Wie Kinder heute schlafen – und welche sozialen Faktoren ihre Nächte prägen

Warum Alltagsrhythmen, Medien, Wohnumfeld und Schule den Schlaf von Kindern beeinflussen – und was Eltern und Lehrkräfte dabei beachten können

Schlaf ist für Kinder weit mehr als Erholung. Er ist ein Motor für Wachstum, Lernen, emotionale Stabilität und Gesundheit. Doch viele Kinder – und auch Jugendliche – bekommen heute nicht mehr die Schlafmenge, die sie eigentlich bräuchten. Forschungen der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) zeigen, dass der Schlaf nicht nur biologisch geprägt ist, sondern auch stark von kulturellen, familiären und gesellschaftlichen Einflüssen abhängt.

Wie viel Schlaf brauchen Kinder wirklich?

Kinder und Jugendliche haben ein deutlich größeres Schlafbedürfnis als Erwachsene. Als Orientierung gelten:

  • Vorschulkinder: 11–13 Stunden
  • Grundschulkinder: 10–11 Stunden
  • Jugendliche: 8–10 Stunden

Besonders bei Jugendlichen verschiebt sich die innere Uhr nach hinten, während Schule häufig sehr früh beginnt – ein strukturelles Problem, das seit Jahren kritisiert wird.

Warum Kinder heute zu wenig schlafen

Die Forschung zeigt: Schlafzeiten entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie sind eingebettet in Familienrhythmen, soziale Lebensbedingungen und gesellschaftliche Erwartungen.

1. Familienalltag und Zeitdruck
Berufstätige Eltern, lange Betreuungszeiten oder Schichtarbeit beeinflussen den Tagesrhythmus – und damit auch Einschlaf- und Aufstehzeiten der Kinder. Oft bleibt abends wenig Zeit für Ruhe vor dem Zubettgehen.

2. Digitale Medien
Smartphones, Tablets oder Fernsehen direkt vor dem Schlafengehen stören den natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus. Das künstliche Licht signalisiert dem Gehirn „Tag“ – besonders bei Jugendlichen.

3. Lärm und Wohnumgebung
Kinder in städtischen Ballungsräumen schlafen oft schlechter als Kinder auf dem Land. Gründe sind u. a.:

  • nächtlicher Verkehrslärm
  • Lichtverschmutzung
  • wenig Rückzugsmöglichkeiten

4. Soziale Unterschiede
Studien zeigen: Schlaf ist nicht gleich verteilt. Kinder aus Familien mit niedrigerem Einkommen oder geringerer Bildung schlafen häufiger kürzer, unregelmäßiger oder unruhiger. Gründe sind z. B. Stress, beengte Wohnverhältnisse oder unregelmäßige Tagesabläufe.

5. Frühe Schul- und Betreuungszeiten
Viele Kinder – besonders Jugendliche – müssen weit vor ihrer biologischen Idealzeit aufstehen. Das führt zu chronischer Müdigkeit, geringerer Konzentrationsfähigkeit und emotionaler Instabilität.

Was passiert, wenn Kinder zu wenig schlafen?

Schlafmangel wirkt sich spürbar aus:

  • nachlassende Aufmerksamkeit
  • geringere Lernleistung
  • stärkere emotionale Schwankungen
  • höheres Stressniveau
  • geringere körperliche Erholung
  • langfristig höhere Risiken für psychische Probleme

Gerade im Schulalltag zeigt sich mangelnder Schlaf sofort: Kinder wirken unkonzentriert, reizbar oder „schlapp“ – nicht selten wird dies mit mangelnder Motivation verwechselt.

Was Eltern tun können

Viele Stellschrauben liegen im familiären Alltag:

✓ Feste Zubettgehzeiten

Auch am Wochenende – das stabilisiert den inneren Rhythmus.

✓ Bildschirmfreie Zeit vor dem Schlafen

Mindestens eine Stunde vorher auf digitale Medien verzichten.

✓ Einschlafrituale

Vorlesen, ruhige Gespräche, Musik – Rituale geben Sicherheit.

✓ Schlafumgebung verbessern

Dunkelheit, Ruhe, frische Luft und angenehme Temperatur wirken wahre Wunder.

✓ Bewegung am Tag

Kinder, die sich viel bewegen, schlafen besser und tiefer.

Was Lehrkräfte tun können

Auch in der Schule kann viel bewirkt werden:

✓ Müdigkeit ernst nehmen

Unaufmerksamkeit ist nicht immer fehlende Motivation.

✓ Gut geplante Lernzeiten

Leistungsstarke und konzentrierte Lernphasen eher in den späteren Vormittag legen.

✓ Gespräche über Schlaf führen

In Gesundheitserziehung, Naturwissenschaft oder Klassenrat kann das Thema „Schlaf“ leicht integriert werden.

✓ Realistische Hausaufgabenmengen

Zu große Lernlast am Abend geht direkt auf Kosten des Schlafs.

✓ Sensibilisierung in der Elternarbeit

Hinweise auf Mediennutzung, Schlafhygiene und Abendroutinen sind wertvolle Unterstützungen.

Abschließende Einordnung

Schlaf begleitet Kinder durch alle Entwicklungsphasen und wird durch biologische, familiäre und gesellschaftliche Faktoren geprägt. Aktuelle Erkenntnisse aus der Schlafforschung helfen, diese Zusammenhänge besser zu verstehen und zeigen, an welchen Stellen Eltern und Lehrkräfte den Alltag so gestalten können, dass er mit den natürlichen Rhythmen von Kindern harmoniert.

So entsteht ein Umfeld, das gesunde Routinen unterstützt – unabhängig davon, wie Familien oder Schulen individuell damit umgehen möchten.




Warum die Lesekompetenz sinkt – und was jetzt wirklich helfen würde

Neue Studien zeigen: Fehlende Bildungsqualität, falsche Fördermaterialien und schwierige Lebensbedingungen bremsen Kinder beim Lesenlernen aus

Ob IQB, IGLU, PISA, LEO oder PIAAC – alle internationalen und nationalen Erhebungen kommen seit Jahren zum gleichen Ergebnis: Die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen sinkt, besonders im deutschsprachigen Raum.

Das Erstaunliche daran:

  • Die Zahl der Fördermaßnahmen ist in den vergangenen 25 Jahren explodiert.
  • Wir wissen wissenschaftlich heute alles über das Lernen.

Der Abgleich dieser beiden Punkte führt zu einer unbequemen Wahrheit: Viele Förderprogramme, Materialien und Trainings wirken nicht – manche schaden sogar. Der Grund liegt häufig weniger in mangelnder Forschung als in kommerziellen Interessen von Herstellern.

Dass diese Materialien trotzdem massenhaft eingesetzt werden, offenbart ein strukturelles Problem: Es fehlt vielerorts an pädagogischer und entwicklungspsychologischer Kompetenz – bei Eltern, in Einrichtungen und teilweise sogar in der fachlichen Ausbildung der pädagogischen Fachkräfte.

Sprachkitas und Förderprogramme: Wertvoll, aber nicht annähernd ausreichend

Durch Bundes- und Landesprogramme – insbesondere die „Sprachkitas“ – wurde die sprachliche Bildung gestärkt. Diese Initiativen haben zweifellos bewirkt, dass Erzieherinnen und Erzieher ihre Rolle als Sprachvorbilder besser verstehen und bewusster mit Kindern sprechen.

Doch: Für die Breite des Problems reicht das nicht.

Viele Schulen könnten enorm profitieren, wenn sie sich an innovativen Konzepten orientieren – etwa an jenen Schulen, die mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurden. Der Weg dorthin erfordert jedoch Mut, Kompetenz und die Bereitschaft zu echter Reformarbeit. Allzu oft scheitern notwendige Veränderungen am Widerstand von Behörden, Interessengruppen oder Ministerien.

Der Einfluss der Pandemie: Schulschließungen sind nur ein Teil des Problems

Eine neue Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) zeigt, dass die pandemiebedingten Schulschließungen erheblich zum Leistungsrückgang beigetragen haben. Besonders drastisch ist der Befund:

  • In Europa sind etwa ein Viertel der Einbußen beim Lesen darauf zurückzuführen.
  • In Deutschland sogar mehr als die Hälfte.

Doch die Forscherinnen und Forscher betonen: Schulschließungen allein erklären den Negativtrend nicht. Die Studie zeigt erstmals deutlich, dass Verschlechterungen der außerschulischen Lernbedingungen eine zentrale Rolle spielen. Dazu gehören insbesondere:

  • finanziell angespannte Lebenssituationen vieler Familien,
  • zunehmende Mehrsprachigkeit ohne ausreichende sprachliche Unterstützung,
  • Digitalisierung, die lesebezogene Freizeit reduziert,
  • fehlende Vorbilder, die selbst zu wenig lesen.

Beim Wegfall des Präsenzunterrichts verschärfen sich diese Nachteile – besonders für Kinder aus ohnehin benachteiligten Haushalten.

Strukturelle Ursachen: Was Kinder am Lesen hindert

Neben schulischen Faktoren wirken gesellschaftliche Entwicklungen negativ auf den Leseerwerb:

1. Veränderte Kindheit
Viele Kinder haben heute weniger Zeit für freie Entwicklung. Statt altersangemessen zu spielen, werden sie früh in MINT-Kurse, Lerntrainings oder Förderprogramme gesteckt. Manche Entwicklungsschritte bleiben dadurch auf der Strecke.

2. Unpassende Medien und Materialien
Die Medienwelt vieler Kinder ist nicht entwicklungsangemessen. Auch bei Büchern greifen Erwachsene häufig zu Titeln, die ihrer eigenen ästhetischen Vorliebe entsprechen – nicht dem Entwicklungsstand des Kindes. Viele Verlage tragen dem heute Rechnung und produzieren etwa künstlerisch gestaltete oder gar abstrakte Pappbilderbücher. Selbst die Stiftung Lesen bietet inzwischen nicht mehr verlässlich die fundierte Orientierung, die Familien bräuchten.

3. Fehlende Wertschätzung für Kindheit und Jugend
Kindheit wird oft wie eine „Vorstufe“ zum Erwachsenenleben betrachtet, die man möglichst effizient gestalten müsse. Doch Kinder sind keine kleinen Erwachsenen – ihre Entwicklung braucht Zeit, Wertschätzung, Zuwendung und sinnvolle Anregungen.

Was jetzt wirklich nötig ist, um die Lesekompetenz zu stärken

Damit Kinder nachhaltig und erfolgreich Lesen lernen können, braucht es ein systematisches Umdenken. Entscheidend sind:

1. Finanzielle Unterstützung für Familien
Stabile Lebensumstände erleichtern Lernen – emotional wie praktisch.Armut ist einer der stärksten Risikofaktoren für niedrige Lesekompetenz.

2. Orientierung an wissenschaftlichen Erkenntnissen
Pädagogik muss sich konsequent an der Lern- und Entwicklungsforschung orientieren.Das betrifft Unterricht, Förderkonzepte und die Auswahl geeigneter Materialien.

3. Bessere Ausbildung von Fach- und Lehrkräften
Professionelles Sprach- und Leseförderwissen gehört in die Grundausbildung – nicht in optionale Fortbildungen.

4. Wiederentdeckung der Bedeutung von Kindheit
Echte Leseförderung braucht Zeit, Ruhe, Bindung, Vorlesen, Gespräche und entwicklungsangemessene Materialien. Kinder müssen wieder lesen dürfen, nicht nur lesen sollen.

Ein Schlusswort – und ein notwendiger Weckruf

Wenn wir als Gesellschaft Kinder und deren Familien in ihren Lebensbedingungen schwächen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn ihre Leistungen sinken. Lesekompetenz fällt nicht vom Himmel. Sie entsteht aus individueller Entwicklung, Wertschätzung, echter pädagogischer Qualität und alltagsnahen Vorbildern.

Lesen ist mehr als eine Kulturtechnik – es ist ein Schlüssel zur Welt. Damit Kinder ihn nutzen können, braucht es unseren Mut zur Veränderung: in Familien, Schulen, Kitas und politischen Strukturen.

Nur wenn wir Kinder und Kindheit ernst nehmen, klappt es auch mit dem Lesen besser.

Gernot Körner




Kompetenzen für Kinderrechte stärken: Das Portal kinderrechte.de startet

kinderrechte

Ein zentrales Angebot für Fachkräfte

Mit dem neuen Praxisportal www.kinderrechte.de stellt das Deutsche Kinderhilfswerk ab sofort eine gebündelte Wissensplattform rund um das Thema Kinderrechte zur Verfügung. Das kostenfreie Angebot richtet sich an Fachkräfte aus Kita, Schule, Kinder- und Jugendhilfe, Verwaltung und Justiz.
Ziel des Portals ist es, die Umsetzung der Kinderrechte im beruflichen Alltag gezielt zu fördern und Fachkräfte bei der Integration der Kinderrechte in ihre Arbeit zu unterstützen.

Wissen, Austausch und praxisnahe Impulse

Das Portal bietet ein breites Spektrum an wissenschaftlich fundierten Informationen, praxisorientierten Materialien und inspirierenden Projektbeispielen. Verschiedene Datenbanken liefern Ideen für den pädagogischen Alltag, fördern den fachlichen Austausch und unterstützen die Vernetzung zwischen Fachkräften. Zudem finden sich auf der Plattform zahlreiche Angebote zur Qualifizierung und Weiterbildung, um das Wissen über die UN-Kinderrechtskonvention zu vertiefen und eigene Kompetenzen auszubauen.

Praxisbeispiele und Methodendatenbanken

Besonders hilfreich ist die Methodendatenbank, die erprobte Ansätze für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bereitstellt.
Eine ergänzende Expert*innen-Datenbank ermöglicht es, erfahrene Fachpersonen direkt für Workshops, Schulungen oder Beratungen zu kontaktieren.
Darüber hinaus bietet das Portal Einblicke in Förder- und Kooperationsmöglichkeiten des Deutschen Kinderhilfswerkes – ideal für alle, die eigene Projekte entwickeln oder bestehende Initiativen erweitern möchten.

Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes betont:

„Aktuelle Umfragen des Deutschen Kinderhilfswerkes zeigen, dass wir bei der Bekanntheit der Kinderrechte in Deutschland in den letzten Jahren zwar kleine Fortschritte erzielt haben, aber diese sind nicht zufriedenstellend. Wir brauchen daher dringend eine Bildungsoffensive in Sachen Kinderrechte. Mit unserer Kinderseite www.kindersache.de sind wir diesbezüglich bei den Kindern schon sehr gut aufgestellt, mit dem neuen Praxisportal www.kinderrechte.de schaffen wir jetzt auch für die Fachkräfte aus Kita, Schule, Kinder- und Jugendhilfe, Verwaltung und Justiz eine hervorragende Möglichkeit, sich neues Wissen zum Thema Kinderrechte anzueignen, sich mit anderen Interessierten zu vernetzen oder beispielsweise von anderen Initiativen zu lernen.“

Förderung und Zielsetzung

Das Praxisportal wird im Rahmen der Koordinierungsstelle Kinderrechte vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert. Es soll dazu beitragen, Kinderrechte in allen gesellschaftlichen Bereichen stärker zu verankern – von der frühkindlichen Bildung bis hin zur Justiz.

Quelle: Pressemitteiluung Deutsches Kinderhilfswerk e.V.




Wie Lesen die Aufmerksamkeit fördert – und Bildschirmzeit sie schwächt

Studie der Universität Leipzig untersucht Zusammenhang zwischen Bildschirmzeit, Lesen und Konzentrationsfähigkeit bei Kindern

Kinder, die häufig fernsehen, Videos schauen oder Computerspiele spielen, zeigen tendenziell eine geringere Konzentrationsleistung – während selbstständiges Lesen die Aufmerksamkeit stärkt. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig im Rahmen der Life Child-Studie, die im Fachjournal BMC Pediatrics erschienen ist.

Medienkonsum fordert die Aufmerksamkeit – Lesen fördert sie

Elektronische Medien wie Fernseher, Tablets oder Smartphones präsentieren Kindern ständig neue Reize. Das führt zu schnellen Aufmerksamkeitswechseln. Beim Lesen hingegen bleibt der Fokus länger auf einem Inhalt – eine Fähigkeit, die für schulisches Lernen und Alltagsbewältigung entscheidend ist.

Das Forschungsteam um Dr. Tanja Poulain prüfte deshalb, ob häufiger Mediengebrauch mit geringerer und regelmäßiges Lesen mit besserer Langzeitaufmerksamkeit einhergeht.

Über 1000 Kinder im Computertest

Insgesamt nahmen 1057 Kinder im Alter von drei bis elf Jahren an einem computerbasierten Aufmerksamkeitstest teil. Sie sollten innerhalb von sieben Minuten nur auf bestimmte Bilder reagieren. Dabei wurde gemessen, wie oft Kinder Reaktionen verpassten (Auslassungsfehler, Hinweis auf verminderte Langzeitaufmerksamkeit) oder zu früh reagierten (Fehlreaktionen, Hinweis auf mangelnde Impulskontrolle).

Parallel berichteten die Eltern, wie lange ihre Kinder täglich Bildschirmmedien nutzten und – bei älteren Kindern – wie häufig sie selbstständig lasen.

Ergebnisse: Weniger Fehler bei Leser:innen

„Kindern, die häufiger Bildschirmmedien nutzten, unterliefen im Test mehr Fehler als denen mit geringerer Mediennutzung“, erklärt Dr. Poulain, Leiterin der Studie. Besonders bei Vorschulkindern zeigte sich ein Zusammenhang zwischen dem Anschauen von Filmen oder Serien und eingeschränkter Impulskontrolle. Im Grundschulalter war eine intensive Nutzung von Filmen, Serien oder Videospielen mit geringerer Langzeitaufmerksamkeit verbunden.

Dagegen machten Kinder, die regelmäßig lasen, weniger Fehler im Test – ein Hinweis auf bessere Konzentrationsfähigkeit. Auch zeigte sich, dass Mädchen insgesamt aufmerksamer reagierten als Jungen.

Leseförderung wichtiger denn je

Die Ergebnisse stützen frühere Befunde, wonach häufiger Mediengebrauch mit geringerer Aufmerksamkeit verbunden ist. Besonders bemerkenswert: Die Leipziger Studie stützt sich nicht auf Elternangaben, sondern auf standardisierte kognitive Tests. Außerdem zeigte sich, dass nicht nur die Leseleistung, sondern auch die Lesehäufigkeit positiv mit der Aufmerksamkeit verknüpft ist.

Auch wenn die Studie keine direkte Kausalität belegt, macht sie deutlich: Eine bewusste Begrenzung der Bildschirmzeit und die Förderung regelmäßigen Lesens können einen wichtigen Beitrag zur Aufmerksamkeitsentwicklung von Kindern leisten.

Über die Life Child-Studie

Die Life Child-Studie der Universität Leipzig läuft seit 14 Jahren und umfasst Daten von über 6000 Kindern aus Leipzig und Umgebung. Sie untersucht, wie Umwelt- und Lebensstilfaktoren die körperliche und geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beeinflussen.

Originalpublikation:

Performance on an attention test is positively related to reading but negatively related to watching TV and playing video games in children.
BMC Pediatrics (2025). DOI: 10.1186/s12887-025-06260-w




Soziale Angst bei Kindern und Jugendlichen: Warum elterliche Wärme schützt

Eine internationale Meta-Analyse mit über 38.000 Jugendlichen zeigt: Zuwendung von Mutter und Vater mindert soziale Angst – übermäßige Kontrolle der Mutter verstärkt sie

Soziale Angst – die Furcht, im Mittelpunkt zu stehen, etwas Peinliches zu sagen oder von anderen abgelehnt zu werden – gehört zum Aufwachsen dazu. Doch wenn sie überhandnimmt, kann sie das Leben junger Menschen stark einschränken. Eine neue Meta-Analyse aus 45 Studien in 15 Ländern hat nun untersucht, welchen Einfluss Eltern darauf haben.

Das Ergebnis ist eindeutig: Elterliche Wärme schützt. Jugendliche, die sich von beiden Elternteilen angenommen, unterstützt und verstanden fühlen, berichten deutlich seltener von sozialer Angst. Und das gilt unabhängig voneinander – sowohl die Zuwendung der Mutter als auch die des Vaters trägt dazu bei.

Ganz anders sieht es bei Kontrolle aus: Wer seine Kinder zu sehr überwacht, bevormundet oder ständig beschützen will, riskiert das Gegenteil. Auffällig ist dabei, dass in dieser Analyse vor allem mütterliche Kontrolle mit mehr sozialer Angst verbunden war. Wenn beide Eltern gleichzeitig betrachtet werden, verschwindet der Zusammenhang bei den Vätern – nicht aber bei den Müttern.

Was macht Mütter und Väter unterschiedlich?

Warum scheint Kontrolle von Müttern schwerer zu wiegen? Eine Erklärung liefert der Familienalltag selbst: In vielen Familien verbringen Mütter nach wie vor mehr Zeit mit ihren Kindern, übernehmen Organisation, Betreuung und emotionale Fürsorge. Wird diese Nähe von Kontrolle begleitet, also von Überbehütung oder starkem Einmischen, wirkt das schnell einengend. Jugendliche spüren dann weniger Freiheit, sich auszuprobieren – und trauen sich auch im sozialen Miteinander weniger zu.

Bei Vätern fällt derselbe Effekt schwächer aus. Vermutlich, weil Jugendliche von ihnen eher erwarten, dass sie Grenzen setzen oder Regeln betonen. Kontrolle von Vätern wird also anders gedeutet – sie verletzt seltener das Bedürfnis nach Autonomie. Außerdem zeigt die Analyse, dass der Einfluss väterlicher Kontrolle über die letzten Jahrzehnte abnimmt, möglicherweise, weil sich Väterrollen verändert haben: weg vom strengen Kontrolleur hin zum aktiven Begleiter.

Nähe, die stark macht

Die Studie bestätigt, wie wichtig emotionale Wärme für die psychische Entwicklung Jugendlicher ist. Jugendliche, die spüren, dass sie gemocht werden, auch wenn sie Fehler machen, entwickeln ein stabileres Selbstbild und weniger Angst vor sozialer Bewertung. Das gilt in ähnlicher Weise in allen untersuchten Kulturen – in ostasiatischen Ländern sogar noch etwas stärker.

Wärme bedeutet dabei nicht grenzenlose Nachgiebigkeit, sondern eine zugewandte Haltung: Interesse zeigen, zuhören, Zuneigung ausdrücken, gemeinsame Zeit verbringen. Diese elterliche Unterstützung schafft einen sicheren Rahmen, in dem Jugendliche soziale Erfahrungen machen und ihr Selbstvertrauen wachsen lassen können.

Forschung mit Weitblick

Durchgeführt wurde die Untersuchung von einem internationalen Team um Cullin Howard, Doktorand am College of Family and Consumer Sciences der University of Georgia. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Ländern wertete er die Daten von über 38.000 Jugendlichen im Alter zwischen zehn und neunzehn Jahren aus. Die Studie wurde im Juli 2025 veröffentlicht und gehört zu den bislang umfassendsten Arbeiten zu den unterschiedlichen Rollen von Müttern und Vätern bei der Entstehung sozialer Ängste.

Die Forschenden nutzten ein modernes statistisches Verfahren, das es erlaubt, die Einflüsse beider Eltern gleichzeitig zu betrachten. Frühere Analysen hatten Mutter und Vater meist getrennt untersucht – und dadurch übersehen, wie stark sich ihre Erziehungsweisen überschneiden. Erst das neue Verfahren machte sichtbar, welche Anteile wirklich eigenständig wirken.

Ein klarer Blick auf Familienklima und seelische Gesundheit

Die Ergebnisse zeigen, dass nicht die eine „richtige“ Erziehung zählt, sondern das Zusammenspiel von Nähe und Freiheit. Jugendliche brauchen Eltern, die ihnen Vertrauen schenken, statt sie zu lenken – und die dennoch da sind, wenn Unsicherheit aufkommt.

Die internationale Studie aus Georgia verdeutlicht dabei, was viele Pädagoginnen und Psychologen schon lange vermuten: Wärme ist universell wohltuend, Kontrolle dagegen bleibt ein Risiko – vor allem, wenn sie aus Fürsorge geboren wird, aber Freiheit verhindert.

Mehr zum Beitrag: https://link.springer.com/article/10.1007/s40894-025-00268-0




Angst ist Teil des Aufwachsens – entscheidend ist der Umgang damit

Ein Interview mit Dr. Reid Wilson und Lynn Lyons über Ängste von Kindern, elterliche Muster und Wege in ein mutigeres Leben

Ein heller Herbstnachmittag in New Hampshire. Am großen Tisch in der Praxis von Lynn Lyons stapeln sich Notizen, Fachbücher und Spielmaterialien. Neben ihr sitzt Dr. Reid Wilson, Direktor des Anxiety Disorder Treatment Center in North Carolina, international bekannt für seine Arbeit im Bereich der Angststörungen. Millionen Menschen kennen ihn durch Auftritte in Sendungen wie The Oprah Winfrey Show oder Good Morning America, seine Website anxieties.com ist für viele Betroffene eine erste Anlaufstelle. Für seine Arbeit erhielt er höchste Auszeichnungen von der Anxiety and Depression Association of America und der internationalen OCD Foundation.

Lynn Lyons wiederum arbeitet seit rund 30 Jahren als Psychotherapeutin in Concord, New Hampshire. Ihr besonderes Anliegen ist es, generationenübergreifende Angstmuster in Familien zu durchbrechen. Sie leitet Workshops für Eltern, Schulen und Fachkräfte – bekannt für ihre humorvolle, praxisnahe Art, Ängste in konkrete Handlungsschritte zu übersetzen.

Beide haben gemeinsam das Buch „Anxious Kids, Anxious Parents“ geschrieben, das in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Mein ängstliches Kind“ erschienen ist.

Wenn Eltern die Angst verstärken

Ich frage die beiden, wie eng die Ängste von Eltern und Kindern zusammenhängen. Reid Wilson antwortet nachdenklich: „Natürlich gibt es genetische Risikofaktoren, wie ein bestimmtes Temperament. Aber entscheidend ist auch, wie Eltern auf die Welt reagieren. Wenn sie ständig Gefahren betonen, Schwierigkeiten haben, loszulassen oder selbst von Ängsten getrieben sind, übernehmen Kinder diese Sichtweise.“ Eltern wollten ihr Kind schützen – doch oft verhindere das, dass Kinder lernen, Belastungen auszuhalten und Resilienz zu entwickeln.

Lynn Lyons ergänzt: „Manchmal bemerken Eltern gar nicht, wie sehr sie selbst von Sorgen geprägt sind. Da hilft es, Freunde oder Familienmitglieder um Feedback zu bitten. Oder sogar die Kinder selbst – die sind oft sehr ehrlich und sagen klar, wer in der Familie sich am meisten sorgt.“

Den Blick auf Angst verändern

Wie lässt sich dieser Kreislauf durchbrechen? Wilson lehnt sich vor: „Das Ziel ist nicht, Angst wegzuschaffen, sondern Kindern zu helfen, Unsicherheit zu tolerieren. Wir sagen Eltern oft: Wenn dein Kind beim Erlernen von etwas Neuem Unbehagen spürt, ist das ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass es wächst.“ Kurzfristige Beruhigung oder das Ausweichen vor Angst bringe Erleichterung, aber langfristig verstärke es das Problem.

„Der größte Fehler ist, den Regeln der Angst zu folgen“, betont Lyons. „Angst macht Vorschriften – und Eltern beugen sich oft. Aber nur wenn man diese Regeln durchbricht, kann sich etwas ändern.“

Die 7-Stufen-Methode

Ein zentrales Element des Buches ist die 7-Stufen-Methode, mit der Kinder lernen, sich schrittweise ihren Ängsten zu stellen. Viele Eltern befürchten, dass diese Methode zusätzlichen Druck erzeugt. Wilson beruhigt: „Die eigentliche Belastung ist, wenn die Angst den Alltag bestimmt. Die ersten Schritte kosten Mühe, aber bald erleben Familien Entlastung. Denn viel anstrengender ist es, ständig den Forderungen der Angst nachzugeben.“

Lyons hebt hervor, was Eltern dafür brauchen: „Beständigkeit und Konsequenz sind entscheidend. Kinder testen Grenzen, wenn neue Erwartungen gestellt werden. Eltern müssen lernen, standhaft zu bleiben – freundlich, fürsorglich, aber konsequent.“ Perfektion sei nicht nötig, wohl aber ruhige Beharrlichkeit. Ein unterstützendes Netzwerk aus Familie oder Freunden könne zusätzlich helfen.

Wann professionelle Hilfe wichtig wird

Doch was tun, wenn die Angst zu groß wird? Lyons: „Eine gute Richtlinie ist, die eigene Belastung zu beobachten. Wenn Eltern merken, dass sie selbst überfordert sind, ist es Zeit für Unterstützung. Das ist keine Schwäche, sondern gesund. In meiner Praxis behandle ich Kinder nie ohne die Eltern – nur wenn die Familie als Ganzes unterstützt wird, können Veränderungen dauerhaft sein.“

Manche Störungen, so Reid Wilson, erfordern ohnehin professionelle Hilfe: „Zwangsstörungen sind schwer zu erkennen und zu behandeln – da können Fachleute wirklich einen Unterschied machen.“
Wenn Kinder blockieren

Nicht selten verweigern Kinder jede Kooperation. „Das bedeutet nicht, dass Eltern versagt haben“, erklärt Wilson. „Widerstand ist normal. Am meisten hilft es, wenn Eltern ihre eigenen Muster ändern – statt Druck auf das Kind auszuüben.“

Und was, wenn die Beziehung zwischen Eltern und Kind so angespannt ist, dass es kaum möglich scheint? „Dann können auch andere Betreuungspersonen einspringen“, sagt Lyons. „Großeltern, Onkel, Tanten – jeder fürsorgliche Erwachsene kann hilfreich sein. Aber die Hauptbezugsperson bleibt der Schlüssel zum Erfolg.“

Ein Satz für den Mut

Zum Ende unseres Gesprächs frage ich die beiden, welchen Satz sie Eltern mitgeben würden. Reid Wilson lächelt und sagt:

„Ich weiß, dass das schwer und unangenehm ist, aber gemeinsam werden wir nicht zulassen, dass die Angst diese Familie weiterhin beherrscht.“

Ein Buch, das Hoffnung macht

„Mein ängstliches Kind“ ist mehr als ein Ratgeber. Es ist das Ergebnis jahrzehntelanger klinischer Erfahrung von zwei Fachleuten, die Eltern, Kindern und Fachkräften praktische Werkzeuge an die Hand geben wollen. Wilson und Lyons zeigen, wie man mit Mut, Konsequenz und Humor die Macht der Angst bricht – und Kindern die Chance eröffnet, Erfahrungen zu machen, die sie stark und selbstbewusst machen.

Gernot Körner




Kinder denken früher logisch, als wir dachten

Neue Studie zeigt: Schon Vierjährige können Probleme systematisch lösen

Kinder können schon im Vorschulalter erstaunlich logisch denken – und damit frühzeitig komplexe Probleme lösen. Zu diesem Schluss kommt ein Forschungsteam der University of California, Berkeley, das die Denkstrategien von 123 Kindern zwischen vier und zehn Jahren untersucht hat. Anders als die klassische Entwicklungspsychologie bisher annahm, zeigte sich: Bereits Vierjährige sind in der Lage, logisch zu planen und systematische Lösungen zu entwickeln – ganz ohne Versuch und Irrtum.

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Kinder tatsächlich viel früher in der Lage sind, spontan logische Strategien zu entwickeln, wenn die Umstände dies erfordern“, erklärt die Entwicklungspsychologin Celeste Kidd, Mitautorin der Studie.

Wenn Logik hinter dem Chaos steckt

Was auf den ersten Blick nach kindlichem Chaos aussieht – ausgeräumte Schubladen, verstreute Bauklötze oder umgekippte Taschen – kann in Wahrheit Ausdruck einer erstaunlichen Denkleistung sein. Die Forschenden wollten herausfinden, wie Kinder Probleme lösen, wenn reines Ausprobieren („Trial and Error“) nicht hilft.

In ihrem Experiment spielten die Kinder ein Computerspiel: Hinter einer Wand waren Fantasiewesen versteckt, deren Turnschuhe sichtbar herausragten. Aufgabe war es, die Wesen nach ihrer Körpergröße zu ordnen – also von klein nach groß. Da die Kinder die Figuren selbst nicht sehen konnten, mussten sie aus Hinweisen auf die richtige Reihenfolge schließen.

Vierjährige nutzen Strategien wie kleine Informatiker

Das Ergebnis überraschte selbst die Forschenden: Mehr als die Hälfte der Kinder – darunter viele Vierjährige – entwickelte systematische Strategien, um das Problem zu lösen. Manche sortierten nach logischen Mustern, die an bekannte Informatik-Algorithmen erinnerten.

„Diese Kinder haben im Prinzip eigene Sortierregeln erfunden“, sagt Kidd. „Sie konnten das Ziel nicht sehen, aber sie haben Wege gefunden, das Problem Schritt für Schritt zu strukturieren.“ Damit widerspricht die Studie einer seit über 60 Jahren gültigen Annahme des berühmten Psychologen Jean Piaget, der glaubte, dass Kinder erst ab etwa sieben Jahren logisch denken können.

Was das für Pädagogik und Eltern bedeutet

Die Forschenden sehen ihre Ergebnisse als wichtigen Impuls für frühe MINT-Bildung (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik). Wenn Kinder schon im Vorschulalter fähig sind, logische Zusammenhänge zu verstehen, sollten sie früher mit passenden Herausforderungen in Kontakt kommen – etwa durch Spiele, die planvolles Denken unterstützen.

Auch Eltern können profitieren: Wenn das Kind wieder einmal Unordnung schafft, lohnt sich vielleicht ein neuer Blick darauf. „Man sollte sich klarmachen, dass Kinder oft genau dann lernen, wenn sie scheinbar Chaos anrichten“, so Kidd. „Das Durcheinander ist manchmal ein Zeichen dafür, dass sie aktiv nach einer Lösung suchen.“

Mehr zur Studie

Die vollständige Untersuchung „Children spontaneously discover efficient solutions to a difficult sorting task“ von Celeste Kidd et al. ist als Preprint verfügbar unter:
👉 https://escholarship.org/content/qt7tj838s0




Gesprächskultur in der Kita: Wie Sprache Beziehungen gestalten kann

Gespräch Team

Eine achtsame Gesprächskultur stärkt Teamarbeit, Vertrauen und Professionalität im pädagogischen Alltag. Sie beginnt mit echtem Zuhören.

Die sprachliche Kommunikation geht – trotz mancher Kürze – stets einen sehr langen Weg. Denn: gedacht ist nicht gesagt/gesagt ist noch nicht gehört/gehört heißt nicht immer richtig verstanden werden/verstanden werden heißt nicht immer mit dem Gesagten einverstanden zu sein/einverstanden sein heißt nicht immer, das Neue anzuwenden/etwas angewendet haben, heißt noch nicht behalten haben und etwas behalten, heißt noch lange nicht, dieses beizubehalten (in Anlehnung an Konrad Lorenz). Sprache kann berühren und Entwicklungsprozesse in Gang setzen – sie kann aber auch Beziehungen zerstören und Vorhaben zum Scheitern bringen. Sprache kann in eine gedankliche Tiefe führen oder zur oberflächlichen Betrachtung verleiten. Sprache kann Konflikte auflösen oder verschärfen. Hier kommt allen Mitarbeiter:innen eine ganz besondere Bedeutung zu: jede Kolleg:in ist Vorbild, Initiator:in für Innovationen, Begleiter:in in schwierigen Situationen, Moderator:in in Problemsituationen und Expert:in in fachlichen Fragen und Auseinandersetzungen.

In einem guten Gespräch muss man nicht immer etwas Gutes sagen. Manchmal reicht es auch, einfach mal gut zuzuhören.
(Klaus Seibold)

Jedes direkte Gespräch setzt sich aus fünf primärbeteiligten ­Größen zusammen:

  • der eigenen Person (mit den gelernten, verinnerlichten Gesprächs(in)kompetenzen
  • sowie den intraindividuellen Persönlichkeitsmerkmalen),
  • der anderen Person (mit ihren gelernten, verinnerlichten Gesprächs(in)kompetenzen
  • sowie deren intraindividuellen Persönlichkeitsmerkmalen), dem Thema/Inhalt/der Problemstellung;
  • der aktuellen Beziehungsgeschichte/Beziehungsstärke/-schwäche (geprägt durch Sympathie/Antipathie) zwischen den Gesprächsbeteiligten und den vorherrschenden Gesprächs­bedingungen.

Soweit wie möglich sollte zunächst für ein gesprächsförderliches Setting gesorgt werden:

Ausblenden von möglichen Störungen, einer mit Distanz versehenen Sitzgelegenheit (bei einem Zweiergespräch: in einem guten Abstand voneinander, ca. 1,50 m im zugewandten Sitzwinkel von etwa 140 Grad), einer für das Gesprächsziel ausreichenden Zeit und das Ganze ohne Ab­lenkungspotenzial wie beispielsweise Plätzchen oder Getränken. Man selbst sollte sich vor dem Gespräch sowohl inhaltlich gut vor­bereitet (Zielsetzung überprüft und strukturiert aufgebaut? Argumente zusammengestellt, Beispiele parat, mögliche Gegen­argumente durch weitere Argumente erweitert?) als auch die Be­ziehungsebene für sich selbst geklärt haben! Damit sind wesentliche Gesprächsförderer aktiviert: die Möglichkeit der Konzentration auf den Gesprächspartner und den Inhalt, die Fokussierung auf das Ziel sowie ein Gefühl der inneren Sicherheit als Garant für ein zumindest mittleres Maß an Ruhe und Entspannung.

Wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Sprache sechs Dimensionen beinhaltet (Sprache als Weitergabe von Informationen, als Medium zum Herstellen und Aufrechterhalten von Beziehungen, als persönliche Meinungsäußerung, zur Beeinflussung des Verhaltens anderer, als Ausdruck von Gefühlen und zur Problemlösung),

dann werden in einer Gesprächskultur vor allem drei Schwerpunkte in den Mittelpunkt gerückt:

  • 1.) Gespräche dienen der Beziehungspflege und verlangen damit eine zugewandte, aufgeschlossene, freundliche Haltung zum Gesprächspartner!
  • 2.) Gespräche dienen zur detaillierten Weitergabe von fachlich-sachlichen Informationen und verlangen daher ein hohes Maß an Sachorientierung.
  • 3.) Gespräche dienen einer nachhaltigen Problemlösung, wodurch diese Zielrichtung vorgibt, ein sachlich abgewogenes Ziel vor Augen zu haben und fokussiert vorzugehen.

In einer Gesprächskultur geht es also nicht darum, das Verhalten des Gesprächpartners zu beeinflussen/zu manipulieren oder von etwas Bestimmtem zu überzeugen. Vielmehr schafft es sowohl das freundlich-sachliche Beziehungsverhältnis als auch das inhaltlich geführte Sachgespräch, überzeugend (!) zu sein. Die in einer Person provozierten Gefühle müssen an anderer Stelle (z. B. durch ein weiteres Zweiergespräch, durch eine Selbstreflexion, bei starken Beziehungsstörungen durch Supervision, Coaching oder Selbsterfahrungsseminare) analysiert und geklärt werden, weil hier unter einer systemischen Betrachtung zuvorderst aktualisierte Kindheitserfahrungen zum Ausbruch kommen.

Weißt du, was ein totes Gespräch ist? Es ist, wenn man mit geschlossenen Augen, mit verriegeltem Gehirn und mit einer zugemauerten Seele redet und zuhört. Dieses viele tote Denken und tote Reden hat uns Menschen auseinander­gebracht.
(Heinz Körner)

Wie oben erwähnt sind vor allem die drei Hauptfeinde einer angestrebten Gesprächskultur –

  • (a) wenn Beziehungsstörungen auf einer pseudo-inhaltlichen Ebene ausgefochten,
  • (b) Meinungen statt Sachargumente ins Diskussionsfeld geworfen und
  • (c) dogma­tisch ­geprägte/starre Überzeugungsversuche eingesetzt werden 

– dafür verantwortlich, dass tagtäglich anberaumte Gespräche nicht nur erfolglos bleiben, sondern in der Regel noch eine konfliktverschärfende Auswirkung mit sich bringen.

Daher muss das übergeordnete Ziel eines professionell gestalteten Gesprächs darin bestehen, dem Gegenüber dabei zu helfen, zunächst sich selbst sowie seine Sichtweise der Dinge wahrzunehmen und zu reflektieren, um sich dann auf die neuen, angestrebten Betrachtungen einzulassen, diese ­wahrzunehmen und in ihnen konstruktive Gedanken-/Handlungsimpulse zu sehen, um sie annehmen und umsetzen zu können. Aus einem »du musst … bzw. zu solltest …« kann auf diese Weise ein »Vielleicht ist es auch für Dich vorstellbar und annehmbar, wenn, …« bzw. »Die beste Möglichkeit, das Ziel zu erreichen, kann doch darin liegen …« entstehen: Diese Einstellung ist der Beginn/die Fortsetzung eines Selbstbildungsprozesses. Fremdbestimmte Ziele führen – ebenso wie bei Kindern – zu einer Bildung aus II. Hand, die eher Abwehr und Widerstände aktiviert als selbstmotivierte Veränderungswünsche. Hier gilt es, den Kreislauf einer üblichen Gesprächsführung zu durchbrechen, um den selbstgesetzten Zielen tatsächlich näher zu kommen.

Gespräche werfen nicht nur auf die Fragen selbst ein neues Licht, sondern auch auf die Menschen, die sie diskutieren.(Martin ­Andersen-Nex)

So vielfältig die unterschiedlichen Gesprächsanlässe im Kita-Alltag sind, so dringlich zeigt sich immer wieder, dass eine Gesprächskultur nicht von alleine entsteht.

Vielmehr baut sich eine förderliche Gesprächskultur durch folgende Merkmale auf:

Es ist günstig, wenn

  • (a) der Gesprächspartner von Zeit zu Zeit direkt mit seinem Namen angesprochen wird;
  • (b) die eigenen Argumente fachlich formuliert und immer wieder mit nachvollziehbaren Beispielen veranschaulicht werden;
  • (c) die Argumentationskette logisch aufgebaut und strukturiert vorgebracht wird;
  • (d) einer Kampf-Dialektik aus dem Wege gegangen und eine engagierte, offene Argumentation angestrebt wird;
  • (e) immer wieder Fragen zurückgegeben werden, um einen Dialog aufrechtzuerhalten;
  • (f) besonders bedeutsame inhaltliche Zusammenhänge im Gespräch auf einem Blatt Papier visualisiert werden;
  • (g) emotionale, spontane Gegenreaktionen (ausgelöst durch Polemik oder Vorwürfe) zurückgehalten und in neue Sachargumente umgedeutet werden;
  • (h) das Gesprächsziel im Vordergrund steht, so dass Abschweifungen unterbrochen und Nebenkriegsschauplätze bzw. Randaspekte nicht vom eigentlichen Thema ablenken. Zudem wird eine Gesprächskultur dadurch förderlich beeinflusst, wenn
  • (i) der Blickkontakt gehalten wird (ohne den Gesprächspartner anzustarren), um die erwünschte Beziehung aufrecht zu erhalten;
  • (j) die Lautstärke durch leise Töne gekennzeichnet ist und diese in der Modulation wechselt;
  • (k) der Sprech­geschwindigkeit immer wieder das hektische Tempo rausgenommen und langsam gesprochen wird;
  • (l) die Stimmhöhe im tieferen Bereich liegt (was durch eine möglichst vorhandene Entspannung erreicht werden kann) und dem anderen die Chance eingeräumt wird, sich einzubringen und ausreden zu können.

Bei allem steht der Aspekt im Vordergrund, dem Gesprächspartner zuzuhören und ihn verstehen zu wollen, ihn als einen gleichwertigen Gesprächspartner zu akzeptieren und an einer nachhaltigen Lösung interessiert zu sein.

Letztendlich ist darauf zu achten, dass persönliche Meinungen/Einschätzungen in sachorientierte Argumente umgewandelt werden. Immer wieder wird eine Gesprächskultur dadurch zerstört, dass persönliche Meinungen gegen entgegengesetzte Meinungen aufgefahren werden: Ein professionell gestaltetes Gespräch verzichtet daher auf Meinungsäußerungen, weil sie in einer Fachdiskussion aufgrund ihrer individuell-subjektiven Prägung nicht zielführend sein können.

Es prägt dich emotional, rational und empathisch, wenn du mehr zuhörst als zu reden. Denn Verständnis für dein Gegenüber ist die Grundlage eines guten Gesprächs. (Nyjel Hunter)

Die realisierte Gesprächskultur ist einerseits ein sicherer Indikator dafür, ob (!) in der Einrichtung eine professionell gestaltete Alltagspädagogik realisiert wird und wie ausgeprägt (!) eine humanistisch orientierte Teamarbeit tatsächlich existiert. Beide Aspekte bilden die Grundlage für ein lebendiges, arbeitsmotiviertes, lernbereites, wahrnehmungsoffenes und innovativ ausgerichtetes Team. Es hat sich ­immer wieder gezeigt, dass die Gesprächskultur, in der sorgsam und zugleich klar, wertschätzend und zugleich zielorientiert, direkt und zugleich problemlösungsorientiert miteinander gesprochen/umgegangen wird, sowohl ein Garant für eine Qualitätsoffensive darstellt als auch für eine entwicklungsförderliche Atmosphäre in der Kita sorgt.

Wo immer Arbeits- bzw. Beziehungsstörungen vorherrschen, ist auch die Gesprächskultur eingeschränkt oder gar nicht vorhanden. So gilt es, sich immer wieder aufs Neue mit diesem kulturell höchst bedeutsamen Schwerpunkt zu beschäftigen, die gegenwärtige Gesprächs­kultur zu analysieren, bei Störungen zu verbessern und bei einer gut vorhandenen Ausprägung gezielt sowie regelmäßig zu stabilisieren. Getreu dem Motto: »Wer aufhört besser sein zu ­wollen als er ist, hört auf, gut zu sein«. Oder: »Wer Stroh im Kopf hat, fürchtet den Funken der Wahrheit.« (Jupp Müller) 

Diesen Beitrag haben wir folgendem Buch entnommen:

Krenz PowerPoint

Armin Krenz
Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht
20 PowerPoint Präsentationen als Grundlage für Teambesprechungen, Fortbildungsveranstaltungen und Fachberatungen
344 Seiten mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 978-96304-613-1
29,95 €

Die PowerPointPräsentationen und Seminarunterlagen von Prof. Armin Krenz haben sich in zahlreichen Vorträgen und Weiterbildungen bewährt. Sie vermitteln kurz und prägnant das Wesentliche für die pädagogische Praxis und stützen sich dabei auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse. Mit seinem Buch unterstützt er pädagogische Fachkräfte dabei aktuelles Wissen in die Praxis umzusetzen.