensionen:

  • „Medienkritik: Die Analyse problematischer Entwicklungen und die Reflexion dieser Entwicklungen in Bezug zu sich selbst. Zur Medienkritik gehört auch die ethische Abstimmung dieser beiden Ebenen Analyse und Reflexion.
  • Medienkunde: Wissen über Medien, sowohl in Bezug auf Strukturen als auch in Bezug auf die praktische Nutzung.
  • Mediennutzung: Einsatz von Medien aus Perspektive des Rezipienten und aus der Perspektive des Produzenten bzw. Anbieters.
  • Mediengestaltung: Als Weiterentwicklung der Medien (innovativ) und als ästhetische Orientierung (kreativ).“ (in: Knauf, H., 2010, S. 31)

Aus vielen vorhandenen Konzepten und Modellen können nun folgende drei zentrale Dimensionen von Medienkompetenz abgeleitet werden:

Bezüglich des Medienwissens ergeben sich folgende Fragen, die einer Beantwortung bedürfen:

  • „Welche technischen Fähigkeiten werden zur Mediennutzung benötigt? Welche Strukturen prägen Medien und Medienproduktion? Wie funktionieren Mediensysteme?“
  • Folgende Fragen stehen bei der Medienbewertung an: „Welche Medien und Medieninhalte sind qualitativ hochwertig? Welche Kriterien können an Medien gelegt werden?“
  • Und zum Medienhandeln braucht es Antworten auf folgende drei Fragen: „Wie können Medien genutzt werden? Wie kann ein Medium zum Ausdruck eigener Botschaften eingesetzt werden? Wie können mit Medien eigene Bedürfnisse befriedigt werden?“ (vgl. Schorb 2005, S. 259. In: Knauf, H., 2010, S. 31)

Und das Ganze kann vielleicht am einfachsten in einer Kurzzusammenfassung mit den Worten von Dr. Helen Knauf, Professorin für frühkindliche Bildung, so formuliert werden: sie versteht unter Medienkompetenz „das Vorhandensein sinnvoller Strategien zum Umgang mit Medien“ (2010, S. 30).

Um eine Medienkompetenz erwerben zu können, ist eine Medienbildung nötig, die laut Kutscher (2019) sieben Dimensionen umfasst, um überhaupt eine nachhaltige Wirkung zu erzielen, um immer wieder die Kinder, ihre Bedürfnisse sowie ihre aktuellen Lebensthemen zu sehen und sensibel zu schauen, welche digitalen Einsatzmöglichkeiten überhaupt angebracht und geboten sein können:

  • Sensibilisierung der Fachkräfte im Hinblick auf die Häufigkeit, wann/wie oft/wo, in welchen Situationen/wie lange digitale Medien täglich selbst in Anspruch genommen werden und wie die digitale Nutzung im Sinne der Häufigkeit sowie der Notwendigkeit eingeschätzt wird.
  • Prüfen, in welcher Weise das pädagogische Konzept und die pädagogische Konzeption einen Einsatz digitaler Medien erforderlich macht, wo es möglich/hilfreich ist und an welcher Stelle digitale Medien durch „life-Erlebnisse“ überflüssig sind.
  • Besprechen von allgemein gültigen Regeln und Absprachen zum Einsatz digitaler Medien (für Mitarbeiter*innen ebenso wie für den Einsatz in der Alltagspädagogik) auf der Grundlage und in Übereinstimmung mit dem Konzept.
  • Festlegung auf der Grundlage von klaren Regelungen, wann und in welchen Sinn-/Arbeits-/Projektzusammenhängen welche digitalen Medien eingesetzt werden könn(t)en.
  • Erweiterung der pädagogischen Einrichtungskonzeption, um der Nutzung und dem Einsatz von digitalen Medien einen festgeschriebenen Bedeutungswert einzuräumen.
  • Klärung hinsichtlich der Ausstattung von digitalen Medien in der Kita, um festzustellen, welche digitalen Medien vorhanden sind und welche ggf. angeschafft werden müssen.
  • Klärung der Aufgaben für die Mitarbeitenden in der Kita, welche Konsequenzen sich aus den zuvor genannten Punkten die mit dem Einsatz digitaler Medien für die Elternarbeit ergeben. (vgl.: in: MKFFI 2018, S. 16 bis 19)

Zuvorderst bedarf es bei einem beabsichtigten Einsatz digitaler Medien in Krippen und Kitas auch einer Berücksichtigung kritischer Stimmen

Folgende Anmerkungen dienen daher der Diskussion in Krippen- und Kita-Teams und zur Nutzung für Elterngespräche/Elternabende:

Auf der Internetseite der „Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.“ erschien am 22. November 2023 folgender Text:

„Pressemitteilung: 40 Wissenschaftler:innen fordern Moratorium der Digitalisierung an Schulen und Kitas! Grund: Sinkende Lernleistung, negative gesundheitliche, psychische und soziale Nebenwirkungen

Frankfurt am Main, 22.11.2023: Über 40 führende Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen fordern zusammen mit Kinder- und Jugendärzten von den Kultusminister*innen der Länder ein Moratorium der Digitalisierung an Schulen und vorschulischen Bildungseinrichtungen. Unter den Erstunterzeichnern sind führende Experten wie der Ordinarius für Schulpädagogik Prof. Klaus Zierer (Universität Augsburg), die Mediziner Prof. Manfred Spitzer (Universitätsklinik Ulm) und Prof. Thomas Fuchs (Jaspers-Lehrstuhl Universität Heidelberg) sowie der Medienpädagoge Prof. Ralf Lankau (Hochschule Offenburg).

„Wir fordern die Kultusminister*innen aller 16 Bundesländer auf, bei der Digitalisierung an Schulen und Kitas ein Moratorium zu erlassen“, sagt Prof. Ralf Lankau, einer der Initiatoren des Aufrufs. „Die wissenschaftliche Erkenntnis ist inzwischen, dass Unterricht mit Tablets und Laptops die Kinder bis zur 6. Klasse nicht schlauer, sondern dümmer macht. Hinzu kommen laut Studien negative gesundheitliche, psychische und soziale Wirkungen durch den vermehrten Einsatz digitaler Geräte im Unterricht.

Jetzt ist der Zeitpunkt, dass die Schulpolitik auf die Pädagogen und Kinderärzte dieses Landes hört und den Versuch des digitalen Unterrichts abbricht! In Schweden ist es bereits so weit: Die schwedische Bildungsministerin stoppte den Tablet-Einsatz in der Primarstufe. Das können die Kultusminister*innen in den Ländern nun auch tun.“

Der Moratoriumsaufruf ist in voller Länge und mit allen Erstunterzeichnern unter folgendem Link nachzulesen: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/wissenschaftler-fordern-moratorium-der-digitalisierung-in-kitas-und-schulen.html

Die skandinavischen Länder waren Vorreiter in der Digitalisierung von Bildungseinrichtungen. Doch die schwedische Regierung korrigierte 2023 die Entscheidung ihrer Vorgänger, bereits Vorschulen des Landes verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten. Der Grund für das Umdenken ist die Stellungnahme von fünf Professor*innen des renommierten Karolinska-Instituts (Stockholm), die die Strategie der Digitalisierung von Schulen in einem Gutachten als falsch kritisierte: Das Gutachten kommt zum Schluss, dass die behaupteten positiven Befunde nicht belegbar seien. Die Forschung habe stattdessen gezeigt, dass „die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler“ habe. Die Ziele (Bildungs- und Chancengerechtigkeit, Unterrichtsverbesserung, gesellschaftliche Teilhabe) würden nicht erreicht, im Gegenteil: „Es ist offensichtlich, dass Bildschirme große Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen“ (Gutachten des Karolinska-Instituts von 2023, einer der besten medizinischen Forschungseinrichtungen der Welt).

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) hat 2023 Leitlinien zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend herausgegeben, die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sowie von vielen Fachverbänden aus Medizin, Psychologie und Suchtprävention mitgetragen werden. Die wichtigste Empfehlung für alle Altersstufen: Reduktion der Bildschirmzeiten, keine eigenen Geräte für Kinder und keinen unkontrollierten, unbegleiteten Zugang zum Internet.

Der U.S. Surgeon General (oberste Gesundheitsbehörde in den USA) hat 2023 eine Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen herausgegeben. Sie zeigt detailliert auf, wie stark junge Menschen von digitalen Medien beeinflusst und abhängig werden. Die immer längere Nutzungsdauer und das immer frühere Einstiegsalter habe Folgen für die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Körperunzufriedenheit, gestörtes Essverhalten, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, geringes Selbstwertgefühl, Depression.

Kontakt für Rückfragen:

Prof. Dr. phil. Ralf Lankau, Redaktionsleitung Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. ralf.lankau@bildung-wissen.eu, Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V., Didaktik der Biowissenschaften, Riedberg / Biologicum / Flügel D, Max-von-Laue-Straße 13, 60438 Frankfurt am Main, https://bildung-wissen.eu

Und aufgrund einer französischen Studie „Enfant et écrans“ (Kinder und Bildschirme), die die französische Regierung im Januar 2024 in Auftrag gab („Remise du rapport de la commission d’experts sur l’impact de l’exposition des jeunes aux écrans. Publié le 30 avril 2023“), wurde ein Gutachten zur digitalen Nutzung durch Kinder und Jugendliche erstellt, „wobei die Ergebnisse der Anhörung von 100 Expertinnen und Experten am 30. April 2024 publiziert wurden. Anhand der Studienergebnisse wurde ein Smartphone-Verbot für Kinder bis zu zwölf Jahren und Social-Media-Nutzung erst ab 18 Jahren gefordert. Präsident Emmanuel Macron forderte daher die rasche Umsetzung dieser Empfehlungen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen.

Zu den Empfehlungen gehören unter anderem ein generelles Verbot digitaler Medien für Kindergärten. Aus wissenschaftlicher Sicht sollten Kinder unter drei Jahren zudem gar nicht mit Bildschirmen in Berührung kommen – auch nicht mit dem Fernseher.

Begründet werden Empfehlungen und Verbote mit psychosomatischen Auswirkungen wie Depressionen, Angstzuständen, Bildschirmsucht, Bindungsstörungen (Technoference), Auswirkungen auf den Schlaf, Bewegungsmangel und Fettleibigkeit.

Vor dem Alter von sechs Jahren brauche kein Kind einen Bildschirm, um sich zu entwickeln, so die Neurobiologin Servan Mouton. /…/ Kinder und Jugendliche müssten vor den profitorientierten Strategien der Tech-Konzerne geschützt werden, die Kinder und Jugendliche zu „Ware“ degradierten. Den Konzernen ginge es nur darum, die Aufmerksamkeit der Minderjährigen zu bekommen und setzten dafür alle Formen der kognitiven Verzerrung ein, um sie an Bildschirmen zu halten, sie zu kontrollieren und ihre Interaktionen zu monetarisieren, so die die Studie. ///.“ Quelle: https://die-pädagogische-wende.de/frankeich-smartphone-verbot-bis-12-social-media-verbot-erst-ab-18/

Schlusswort:

  • Wenn von dem Aufbau einer „Medienkompetenz bei Kindern“ gesprochen wird, bedarf es zunächst immer erst eines Vorhandenseins einer Medienkompetenz auf Seiten der Erwachsenen. Was in nahezu allen vergangenen und gegenwärtigen Fachbeiträgen kaum oder gar nicht erwähnt bzw. nur ansatzweise ausgeführt wird. Welche Merkmale und Kompetenzen dafür notwendig sind, wurden in diesem Beitrag erläutert.
  • Dadurch konnte zudem verdeutlicht werden, dass sich statt „Medienkompetenz bei Kindern“ vielmehr um den Beginn einer „Medienbildung“ handelt, in der Kinder – entsprechend ihren entwicklungspsychologischen und neurobiologischen Voraussetzungen – mit digitalen Medien in Berührung kommen können (bzw. sollen).
  • Es erscheint daher fachlich angebracht, die Begriffe „Medienkompetenz und Medienbildung“ differenziert zu verstehen und zu nutzen.
  • Kindern darf im Rahmen des gesetzlich verankerten ‚Bildungsauftrags‘ der Bereich Medienbildung nicht vorenthalten werden, sondern hat dort stattzufinden, wo Medien thematisch und projektorientiert in die Alltagspädagogik einbezogen werden können. „Medienbildung hat einen alltagsintegrierten Ansatz. Digitale Medien sollten nicht als besonderes Element einmal in der Woche für eine Stunde /…/ zur Verfügung gestellt werden.“ (Lepold/ Ullmann, 2018, S. 115)
  • Medienbildung kann nur dort geschehen, wo es eine beziehungsorientierte Bindung vom Erwachsenen zum Kind gibt.
  • Die Erwachsenen sind an allen Orten und zu allen Zeiten ein Modell für die Art und Weise sowie die Häufigkeit der Nutzung der digitalen Medien. Hier ist in stetem Zeitrhythmus der selbstreflexiven Frage nachzugehen, ob die eigene Mediennutzung bewusst selbstkontrolliert, selbstgesteuert und selbstdiszipliniert stattfindet oder ob das digitale Medium die Nutzer*in bereits in eine Abhängigkeit gebracht hat.
  • Der Einsatz von digitalen Medien hat sich als reaktives Medium den Aktivitäten/Interessen der Kinder zu- bzw. unterzuordnen und sollte in der Zielsetzung einer nachhaltigen Bildung nicht zum „belehrenden“ Ausgangspunkt den Kindern vorgesetzt werden. Nicht die Kinder haben sich den digitalen Medien zuzuwenden, sondern die Medien können sich inklusiv als erweiternder, erlebnis- und erkenntnisförderlicher Themen-/Projektbegleiter den Kindern anbieten.
  • Um eine Medienbildung für Kinder in die Alltagspädagogik zu integrieren, ist eine Medienkompetenz aufseiten der Erwachsenen eine unverzichtbare Voraussetzung.
  • Es gibt keinerlei fachliche Notwendigkeiten oder wissenschaftliche Belege für eine nachhaltig bedeutsame Bildung des Kindes durch eine digitale Mediennutzung für Kinder im Krippenalter. Gerade Kinder im Krippenalter brauchen empathische, persönlich zugewandte, kommunikationskompetente, sprachlich aktive und an den Interessen/ Spielhandlungen der Kinder interessierte Erwachsene, die sich den Bedürfnissen der Kinder und deren Befriedigung verpflichtet fühlen.
  • Eine Medienbildung für Kinder ist nur dann hilfreich, zielführend und effizient, wenn auch die Eltern der Kita-Kinder in die Medienbildung einbezogen werden und ihr eigenes Mediennutzungsverhalten selbstkritisch analysieren, damit nicht den Kindern etwas abverlangt wird (z.B. eine zeitbegrenzte oder ortsbedingte Medienabstinenz), was die Eltern selbst nicht erfüllen. Hier müssen Absprachen stattfinden bzw. ‚Mediennutzungsverträge‘ abgeschlossen werden. 
  • Letztendlich ist es auch wünschenswert und würde zudem von einer vorurteilsfreien Haltung und zielorientierten Diskussionsgrundlage zeugen, wenn Kritiker*innen an der weit verbreiteten Forderung nach einer „Medienkompetenz bei Kindern“ und deren funktional gestalteten Angebote (!) nicht als „digital medienfeindlich“ abgestempelt werden! Prof. Dr. Helen Knauf schreibt dazu: „Mit einem Klischee möchte ich /…/aufräumen: Aufgeschlossenheit bzw. Ablehnung hängen nicht automatisch mit dem Alter zusammen – es gibt 60-jährige Digitalpionier*innen in den Kitas ebenso wie 20-jährige Medienskeptiker*innen.“ (Knauf, 2020, S. 8)

Lassen wir ganz zum Schluss noch einmal Prof. Dr. Knauf zu Worte kommen: „Digitale Medien sind weder Heilsbringer noch Vorboten der Apokalypse. /…/ Medien sollen dort zum Einsatz kommen, wo sie ko-konstruktive Bildungsprozesse bereichern. /…/ Beispielsweise, wenn (Kinder) über das Internet Informationen bekommen. Oder wenn sie mit einer App zur Pflanzenbestimmung die Antwort darauf bekommen, welcher Baum das ist. Indem sie Fotos und Videos nutzen, können Kinder ihre Perspektive einbringen, auch in Entscheidungsprozesse. /…/ Ganz wichtig ist es mir festzuhalten, was nicht das Ziel des Einsatzes von Medien in der Kita ist: Es geht nicht darum, dass Kinder lernen, beispielsweise ein Tablet zu bedienen. /…/ Und es geht auch nicht darum, dass Kita-Kinder in der Kita Lern- und Spiele-Apps nutzen. /…/ Durch Digitalisierung wird aus einer schlechten Pädagogik keine gute. Es kommt also darauf an, wie und wo man digitale Medien einsetzt.“ (Knauf, 2020, S. 7)

Literaturhinweise:

  • AGJ – Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (2016): Digitale Lebenswelten. Kinder kompetent begleiten! Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, URL: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2016/Digitale_Lebenswelten.pdf
  • Anfang, Günther: Medienkompetenz im Kindergarten stärken. In: KiTa NRW, Heft 11/24, S. 17-19
  • Aufenanger, Stefan (Hrsg.): Neue Medien – Neue Pädagogik? Ein Lese- und Arbeitsbuch zur Medienerziehung in Kindergarten und Grundschule. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1991
  • Bauer, Matthias Johannes: In: „Wahnsinn Eltern-Chat – 175 Nachrichten in 15 Minuten.“ NRZ, LEBEN & FAMILIE, 07.12.2024
  • Berg, A./Bitkom e.V. (2017): Kinder und Jugend in der digitalen Welt. Berlin. URL: www.bitkom.org/sites/default/files/file/import/170512-Bitkom-PK-Kinder-und-Jugend-2017.pdf
  • Boberski, Heiner: Adieu Spaßgesellschaft. Wollen wir uns zu Tode amüsieren? Edition va bene, Klosterneuburg 2004
  • Bostelmann, Antje & Fink, Michael: Digital Genial. Erste Schritte mit Neuen Medien im Kindergarten. Bananenblau, Berlin 2014
  • Eichenberg, Christian & Auersperg, Felicitas: Chancen und Risiken digitaler Medien für Kinder und Jugendliche. Ein Ratgeber für Eltern, Lehrkräfte und andere Bezugspersonen. Hogrefe Verlag GmbH & Co KG., Göttingen 2. Überarb. Aufl. 2024
  • Hahne, P.: Schluss mit lustig: Das Ende der Spaßgesellschaft. Johannis 2009 
  • Feierabend, S., Rathgeb, T. Kheredmand, H. & Glöckler, S.: JIM-Studie 2022 https://mpfs.de/studie/jim-studie-2022/
  • Feierabend, S., Rathgeb, T. Kheredmand, H. & Glöckler, S.: KIM-Studie 2022 https://mpfs.de/studie/kim-studie-2022/
  • Knauf, Helen: Bildungsbereich Medien. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010
  • Knauf, Helen: „Digitalisierung ist kein Wundermittel“ – Über digitale Medien. In: klein&groß, 02-03/2020, S. 7f.
  • Kutscher, Nadia: Digitalisierte Lebenswelten und ihre Implikationen für Soziale Arbeit. In: Sozialmagazin, 3-4/2019, S. 26-35
  • Lepold, Marion & Ullmann, Monika: Digitale Medien in der Kita. Alltagsintegrierte Medienbildung in der pädagogischen Praxis. Herder, Freiburg 2018
  • Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (MPFS) (Hrsg.) (2015): MiniKIM 2014. Kleinkinder und Medien. Stuttgart URL: https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/miniKIM/2014/Studie/miniKIM_Studie_ 2014.pdf
  • Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (MPFS) (Hrsg.) 2024: MiniKIM-Studie 2023. Kleinkinder und Medien. Stuttgart. URL: https://mpfs.de/studie/minikim-2023/
  • MKFFI – Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Digitale Medien in der frühkindlichen Bildung. Eine Handreichung für pädagogische Fachkräfte, Träger und Eltern in Kindertageseinrichtungen. Düsseldorf 2018
  • Näger, Sylvia: Kreative Medienerziehung im Kindergarten. Ideen-Vorschläge-Beispiele. Herder, Freiburg 1999
  • Six, Ulrike & Gimmler, Roland: Die Förderung von Medienkompetenz im Kindergarten. Eine empirische Studie zu Bedingungen und Handlungsformen der Medienerziehung. Schriftreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien, Band 57. Düsseldorf 2007
  • Theunert, Helga (Hg.): Medienkinder von Anfang an. Medienaneignung in den ersten sechs Lebensjahren. kopaed, München 2007
  • Wunsch, Albert: Abschied von der Spaßgesellschaft. Kösel, München 2003
  • Zimmer, Jasmin: Bildung und digitale Medien in der Kita. Eine Grounded Theory zu Haltung und Praxis pädagogischer Fachkräfte. Brill/ Schöningh, Paderborn 2024

Armin Krenz




Artenkenntnisse und Naturverbundenheit nehmen bei jungen Menschen ab

Forschende fordern vom Kindergarten bis hin zur universitären Ausbildung verstärkt Zugänge zur Natur zu schaffen

Die Kenntnis häufiger Tier- und Pflanzenarten, die Naturverbundenheit unter den Generationen und deren Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen, nehmen von älteren zu jüngeren Menschen ab. Das ist ein wesentliches Ergebnis der Studie „From nature experience to pro-conservation action: How generational amnesia and declining nature-relatedness shape behaviour intentions of adolescents and adults“.

Wie unterscheiden sich die Generationen hinsichtlich ihrer Artenkenntnis

Unter Leitung von Prof. Dr. Tanja Straka und Prof. Dr. Ingo Kowarik wurde erstmals systematisch untersucht, wie sich Jugendliche, junge Erwachsene und ältere Erwachsene hinsichtlich ihres Naturkontakts, der Artenkenntnis, der Naturverbundenheit und der Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen, unterscheiden. Durchgeführt wurde die Studie am Institut für Ökologie der TU Berlin.

An der Studie nahmen insgesamt 600 Menschen teil: darunter 252 Berliner Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren sowie 215 junge Erwachsene zwischen 18 und 29 Jahren und 133 ältere Erwachsene zwischen 30 and 76 Jahren aus ganz Deutschland.

Zusammenhang zwischen Naturverbundenheit und Engagement für die Natur

Eine weitere wichtige Erkenntnis: Trotz der Unterschiede zwischen den Altersgruppen bestand durchgängig eine direkte (oder indirekte) Verbindung zwischen Artenkenntnis, Naturverbundenheit und der Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen. Demnach fördert ein gutes Artenwissen die Naturverbundenheit, also die emotionale, kognitive und erfahrungsbezogene Verbundenheit mit der Natur. Ist diese erhöht, steigt wiederum die Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen. „Es lohnt sich also, die Artenkenntnis und Naturverbundenheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu fördern. Dabei sollte auch die Chance genutzt werden, Wissen und Erfahrungen über Natur über Generationen hinweg weiterzugeben“, sagt Prof. Dr. Tanja Straka, die Erstautorin der Studie. Mittlerweile lehrt und forscht sie an der FU Berlin.

Nur noch 29 Prozent der Jugendlichen erkennen die Elster. (Pastellzeichnung aus Loes Botman Von den Wiesentieren, ISBN 9783963040450)

Phänomen der Generationenamnesie

Wie notwendig das ist, belegen die abnehmenden Artenkenntnisse im Übergang von älteren zu jüngeren Teilnehmenden der Studie. Verschiedene Organismengruppen sind zudem unterschiedlich gut bekannt: Schmetterlinge weniger als Vögel, und Vögel weniger als Pflanzen. So können 73 Prozent der Jugendlichen die Brombeere richtig benennen, aber nur 29 Prozent die Elster und nur noch drei Prozent den Tagfalter Kleiner Fuchs. Im Vergleich dazu erkennen immerhin 22 Prozent der älteren Erwachsenen diesen in Deutschland verbreiteten Schmetterling, 61 Prozent die Elster und 84 Prozent die Brombeere. Das bestätigt das Phänomen der ‚generational amnesia‘, das einen Verlust an Kenntnissen über die Natur im Übergang von älteren zu jüngeren Generationen annimmt.

Den Tagfalter Kleiner Fuchs kennt kaum jemand

Insgesamt sollten die 600 Teilnehmenden zwölf Arten bestimmen: Bei der Gruppe der Vögel das Rotkehlchen, die Amsel, die Elster, den Haussperling. Als Schmetterlinge den Kleinen Kohlweißling, den Zitronenfalter, das Tagpfauenauge, den Kleinen Fuchs und bei den Pflanzen die Brombeere, die Brennnessel, die Silber-Birke sowie die Rosskastanie als wichtigen Stadtbaum. Die Arten, die über alle drei Gruppen hinweg am häufigsten richtig benannt wurden, waren Brennnessel (86 Prozent), Haussperling (67,3 Prozent) und Zitronenfalter (58,2 Prozent). Die Arten, die über alle drei Gruppen hinweg am seltensten richtig benannt wurden, waren die Rosskastanie (52,8 Prozent), die Elster (41,5 Prozent) und der Kleine Fuchs (10,8 Prozent). Keine der zwölf Arten wurde von allen Teilnehmenden richtig benannt.

Vom Wert für Naturverbundenheit

Weiterhin sollten die Teilnehmenden Angaben zur Häufigkeit ihrer Grünflächenbesuche machen sowie dazu, inwieweit sie sich mit der Natur verbunden fühlen und sich für sie einsetzen würden. Während es bei der Häufigkeit der Grünflächenbesuche keine Unterschiede zwischen den Altersgruppen gab, nahmen die Naturverbundenheit und die Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen, signifikant von älteren hin zu jüngeren Teilnehmenden ab. Der Wert für Naturverbundenheit sank von 3,98 auf 3,09, und der Wert für die Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen, betrug 3,76 bei älteren Erwachsenen, aber nur noch 2,82 bei Jugendlichen.

Veränderte Lebensstile von Kindern und Jugendlichen

„Der Schutz der biologischen Vielfalt ist eine Herausforderung für heutige und zukünftige Generationen – auf globaler wie lokaler Ebene. Viele Studien haben nachgewiesen, wie wichtig Naturerfahrungen, eine emotionale Verbindung zur Natur sowie Wissen über Tier- und Pflanzenarten sind, damit Menschen sich für die Natur einsetzen. Allerdings wurde auch gezeigt, dass aufgrund veränderter Lebensstile Kinder und Jugendliche häufig weniger Kontakt zur Natur haben und auch weniger als Erwachsene über Natur wissen. Damit wird die Befürchtung verbunden, dass sich zukünftige Generationen weniger für die Erhaltung der Natur einsetzen werden“, sagt Prof. Dr. Tanja Straka.

Mehr Angebote für Naturerlebnisse schaffen

Ein überraschendes Ergebnis der Berliner Studie kam bei der Auswertung der Häufigkeit des Grünflächenbesuchs zutage, ein etablierter Indikator für Naturerfahrungen. Anders als erwartet, gab es hier keine Unterschiede zwischen den Altersgruppen. „Die Bereitstellung von Grünflächen und anderen naturnahen Gebieten in Städten reicht nicht aus, wenn wir Naturerfahrungen und die damit verbundenen positiven Effekte für Naturverbundenheit und Einsatzbereitschaft für die Natur fördern wollen“, sagt Prof. Dr. Ingo Kowarik, der von 1999 bis 2021 das Fachgebiet Ökosystemkunde, insbes. Pflanzenökologie der TU Berlin leitete. Insofern lege die Berliner Studie, so der Ökologe, zwei Konsequenzen nahe: „Die erste ist, verstärkt Zugänge zur Kenntnis unterschiedlicher Organismengruppen zu vermitteln, vom Kindergarten bis hin zur universitären Ausbildung. Die zweite Schlussfolgerung: Besonders Kinder und Jugendliche sollten darin unterstützt werden, sich nicht nur im Grünen aufzuhalten, sondern dort auch über die Natur zu lernen und positive emotionale Erfahrungen mit Natur zu gewinnen.“

Von den Wiesentieren

Maulwurf, Regenwurm und Co. Natur-Zeichnungen und Wissenswertes über heimische Tiere in einem Bilderbuch für Kinder ab 3. Ein Einblick in den Lebensraum Wiese.

Loes Botman, Von den Wiesentieren, Hardcover 25,5 x 29,9 cm, 68 Seiten, ISBN 9783963040450, 25 €.

Die Studie im Original:

Link zur online frei verfügbaren Veröffentlichung „From nature experience to pro-conservation action: How generational amnesia and declining nature-relatedness shape behaviour intentions of adolescents and adults: https://link.springer.com/article/10.1007/s13280-025-02135-7

Stefanie Terp, Technische Universität Berlin




Einfacher und flüssiger schreiben lernen

Modellprojekt zum einphasigen Schrifterwerb an bayerischen Grundschulen

Dass Kinder in der Grundschule die Kulturtechnik des Schreibens erlernen, ist unumstritten. Umso lauter ist aber die Kontroverse um die Methode. In Bayern lernen Kinder aktuell in der ersten Klasse Druckschrift, spätestens Anfang der zweiten Klasse kommt eine Schreibschrift hinzu. Ob das die Vereinfachte Ausgangsschrift oder die Schulausgangsschrift ist, entscheidet die Schule und teils sogar die Lehrkraft. Insgesamt sind in Deutschland derzeit vier Schriften verbreitet: Neben drei Schreibschriften ist in einigen Bundesländern die Grundschrift für den einphasigen Schrifterwerb zugelassen.

Schreibschrift sollte nicht die Norm sein

Aus Sicht von Dr. Eva Odersky, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU), ist das unnötig: „Dahinter steckt ohnehin ein Missverständnis: Die Schreibschrift soll nicht die Norm sein, sondern ein Ausgangspunkt, von dem die Kinder nach der Einführung möglichst schnell wegsollten.“ Tatsächlich sei in der Praxis aber häufig das Gegenteil zu beobachten: Lehrkräfte und Eltern strebten durch Korrekturen und Kritik eine möglichst akkurate Schreibschrift an.

Teilverbundene Schriften sind die schnellsten

Das „malende Schreiben“ koste viele Stunden, Tränen und Nerven – obwohl es am offiziellen Ziel des Schrifterwerbs, der Entwicklung einer flüssigen Handschrift, vorbeigeht. „Leider herrscht vielerorts der Irrglaube, dass flüssiges Schreiben gleichbedeutend ist mit verbundenem Schreiben, also Schreibschrift“, erklärt Odersky. „Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Verbundene Schriften sind die langsamsten Schriften. Am flüssigsten sind teilverbundene Schriften, gefolgt von Druckschriften.“ Teilverbundene Schriften sind weder ganz unverbunden wie Druckschriften noch ganz verbunden wie Schreibschriften. Unter routiniert und flüssig schreibenden Erwachsenen oder älteren Kindern werden sie am häufigsten verwendet.

Was flüssig aussieht, ist es nicht unbedingt

Mit ihrer Forschung kann Odersky ihre Aussagen empirisch untermauern. In ihrer Doktorarbeit hat sie tausende Schriftproben von mehr als 330 Kindern am Ende der 4. Klasse erfasst. Die Kinder schrieben auf Papier, darunter lag ein Grafiktablet, über das alle Bewegungen digital erfasst wurden, auch die in der Luft. Ein wichtiges Fazit: „Was auf dem Papier flüssig aussieht, ist es im Bewegungsablauf nicht zwingend.“ In der Analyse der Schriftproben werde deutlich, dass auch eine Druckschrift oder teilverbundene Schrift Ergebnis einer flüssigen Bewegung ist – nur eben teils in der Luft. Das wiederum sei sogar von Vorteil, denn so erhalte die Muskulatur eine Pause und das Abrufen des motorischen Programms für den nächsten Buchstaben werde erleichtert. Dagegen zeige sich bei verbundenen Schriften häufig ein Stocken im Schreibprozess. „Die Kinder erlernen eine Schreibschrift, um schneller und flüssiger zu schreiben – und man erreicht damit oft das Gegenteil“, konstatiert Odersky.

Zwei Systeme im Kopf, erschweren die Automatisierung

In Oderskys Studie schrieben alle untersuchten Viertklässler den gleichen Satz aus fünf Wörtern – die schnellsten schafften das in elf Sekunden, die langsamsten brauchten länger als eine Minute. Wie es zu diesen Unterschieden kommt, illustriert Odersky mit der Schriftprobe eines Jungen. In blau ist in Schreibschrift das Wort „schreiben“ zu lesen. In schwarzen Punkten, die die Bewegung in der Luft zeigen, ist zu sehen, dass vor dem Schreibschrift-b in der Luft ein Druckschrift-b geschrieben wurde. „Das Kind hat zwei Systeme im Kopf, das erschwert die Automatisierung des Bewegungsablaufs. Statt sich auf Inhalte konzentrieren zu können, ist es beschäftigt zu überlegen, welches b es schreiben soll.“ Automatisiertes Schreiben stehe in signifikantem Zusammenhang mit der Schulleistung – und das nicht nur in Deutsch, sondern in fast allen Fächern, auch in Mathe werden etwa Lösungssätze aufgeschrieben.

Ein Beispiel, das die Problematik der Schreibschrift zeigt: In der Luft schreibt der Schüler zunächst ein Druckschrift-b (hier die schwarze Linie), um dann auf das Papier ein Schreibschrift-b zu schreiben (hier die blaue Linie).

Feinmotorische Unterschiede gibt es nicht

Faktoren wie Schulsprengel, Mehrsprachigkeit, Händigkeit oder das Geschlecht der Kinder hatten in Oderskys Studie wie auch in ähnlichen internationalen Arbeiten keinen signifikanten Einfluss auf die Schreibflüssigkeit. Wohl aber die verwendete Schrift. Der Mythos, Jungen schrieben schlechter als Mädchen, ist laut der Eichstätter Wissenschaftlerin anders zu erklären. In ihrer Studie schrieben Jungen, die – wie die meisten Mädchen – Ende der 4. Klasse entweder bereits eine teilverbundene Handschrift ausgebildet hatten oder wieder zur Druckschrift zurückgegangen waren, genauso flüssig wie die Mädchen. „Feinmotorische Unterschiede gibt es nicht zwischen den Geschlechtern. Aber viele Jungs bleiben bei der Schreibschrift, weil sie das Thema weniger interessiert“, sagt Odersky. „Mädchen finden die Schreibschrift schneller kindlich und ein bisschen peinlich und schreiben, sobald sie dürfen, wieder Druckschrift oder teilverbunden, wie sie es bei Erwachsenen sehen.“

Lehrkräfte können vieles bewirken

Einen starken Zusammenhang fand Odersky zwischen Schreibflüssigkeit und den Klassen, in die die Kinder gehen. Alle untersuchten Kinder hatten zunächst Druckschrift, dann als Schreibschrift die Vereinfachte Ausgangsschrift gelernt und dennoch kam es selbst zwischen Parallelklassen zu deutlichen Unterschieden. „Das zeigt, dass die Lehrkraft eine Menge zum Positiven bewirken oder auch negativen Einfluss haben kann.“ Entscheidend sei, ab wann Lehrkräfte Kindern erlauben, sich von der Schreibschrift zu lösen und ihre eigene Handschrift zu entwickeln – und wie sie dies fördern. Der bayerische Lehrplan biete die dafür nötige Flexibilität, denn dort sei zwar festgelegt, dass eine Schreibschrift eingeführt werden muss – aber nicht, wie lange und intensiv.

Kinder sollten entscheiden

Das Ziel zum Ende der Grundschule ist nicht die Schreibschrift: „Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine gut lesbare, gleichmäßige persönliche Handschrift zügig und sicher“, heißt es im LehrplanPLUS Grundschule. Statt die Kinder zu trainieren, eine exakte Schreibschrift zu schreiben, sollten Lehrkräfte mit den Kindern daher ausprobieren, welche Art des Schreibens sich für sie eignet, empfiehlt Eva Odersky: „Das geht gut über eine regelmäßige Schreibkonferenz in der Klasse: Alle schreiben das gleiche Wort und man schaut gemeinsam, wer welche Buchstaben wie geschrieben hat. So kann jedes Kind sich entscheiden, etwas zu übernehmen oder bei seiner Art zu bleiben.“ Auch Schwungübungen seien sinnvoll, um die Verbindung bestimmter Druckbuchstaben zu unterstützen.

Mit „FlowBY“ zum einphasigen Schrifterwerb

Seit 2024 kooperiert Odersky mit dem bayerischen Kultusministerium, um ihre Erkenntnisse in die Praxis zu transferieren und dort weiterzuentwickeln. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Prof. Dr. Astrid Rank, Inhaberin des Lehrstuhls für allgemeine Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Regensburg, soll sie in den kommenden drei Jahren im Modellprojekt „FlowBY“ einen einphasigen Schrifterwerb wissenschaftlich implementieren, begleiten und evaluieren. Angedockt ist FlowBY an das Projekt „Fachintegrierte Schreibförderung Bayern“ (FiSBY) der Universität Regensburg, das sich im größeren Kontext mit der Förderung des genrespezifischen Schreibens befasst. Die Längsschnittstudie zu FlowBY mit mehr als 100 Grundschulen startete zum Schuljahr 2024/25. Die Kohorte wird insgesamt vier Mal erhoben – Anfang der zweiten Klasse, sowie zum Ende der zweiten, dritten und vierten Klasse.

Neuland für Lehrkräfte

Entscheidende Erkenntnisse zum Schrifterwerb erhofft sich Odersky, da sich im Projekt zwei Gruppen finden: Zum einen Schulen, die klassisch sowohl Druck- als auch Schreibschrift lehren, zum anderen Schulen, die mit dem Projekt in den einphasigen Schrifterwerb einsteigen. „Dort wird die bayerische Druckschrift wie üblich in der ersten Klasse eingeführt und dann werden die Kinder in der Entwicklung einer teilverbundenen Schrift begleitet.“ Da dieser Weg für die Lehrkräfte Neuland bedeutet, gehört es zu den Aufgaben von Odersky und ihren Kolleginnen, diese entsprechend zu schulen und zu unterstützen. Neben Workshops gibt es Vorträge und Sprechstunden für die Lehrkräfte. Ein Newsletter bietet Ideen für Übungseinheiten.

Digitale Evaluierung der Handschriften

In der begleitenden Studie wird die Schreibflüssigkeit durch einen Abschreibtest erfasst. Zudem ist geplant, von einem Teil der Kinder analog zu Oderskys Dissertation mit Grafiktablets Schriftproben zu sammeln. Diese digitale Evaluierung der Handschriften übernimmt im Projekt FlowBY maßgeblich Francesca Falter, Doktorandin an der Universität Regensburg. Mit den Ergebnissen aus dem Modellprojekt hofft Eva Odersky dann ihrem Ziel näher zu kommen: „Ich wünsche mir, dass wir die Kinder in der Entwicklung einer flüssigen und gut lesbaren Handschrift besser unterstützen, indem wir ihnen direkt beibringen, was wir Erwachsenen ohnehin alle tun – nämlich teilverbunden schreiben.“

Dr. Christian Klenk, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt




Kostenloser Ratgeber zum Umgang mit Kinderfotos und Kindervideos

Deutsches Kinderhilfswerk veröffentlicht „Sharing is not Caring – Wie man die Privatsphäre von Kindern im Internet schützt“ als E-Version und Broschüre

Das Deutsche Kinderhilfswerk hat eben einen neuen Ratgeber für Erziehende zum Thema Sharenting – dem Online-Teilen von Kinderfotos und Kindervideos veröffentlicht. Die Broschüre „Sharing is not Caring – Wie man die Privatsphäre von Kindern im Internet schützt“ richtet sich an Erziehende. Sie wurde gemeinsam mit Studierenden der Köln International School of Design entwickelt. Anhand von sechs Graphic Novels wird veranschaulicht, welche Kinderrechte beim Sharenting berührt werden und welche möglichen Auswirkungen für die Privatsphäre, Sicherheit und die Selbstbestimmung der Kinder bestehen.

Ergänzt durch Hintergrundinformationen, Tipps und eine Checkliste, unterstützt der Ratgeber Eltern und andere Erziehende dabei, bewusste und verantwortungsvolle Entscheidungen im Umgang mit Kinderfotos und Kindervideos, aber auch generell mit Daten ihres Kindes im Internet zu treffen.

Erziehende sensibilisieren

„Kinder gehören in die Mitte unserer Gesellschaft und sollten auch im Internet und den Sozialen Medien sichtbar sein. Es geht uns also nicht darum, Kinderfotos und Kindervideos im Internet zu verbieten. Sondern wir möchten Eltern und andere Erwachsene dafür sensibilisieren, dass sie Fotos und Videos von Kindern nicht ohne Zustimmung der Kinder veröffentlichen oder verbreiten.“, sagt Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes.

Publikation des Ratgebers im Rahmen eines Projektes der Koordinierungsstelle Kinderrechte

Der Ratgeber „Sharing is not Caring – Wie man die Privatsphäre von Kindern im Internet schützt“ kann online unter www.dkhw.de/kinderfotos-im-netz heruntergeladen werden oder als Broschüre in gedruckter Version kostenfrei über den DKHW-Shop unter www.dkhw.de/sharing-is-not-caring bestellt werden. Die Publikation des Ratgebers erfolgt im Rahmen eines Projektes der Koordinierungsstelle Kinderrechte des Deutschen Kinderhilfswerkes. Die Koordinierungsstelle Kinderrechte begleitet die Umsetzung der aktuellen Strategie des Europarates für die Rechte des Kindes (2022-2027) und der Kinderrechtestrategie der Europäischen Union in Deutschland. Sie wird durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert.

Quelle: Pressemitteilung DKHW




Digitale Bildungspolitik stoppen und Smartphone-freie Schulen schaffen

Ein Appell von 75 Expertinnen und Experten warnt die neue Bundesregierung eindringlich davor, im Bildungssystem weiter auf Digitalisierung zu setzen

Mit einem Appell warnen 75 Expertinnen und Experten aus Pädagogik und Medizin die neue Bundesregierung davor, im Bildungssystem weiter auf Digitalisierung zu setzen. Sie fordern einen Kurswechsel – zum Wohl der körperlichen und geistigen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

„iPads im Kindergarten sind so etwas wie vorsätzliche Körperverletzung“

„Was ich in meinem Buch Digitale Demenz prognostizierte, ist leider eingetreten. Der übermäßige Umgang mit digitalen Endgeräten schadet der Bildung der Kinder und erhöht damit ihr Risiko, später an Demenz zu erkranken.“, erklärt in diesem Zusammenhang der bekannte Gehirnforscher und Psychiater Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer. Weitere gesundheitliche Schäden reichen von Kurzsichtigkeit mit Erblindung im Alter über Bewegungsmangel und Übergewicht (mit Herzerkrankungen im Alter) bis zu Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen und Suchterkrankungen. iPads im Kindergarten sind aus medizinischer Sicht so etwas wie vorsätzliche Körperverletzung.“ Denn es sei nachgewiesen, so der Wissenschaftler im Pressegespräch, dass digitale Medien Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter schaden würden. Gehirnschädigungen, Entwicklungsverzögerungen und eine Deformierung des Augapfels seien nur einige der bekannten Folgen.

Dehumanisierung des Unterrichts

„Die Entwicklung des kindlichen Gehirns braucht vielfältige reale Anreize statt einfältiges Wischen,“ so der Grafiker, Philologe und promovierter Kunstpädagoge Prof. Ralf Lankau. „Daher muss sich die Bildungspolitik an den Bedürfnissen der Kinder orientieren und nicht an den Interessen der IT-Industrie.“

„Die Konzepte der sogenannten digitalen Bildung kommen nicht aus der Erziehungswissenschaft, sondern aus der Industrie, die die KiTas und Schulen als Absatzmarkt definiert.“, erklärt Prof. Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Uni Augsburg dazu. „Nicht Bildung, sondern Dehumanisierung des Unterrichts ist eine Folge. Der Tabletwahn, der nachweislich zu schlechterem Lernen führt, muss gestoppt werden. Motivation geht von den Erziehenden aus, nicht von technischen Geräten und Algorithmen. Ich fordere eine Re-Humanisierung im Bildungswesen, zurück zu den Erkenntnissen der Pädagogik für die Zukunft unserer Kinder. Unsere Forschung zeigt: ein begleitetes Smartphoneverbot wirkt sich unmittelbar positiv auf das Schulklima aus und führt zu besserem Lernen.“ Dabei betont er ausdrücklich, dass es beim Verbot ausschießlich um private digitale endgeräte gehe. Diese Verbote müssten mit pädagogischer Begleitung verbunden werden. Mit Blick auf die Gefahren im Internet für Kinder und Jugendliche fordert der Pädagoge: „Medienerziehung muss stattfinden“.

Renaissance der Pädagogik und Didaktik

Es brauche eine Renaissance der Pädagogik und Didaktik ergänzt der Schweizer Gymnasiallehrer und Buchautor Dr. Mario Gerwig im Gespräch. „Probleme unzureichender Vermittlung können nur didaktisch gelöst werden, nicht durch den Einsatz von Technik. Politisch Verantwortliche sollten also danach fragen, wo und wie Digitalisierung einen echten Mehrwert bringen kann. Unterricht bedeutet die gemeinsame Verhandlung einer Sache mit dem Ziel, diese umfänglich zu erschließen und zu verstehen. Die Bildung tritt dabei vollkommen in den Hintergrund, wenn alle am Unterricht Beteiligten hinter ihren Geräten verschwinden.“

Initiatoren des Appells sind unter anderem der Medienpädagoge Prof. Ralf Lankau (Hochschule Offenburg), der Ordinarius für Schulpädagogik Prof. Klaus Zierer (Uni Augsburg), der Psychiater Prof. Manfred Spitzer (Uni-Klinik Ulm), der bekannte Kinder- und Jugendarzt Dr. Uwe Büsching sowie der Lehrer und Schulbuchautor Dr. Mario Gerwig (Basel).

Grundlegende Neuorientierung der Bildungspolitik

In ihrem Appell fordern die Experten den Stopp der digitalen Bildungspolitik und Smartphone-freie Schulen. Grund: Die wissenschaftlich umfassend dokumentierten negativen Folgen für Kinder und Jugendliche durch Frühdigitalisierung erfordern eine grundlegende Neuorientierung der Bildungspolitik. Daher schlagen die 75 Expert*innen in ihrem Appell Alternativen zur Nutzung digitaler Geräte und Medien in Kita, Grundschule und Unterstufe vor. Denn die Erziehung zu selbstbewussten Kindern und Jugendlichen gelinge viel besser ohne Digitalisierung. Dann würden die Jugendlichen die digitalen Medien z.B. ab der Mittelstufe reflektiert einsetzen, statt von Tech-Konzernen, Geräten und Anwendungen abhängig zu werden.

Bildungskrise trotz (oder wegen?) Digitalisierung

Angesichts der jahrelangen Digitalisierungsinitiativen an Schulen ziehen die 75 Expert*innen eine ernüchternde Bilanz: „Die schulischen Leistungen in den Kernkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen sinken weiter, ebenso das Bildungsniveau. Unter dem Einfluss sozialer Medien verändern sich – wissenschaftlich belegt – Kommunikations- und Sozialverhalten. Gleichzeitig leiden Kinder und Jugendliche zunehmend unter psychischen Belastungen wie Konzentrationsstörungen, Angstzuständen, Depressionen und Einsamkeit, die von der Wissenschaft mit übermäßiger Mediennutzung in Verbindung gebracht werden.“

„Die Digitalisierung in Schulen hat nicht zu besseren Bildungsergebnissen geführt – im Gegenteil,“ analysiert Lankau. „Kinder geraten immer früher in die Abhängigkeit von digitalen Endgeräten und sozialen Netzwerken. Das beeinträchtigt nicht nur ihre Bildung und das demokratische Bewusstsein, sondern auch ihre Gesundheit und die Sozialkompetenz. So hilfreich Digitaltechnik in vielen Lebensbereichen sein kann, so kritisch muss sie beim Einsatz in Bildungseinrichtungen reflektiert werden: Die Digitalisierung macht unsere Kinder dümmer. Daher fordern wir, dass sich die Bildungspolitik wieder an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert.“

Internationale Trendwende – Deutschland hinkt hinterher

Laut dem aktualisierten UNESCO-Bildungsbericht rudern inzwischen 79 Bildungssysteme, also Länder wie Schweden, Spanien, Finnland, Lettland, Dänemark und auch 20 US-Bundesstaaten zurück: Diese Länder schränken die Digitalisierung in Schulen stark ein oder sie verbieten Smartphones mindestens an Grundschulen. Allein im Jahr 2024 haben 24 Länder in Europa und Nordamerika Smartphone-Verbote ausgesprochen! Doch die Ampelregierung beschloss Ende 2024 einen neuen Digitalpaket Schule und dachte sogar über einen Digitalpakt für Kitas nach – trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse über die negativen Auswirkungen von digitalen Endgeräten auf das Lernverhalten von Kindern und Jugendlichen. Deutschland muss sich deshalb aus Sicht der Experten unter der neuen Bundesregierung als achtzigstes Land dieser Trendwende anschließen.

Investitionen in natürliche statt in künstliche Intelligenz!

Die 75 Expert*innen fordern ein Umdenken: Schulen sollen sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren – die Vermittlung einer ganzheitlichen Bildung, die kritisches Denken, soziale Kompetenzen und kulturelle Bildung in den Mittelpunkt stellt – kurz: natürliche Intelligenz.

Im Anhang zu ihrem Appell schlagen die 75 Expert*innen konkrete Maßnahmen für eine pädagogische Wende vor, darunter:

  • Bildschirmfreie Grundbildung: Kitas, Kindergärten und Grundschulen bleiben in der pädagogischen Arbeit bildschirmfrei. Die negativen Erfahrungen mit Frühdigitalisierung in den skandinavischen Ländern, der fehlende Nutzen, das Ablenkungspotential und sogar negative Auswirkungen von digitalen Endgeräten im Unterricht für Lernprozesse, Aufmerksamkeit, Konzentration begründen den Einsatz analoger und manueller Medien und Techniken (Bücher, Schreiben auf Papier, Zeichnen). Der Digitalpakt Schule wird für Kita und Grundschule ausgesetzt.
  • Smartphone- und Social-Media-Regulierungen: An Kitas und Schulen wird ein bundesweites Verbot privater digitaler Endgeräte (v.a. Smartphones, Tablets, Wearables/Smartwatches) eingeführt. Die Mediennutzung im Unterricht in höheren Klassen wird altersabhängig beschränkt.
    Siehe dazu auch die Empfehlungen zu Bildschirmmedien für Kinder und Jugendliche von den ersten Lebensjahren bis zu Sekundarstufe II, 2024 veröffentlicht im Kinder- und Jugendarzt, dem Verbandsorgan des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Deutschlands.
  • Mehr Lehrkräfte statt mehr Technik: Notwendig sind für Kitas, Kindergärten und Schulen mehr Erzieher:innen und qualifizierte Lehrkräfte, Psycholog:innen, Schulsozialarbeiter:innen. Das analoge Spiel und Naturerfahrung, der Ausbau von Sport, handwerkliches Lernen, Musik und Theaterspielen müssen schon in der Grundschule im Lehrplan verankert werden.
  • Unabhängigkeit von Tech-Konzernen: Werden digitale Geräte im Unterricht gebraucht, werden ausschließlich von der Schule gestellte Geräte genutzt, der Zugang zu Webdiensten ist zu unterrichtsrelevanten Seiten („White List“) möglich. Nutzung von Open-Source-Software und Datenschutz-konformer IT in Schulen. Die IT-Branche darf keine Sitze in den Beratungsgremien der Bildungspolitik haben.

Literatur und Quellen: https://die-pädagogische-wende.de/wp-content/uploads/2025/02/03-literatur-bildung-2025.pdf

Gernot Körner




Was ein gutes Spielzeug auszeichnet

Drei Lehren aus den zehn Jahren der TIMPANI-Spielzeugstudie

„Weil mir das gefällt“ ist wohl die ungünstigste Begründung, die ein Erwachsener für die Auswahl eines Spielzeugs geben kann. Schließlich sollte es bei der Entscheidung eher darum gehen, welches Spielzeug Kinder am meisten anregt. Doch selbst für pädagogische Fachkräfte ist dies oft nicht einfach. Auf Fachmessen lässt sich diese Unsicherheit deutlich beobachten. Die Empfehlungen zahlreicher Hersteller und deren vollmundige Produktversprechen tragen dabei nicht zur Klarheit bei. Im Gegenteil: Die Kluft zwischen den Aussagen vieler Hersteller und den praktischen Erfahrungen in Bildungseinrichtungen hat zu einem erheblichen Maß an Misstrauen geführt. Hinzu kommen die ernüchternden Ergebnisse zahlreicher Bildungsstudien wie PISA oder IGLU, die trotz einer Fülle an Lernspielen kaum Fortschritte zeigen.

Eine hilfreiche Orientierung

Eine hilfreiche Orientierung bei der Auswahl von geeignetem Spielzeug bieten die Forschungsergebnisse des Center for Early Childhood Education der Eastern Connecticut State University seit 2019. In der TIMPANI-Studie (Toys that Inspire Mindful Play And Nurture Imagination) untersuchten Wissenschaftler*innen über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr als 100 Spielzeuge in Kindertageseinrichtungen. Ziel der Studie war es, Spielzeuge zu identifizieren, die Kinder am besten zu intellektuellen, kreativen, sozialen und sprachlichen Interaktionen anregen. Jedes Jahr wurde eine neue Auswahl von Spielzeugen in den Gruppenräumen verteilt, während das Spielverhalten der Kinder aufgezeichnet und anschließend mit einem wissenschaftlichen Instrument analysiert wurde (Trawick-Smith, Russell, & Swaminathan, 2010).

Drei wesentliche Merkmale

Im Laufe der Studie kristallisierten sich drei wesentliche Merkmale heraus, die dafür sorgen, dass Spielzeug hochwertiges Spiel fördert:

  1. Je einfacher, desto besser:
    Viele moderne Spielzeuge sind mit zahlreichen Funktionen und Effekten ausgestattet – sie machen Geräusche, leuchten oder sprechen. Solche Spielzeuge dienen oft mehr der Unterhaltung als dem eigentlichen Spiel. Die Studie zeigte jedoch, dass einfaches Spielzeug zu abwechslungsreicherem und intensiverem Spiel anregt. So führte beispielsweise eine schlichte Registrierkasse aus Holz zu lebhaften Gesprächen über das Kaufen und Verkaufen, während eine Plastikkasse mit Geräuscheffekten die Kinder meist nur zum wiederholten Drücken der Knöpfe animierte. Ähnlich verhält es sich mit sprechenden Puppen: Während einfache Puppen die Fantasie der Kinder herausfordern, begrenzen interaktive Puppen diese eher.
  2. Vielfältige Möglichkeiten und offenes Ende:
    Spielzeuge, die genau vorgeben, wie mit ihnen zu spielen ist – wie Brettspiele oder Puzzles – haben ihren pädagogischen Wert. Sie fördern das Lösen von Problemen, das Einhalten von Regeln und das Abwechseln. Doch die TIMPANI-Studie zeigte, dass insbesondere offene und flexible Spielzeuge die Kreativität der Kinder beflügeln. So wurden einfache Hartholzklötze in der Studie zu Häusern, Zoogehegen, Burgen und vielem mehr. Einzelne Klötze wurden zu Handys, Autos oder Sandwiches. Spielzeuge mit offenem Ende hielten die Aufmerksamkeit der Kinder zudem meist deutlich länger aufrecht.
  3. Weniger Realismus fördert mehr Fantasie:
    Realistische Nachbildungen von Alltagsgegenständen können zwar ansprechende Rollenspiele fördern. Ein Plastikgeschirr etwa regt dazu an, Mahlzeiten für Gleichaltrige oder Erwachsene zu simulieren. Doch laut der Studie ist das Spiel umso wertvoller, je weniger realistisch das Spielzeug ist. Ein einfacher Bauklotz etwa fordert die Kinder dazu heraus, selbst zu entscheiden, was sie erschaffen möchten, und ihre Ideen den Spielkamerad*innen zu vermitteln. Diese Art des Spiels führt zu komplexen Problemlösungen, fördert die Kreativität und sorgt für reichhaltige Interaktionen und Gespräche unter den Kindern.

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Armin Krenz: Spiel und Selbstbildung – Kitas brauchen eine pädagogische Revolution

Wenn der Bedeutung des Spiels kaum noch eine Beachtung geschenkt wird, hat dies gravierende Folgen für die Persönlichkeits- und Lernentwicklung der Kinder und damit auch auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung des Landes. In dieser Veröffentlichung werden fachliche Grundlagen vorgestellt, um das SPIEL wieder verstärkt in die Elementarpädagogik zu integrieren. Das gelingt nur mit einer aktiven, lebendigen, authentisch gestalteten SPIELPÄDAGOGIK und spielfreudigen kindheitspädagogischen Fachkräften.

Softcover, 176 Seiten, 21 x 14,8 cm, ISBN 978-3-96304-616-2, 22 €


Besonders wirkungsvolle Spielzeuge laut Studie

Die Forscher*innen identifizierten zwei Spielzeugarten, die sich als besonders wertvoll erwiesen:

  • Konstruktionsspielzeug:
    Spielzeuge wie Hartholzklötze, Legos und andere Bauteile, die auf vielfältige Weise zusammengesetzt werden können, schnitten in jedem Jahr der Studie hervorragend ab. Die besten Konstruktionsspielzeuge für Kindergartenkinder sind solche ohne feste Vorgaben, die ausreichend Teile bieten, um unterschiedliche Bauideen umzusetzen.
  • Nachgebildetes Spielzeug:
    Figuren wie kleine Menschen, Tiere oder Fahrzeuge schnitten ebenfalls gut ab. Beim Spielen mit diesen Spielzeugen entwickelten die Kinder ausgefeilte Szenarien, führten intensive Gespräche und spielten kooperativ mit anderen Kindern.

Die TIMPANI-Spielzeugstudie:

TIMPANI steht für Toys that Inspire Mindful Play And Nurture Imagination (Spielzeug, das achtsames Spielen fördert und die Fantasie anregt). Die Studie wurde von 2010 bis 2019 durchgeführt und untersuchte Spielzeug für Kinder im Kindergartenalter. Dabei wurden auch Unterschiede in der Spielqualität in Bezug auf Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und sozioökonomischen Hintergrund analysiert. An der Durchführung der Studie waren über einen Zeitraum von zehn Jahren 26 Studierende der Eastern University beteiligt.

Weitere Informationen zur Studie finden Sie hier: TIMPANI-Studie

Quelle: Handout TIMPANI-Studie




Der Mensch wurde, was er ist, aufgrund seiner Kreativität

kinderkunst

Wer kreativ handelt, wird dafür belohnt, fühlt sich besser, ist gesünder, attraktiver und lebenstüchtiger

KRICKEL KRACKEL KREATIV: Na, was denken Sie? Kreativität und Krickelkrackel – ist das bloß ein munteres Wortspiel? Oder steckt vielleicht mehr dahinter? Ist Kreativität nicht vielmehr liebevoll angeleitetes Basteln mit Kindern, Behinderten oder alten Menschen als bloßes Gekritzel? Fallen Ihnen dabei eher Filznikoläuse und transparente Fensterbilder ein oder wild bekleckerte Leinwände und zusammengeklebter Müll? Ganz gleich, womit Sie bisher das Wort Kreativität verbunden oder was Sie schon alles Kreatives gebastelt haben – jetzt ist möglicherweise der Moment, ab dem alles anders wird! Lassen Sie sich überraschen.

Ab sofort wird alles anders

Genau das ist das Wesentliche an der Kreativität: jeden Moment etwas anders machen, etwas neu erfinden zu können. Und was hat das bitte mit Können zu tun? Zunächst einmal nicht viel, denn Kreativität ist kein genormter Standard für ein Produkt, sondern eine Methode für einen Prozess. Und was dabei herauskommt, ist meist eher zufällig als geplant. Doch auch, wenn hier der Weg das Ziel ist, bedeutet das nicht, dass das Ergebnis sich nicht sehen lassen kann. Ganz im Gegenteil. Gerade die Dinge, die in echten kreativen Prozessen entstehen, strahlen oft eine tiefe künstlerische Kraft aus, die sie zu wahren, einmaligen Kostbarkeiten macht. So entsteht Kunst. Oder auch mal nichts als Müll. Und so entsteht auch Lebensfreude. Nicht immer, aber immer öfter.

Kreativität ist der Weg und nicht das Ziel

Und nicht nur diese Ausdrucksstärke ist es wert, sich auf den Weg der Kreativität einzulassen. Es ist vor allem die tiefe innere Befriedigung aller an diesem Prozess Beteiligten, die uns zeigt, wie wichtig und elementar diese Methode ist. Und das nicht nur beim Basteln und Malen, sondern als Grundlage aller schöpferischen Aktionen, also eigentlich unseres ganzen Lebens. Und dazu brauchen Sie nicht einmal etwas Neues zu lernen, denn schon das Lesen und Begreifen dieses Textes ist ein kreativer Prozess und zeigt Ihnen, dass die notwendigen Werkzeuge längst in Ihrem persönlichen Baukasten bereit liegen und auch ganz regelmäßig benutzt werden. Hier können Sie lernen, sie in Zukunft noch zielgerechter und bewusster einzusetzen.

Kreativität – was – wie – wozu?

Der moderne Mensch wurde, was er ist, nur auf Grund seiner Fähigkeit zur Kreativität. Wir sind in der Lage, Probleme und Aufgabenstellungen als Herausforderungen zu begreifen und über den Weg des Ausprobierens neue Lösungsmöglichkeiten zu entdecken. Und mit diesen Neuentdeckungen ergeben sich wiederum weitere Ausbauvarianten. Wir gestalten und verändern unsere Welt seit tausenden von Jahren immer wieder neu. Unsere Techniken und Fertigkeiten werden dabei fortlaufend verbessert   und durch Erfahrungen ergänzt. Und jedes neue Problem fordert diese Fähigkeit aufs Neue.

Je mehr allerdings davon im Laufe der Zeit gelöst wurden, desto weniger haben wir selber noch zu tun. Wo für alle Tätigkeiten Regeln gelten, für jeden Handgriff ein Spezialwerkzeug bereitsteht und für jeden Themen- komplex Gesamtlösungskonzepte angeboten werden, bleibt für unsere Kreativität oft nur noch der künstlerische Bereich als Nische übrig. Da könnten wir uns nun endlich so richtig austoben, wenn es nicht auch hier schon eine Fülle von fertigen Lösungen im Angebot gäbe. Und so wird oft dieses letzte Reservat der Kreativität mit gut gemeinten Bastelanleitungen zugekleistert. Na und? Kommen dabei nicht auch schöne Dinge heraus? Das mag sein. Aber was mit Sicherheit zu kurz kommt, ist viel wichtiger als liebevoll nachgebastelte Stabfänger.

Zerknittertes Ich sucht Entfaltungsmöglichkeiten

Es ist das Gefühl der Zufriedenheit, der Selbstsicherheit, der Freude und der Ruhe. Unser Gehirn hat im Laufe der Evolution dieses Wohlgefühl als hormongesteuerte Belohnung für besonders effektives und voranbringendes Verhalten etabliert. Wer kreativ handelt, wird dafür belohnt, fühlt sich besser, ist gesünder, attraktiver und lebenstüchtiger. Und das gilt selbstverständlich für alle Lebensbereiche. So einfach sind wir gestrickt und so unendlich vielseitig sind die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben können.

Dass die meisten von uns dennoch eher brave Konsumenten als geniale Erfinder sind, ist unseren komplexen Lebensumständen und Gewohnheiten geschuldet und macht uns nicht immer glücklich. Umso mehr sollten wir darauf achten, diejenigen Bereiche so gut es geht zu nutzen, die uns und unserer Kreativität Raum und Möglichkeiten bieten, uns selbstbestimmt und innovativ zu entfalten. Es geht also im Kern um viel mehr als nette Basteleien. Die sind eher eine bestenfalls schöne, interessante und spannende Begleiterscheinung. Das Wesentliche ist die innere Sicherheit unseres Tuns.

marionette kunst

Erfahrungsbereiche öffnen

Wenn Sie also sich selbst und den Kindern, Behinderten oder Alten, mit denen Sie Zeit verbringen dürfen, etwas Gutes tun wollen, dann öffnen Sie Spiel- und Entfaltungs-Räume, in denen das eigene Tun und Erleben möglich, wo wenig vorgegeben und vieles offen ist, wo Platz ist für Staunen, Spaß, Lob und Anerkennung, eigenes Suchen und eigenes Er-Finden. Das kann öfter entstehen, als Sie denken:

In Bewegung, in der Musik, beim Theaterspielen, beim Kochen, beim Bauen und selbstverständlich auch beim Kleben, Malen und Basteln. Und diese Erfahrungen haben mehr Gewicht als alle fein genähten Filzmäuse und ordentlich geklebten Papiercollagen zusammen.

Kinder sind in der Regel ohnehin genauso gestrickt, unmittelbar das umzusetzen, was ihnen gerade einfällt. Und das ist eben genau das, was sie bewegt und was sie brauchen. Manche brauchen allerdings so intensive Aufmerksamkeit oder Freiräume, dass sie mit ihrem grenzenlosen Austoben jedes noch so gut gemeinte Projekt sprengen. Da müssen dann doch ab und zu auch Grenzen gesetzt oder andere Betätigungsräume für sie geschaffen werden.

Und wenn es manchmal anders herum klemmt, wenn schüchterne Kinder sich nicht trauen, ständig fragen, wie das geht, nicht weiter wissen, unzufrieden sind, dann gibt´s nur eins: Mut machen. Immer und immer wieder. Anspornen sich zu trauen, kleine Erfolge loben, Besonderheiten entdecken und herausstellen, Eigeninitiative unterstützen und alles fördern, was ihnen das Gefühl gibt: Das habe ich selbst geschafft.

Und das gelingt am besten, indem man bei sich selber anfängt, die eigenen Gewohnheiten, Ängste und Blockaden wahrnimmt und alle erst mal gründlich auf den Kopf stellt.

kunst vogel

Bis jetzt und ab jetzt

Bis jetzt stellte sich Ihr Basteldasein vielleicht typischerweise wie eine Pyramide dar: unten viel Input, Anleitungen oder Fortbildungen, Anregungen aus Büchern und aus dem Internet, vorgegebenes, im Katalog bestelltes Material, angeleitete Vorbereitung, darüber ein vorgegebener und darum eher eingeschränkter Weg zur Durchführung und an der einsamen Spitze das Ergebnis. Aufgabe erledigt, setzen, eins. Ein bisschen Feinmotorik geübt, aber sonst nicht viel Neues erfahren außer: Wer brav ist, bekommt ein Lob und ein schönes Mitbringsel für zu Hause. Nicht viel, aber immerhin.

Ab jetzt könnten Sie es (wenigstens ab und zu) einfach mal anders herum probieren. Drehen Sie die Pyramide um: Unten als zugespitzter Ausgangspunkt eine Idee, was man machen könnte. Darüber ein paar eigene Skizzen und Stichworte, dann viel spontan oder vorausschauend zusammengesuchtes (auch ungewöhnliches) Material, viel Platz, viel Zeit und noch viel mehr Möglichkeiten, daraus etwas Spannendes zu entwickeln, sich überraschen zu lassen, neue Ideen einzubringen, einzusammeln, einzubauen und weiterzuspinnen. Selbst wenn dabei etwas Anderes herauskommt, als geplant. Merken Sie was? Genau – die Pyramide wird nach oben hin immer breiter, die Möglichkeiten vielseitiger, die Freude größer, der Lerneffekt und das Selbstbewusstsein immer stärker.

Helge Nyncke

Diesen Beitrag und die Bilder haben wir folgendem Buch entnommen:




Intensive Naturerlebnisse lassen Fantasie und Kreativität wachsen

Die natürliche Welt ist für die Entwicklung von Neugier und kognitivem Wachstum unerlässlich

In jüngster Zeit ist eine Bewegung entstanden, Kinder mit der Natur in Kontakt zu bringen, vor allem in der Frühpädagogik. Trotzdem gibt es noch zu viele Kinder, die nicht die bedeutungsvollen Naturerlebnisse haben, nach denen sie sich sehnen und die sie für ihre Entwicklung auch brauchen. Das Bewusstsein dafür, welche positiven Auswirkungen draußen verbrachte Zeit für Wohlbefinden, Entspanntheit, Konzentrationsfähigkeit und körperliche Entwicklung hat, ist deutlich gewachsen. Dennoch spielen heute nur zehn Prozent der Kinder in einer natürlichen Umgebung, verglichen mit 40 Prozent der heutigen Erwachsenen, die in ihrer Kindheit draußen gespielt haben.1 Eine zwischen 2013 und 2015 durchgeführte Studie2 zeigte, dass nur acht Prozent der schulpflichtigen Kinder (sechs bis15 Jahre) in England mit ihrer Schule Ausflüge in die Natur machten.

Warum ist das so? Eine Studie von 2011 belegt, dass die Haupthindernisse dafür, Kinder nach draußen zu bringen, nicht durch rechtliche Einschränkungen entstehen. Die Gründe für den Verbleib der Kinder im Haus waren, dass es den Pädagogen an Selbstvertrauen, Kapazität und Kompetenz mangelte.3 In diesem Kapitel werde ich beschreiben, welche Vorteile es hat, wenn Kinder schon früh mit der natürlichen Welt in Kontakt kommen und wie wichtig Spielen ist – die tiefste Form kindlichen Lernens. Jean Piaget (1896–1980) sagte: „Spielen ist die Arbeit der Kinder.“

Wer die Schönheiten der Erde betrachtet, findet Kraftreserven, die reichen, so lange das Leben währt.
Rachel Carson

Nachdem ich 36 Jahre lang in der Umwelterziehung gearbeitet habe, kann ich bestätigen, dass früher Kontakt mit der Natur viele positive Auswirkungen hat – die ersten Lebensjahre sind für die Entwicklung des Gehirns die spannendsten. Die frühen Jahre sind die natürlichste Zeit für uns kleine Menschen, um unsere Fantasie zu entwickeln, aus der innovatives Denken und ein Bewusstsein unserer selbst hervorgehen. In ihrem bahnbrechenden Buch „The Ecology of Imagination in Childhood“4 zeigt Edith Cobb, dass die natürliche Welt für die Entwicklung von Neugier und kognitivem Wachstum unerlässlich ist.

Wenn ich Kinder im Freien beobachte, fällt mir oft auf, dass Neugier hier schneller entsteht als in sterileren Umgebungen. Es ist, als ob plötzlich wie aus einer Quelle Geschichten, Erfindungen und Experimente hervorsprudeln, wenn ein Kind auf eine ungemähte Wiese kriecht, zwischen Bäumen herumläuft oder über einen Sandstrand rollt. Diese Orte bieten die „kombinierte Flexibilität“5, die es Kindern ermöglicht, die „Distanz“ zwischen sich selbst, den unmittelbar wahrgenommenen Objekten und Eindrücken sowie den Welten der imaginären Formen und Wünsche zu überbrücken. In weniger flexiblen, weniger naturnahen Umgebungen gibt es weniger Gelegenheiten zu Problemlösen und Fantasie.6

Ich hatte einmal das Glück, drei Vierjährige, zwei Mädchen und einen Jungen, mit Metalleimern voller Eicheln, die sie in einem Wäldchen nahe der Einrichtung gesammelt hatten, zu beobachten. Ich hörte, wie sie darüber diskutierten, wie man die Eicheln pflanzt und wie hoch ihre Bäume wachsen würden, was man in den Boden einbringt und wie man die Bäume schützt. Die Bäume sollten bis zum Mond wachsen, damit die Mäuse auf dem Mond zu uns reisen könnten, um die Mäuse hier vor den „mäusefressenden Riesenmäusen“ zu retten!

Mit diesem imaginären Szenario im Kopf (angeregt durch die natürliche Welt und frühere Erfahrungen) begannen sie zu versuchen, den Boden zu verbessern. Weil sie ihn zu hart fanden, begannen sie ein tiefes Gespräch darüber, wie man ihn weicher machen könnte. Die Frage eines der Mädchen, ob Wasser den Boden weicher macht, brachte sie auf eine Idee, und sie fingen gleich an, einen gewundenen Kanal zu bauen. Er führte zu einem Rohr, das an einer Regentonne bei einem Geräteschuppen am Rande des Wäldchens befestigt war – dies war, wie ich erfuhr, ein lebendiger Wasserdrache! Während dieser ganzen Spielepisode hielten andere Gespräche um die Mäuse und den Drachen die Geschichte und die Motivation, die Eicheln zu pflanzen, am Leben.

Sich zu bewegen, zu rennen, durch neue Bewegungen Dinge herauszufinden, das eigene Leben in jedem Glied des Körpers zu spüren, das bedeutet Leben in der frühen Kindheit.
Margaret McMillan

Welche Rolle spielte die Erzieherin? Eine Woche zuvor hatte sie eine Geschichte mit Eicheln erzählt und im Anschluss daran Metalleimer und „echte“ Schaufeln bereitgestellt. Sie blieb dann verfügbar, falls die Kinder Hilfe brauchen sollten – was sie taten, als sie versuchten, das Rohr an den Hahn der Regentonne anzuschließen. Der Rest dieses Spiels voller Erfindungen wurde durch die Natur des Wäldchens angeregt. Sie lieferte die sensorischen Anregungen, nach denen sich kleine Kinder sehnen, und eine abenteuerliche Umgebung, in der Drachen, Mäuse und große, die Entfernung zwischen zwei Himmelskörpern überbrückende Bäume gedeihen können! Aus der Neugier, die von Eimern, Eicheln, Erde und dem Anblick des Mondes am Himmel ausgelöst wurde, entstanden drei gemeinsame Entdeckungsreisen.

Die positiven Auswirkungen dieser kleinen Episode sind offensichtlich: viel Sprachentwicklung, Fantasie, gemeinsames Lernen, konzentrierte Aufmerksamkeit und fein- und grobmotorische Entwicklung – vom anstrengenden Graben im harten Boden über die Konstruktion des sich windenden, drachenschwanzartigen Kanals bis hin zur Befestigung des Rohres am Hahn der Regentonne. Mit das Beste war, wie sich die Beziehungen in diesem Spiel entwickelt haben. Gleichzeitig entwickelten sich die Beziehungen der Kinder zu anderen und zur Natur – zu Menschen, Eicheln, Bäumen, Mäusen und Drachen. Es gab sogar Anfänge eines Bezugs zum Weltall: Der Mond ist kilometerweit entfernt!

Die Materialien und Elemente der natürlichen Welt sind flexibel. Und in ihr gibt es viele Orte und Möglichkeiten, unsere Individualität zu entwickeln. Ein Stock kann zu allem werden, was man will; er ist immer noch das beliebteste Spielzeug der Welt. Sichere, gemütliche Rückzugsräume können in Büschen oder auch in offenem Gelände gebaut werden, wo immer es Sichtschutz gibt. Im Gegensatz dazu wird ein Bildschirmspiel von der Technik und der Programmierung bestimmt, und die Möglichkeiten fantasie-vollen Spiels sind stärker eingeschränkt.

Ich kann nicht genug betonen, dass die ersten Lebensjahre die Zeit sind, um die einzigartige Persönlichkeit eines Kindes hervorzuheben und durch das Erleben der natürlichen Welt zu fördern. Wir dürfen uns nicht in der spezialisierten technokratischen Welt von heute verlieren, mit der das Kind ohnehin bald konfrontiert wird. Peter Gray7 behauptet, dass es für unsere Kinder wichtig ist, spielerischen Kontakt mit der Natur zu haben, wenn sie die Fähigkeit erwerben wollen, sich an unsere sich ständig verändernde Welt anzupassen und ein echtes Bewusstsein ihrer selbst zu finden.

Zum Abschluss möchte ich Rachel Carson zitieren, die berühmte Biologin, Chemikerin und Umweltaktivistin der 1950er und 60er Jahre. Dieses Zitat stammt aus ihrem Buch Magie des Staunens8 – ein unverzichtbarer Begleiter für jeden Frühpädagogen:

Hätte ich Einfluss auf die gute Fee, die angeblich über die Taufe aller Kinder wacht, dann würde ich sie bitten, jedem Kind auf dieser Welt einen Sinn für das Staunen zu schenken, so unverwüstlich, dass er ein ganzes Leben lang hält… Wenn Fakten Samen sind, aus denen später Wissen und Weisheit wachsen, dann sind Gefühle und Sinneseindrücke der Nährboden, in dem die Samen reifen müssen. Die frühen Kindheitsjahre sind die Zeit, den Boden zu bereiten.

  1. Report to Natural England on childhood and nature: a survey on changing relationships with nature across generations, (2009) England Marketing
  2. Monitor of Engagement with the Natural Environment: a pilot to develop an indicator of visits to the natural environment by children (2016) Natural England
  3. Beyond barriers to learning outside the classroom in natural environments (2012) King‘s College London
  4. The Ecology of the imagination in childhood (1977) Cobb, E
  5. A theory of play and fantasy, Psychiatric Research Reports, 2: 39-51 (1955) Bateson, G.
  6. Playwork theory and practice (2003) Brown, F. Maidenhead: Open University Press
  7. Gray, P. (2013) Free to Learn, Basic Books.
  8. Carson, R. (2019) Magie des Staunens, Klett-Cotta.

Der Autor: Jon Cree ist Ausbildungskoordinator am Bishops Wood Centre in Worcestershire, das vom Field Studies Council geleitet wird. Seit fast 30 Jahren bildet er Frühpädagogen und Erzieher aus und arbeitet seit 36 Jahren mit Kindern im Freien. Der Kreis Worcestershire war einer der ersten Landkreise in Groß-britannien, der sich aktiv für Waldkindergärten einsetzte. Jon Cree hat seit 2000 bei dieser Entwicklung mitgewirkt. 2006 begann er mit der Durchführung von Schulungen zum Thema Waldkindergarten im Bishops Wood Centre. Er ist Vor-sitzender der Forest School Association und seine Leidenschaft gilt Geschichten und Geschichtenerzählen und allem, was aus Holz ist!

Wir haben diesen Text dem Themenheft „Draußen lernen – Mit der Natur eine solide Grundlage schaffen“ entnommen. Die Autor*innen des Heftes beschreiben, wie wichtig das Draußenlernen ist und welche Pädagogik dahinter steht. Das Themenheft können Sie kostenlos bestellen unter www.communityplaythings.de oder mit einem Telefonanruf unter 0800 266 7529 anfordern.