Rhythmus für Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen

Rhythmische Erziehung unterstützt das Agieren aus dem eigenen Kraftzentum

Viele Kinder fallen schon in den ersten Lebensjahren durch ein Verhalten auf, für das man zahlreiche Bezeichnungen in der psychologischen, psychiatrischen, psychotherapeutischen und heilpädagogischen Literatur findet. Für Begriffe wie exogenes Psychosyndrom, psychoneurologische Lernschwäche, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS), Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), hyperkinetisches Syndrom (HKS) und andere Syndrome gibt es zahlreiche Symptome (Klein 2018a, S. 106 ff.). Beunruhigend sind Angaben, nach denen sich die Zahl der Zwei- bis Vierjährigen, die Psychopharmaka schlucken, im vergangenen Jahrzehnt verdreifacht habe.

An erster Stelle der Verschreibungen stehe das Aufputschmittel (Psychostimulans) Methylphenidat (Ritalin), das bei emotionaler Labilität, Störungen der Wahrnehmung und der Bewegungskoordination, Teilleistungs-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen oder Hyperaktivität helfen soll. Nach amerikanischen Studien weist etwa jedes dritte bzw. vierte Kind unter sieben Jahren solche Symptome auf. Bis zu neun Millionen „Zappelphilippe“ bekommen Ritalin verordnet. Hilft das nicht, was oft der Fall ist, müssen Eltern, Erzieher und Wissenschaftler nach anderen Lösungen suchen.

Die kritische Betrachtung lässt folgenden Schluss auf mögliche Bedingungen zu

Fernsehen, Computerspiele und die Spielzeugindustrie machen Jagd auf die Kinder. Was tun, wenn schon die Kleinsten vor dem Bildschrim sitzen? Was sollen sie dem Konsumdruck und Markenterror denn entgegensetzen? Eltern und Erzieher sind oft ratlos und resignieren. Wie können sie ihr Kind begleiten? Für Josef Weizenbaum, einen Pionier der Computertechnik, ist der kindliche Geist ursprünglich voll von herrlicher kreativer Phantasie. Die intuitive Kraft werde aber gestört, wenn das Kind bedingungslos ihm von außen aufgenötigten Regeln folge. Tatenlosigkeit beim Zuschauen lähme seinen Willen, es werde von der vorgegebenen Welt abhängig. Außengeleitet und lediglich konsumierend sei das Kind nicht oder nicht hinreichend in sich geborgen und frei für eigenes schöpferisches Tun. Da es primär auf Reize zu reagieren lerne, fehle ein Agieren aus eigenem Kraftzentrum. Ganz offensichtlich halten uns die heutigen Kinder einen entlarvenden Spiegel vor: Sie sind Kinder ihrer Zeit und Umwelt, an der auch wir Teil haben.

Diagnostische Kriterien von ADS, ADHS und HKS sind keineswegs spezifisch:

  • Unaufmerksamkeit/Desorganisation: Die Kinder können ihre Aktivität nicht selbst in die Hand nehmen oder zu Ende führen, sind unkonzentriert und ablenkbar, können ihre Zeit nicht einteilen, ordnen sich in die Gruppe schlecht ein, machen viele Flüchtigkeitsfehler und wirken häufig wie geistesabwesend.
  • Hyperaktivität: Kinder zeigen motorische Unruhe (Bewegungsunruhe), wirken innerlich unausgeglichen, können sich nicht ausreichend entspannen.
  • Impulsivität: Kinder führen häufig unüberlegte Handlungen aus, können die Konsequenzen nicht einkalkulieren und kontrollieren, auf Kritik reagieren sie mit Wut.
  • Emotionale Instabilität: Kinder zeigen raschen Stimmungswechsel ohne besonderen Anlass, sind schnell ermüdbar und vermindert belastbar.

Welche Ursachen dieser Störung eigentlich zugrunde liegen, darauf geben Medizin und Neurobiologie (noch) keine befriedigende Antwort. Genetische Komponenten spielen wahrscheinlich eine wichtige Rolle, bestimmte Funktionssysteme des Gehirns dürften beeinträchtigt sein, eindeutig pathologische Befunde sind aber (bisher) nicht nachzuweisen. Man vermutet einen Mangel am Neurotransmitter Dopamin, der die Verarbeitung von Informationen steuert und Aufmerksamkeit strukturiert. Ritalin soll ein Dopamin-Defizit ausgleichen. Die medikamentöse Therapie muss aber durch psychosoziale Maßnahmen ergänzt werden (multimodale Therapie). Leider zeigt die Praxis, dass bei vielen Kindern ohne umfassende Diagnostik, die alle möglichen Ursachen analysiert, allein wegen der Symptome ein Medikament gegeben und die wichtige Einsicht negiert wird: Ein ADS-Kind ist vorrangig kein medizinisches Problem, sondern eine gesellschaftliche, soziale und pädagogische Herausforderung.

Es gibt nämlich Erfolg versprechende Hilfe auch ohne Medikament. So wurden Übungsprogrammen zur Konzentration entwickelt, die Spaß machen und einfach zu verwirklichen sind.

Folgende Aspekte sollte der therapeutische Erzieher beachten:

  • Gib wichtige Informationen in der Nähe des Kindes und ihm zugewandt, artikuliere deutlich, ohne dabei zu übertreiben.
  • Ergänze mündliche Informationen möglichst durch eine visuelle Informationsdarbietung: Bilder oder Blätter.
  • Ermuntere das Kind zum Nachfragen und achte darauf, dass dies von den anderen Kindern nicht als Unaufmerksamkeit abgewertet wird.
  • Sorge möglichst für Ruhe oder ruhiges Sitzen, zumindest solange wichtige Dinge angesprochen werden.
  • Akzeptiere, wenn sich das Kind eine Pause gönnt, versuche aber auch, es durch bewusste Ansprache in die Gruppe einzubinden.
  • Mache häufig Einzelübungen (Spiele) mit dem Kind, versuche dabei zu gegebener Zeit auch ein anderes in die Übungssituation einzubeziehen, so dass daraus nach und nach Partner- und Gruppenspiele werden.
  • Halte regelmäßigen Kontakt zum Elternhaus.

Diese Hinweise zur heilpädagogisch-psychologischen Begleitung von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität sind gut durch rhythmische Erziehung zu ergänzen. Sie kann „das Übel an der Wurzel“ fassen und den Kindern helfen, sich einer Aufgabe konzentriert zuzuwenden, Störungen der Aufmerksamkeit zu meiden, Lern- oder Verhaltensprobleme auszugleichen. Auch wenn mitunter auf ein Medikament nicht verzichtet werden kann, ist doch dessen Dosis möglichst gering zu halten bzw. seine Anwendung zeitlich zu begrenzen.

Rhythmik ist aller Bildung Anfang

Bei allen Versuchen, Rhythmik zu beschreiben und zu erklären, findet man Hinweise auf Lebensabläufe oder körperliche Funktionen und auf ihre Wechselwirkungen mit der Umwelt. Rhythmik kann auch verstanden werden als Bewusstmachen der Leiblichkeit mit dem Ziel, diese in Bewegungsformen auszudrücken. Sie ist so gestaltet, dass jeder Mensch, unabhängig von seinen Anlagen und Schwächen, die Möglichkeit hat, sich mit Hilfe des Rhythmus in Einklang mit seiner Umwelt zu bringen. (Klein 2012, S. 106)

Rhythmus ist offensichtlich schon im vorgeburtlichen Leben bedeutsam. Rhythmik und Musik erreichen den Menschen auch dort, wo keine andere Kommunikation möglich ist. Rhythmische Klänge erzeugen inneres Mitschwingen, wirken auf hormonelle und neurophysiologische Funktionen und setzen Entwicklungsprozesse frei. Erfahrungen von Musiktherapeuten sprechen für eine besondere, frühe Fähigkeit zur Lautperzeption, wobei tiefere Frequenzen über den Magen, höhere über Kopf, Hals und Brust wahrzunehmen sind. Der Kontaktvibrationssinn, ein Wahrnehmen von Schwingungen durch Berühren eines Resonanzkörpers, ist physiologisch durch auf Druck reagierende Sinnesrezeptoren in Muskeln, Gelenken, Bändern und Sehnen zu erklären.
Rhythmus ist ein Vorgang des Ordnens und Gliederns, des Weckens und Entfaltens. Er wirkt auf den Menschen als bio-psycho-soziale Einheit. Rhythmik ermöglicht ein Wechselspiel zwischen Empfangen und Geben, Empfinden/Wahrnehmen und Sich-Ausdrücken bzw. Handeln – eine Grundlage der Kommunikation. (Klein 2012, S. 108)

Kinder brauchen Rhythmus

Ohne Rhythmus ist unser Leben nicht denkbar. Zwischen Rhythmen und Gewohnheiten besteht ein enger Wechselbezug: Rhythmen tragen zu Gewohnheiten bei und Gewohnheiten stabilisieren die Rhythmen.
Jedes Kind hat ein Bedürfnis nach Rhythmus und Kontinuität, Üben und Wiederholen. Damit entstehen Gewohnheiten, die Zuversicht, Sicherheit und Vertrauen in die eigenen Kräfte geben.

Bereits bei den ersten reflektorischen und sensomotorischen Aktivitäten des Neugeborenen spielen rhythmische Vorgänge eine große Rolle. Im Säuglingsalter bilden sich sensomotorische Schemata durch aktive Organisation von früheren Erfahrungen: Aus Greifreflexen entstehen Greifakte, Handbewegungen und Sehen werden koordiniert. In Wechselwirkung mit der Umwelt entstehen aus Nachahmung erste Gewohnheiten. Durch Differenzierung gehen neue aus vorhandenen Handlungsstrukturen hervor.
Die Entwicklungspsychologie weist eindringlich darauf hin, dass jedes Kind einen rhythmisch strukturierten Tagesablauf und stabile Gewohnheiten benötigt. Ist es von einer Entwicklungsauffälligkeit bedroht, braucht es ganz besonders Halt gebende Gewohnheiten und Rhythmik.

Die Bedeutung verschiedener Rhythmen, des Tages-, Wochen- oder Jahresrhythmus, ist durch viele Beobachtungen gut bekannt. Gewohnheiten stärken die Lebenskraft, sie können sie aber auch schwächen. Wenn Kinder und Erzieher heute über Kraftlosigkeit und Müdigkeit klagen, liegt dies auch an fehlenden Lebensgewohnheiten, die das Kohärenzgefühl stärken.

Literaturhinweise

Klein, F. (2012): Inklusion von Anfang an. Bewegung, Spiel und Rhythmik in der inklusiven Kita-Praxis. Köln (Vertrieb: Schaffhausen, SCHUBI Lernmedien AG)

Klein, F. (2018a): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks. München

Diesen Artikel haben wir aus folgendem Buch entnommen:

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Gerhard Neuhäuser, Ferdinand Klein

Therapeutische Erziehung
Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule
Oberstebrink
ISBN: 9783963046056
192 Seiten, 25,00 €




Wachsende Defizite beim Spracherwerb und der Koordination

Barmer Kinderatlas: Sprachdefizite bei Kindern in Niedersachsen und Bremen immer ausgeprägter

Bei Kindern in Niedersachsen und Bremen zeigen sich immer häufiger Störungen beim Spracherwerb sowie Defizite bei der motorischen Koordination. Das belegen Daten im aktuellen Barmer Kinderatlas. Demnach wurde in Niedersachsen bei 14,1 Prozent der Kinder und in Bremen bei 10,5 Prozent der Schulkinder im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren im Jahr 2021 eine sogenannte Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache diagnostiziert. Das entspricht 72.000 Mädchen und Jungen in Niedersachsen und 4.400 im Land Bremen. Zum Vergleich: Im Jahr 2006 waren in Niedersachsen lediglich rund 47.000 Kinder von einer Sprachstörung betroffen, in Bremen rund 2.700.

„Die Zahl der Kinder mit Defiziten beim Sprechen liegt auf einem hohen Niveau. Störungen beim Spracherwerb gehören mit zu den häufigsten Diagnosen bei Heranwachsenden“, sagt Heike Sander, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Niedersachsen und Bremen. Zu den Sprech- und Sprachstörungen zählten etwa ein begrenztes Vokabular, Schwierigkeiten in der Satzbildung und bei der Grammatik sowie Probleme in der Ausdrucksfähigkeit und bei der Lautbildung. Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache zögen oft sekundäre Folgen nach sich, wie Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, Störungen im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, im emotionalen und Verhaltensbereich. „Kinder erlernen Sprache durch Nachahmen. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern viel mit ihrem Kind kommunizieren und den Medienkonsum begrenzen“, empfiehlt Sander.

Weder Hampelmann noch Purzelbaum

Auch der Anteil an Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen hat laut Auswertung im Barmer Kinderatlas deutlich zugenommen: Während im Jahr 2006 noch bei 18.700 der Sechs- bis Zwölfjährigen in Niedersachsen Defizite in der motorischen Koordination festgestellt wurden, waren es im Jahr 2021 bereits knapp 27.000. In Bremen gab es einen Anstieg von 800 auf knapp 1.300 betroffene Kinder. Die Diagnoserate liegt in der Altersgruppe in Niedersachsen bei 5,3 Prozent, in Bremen bei 3,0 Prozent. Zu den Ursachen für den Anstieg der motorischen Entwicklungsstörungen zählt auch der zunehmende Bewegungsmangel unter Heranwachsenden. „Viele Kinder können heute weder Hampelmann noch Purzelbaum. Dabei sind gut entwickelte, motorisch koordinative Fähigkeiten wichtig für Schule und Alltag“, sagt Sander. Eltern sollten deshalb ihre Kinder schon von klein auf zu vielfältigen fein- und grobmotorischen Bewegungsabläufen motivieren. Sollte auffallen, dass Kinder schlecht das Gleichgewicht halten, oft Sachen fallen lassen oder im Vergleich zu Gleichaltrigen tollpatschig wirken, könnten Eltern das Gespräch mit Kinderärztin oder Kinderarzt suchen.

Kontinuierlicher Aufwärtstrend bei Entwicklungsstörungen

Inwieweit die Corona-Pandemie Defizite beim Spracherwerb und der motorischen Koordination noch verstärkt hat, ist derzeit noch nicht absehbar. So ist der Anteil der niedersächsischen Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen vom Jahr 2019 zum Jahr 2021 um 0,2 Prozent gesunken, in Bremen gab es einen leichten Anstieg von 0,8 Prozent. Bei den motorischen Störungen ergab sich ein Plus von 0,3 Prozent in beiden Ländern. „Wir sehen in den Daten von 2006 bis 2021 einen starken Aufwärtstrend bei den umschriebenen Entwicklungsstörungen. Allerdings ist bisher kein überproportionaler Anstieg oder Abstieg in Zeiten der Lockdowns auszumachen“, sagt Sander. In wieweit die Einschränkungen während der Pandemie auch Auswirkungen auf diese Entwicklungsstörungen haben werden, sei Gegenstand weiterer Forschungen. „Es ist wichtig, dass wir jetzt ein besonderes Augenmerk auf die gesunde Entwicklung aller Kinder legen“, so Sander. Die qualitativ hochwertige medizinische Versorgung von Heranwachsenden stehe deshalb auch im Fokus des Barmer Kinder- und Jugendprogramms. Teilnehmende Familien profitierten unter anderem von zusätzlichen Früherkennungsuntersuchungen, kürzeren Wartezeiten beim Arztbesuch sowie einer Beratung der Eltern zu vielen Gesundheitsthemen.

Mehr zum Barmer Kinder- und Jugendprogramm: www.Barmer.de/a000068.

Quelle: Pressemitteilung Barmer Niedersachsen und Bremen




„Eingewöhnung“ erfasst auch eine „Ausgewöhnung“!

Ein herausfordernder Übergangsweg für Kinder in ein neues, unbekanntes Lebensumfeld

Notwendige, erzwungene und selbst freiwillig gewählte Übergänge (= Transitionen) von einem bekannten und bisher Sicherheit bietenden Lebensumfeld an einen unbekannten Ort stellen für alle Menschen eine große Herausforderung dar. Dies trifft auf alle Erwachsenen, insbesondere aber für Kinder zu. Und wenn diese besonders jung sind, ergeben sich um so mehr notwendige Überlegungen und dringlich angezeigte Handlungsvorhaben, um aktuelle und nachhaltige seelische Verletzungen (= Vulnerabilitäten) zu vermeiden.

Für viele Eltern(teile) ergibt sich – oftmals schon vor der Geburt ihres Kindes – die Frage, ob bzw. wie sie ihr weiteres (Berufs)Leben mit der neuen Situation, dass sie Eltern werden bzw. geworden sind, verbinden können/ wollen/ müssen. Soll/ wird das Kind eine Krippe besuchen, gibt es die Möglichkeit einer Tagespflegestelle. Ist vielleicht erst mit dem dritten Lebensjahr der Besuch eines Kindergartens angedacht oder ist der Krippen- und folgende Kindergartenbesuch schon fest eingeplant? Auf jeden Fall wird es verantwortungsvollen Eltern(teilen) stets darum gehen, eigene Wünsche/ Erwartungen/ Vorstellungen mit den notwendigen Überlegungen abzuwägen, was auch das Beste für das Kind sein könnte. So stellt sich ihnen bei einer bevorstehenden Entscheidung auch die Frage, wie das Kind die „Eingewöhnung“ erleben wird.

Der Begriff „Eingewöhnung“ ist nicht unproblematisch und zielt in eine falsche Richtung

Bevor es in diesem Beitrag um inhaltliche Ausführungen und Hinweise geht, muss eine wichtige Vorbemerkung vorgenommen werden.

Einerseits hat sich der Begriff „Eingewöhnung“ seit langer Zeit in das pädagogische Vokabular der Elementarpädagogik etabliert. Andererseits ist es immer wieder angebracht, auch etablierte Begriffe, gerade in der Pädagogik, deutlich in Frage zu stellen. Was gibt es nun an kritischen Anmerkungen, was dieses Wort in eine bedenkliche Richtung führt?

  1. „Eingewöhnung“ bedeutet, dass sich eine Person in eine unbekannte, fremde Situation eingewöhnen muss. Und damit zielt das Wort auf das „Objekt Kind“, das keine andere Wahl hat, sich den vielfältigen, neuen Herausforderungen stellen zu müssen. PARTIZIPATION im Sinne einer aktiven Mitsprache und Mitentscheidung ist für ein Kind dabei nicht möglich.
  2. Mit dem Begriff „Eingewöhnung“ wird in erster Linie dem KIND die Verantwortung aufgedrückt, sich in ein bestehendes Struktur-, Prozess- und Beziehungssystem einzufügen, um sich möglichst komplikationslos (und schnell?) an existierende Bedingungen >anzupassen<.
  3. Mit diesem Blick auf den Begriff „Eingewöhnung“ wird dem Kind eine so genannte >Bringschuld< zugewiesen, anstatt in erster Linie den Eltern(teilen) und den pädagogischen Fachkräften ihre primäre Verantwortung für einen gelingenden Übergang zu überbringen.

Um diesen, einen für das Kind entwicklungsförderlichen Übergang und notwendigen Perspektivwechsel zu erreichen, ist es geboten, eine neue Begriffsbestimmung zu nutzen, um damit auch den Bedeutungsgehalt zu wandeln. Zwei Vorschläge wären denkbar: statt „Eingewöhnung“ könnte der Zeitraum des Wechsels vom Elternhaus in einen neu anstehenden, tageszeitbegrenzten Aufenthaltsort als „kindzentrierte Übergangshilfe I“ oder „kindzentrierte Transitionsunterstützung I (für die Aufnahme in eine Krippe) bzw. „kindzentrierte Übergangshilfe II“ oder „kindzentrierte Transitionsunterstützung II“ (für die Aufnahme in einen Kindergarten“ gewählt werden. Da benutzte Begriffe auch bestimmte Gedankengänge in eine bestimmte Richtung führen, ist dies wahrlich kein überflüssiges Wortspiel. Damit stehen die ERWACHSENEN im Vordergrund und gleichzeitig in der Pflicht, für einen entwicklungsförderlichen Übergang zu sorgen. Wodurch dem zuvor erwähnten Perspektivwechsel Rechnung getragen werden würde.

Jeder einschneidende Übergang stellt für das Kind große Herausforderungen dar

Bei einem Übergang ist das Kind mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. So strömen die vollkommen neue Umgebung, die große Kinderzahl, unbekannte Erwachsene, andere Tagesrhythmen und –abläufe, unbekannte Geräusche und Gerüche auf das Kind ein. U n d  es muss in relativer Kürze mit einer mehrstündigen Trennung von seinen Eltern(teilen) zurecht kommen. Damit werden vom Kind relativ schlagartig neue >Lern- und Anpassungsleistungen< verlangt, die bei vielen verunsicherten/ ängstlichen Kindern unweigerlich zu starken Stressempfindungen führen. Jede pädagogische Fachkraft wird das herzzerreißende Weinen von Kindern, die verzweifelte Blicksuche nach den Eltern(teilen) oder schlimmstenfalls das apathische Stillsitzen eines Kindes, bei dem alles am Kind vorbeizugehen scheint, kennen. So gilt es als oberste Priorität, folgende seelische Verletzungserfahrungen konsequent zu vermeiden, damit das Kind keine zu frühen/ unerwarteten Trennungserlebnisse ertragen muss, in denen es Verlassenheitsängsten und Einsamkeitsgefühlen ausgesetzt ist,

  1. keine Beziehungsnöte aushalten muss, die durch empfundene, personausgedrückte Kälte, Unfreundlichkeiten, emotionale oder sprachliche Ablehnungen zum Ausdruck kommen,
  2. nicht mit Bedrohungsängsten konfrontiert wird – verursacht durch eine unangemessene Lautstärke, Reizüberflutungen, Distanzen durch eine ‚harte Mimik’ – ,
  3. keine Auslieferungserlebnisse erfahren muss, indem ein Kind keine Spiel- oder mit fehlender Zuwendung versehene Begleitung erfährt. Und es bei einem Hilfsbedarf mit einer fehlenden Unterstützung konfrontiert ist
  4. sowie in keine Ohnmachtssituationen durch ein respektloses/ geringschätzendes Erwachsenenverhalten oder gar durch Gewalterfahrungen gebracht wird.
  5. Ansonsten folgen unweigerlich vor allem zwei Erscheinungsformen bei Kindern, die durch Beobachtungen aus der Bindungs- und Vulnerabilitätsforschung vielfach belegt wurden. Einerseits kommt es dann bei sehr vielen Kindern zu deutlichen Entwicklungsrückschritten, die sich in vielfältiger Weise zeigen – auch mit nachhaltigen Auswirkungen auf den späteren Schulstart und die weitere Schulentwicklung. Und andererseits zeigen Kinder deutliche Irritationen im Bindungsverhalten an ihre Eltern(teile).

Kurz, präzise und übersichtlich: die Grundlagen der Kindheitspädagogik

Die Rolle der Erzieherinnen und Erzieher ist vielfältig und stets im Wandel begriffen. Weiterbildung zu Themen wie Bindungs- und Bildungsforschung, Neurobiologie und Lern- und Entwicklungspsychologie ist daher ständig notwendig. Damit das Wissen um die neuesten Erkenntnisse im Bereich Elementarpädagogik immer zur Hand ist, hat Dr. Armin Krenz 20 zentrale Präsentationen aus seinen Seminaren und Workshops zusammengestellt. So können Sie sich jederzeit schnell und effektiv einen Überblick verschaffen!

Armin Krenz
Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht
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ISBN: 978-3-96304-613-1
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Praktische Hinweise und Anforderungen an die elementarpädagogischen Fachkräfte

Aus den zuvor aufgeführten Argumenten ergeben sich deutliche Hinweise und Anforderungen für alle elementarpädagogischen Fachkräfte, die während der >kindzentrierten Übergangshilfe< mit den Kindern in Beziehung stehen und ihnen dabei entwicklungsstützend helfen wollen, ihren schwierigen Übergang aus der Familie (= ‚Ausgewöhnung’) in die Institution Krippe oder Kindergarten (= bisher in der Elementarpädagogik als ‚Eingewöhnung’ bezeichnet) möglichst schadlos zu meistern.

Die wichtigsten Eckwerte seien nun benannt:

  1. Kinder suchen in der Regel bei erlebten Unsicherheiten nach ihrer bevorzugten Bindungsperson. Diese sollten so lange zur Verfügung stehen, bis Kinder ihre innere Stabilität gefunden haben und sie  i h r e  Erzieher:in als zusätzliche Beziehungsperson gerne und zugleich zuversichtlich annehmen können.
  2. Die pädagogischen Fachkräfte dürfen dem Kind nicht zu schnell zu nahekommen, indem sie beispielsweise ein weinendes/ schreiendes Kind sofort auf ihren Schoß oder auf ihre Arme nehmen und – wenn auch mit liebevollen Versuchen – auf das Kind beruhigend einreden! Besser ist es, sich neben das Kind zu hocken und einfühlsam mit dem Kind versuchen zu sprechen. Bindungswünsche gehen immer vom Kind aus und können nicht durch eine distanzlose Körpernähe erzwungen/ hergestellt werden. Oftmals trägt ein solches Verhalten noch mehr zu einer Steigerung der Abwehr bei.
  3. Die Sprache der pädagogischen Fachkräfte sollte leise, ruhig, möglichst entspannt gestaltet und das Sprechtempo langsam sein. Dabei eignen sich kurze Sätze mit entsprechenden Sprachpausen.
  4. Es versteht sich von selbst, dass die ‚neuen’ Bezugspersonen dem Kind Zuverlässigkeit und Dauerhaftigkeit vermitteln. Ständig neue Gesichter, Stimmen und unterschiedliche Verhaltensspezifika irritieren ‚Übergangskinder’ und machen einen festen Beziehungsaufbau kaum bzw. gar nicht möglich.
  5. Eltern(teile), die das Kind in seiner Übergangszeit begleiten, sollten sich in der Zeit des Übergangs möglichst aus der Interaktionsgeschehen/ dem Erkunden des Kindes heraushalten, um dem Kind vielfältige Chancen zu geben, die neue Umgebung neugierig und mit einem eigenen Zeitempfinden zu erkunden.
  6. Zu Beginn des Übergangs haben die Eltern(teile) zunächst mehrere Tage dabei zu sein. Der genaue Zeitraum richtet sich nach der Zufriedenheit/ der selbstständigen Erkundung/ dem Wohlgefühl des Kindes. In dieser Zeit des Ankommens und Kennenlernens sollten von Seiten der Eltern(teile) keine Trennungsversuche unternommen werden. Viele Eltern(teile) erwarten eine zu schnelle Loslösung des Kindes. Beobachtungen zeigen: zu frühe/ schnelle Trennungen erhöhen den Unsicherheitsfaktor des Kindes und verlängern häufig die Übergangszeiten signifikant um ein Vielfaches!   
  7. Die Fachkräfte sollten dem Kind ebenfalls Zeit lassen, eigene Beobachtungen zu machen und Vorhaben auszuprobieren. Nichts ist schlimmer als dass Fachkräfte dem Kind immer wieder irgendwelche Dinge zeigen oder versuchen, sie für Handlungsaktivitäten zu motivieren.
  8. Während der Anwesenheit der Eltern(teile) ist es sehr hilfreich, wenn sich die Fachkräfte auch viel und intensiv mit den Eltern(teilen) entspannt und wertschätzend unterhalten, so dass dadurch dem Kind vermittelt wird: „Mama bzw. Papa fühlen sich hier wohl. Hier geht es ihnen gut. Dann kann es mir hier auch gut gehen.“
  9. Es ist immer von Vorteil, wenn 2 Fachkräfte für das ‚Übergangskind’ Ansprechpartner:innen/ Bezugspersonen sind. Weil es auch in der Zeit des Übergangs durchaus möglich ist, dass eine Fachkraft durch Krankheit/ Fortbildung/ Urlaub/ Vertretungen als Bezugsperson nicht zur Verfügung steht. Damit wäre das Kind gezwungen, erneut einen Beziehungsabbruch in Kauf zu nehmen. Und wäre darüber hinaus erneut mit einem „fremden Gesicht“ konfrontiert.
  10. Die Fachkräfte sollten nach Möglichkeit die Handlungsimpulse des Kindes wohlwollend kommentieren, aufgreifen und sich auf diese Weise langsam dem Interesse des Kindes zuwenden.
  11. Wie in den gängigen „Eingewöhnungsprogrammen“ sind die Übergangskinder einzeln oder zu zweit über eine Zeitspanne von einer oder zwei Wochen aufzunehmen, bevor sich die Fachkräfte weiteren Übergangskindern zuwenden.
  12. Je kleiner die feste Gruppe, in die die Kinder aufgenommen werden, ist, umso mehr kann das Kind Sicherheiten aufbauen und sich mit entspannter Freude auf den aktuellen/ neuen Tag einlassen.
  13. Jede Übergangszeit ist ein individuumsbezogener Versuch, dem betreffenden Kind die Übergangszeit so angenehm wie möglich zu machen. Aus diesem Grund sind starre, so genannte standardisierte Vorgehensweisen abzulehnen und müssen vielmehr auf das individuelle Kind abgestimmt werden. Wie heißt es doch immer wieder: „Wir holen das Kind da ab, wo es steht“. Und nicht: „Wir ziehen ein Kind dorthin, wo wir bzw. Eltern es haben wollen.“
  14. Die neue Situation und das neue Aufenthaltsfeld müssen für das Kind überschaubar und einschätzbar, bekannt und annehmbar sein. Das hilft seinem Orientierungswunsch, Sicherheit zu erlangen und die Überschaubarkeit des Raumes/ der Kindergruppe selbst schließt eine Reizüberflutung eher aus. Reizüberflutungen führen zu Irritationen und neuen Belastungen.
  15. Manches Mal ist es für das ‚Übergangskind’ hilfreich, wenn ihm ein älteres ‚Patenkind’ zur Seite gestellt wird, das – selbstverständlich freiwillig und gerne – in gewisser Weise die Aufgabe eines/einer Begleiter:in übernimmt.           

Diese o.g. Anforderungen müssen für Übergangskinder stimmen, um ihren neuen, zeitlich begrenzten aber zugleich auch neuen Aufenthaltsort mit Freude und intrinsisch motiviertem Interesse als gegenwärtigen sowie zukünftigen ‚Entwicklungsort’ gerne anzunehmen.                                 

Resümee:

Es geht bei der Frage nach einer optimalen Übergangsgestaltung für das Kind in erster Linie nicht um die Frage, ob das Kind schon „reif“ für die Krippe bzw. den Kindergarten ist sondern vielmehr darum, ob die Krippe/ der Kindergarten, die Struktur-/ Rahmenbedingungen sowie die Persönlichkeiten der Fachkräfte „reif“ (= entwicklungsförderlich) für das Kind sind! Auch hier ist also – ganz im Interesse des Kindes und den dafür notwendigen Ausgangsbedingungen – ein deutlicher Perspektivwechsel zur gängigen elementarpädagogischen Praxis vorzunehmen. 

Prof. h.c. Dr. h.c. Armin Krenz, Hon.-Prof. a.D.

Prof. h.c. Dr. h.c. Armin Krenz, Hon.-Prof. a.D., Wissenschaftsdozent, F.R. Entwicklungspsychologie/ -pädagogik mit Zulassung zur heilkundlich, psychologisch therapeutischer Tätigkeit und internationalen Lehraufträgen

Literatur

  • Burat-Hiemer, Edith: Ein gelungener Start in die Kita. Cornelsen Verlag, 2011
  • Dreyer, Rahel. Eingewöhnung und Beziehungsaufbau in Krippe und Kita. Verlag Herder, 2017
  • Griebel, Wilfried + Niesel, Renate, Übergänge verstehen und begleiten. Cornelsen Verlag, 2011
  • Hédervári-Heller, Éva (Hrsg.), Eingewöhnung und Bindung. Verlag Brandes & Apsel, 2019   
  • Krenz, Armin, Kinder brauchen Seelenproviant. Kösel Verlag, 6. Auf. 2019

Buchtipp für Tageseltern:

tagesmutter

Meine ersten Wochen bei der Tagesmutter
Mazzaglia, Marion Klara

Oberstebrink
ISBN: 9783963040214
16 Seiten, 10,00 €

Dieses Buch hilft Kindern und Eltern bei der Eingewöhnung bei der Tagesmutter. Durch die klare und detaillierte Darstellung ist es der ideale Begleiter für die erste Zeit in der neuen Umgebung.




Spielideen zum Thema Gefühle für Kinder unter drei Jahren

gefuehle

Die Vielfalt der Gefühle erfahren, darstellen und kontrollieren

„Das Risiko von Gefühlsausbrüchen nimmt zu, weil wir unsere emotionale Intelligenz nicht schulen, während die Angst im Alltag wächst. Wir rechnen an jeder Straßenecke mit Gefahren. Mehr und mehr Leute, vor allem Jugendliche tragen Waffen. Die drücken einfach ab, wenn der Verstand von der Angst überrumpelt wird. Tatsächlich gibt es heute Kinder, die ein neutrales Gesicht nicht von einem feindlichen unterscheiden können. Sie schlagen ein anderes Kind, weil sie dessen Gesichtsausdruck falsch interpretieren.“

Charmaine Liebertz

Hier finden Sie drei Spiele, bei denen Kinder lernen, ihre Gefühle zu erkennen und/oder kontrolliert zum Ausdruck zu bringen:

Schrei dich frei!

Alter: ab 18 Monate
Zeit: ca. 1 Minute
Sozialform: Einzel- oder Gruppenspiel

So geht’s

Wer kennt sie nicht, die Augenblicke, in denen wir unsere Gefühle am liebsten rausschreien würden? Geben Sie den Kindern in der freien Natur die Gelegenheit dazu: »Ich zähle nun bis drei, dann haltet ihr euch die Ohren zu und schreit so fest ihr könnt eure Gefühle heraus!«

Tipp

In diesem lustigen Schreikonzert können die Kinder die Vielfalt ihrer Gefühle erfahren und sich von angestauten Empfindungen befreien: »Schreit mal freudig, wütend, ängstlich und auch mal traurig!«

Der Stimmungswürfel

Alter ab 2,5 Jahre
Zeit ca. 10 Minuten
Sozialform: Paar- oder Gruppenspiel
Material: Stimmungswürfel

So geht’s

Eine Kleingruppe (2 bis 4 Kinder) wirft im geheimen Kreis einen Stimmungswürfel. Den anderen Mitspielern bleibt das Ergebnis verborgen. Nun stellt die Kleingruppe das gewürfelte Gefühl mimisch, gestisch und mithilfe von Lauten dar. Während ihrer Vorführung versuchen die anderen Kinder, zu erraten, welches Gefühl dargestellt wird. Wer es als Erster errät, darf eine eigene kleine Gruppe zusammenstellen und erneut würfeln. Ratsam ist eine anschließende Diskussion darüber, wie andere Kinder das Gefühl dargestellt hätten.

Tipp

Dieses Spiel macht den Kindern auch als Paarspiel große Freude. Dann gibt es wechselseitig einen Darsteller und einen Rater. Übrigens: Fertige Stimmungswürfel können Sie im Handel kaufen. Schöner ist es, wenn Sie unbemalte Holz- oder Schaumstoffwürfel gemeinsam mit den Kindern gestalten.

Der Wutsack

Alter: ab 18 Monate
Zeit: 3 Minuten
Sozialform: Einzelspiel
Material: Leinensack, Füllmaterial, Seil, Deckenhaken

So geht’s

An einem dicken, mit weichem Material gefüllten Leinensack kann sich so mancher Wutkandidat abreagieren! Befestigen Sie einen solchen Wutsack an der Decke Ihrer Einrichtung, hängen Sie noch kleine Box- oder dicke Wollhandschuhe daran und schon können die Kinder ihre Aggressionen ungefährlich und effektiv ablassen.

Tipp

Den Wutsack sollte ein Fachmann befestigen, um eine sachgerechte Aufhängung zu garantieren und Verletzungen zu vermeiden.

Die Spiele haben wir aus folgender Spielekartei: (Illustrationen: Katharina Reichert-Scarborough, München)

cover-kartei-u3

Die U3-Spielekartei – Gefühle, Rituale, Wahrnehmung
Liebertz, Charmaine
Oberstebrink
ISBN: 9783963046032
14,95 €




Kinder brauchen freie Spielflächen

brachland

Projekt der Stadt Mannheim „Bra(u)chland“ fragt nach frei zugänglichen Flächen für Kinder

Mit wachsenden Städten verschwinden immer mehr freie Spielflächen für Kinder. Das Projekt Bra(u)chland der Stadt Mannheim leitet sich vom Begriff Brachland ab und fragt danach, wie sehr Kinder brachliegende und frei zugängliche Flächen in Städten als Freiraum brauchen und weitergedacht, als Lebensraum für Pflanzen und Tiere gebraucht werden. Mehr zum Projekt

buga-brauchland

Das „Bra(u)chland“ auf der Bundesgartenschau ist eine etwa 500 Quadratmeter große Fläche, auf der verschiedene Naturmaterialien wie Erde, Lehm, Holz, Steine usw. für das freie Spiel zur Verfügung stehen. Schon die ganz kleinen stapeln dort fleißig Stein auf Stein, graben in der Erde oder bauen mit Ästen kleine Hütten oder Kunstwerke. Es gibt keinen Bauplan, kein festgeschriebenes Bildungsziel. Kinder können ihrer Kreativität in der Natur und mit Naturmaterialien freien Lauf lassen, deren Konsistenz erfahren und erforschen. Sie können ungestört werkeln, das Werk im Anschluss wieder umbauen, abbauen oder dem Erdboden gleich machen. Das Projekt könnte Anregungen geben für eine zukünftige Stadtplanung, aber auch Ideen für die Gestaltung des Außengeländes einer Kita.

Entdecke das Spieleland

Direkt neben dem Brauchland liegt das Spieleland, dort können sich die Gäste auch Werkzeug für das Brauchland ausleihen. Ansonsten können im „Spieleland“, die kleine und große Gäste der BUGA 23 gemeinsam spielen. Es gibt ein vielfältiges und buntes Angebot aus Brett-, Karten- und Tischspielen, auch kleine Bastelangebote.

Diese beiden Angebote der Jugendförderung sind bis zum Ende der BUGA 23 montags, dienstags, donnerstags, freitags und samstags jeweils von 14 bis 18 Uhr nutzbar sowie sonntags zwischen 12 und 16 Uhr.

Unter dem Titel „Entdecke das Spieleland“ besteht die Möglichkeit für Kinder- und Jugendgruppen, über die zentrale Kartenhotline das von der Jugendförderung im Fachbereich Jugendamt und Gesundheitsamt betreute Gelände für eigene Aktivitäten zu buchen.

Am Samstag, den 8. Juli 2023, findet auf der Freizeitwiese der BUGA23 beim „Spieleland/Bra(u)chland“ von 14 bis 19 Uhr eine große Spielaktion statt. Diese Spielaktion bildet den Abschluss des Fachtages „Natürlich spielen!“ der Fachstellen Spiel- und Naturpädagogik der Jugendförderung und des Verbandes Spielmobile e.V. Durch die Angebote mehrerer Spielmobile aus Deutschland ist an diesem Tag ein spannender und ereignisreicher Besuch der BUGA garantiert. Spiel, Spaß, Bewegung sowie die Nutzung des Naturerfahrungsraumes „Bra(u)chland“ versprechen ein eindrucksvolles Erlebnis für alle Kinder.

BUGA  23: Campus – Lernort für einen Sommer

Das BUGA  23: Campus- Bildungsprogramm soll ein Bewusstsein für die Leitthemen Klima, Energie, Umwelt und Nahrungssicherung schaffen und so nachhaltiges Lernen mit viel Spaß für alle Altersgruppen ermöglichen. Besucher:innen sollen praxisnahe Impulse für den eigenen Alltag bekommen.

Ein wichtiger Fokus liegt auf den Angeboten für Schulen. Anliegen ist die Förderung und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen mit dem Programm „BUGA macht Schule“ und dem „Feriencampus“ mit ein- bis mehrtägigen Ferienangeboten. Die Schulworkshops sind täglich von Montag bis Freitag.

Insgesamt bietet der Campus rund 2.000 Veranstaltungen während der Bundesgartenschau 2023 bis zum 8. Oktober 2023 an.

Das gesamte Campus Bildungsprogramm finden Sie hier

BUGA MACHT SCHULE

Die Angebote für Kindergartengruppen und Schulklassen finden täglich von Montag bis Freitag statt. Feiertage sind ausgenommen. In den Workshops, Führungen und Aktionen werden Kinder und Jugendliche selbst zu kreativ Forschenden.

Das Programm finden Sie hier.

Anja Lusch




Ein kleines Plädoyer für die Naturpädagogik

Einen besseren Entwicklungs- und Bildungsraum als die freie Natur gibt es nicht

Das Ziel der Natur- und Umweltpädagogik sei es, bei der Bevölkerung eine Grundlage für ökologisch sinnvolles Handeln, Verhalten und Entscheiden zu legen, heißt es in der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Ähnliche Zielformulierungen finden sich an vielen anderen Orten im Internet wie in Fachbüchern und -beiträgen. Sie sagen im Kern alle nur eines aus: Wir haben uns so weit von der Natur entfernt, dass sie mittlerweile vor uns geschützt werden muss. Mit Hilfe gezielter Maßnahmen sollen wir deshalb wieder zu einem vernünftigen Verhalten gegenüber der Umwelt finden.

Wo hat das angefangen? Wann haben so viele die Wertschätzung gegenüber ihrer Umwelt verloren? In unserem Kindergarten hatten wir vor Jahrzehnten das Außengelände in einen naturnahen Raum nach den Gedanken von Hugo Kükelhaus umgebaut. Einige Zeit später verkaufte die Gemeinde einen Teil des Geländes an den lokalen Fernsehsender. Als sich Fachkräfte und Eltern gemeinsam dagegen auflehnten, erklärte einer der Stadträte, er schenke dem Kindergarten zwei Laubfrösche. Damit könnten sie dann zufrieden sein.

Dieser Form der Ignoranz begegnen wir tagtäglich in vielfältiger Weise. Dahinter steckt oft die Meinung, Naturräume seien etwas Selbstverständliches, das keiner besonderen Beachtung bedarf. Deshalb sei auch der Schutz der Natur so etwas wie das Sahnehäubchen oder die Kür, die eine Gesellschaft zu leisten hätte. An erster Stelle stehe die wirtschaftliche Leistung.

Auch wenn dieses Bild in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Risse aufweist, gleicht das gesellschaftliche Handeln oftmals noch immer dem der Ignoranten. Dabei sichern und Natur und Umwelt nicht „nur“ unser Überleben. Sie sind auch unsere besten Lehrmeister. Wer einmal mit Kindern ohne Zeitdruck einen Spaziergang gemacht hat, erlebt das unweigerlich.

Kinder lernen am besten über alle Sinne und die Natur hält dafür das perfekte Repertoire bereit.

  1. Sie bietet einen Überfluss an visuellen Reizen im Kleinen wie im Großen.
  2. Das Laub raschelt, die Vögel zwitschern, der Bach plätschert. Wer richtig hinhört, entdeckt die enorme Vielfalt auditiver Reize. Schließlich hat die Natur noch etwas zu bieten, was es ganz selten gibt: Stille.
  3. Es riecht nach Erde, Blättern, Gräsern und vielem mehr.
  4. Zahlreiche Früchte, aber auch Blätter und Gräser laden zum Schmecken ein.
  5. Und schließlich lässt sich fast alles betasten.

All das gibt es hier kostenlos und ohne zu überreizen. Das Gehirn kombiniert diese Reize und lernt daraus. In diesem Erfahrungsraum lässt sich wunderbar toben, forschen und entdecken. Die motorischen Fertigkeiten werden ebenso gut gefördert wie Konzentration, Analysefähigkeit, Kreativität und vieles mehr. Das sind die wesentlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die künftige Landschaftsgärtner ebenso benötigen wie High-Tech-Entwickler. Erst vor ein paar Wochen hat Armin Krenz in seinem Beitrag „Die Natur als Entwicklungsraum für Kinder“ gleich zu Anfang festgestellt: „Wer mit Kindern in der Natur unterwegs ist und dabei mit allen Sinnen wahrnimmt, welche selbstbestimmten Tätigkeiten Kinder genussvoll ausführen, wird kaum in der Lage sein, alle Beobachtungsmöglichkeiten zu registrieren und in einem Protokoll festhalten zu können.“

So bleibt die Frage, warum wir mit den Kindern so wenig rausgehen, wenn es doch eigentlich keinen besseren Erlebnis- und Lernraum gibt. Spielt die Natur im Leben der Kinder keine große Rolle mehr? Hat der Kindergarten nicht die Aufgabe, die grundlegende Naturerfahrungen zu vermitteln und einen altersgerechten Zugang zu vermitteln? Diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten. Mit digitalen Medien können wir diese sinnlichen Bildungsräume nicht ersetzen. Die Gefahr ist groß, dass viele Kinder den natürlichen Bezug zu ihrer Umwelt niemals erfahren.




Neue Studie zu alten Herausforderungen: Schulen im Brennpunkt

Kinder starten mit deutlich schwierigeren Lernvoraussetzungen

Kein Kita-Besuch, kaum elterliche Unterstützung, mangelnde Sprachkenntnisse – Schulen im sozialen Brennpunkt haben mit extremen Bedingungen zu kämpfen. So geben beispielsweise 75 Prozent der befragten Schulleitungen in der Studie „Schule im Brennpunkt 2023“ des impaktlab der Wübben Stiftung Bildung an, dass Kinder beim Schuleintritt einen hohen Unterstützungsbedarf im Bereich der Sprachkompetenzen haben. Zudem zeigt die Befragung, dass 17,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Schulen im Brennpunkt keine Kindertagesstätte besucht haben, im bundesweiten Vergleich sind es 8 Prozent. Mehr als jedes vierte Kind hat darüber hinaus bereits traumatische Lebenserfahrungen gemacht (etwa Flucht). Mit 100 Prozent sagen alle befragten Schulleitungen, dass die mangelnde elterliche Unterstützung das schulische Lernen der Kinder und Jugendlichen stark beeinträchtigt. Eine besonders große Barriere für die Zusammenarbeit mit Eltern ist laut der Befragung die Sprache. In der Studie, die heute anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Stiftung veröffentlicht wurde, haben Schulleitungen aus vier Bundesländern die aktuelle Situation und die Herausforderungen an ihren Schulen dargestellt und bewertet.

Dr. Markus Warnke, Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung, erklärt dazu: „Unsere Studie zeigt, dass sich ungünstige Lernvoraussetzungen häufen und es für Schulen im Brennpunkt daher sehr viel schwieriger ist, ihren Bildungsauftrag zu erfüllen als für Schulen in anderen Lagen. Darauf muss Politik reagieren und diese Schulen gezielt unterstützen. Denn alle Kinder und Jugendlichen haben ein Grundrecht auf Bildung.“

Kaum Passung von Lehrplänen und Lehrwerken

Die schlechten Lernvoraussetzungen von Schülerinnen und Schülern im Brennpunkt wirken sich auch auf die Passung der Lehrpläne und Lehrwerke aus, die in den Schulen genutzt werden. Mit 80 bzw. 70 Prozent hat die überwältigende Mehrheit der Leitungen der Schulen im Brennpunkt angegeben, dass sich die gängigen Lehrpläne und Lehrwerke nicht für die Kinder und Jugendlichen eignen. Das betrifft sowohl das Schwierigkeitsniveau und den Umfang als auch die inhaltlich-thematische Ausrichtung, die nicht zur Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler passen.

Personal- und Raumnot als große Herausforderungen

Weitere Probleme an den Schulen im Brennpunkt sind die räumlichen und personellen Ressourcen. Diese bewerten über 70 Prozent der Schulleitungen als schlecht. Dieser Befund geht – auch das zeigt die Befragung – mit hohen Belastungen bei dem Kollegium und den Schulleitungen einher. Trotz der besonderen Anforderungen hat mehr als die Hälfte der Schulleitungen angegeben, auf jeden Fall an ihrer Schule bleiben zu wollen. Weiterhin sind mehr als 70 Prozent davon überzeugt, dass sie die Bildungschancen der benachteiligten Schülerinnen und Schüler verbessern können.

Schulleitungen liefern Empfehlungen für Bildungsverwaltung und Politik

Um Hinweise aus diesen Ergebnissen ableiten zu können, hat die Wübben Stiftung Bildung acht Schulleitungen aus vier Bundesländern gebeten, ihre Ideen für eine bessere Unterstützung der Schulen im Brennpunkt aufzuschreiben. In der entstandenen Publikation „Chancen schaffen: Zur Situation von Schulen im Brennpunkt“ liefert das Autorenteam konkrete Empfehlungen für die Bildungsadministration und Bildungspolitik. Zu diesen zählen insbesondere eine frühzeitige sprachliche und motorische Förderung mit einer obligatorischen Vorschule, eine sozialindexbezogene und faire Personalzuweisung, Flexibilität bei der Umsetzung der Curricula und ein eigenverantwortliches und sozialindexbasiertes Chancenbudget.

Dr. Markus Warnke: „Mit Blick auf das Startchancen-Programm, das Schulen in herausfordernden Lagen unterstützen soll, haben sich bisher vor allem Bund und Länder ausgetauscht. Entscheidend ist aber auch mit den Schulen in Brennpunkten ins Gespräch zu kommen. Dafür bieten diese beiden Publikationen eine gute Grundlage und viele Anknüpfungspunkte.“

Hintergrundinformationen zur Studie und Stichprobe

Die Befragung „Schule im Brennpunkt 2023“ des impaktlab der Wübben Stiftung Bildung wurde zum ersten Mal durchgeführt. Ziel ist es, die Situation an Schulen im Brennpunkt systematisch sowie länder- und schulstufenübergreifend zu erfassen. In die Auswertung wurden nur Schulen aufgenommen, in denen entweder mindestens 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine andere Herkunftssprache als Deutsch haben oder mindestens 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus Familien kommen, die Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch erhalten (z. B. Arbeitslosengeld). Die Ergebnisse basieren auf den Einschätzungen von insgesamt 149 Schulleitungen aus Grundschulen und weiterführenden Schulen in vier deutschen Bundesländern. In der Befragung wurden folgende Bereiche in den Blick genommen: Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler, Lernen in Schule und Unterricht, schulische Ressourcen, Personal an der Schule, Eltern als Bildungs- und Erziehungspartner sowie Leitung an der Schule. Darüber hinaus sind Fragen zu der größten Herausforderung sowie positivsten Entwicklung der letzten Jahre an den Schulen eingeflossen.

Über das impaktlab

Das impaktlab ist die wissenschaftliche Einheit der Wübben Stiftung Bildung. Auf Basis wissenschaftlicher Analysen und praktischer Erkenntnisse gibt es Impulse in das Bildungssystem, um die Situation an Schulen im Brennpunkt zu verbessern.

Über die Wübben Stiftung Bildung

Die Wübben Stiftung Bildung ist eine 2013 gegründete private Bildungsstiftung mit Sitz in Düsseldorf. Ihre Vision ist es, dass alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft gerechte Bildungschancen erhalten. Dafür ist ein Bildungssystem notwendig, das genau das besser gewährleisten kann. Um dieser Vision näher zu kommen, berät, begleitet und unterstützt die Wübben Stiftung Bildung Akteure des Bildungssystems bei der Weiterentwicklung von Schulen im Brennpunkt.

Zur Publikation: Schule im Brennpunkt 2023: Eine Befragung des impaktlab der Wübben Stiftung Bildung: https://www.wuebben-stiftung-bildung.org/wp-content/uploads/2023/05/WSB_Schulen_im_Brennpunkt_Web.pdf

Tamara Endberg-Krenn, Wübben Stiftung Bildung




Die neue Kindheit und ihre emotionale Situation

trauriges kind

Oder, warum Herzensbildung heute wichtiger ist denn je

Wenn achtjährige Kinder aufeinander einschlagen und hemmungslos auf dem Boden liegende Erstklässler treten, wenn Zehnjährige sich als Bildschirmhelden omnipotent fühlen aber letztendlich einsam sind, wenn Jugendliche ihre Mitschüler erpressen und ihre Lehrer körperlich bedrohen, dann ist die Frage „Was ist los mit der neuen Generation?“ längst überfällig.

Natürlich waren früher Rangeleien unter Kindern auch an der Tagesordnung. Heute jedoch rollt eine Aggressionswelle von bislang einmaligem Ausmaß auf Elternhaus, Kindergarten und Schule zu. Der Direktor des Instituts für kriminologische Sozialforschung an der Uni Hamburg, Prof. Dr. Scheerer, erläutert, dass 34 % der Gewalttaten in Deutschland von Kindern und Jugendlichen begangen werden – also jede dritte Tat – obwohl sie nur 23 % der Bevölkerung ausmachen! Dabei gehen 90 % der Gewaltkriminalität auf das Konto junger Männer; hier gibt es die meisten Täter und Opfer. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die brutalen Helden aus den Medien die jungentypischen Größenphantasien prägen. Der amerikanische Psychologe Daniel Goleman warnt:

„Das Risiko von Gefühlsausbrüchen nimmt zu, weil wir unsere emotionale Intelligenz nicht schulen, während die Angst im Alltag wächst. Wir rechnen an jeder Straßenecke mit Gefahren. Mehr und mehr Leute, vor allem Jugendliche tragen Waffen. Die drücken einfach ab, wenn der Verstand von der Angst überrumpelt wird. Tatsächlich gibt es heute Kinder, die ein neutrales Gesicht nicht von einem feindlichen unterscheiden können. Sie schlagen ein anderes Kind, weil sie dessen Gesichtsausdruck falsch interpretieren.“

Nicht jedes Kind reagiert auf die fortschreitende Vereinsamung, emotionale Kälte und soziale Heimatlosigkeit mit Gewalt. Manche verhalten sich unsicher, wählen den Rückzug nach innen und stehen traurig abseits des Geschehens. Diese Außenseiter sind nur leiser als die Hau-drauf-Kandidaten, aber sie sollten uns nicht weniger Sorgen machen, denn unter ihnen leiden viele an Depressionen, Schlafstörungen und Nervosität.

Mein Freund, der Bildschirm

Viele Kinder wissen heute mehr über ihren Lieblingsdarsteller in einer soap-Sendung als über ihren Klassenkamaraden. Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Peter Struck warnt: „Kinder sind früher mit Menschen aufgewachsen, heute leben sie überwiegend mit Sachen und Bildschirmen, so dass ihre Bilanz nicht stimmt. Viele von ihnen sind in die innere Emigration gegangen, privatisieren stundenlang hinter einer verschlossenen Tür allein mit dem Bildschirm.“ Dort schauen sie wöchentlich bis zu 40 Stunden lang Fernsehen; dabei sehen sie 800 Gewalttaten und 150 Morde! Laut einer UNESCO-Studie hat ein zwölfjähri- ges Kind im Laufe seines Lebens 14.000 Morde im Fernsehen erlebt! Und wenn, wie dieses Jahr geschehen, ein 15-jähriger ostdeutscher Jugendlicher seinen Selbstmord über einen chatroom im Internet verkündet, so ist dies nicht nur ein persönlicher Hilferuf, sondern der einer ganzen Generation, die weniger virtuelle Kommunikation als vielmehr menschliche Begegnung braucht.

Ein Vakuum, das die Industrie gewinnbringend zu nutzen weiß: Vorbei sind die Zeiten der unpersönlichen Handys. Für mehr persönliche Ansprache sorgen Buddys d. h. digitale Wesen, die allerlei sinnvolle Dinge erledigen wie z. B. Zugverbindungen heraussuchen. Die guten Geister verfügen über eine sogenannte emotionale Intelligenz: Sie können lachen, traurig und auch muffelig sein, je nachdem, wie sie behandelt werden. Sie reagieren auf ihre Umgebung mit vielen unterschiedlichen Wesenszuständen – von ausgelassener Freude bis hin zum Wutanfall. Sie lernen ständig hinzu und entwickeln allmählich ihre eigene Persönlichkeit. „Die Wahrscheinlichkeit, dass einer dem anderen gleicht, ist eine Million Mal geringer als die Chance auf eineiige Drillinge“, sagt Andreas Höss, der Vater dieser guten Geister, die er in seiner Firma in Potsdam/ Babelsberg kreierte. Dabei erfüllte er sich den alten Kindheitstraum mit dem Teddy oder der Puppe kommunizieren zu können.
Diesen Traum nach ständigem Gefragt- und Wichtigsein scheinen viele Kinder auch in ihrer SMS-Sucht auszuleben. Für das Jahr 2002 meldete das Wirtschaftsinstitut IW allein in Deutschland 14 Milliarden SMS-Botschaften, wobei die Altersgruppe der 12- bis 25-jährigen überwiegt! In Skandinavien, wo das Handy zur Grundausstattung gehört, ist der SMS-Entzug längst zum Tagesgeschäft vieler Kliniken geworden.

Wie gut sich die Sehnsucht nach Emotionen vermarkten lässt, zeigt die zweite Generation der Tamagotchis aus Tokyo. Jetzt brauchen diese Plastikwesen nicht nur die Aufmerksamkeit ihrer Besitzer, sondern auch die Liebe von Artgenossen, also eines zweiten Tamagotchis. Diese beiden können dann heiraten und virtuellen Nachwuchs in die Welt setzen.

Es gibt Kinder, die in ihrer Kindheit so wenig Zärtlichkeit und Liebe erhalten, dass sie sich von Menschen verraten fühlen. Sie errichten innere Schutzmauern, um nicht mehr enttäuscht, gekränkt und verletzt zu werden. Mit diesem Gefühlspanzer suchen sie die verlockende und scheinbar unkomplizierte Bindung zu ihren Bildschirm-Freunden (Fernseher, Gameboy, Playstation, Computer usw.). Sie verdrängen Isolation und Langeweile, kompensieren Stress und Einsamkeit, verschaffen Erfolg und Kick. Die Psychologin Jirina Prekop8 erläutert, wie schnell Kinder dabei in einen Teufelskreis geraten: „Je mehr sich der Mensch der Realität der Mitmenschlichkeit entzieht, umso mehr sucht er das Scheinbare. Und je mehr er im Scheinbaren seine Scheinidentität sucht, desto mehr entfernt er sich von der Realität der Mitmenschlichkeit.“ Dazu bemerkte Woody Allen treffend: „Das Schlimmste am Fernsehen ist, dass es von der Einsamkeit ablenkt.“

Ob die virtuelle Welt die kindliche Entwicklung gefährdet, ist wie so oft in der Erziehung eine Frage des richtigen Maßes und der Gegengewichte. Der Göttinger Pädagoge Karl Gebauer meint: „Ich denke, dass Jugendliche mit einem guten Selbstbewusstsein keine Gefahr laufen, die Realtität mit der virtuellen Welt zu verwechseln. Nicht das Spiel an sich stellt die Gefahr dar. Sondern erst die doppelte Dosis: Wenn Jugendliche ohne Selbstbe- wusstsein, ohne emotionale Kompetenz und sichere Bindungen Gewaltspiele spielen, dann wird’s gefährlich.“

So – glauben zumindest die Experten – könnte der explosive Cocktail aus virtuellem Gewaltvorbild und realem Minderwertigkeitsgefühl beschaffen sein. Es erstaunt allerdings, dass nach dem Amoklauf an einem Erfurter Gynasium ganz Deutschland ratlos vor dem angeblich Unverständlichen stand, aber bis heute keine Studie in Auftrag gegeben wurde, die danach fragt „Was passiert mit Jugendlichen, die sich vorwiegend in virtuellen Welten aufhalten?“.

Vom Schwinden der Vorbilder

Aber was nutzt das Wehklagen über die Erfurter Tat, reden wir über die Gesellschaft, die wir Erwachsene gestalten und in der unsere Kinder aufwachsen. Denn schließlich geht jedem Amoklauf die emotionale Kälte und der soziale Tod voraus. Schon lange warnen Experten vor dem Laisser- faire-Stil und der „anything goes“-Haltung, die Kindern zu wenig Orientierung und verlässliche Werte bieten. Ein gesellschafticher Konsens herrscht allerdings in den Forderungen an die neue Generation: Leistung, Karriere und Geld! Nicht erst nach der PISA-Studie droht ein neuer Leistungswahn, eine fieberhafte Jagd nach Privilegien, ein selbstverständlicher Narzissmus und eine hysterische Abstiegsangst, die alle Erfolgsprediger um den Schlaf bringt.

Auch wenn’s unangenehm ist, so müssen wir uns bei der Charakterisierung der neuen Kindheit einige Fragen gefallen lassen:
Was leben wir unseren Kindern in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft vor? Sind sie nicht auch Opfer unserer Ellbogengesellschaft, die Skrupellosigkeit, Egoismus und Gefühlskälte nach dem Motto „Das ist dein Problem“ erst salonfähig gemacht hat? Der Maßstab der globalisierten Wirtschaft ist Profit; all ihr Trachten zielt auf Erfolg und Macht. Aber wenn in der freien Wirtschaft der Ellbogen siegt und privat die ausgestreckte Hand erwünscht ist, dann stecken wir im Zwiespalt: Morgens verlassen wir die Wohnung in Raubritterkleidung und abends streifen wir den Bademantel der sanften Eltern über. Mal ehrlich, wie authentisch sind wir da noch in unserer Erzieherrolle? Solange die Wirtschaftskriminalität in Deutschland eine Zuwachsrate von 80 % hat, solange Unternehmen vor lauter Hörigkeit zum globalen Markt ihre kommunale Verantwortung vergessen, solange Politiker Korruptionsgelder als peanuts bezeichnen und dennoch von uns wiedergewählt werden, solange ist es nicht weit her mit unserem moralischen Vorbild.

Kein Wunder, dass unser Kraftfutter gegen soziale Verantwortungslosigkeit und emotionale Kälte eher mager ausfällt. Die meisten verhaltensauffälligen Kinder, alkohol- und drogensüchtigen Jugendlichen haben eines gemeinsam: Ihnen fehlt etwas, was jeder Mensch braucht, um sein Leben ausgeglichen zu meistern: Strategien der Problemlösung. Statt- dessen ersticken die Kids ihre Probleme in Bonbons, Spielsachen und Geldscheinen. Dass sie dabei immer einsamer werden und nach menschlicher Wärme lechzen, dies weiß die Industrie mit ihrem ausgetüftelten Konsumangebot geschickt zu nutzen.

Das Gefühlsangebot der vielen Ein-Eltern-Familien, der doppelbelasteten Alleinerziehenden wirkt dagegen kümmerlich und karg. Aber auch in Zwei-Eltern-Familien regiert oft das Motto „Jeder tut das, worauf er gerade Lust hat“. So sitzen zum Beispiel nach einer Studie der GfK-Fernsehforschung mehr als die Hälfte aller Verheirateten getrennt vor der Röhre. Wenn sich ein Paar schon nicht auf ein Fernsehprogramm einigen kann, wie will es dann seinen Kindern Vorbild für friedliche Konsensfindung sein?
Doch es kommt noch ärger: Die Studie Kinderwelten 2002 offenbarte „Kinder haben keine Eltern mehr!“ Im Auftrag des Kindersenders Super RTL wurden ca. 1.000 Kinder zwischen sechs bis 13 Jahren und jeweils ein Elternteil zu ihrem Verhältnis befragt. Erschreckendes kam zutage: Fast einem Fünftel der Eltern sind ihre Kinder völlig egal! 12 % erwiesen sich als wenig familiär und 34 % stuften ihre Rolle immerhin als Aufpasser oder Behüter ein.

Aber auch die Schule lässt zu wünschen übrig. So stellte das LBS-Kinderbarometer, das alle fünf Jahre die Wünsche und Ängste von Kindern in NRW untersucht, fest, dass 42,5 % der befragten Kinder auf den Schulstress mit Kopf- und Bauchschmerzen reagieren. Eine Studie in über 43 Schulen in Schleswig-Holstein ermittelte, dass jeder zehnte Schüler unter Mobbing leidet. Aber nur jeder dritte Lehrer sei bereit, – obwohl er weiß, dass seine Schüler leiden – mit ihnen darüber zu sprechen! Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Peter Struck mahnt: „Das ist ein Spiegelbild der aktuellen Schulmisere: Zeit ist nur für Unterricht vorgese- hen, aber nicht für die individuelle Not einzelner Schüler und ihrer Familien.“
Wir Erwachsene sollten nicht vergessen, dass wir alle Veranstalter und Regisseure der Neuen Kindheit sind: Wer produziert Gewaltvideos, wer erfindet sprechende Kuscheltiere, wer lässt Kinder stundenlang allein fernsehen, wer lässt Mobbing in Schulklassen zu …?

Auf der Suche nach Identität

Immer mehr Kinder beziehen ihre Identität aus der Interaktion mit den Medien. Fernab vom realen Leben stattet sie die virtuelle Welt mit der ersehnten Omnipotenz aus und schenkt ihnen Beachtung. Per Knopfdruck erwerben sie rasch und mühelos ihre ideale Identität, die ihnen das reale Leben verwehrt. Soziologen sprechen inzwischen von Patchwork-Identitäten, in denen nebeneinander stehende Selbstkonzepte die Lebensentwürfe prägen. Kinder und Jugendliche zappen sich je nach Bedarf und Lebenssituation in verschiedene Rollen und verkleiden ihr Ich. In dieser künstlichen Identität verbringen sie oftmals mehr Zeit als in ihrer realen. Viele Psychologen und Soziologen warnen angesichts der Zunahme an hyperaktiven Kindern, Autisten, verwöhnten und lebensuntüchtigen Egoisten und narzisstischen Singles vor einer globalen Identitätskrise. Der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp beschreibt sie als ein Gefühl des Entbettet-Seins der Personen, als Vielfalt der Lebensformen und individualisierte Sinnsuche, die Heranwachsende vor neue Herausforderungen stellt. Waren sie gestern noch dazu verdammt in einer engen Lebenswelt mit festen Werten und Normen zu leben, so werden sie heute von individuellen Wertesystemen geradezu überrollt. Die Verbindlichkeit ist gewichen und nicht selten tritt an ihre Stelle die Beliebigkeit, die Ambivalenz der postmodernen Identität.


Diesen Text haben wir aus folgendem Buch:


Der Konsens über gesellschaftliche Werte wird immer geringer; allgemein gültige Erziehungsziele sind verpönt und während wir Erwachsene so dahin lavieren, befindet sich die Neue Kindheit längst auf der Suche nach neuen Maßstäben, Aufmerksamkeit und emotionaler Zuwendung. Ein gefundenes Fressen für Rattenfänger, denn: „Jede Sucht beginnt als Sehnsucht in der Kindheit.“

Immer mehr Jugendliche sind süchtig nach dem thrill, dem emotionalen highlight, nach Castings, Shows und Starrummel, in denen sie endlich wahrgenommen werden, so glauben sie zumindest. Die individuelle Sinnsuche erfordert von den Kindern und Jugendlichen ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit, dem sie meist nicht gewachsen sind. In einer Gesellschaft, in der der Wert des Menschen schon im Elternhaus nach der vermeintlichen Leistungsfähigkeit taxiert wird, droht die Seele zu verdursten.

Eines ist gewiss: Die Atmosphäre in Kindergärten ist angespannter denn je. Schnell können Gefühle hochkochen und sich in körperlicher Gewalt entladen. Das individuelle Lustprinzip nimmt Überhand, Anweisungen der Erzieher, die früher schweigend befolgt wurden, müssen heute mit jedem Einzelnen diskutiert werden. Der Satz Ich habe aber keine Lust fordert immer wieder von neuem die Überzeugungskraft der Erzieher heraus.

Unbestreitbar ist aber auch: Noch nie waren Kinder so selbstbewusst, sagten sie so offen ihre Meinung und engagierten sich so vehement für Gerechtigkeit wie heute.

Auch wenn es genügend Anlass gibt, sich um das emotionale Befinden der Neuen Kindheit zu sorgen, so gibt es immerhin Licht am Ende des Tunnels: Die Schüler in NRW sind führend, wenn es um die Mitmenschlichkeit geht. Der Länderbericht der Pisa-Studie15 gibt ihnen die Bestnote für soziales Verhalten. In keinem anderen Bundesland sind die Kinder so sehr bereit, für sich und für ihre Mitmenschen Verantwortung zu übernehmen.

Was Pädagogen beherzigen sollten

  • Immer wenn die Werbung Ihnen vorgaukelt „Wenn du dein Kind liebst, dann kauf ihm …!“ dann denken Sie daran, dass Berge von Besitztümern (Spielzeug, Handy, Computer usw.) kein Kind auf Dauer im tiefsten Innern seiner Seele glücklich machen. Wenn Sie mal das schlechte Gewissen plagt, dass Sie zu wenig für das Kind da sind, dann hilft kein großer Kaufrausch sondern nur ihre Präsenz als liebevolles und verständnisvolles Wesen.
  • Denken Sie daran, im Unterricht spielt der Stoff zwar eine wichtige Rolle aber nicht immer die wichtigste! Schließlich stehen der objektiven Wissensvermittlung die berechtigten subjektiven Bedürfnisse der Schüler gegenüber.
  • Im Wettkampf mit den virtuellen Erziehungsagenten wie Fernsehen, Computer, Tablet oder Smartphone müssen wir Pädagogen mehr denn je den Respekt vor der Würde des Menschen, die Fähigkeit zur Empathie und die persönliche Begegnung fördern. Wir können uns nicht länger hinter den Strategien der Wissensvermittlung verschanzen und in Sachen Herzensbildung ein ungenügend abliefern, während die Kinder orientierungslos nach starken Vorbildern suchen.