Das Erziehungs- und Bildungsverständnis in der Waldorfpädagogik

Die Eigenaktivität des Kindes – ein biopsychosoziales Grundbedürfnis

Der Entwicklungsneurologe Hans Georg Schlack bezeichnet die Eigenaktivität, die jedem Kind eigen ist, als spontane Freude am Erkunden, Lernen und Handeln. Jedes Kind will Akteur seiner Entwicklung sein. Seinem biopsychosozialen Grundbedürfnis hat pädagogisches Handeln zu entsprechen. Befunden der frühkindlichen Deprivationsforschung zufolge „lassen sich vier psychische Grundbedürfnisse in der frühen Kindheit formulieren, von denen jeweils zwei in einer polaren (gegensätzlichen) Beziehung zueinanderstehen:

Grundbedürfnis nach

Bindung und Sicherheit <–> Autonomie und Eigenaktivität

Berechenbarkeit und festen Regeln <–> Abwechslung und neue Reize

Aktives Erkundungs- und Lernverhalten setzt eine ,sichere Basis’ voraus, und umgekehrt werden diese Aktivitäten blockiert, solange die Aktivitäten und Energien des Kindes dafür in Anspruch genommen werden, sich der Bindung versichern zu müssen“ (Schlack 2005, S. 42).

Auf die kindliche Eigenaktivität wirken positiv emotionales Interesse, unmittelbare und regelmäßige Rückmeldung sowie responsives Verhalten der Erzieherin. Responsivität überlässt dem Kind die Initiative zur Kontaktnahme mit Menschen und Gegenständen, reagiert bestätigend auf initiatives Verhalten, falls erforderlich auch korrigierend. Negativ wirkt auf die Entwicklung des Kindes ein Verhalten der Beziehungsperson, das ein Kind in eine passive Rolle bringt, sei es aus Mangel oder Übermaß an Anregung.

Die Befunde weisen nachdrücklich auf die fundamentale Bedeutung der Eigenaktivität bei Kindern mit biologischen Risiken (Frühgeborene), bei blinden, schwerhörigen, kognitiv beeinträchtigten oder bewegungsgestörten Kindern hin. Es handelt sich bei der Selbstentwicklung aus eigener Initiativkraft um ein Prinzip, das für alle Kinder zutrifft und dem die Erzieherin durch ihr Vorbild wie in einem Resonanzraum zu entsprechen sich bemüht (Näheres im Beitrag „Dem Resonanzbedürfnis des Kindes antworten“- ab 5.05.22 online).

Aus den entwicklungsneurologischen Erkenntnissen geht auch hervor, dass so genannte neue Krankheiten ursächlich damit zusammenhängen, dass Kinder nicht eigenmotiviert explorieren (untersuchen, forschen) konnten. Wird ihnen Lernfreude vorenthalten, dann können sie kein sicheres Selbstwertgefühl aufbauen. Schließlich verlieren sie die Lust am freien Spielgestalten und gewöhnen sich daran den passiven Konsum zu genießen. Auf diese Störung der Willenskraft (zur Selbstgestaltung) gehen zahlreiche Verhaltens-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen zurück.


In diesem Buch bringt Ferdinand Klein Rudolf Steiners Gedanken über die Erziehungs- und Bildungspraxis ins Gespräch. Dabei geht es auch um Humanisierung und die Entschulung der Schulen und Kindergärten, um grundlegende Orientierung am sich entwickelnden Kinder in der Lebenswirklichkeit hier und heute. Denn alles Forschen, Lehren, Erziehen und Bilden dient einer Aufgabe: Das (auf)gegebene individuelle Kind auf seinem Entwicklungsweg mit Herz und Tatkraft zu begleiten und zu leiten.

Waldorfpädagogik in Krippe und Kita
Einblick in eine ganzheitliche Praxis, die jedem Kind seinen individuellen Lebensweg ermöglicht
Klein, Ferdinand
BurckhardtHaus
ISBN: 9783963046100
208 Seiten, 25 Euro
Empfohlen vom Internationalen Archiv für Heilpädagogik

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Anerkennung des Ich als geistigen Wesenskern

Waldorfpädagogik versteht das Kind als Subjekt seines individuellen Erziehungs- und Bildungsprozesses, das auf seinem Entwicklungsweg achtsam so zu unterstützen und zu begleiten ist, dass sich seine veranlagten Potenziale in einem ausgewogenen Verhältnis frei entfalten können. Auf diesem Weg bedarf es einer Haltung und Handlung der Erzieherin, die das Kind in seiner unverfügbaren Individualität als Subjekt so wertschätzt, dass es sich mit seinen Sinnen in Freiheit entfalten kann und seine spätere Lebensgestaltungskompetenzen im Blick hat – und nicht die zu messenden Leistungen.

Am Ur-Bedürfnis des Kindes orientieren

Gegen curriculares Festschreiben verwertbarer Kompetenzen steht ein am Menschen orientiertes Verständnis, das danach fragt, was im Menschenkind veranlagt ist und sich in ihm entwickeln will, damit es seelisch gesund, sich wohl fühlt, resilient und selbstwirksam seine Ich-Stärke, Kreativität, Lebens- und Lernfreude, sein Interesse und seine Herzensbildung zusammen mit andern entwickeln kann. Bei diesem offenen und ganzheitlichen Bildungsauftrag für die frühe Kindheit fragt die Erzieherin: Wie unterstütze und begleite ich die Kinder so, dass sie sich in ihrem Körper und in der Gruppe so zu Hause fühlen und beheimaten können, dass sie ihr individuelles Entwicklungsbedürfnis und ihre Potenziale voll und ganz frei verwirklichen können?

Die Waldorferzieherin achtet darauf, dass jedes Kind mit der Geburt zwei Ur-Erfahrungen mitbringt: Beziehungswillen (Willen zur Verbundenheit und Beziehung) und Gestaltungswillen (Willen zum Gestalten und Wachsen). Sie hat einen Beziehungsraum zu schaffen, in dem sich die Potenziale entfalten können. Um dieser herausfordernden Aufgabe soweit wie möglich zu entsprechen, hat die Erzieherin auf sich selbst zu schauen und sich zu fragen: Wer bin ich und wie muss ich sein, damit sich das Kind in der von mir gestalteten Umgebung selbst erziehen kann?

Die Antwort kann durch vertiefte Selbstreflexion gefunden werden: durch das Gespräch mit sich selbst, über das unter drei weiteren Fragen nachzudenken ist:

  • Bin ich offen für die geistige Heimat, aus der das Kind kommt?
  • Bin ich dialogfähig und wie gestalte ich die Beziehungsangebote?
  • Bin ich in meinem eigenen Leib zu Hause und kann ich dem Kind ein Vorbild sein, an dem es sich selbst erzieht? (Glöckler/Grah-Wittich 2020, S. 31)

Mit dieser Fragehaltung antwortet die Erzieherin dem Beziehungswillen des Kindes: Sie ist bemüht, seinem Grundbedürfnis zu entsprechen und schenkt ihm Geborgenheit, Wärme und Vertrauen. Damit antwortet sie dem Gestaltungswillen des Kindes und ermöglicht ihm Freiheit, Autonomie und Kreativität. Auf dieser Basis

  • Willen zur Verbundenheit und Beziehung und
  • Willen zum Gestalten und Wachsen

entfaltet das Kind sein Denken, Fühlen und Wollen. Ziel der Erziehungs- und Bildungsarbeit ist es also, dass Kinder einerseits zu selbstbestimmten, andererseits zu beziehungsfähigen Menschen heranreifen. Stets geht es darum, dem Kind eine sichere Bindung und freies Erkunden zu ermöglichen, bei dem die Erzieherin wie ein Reflektor (Spiegel) für das Kind ist, damit es selbstwirksam tätig sein kann, seine Potenziale selbstbestimmt, also frei, autonom und kreativ, beziehungsfähig und vertrauensvoll entfalten kann. Die Erzieherin gibt durch ihr Dasein, durch ihre authentische und wertschätzende Haltung dem Kind eine Hülle für die Entfaltung seiner Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens, die in einem fortwährenden lebenserfüllten Wandlungsprozess sind. Das kann die Erzieherin auf ihre ganz persönliche Art (er)spüren und das Kind auf der Basis des Vertrauens begleiten und sich fragen: Was braucht gerade in diesem Moment dieses Kind von mir?

Dieser zu gestaltende Beziehungsraum achtet Kontinuität (Ausdauer, Beharrlichkeit) und Konstanz (Beständigkeit), die das Kind als haltend und schützend wahrnimmt. Zudem ist dieser Raum zu strukturieren. So kann durch die geschaffenen äußeren Strukturen das Kind diese verinnerlichen und auf einer sicheren Beziehungsbasis seine Welt erfahren. Um diesen Prozess verstehen zu können und Beziehungen förderlich zu gestalten und Räume zu strukturieren, braucht die Erzieherin ein intersubjektives Reflektieren und Verstehen. Sie braucht ein feines Gespür dafür wie sie dem Kind im Beziehungsraum (Resonanzraum) eine Hülle für seine Selbstwirksamkeit gibt.

Das Kind will mit allen Sinnen seine Welt erkunden

Beim Spazierengehen kommt ein Kind zu einer Eiche, sieht sie im Sonnenlicht stehen und entdeckt, dass sie einen Schatten auf den Boden wirft. Es umrundet den Baum und nimmt wahr, dass hinter der Eiche alles anders ist als vor der Eiche. Es fängt an die Eicheln zu sammeln: lauter kleine Eicheln. Nach einer Weile kommt es wieder um den Baum herum und beobachtet eine der Eicheln genauer. Gleich setzt es sich auf den Boden, steht bald wieder auf und läuft nochmals um den Baum herum. Durch diese Sinnesaktivitäten formt es sein Selbstbild an der Welt. „Indem es an bestimmten Stellen gründlich in die Tiefe geht, kann es die nötigen Wahrnehmungen machen, um in der Weltbegegnung Sicherheit zu gewinnen“ (Glöckler/Grah-Wittich 2020, S.123). In dieser Weltbegegnung (Anfassen der Eichel, Umrunden des Eichenbaumes, Einnehmen unterschiedlicher Standpunkte) begreift es, was eine Eichel und eine Eiche sind.

Bei dieser Begegnung mit der Natur und Kultur beobachtet das Kind seine es umgebende Welt, bildet dabei seine Denkfähigkeit weiter und gewinnt Sicherheit. Bei einem anderen bestimmten Baum, zum Beispiel bei einer Birke, macht es ähnliche Erfahrungen und erweitert dadurch seine individuelle Denkkraft. Es baut sich in der Einheit von Bewegen (Gehen), Sprechen und Begreifen seine Brücke zur Welt auf.

Diese Verbundenheit mit der Natur und Kultur hat auch Janusz Korczaks partizipative Pädagogik im Sinn. Für ihn kennt das Empfinden des Kindes keine Hierarchie: Es „leidet mit einem gequälten Pferd, mit einem geschlachteten Huhn. Der Hund und der Vogel sind ihm verwandt, Schmetterling und Blumen sind ihm ebenbürtig, im Steinchen und in der Muschel findet es seinen Bruder“ (Korczak 1999, S. 389).

Die Erzieherin kann sich fragen: Bin ich fähig, dieses Bedürfnis des Kindes, das die Welt erkunden will, aufmerksam wahrzunehmen und durch meine eigenen Intentionen einen Raum für die autonomen Impulse des Kindes zu schaffen?

Mit dieser Frage beherrscht sie nicht die Situation, sondern nimmt eine Haltung ein, die es dem Kind ermöglicht sich selbst zu empfinden und zu erleben.

Geboten ist das Gestalten der Umgebung, bei der das Denken, Fühlen und Wollen der Erzieherin auf den kindlichen Organismus unmittelbar wirkt. Auf diese Umgebungsgestaltung weist uns die Hirnforschung nachdrücklich hin: Was die Erzieherin sagt, was sie tut und vor allem wie sie ist, ist wesentlich.

Gefragt ist die Biografie, das beispielhafte Vorleben, die Gestaltung der eigenen Individualität, die abhängt von der Fähigkeit sich mit dem

  • eigenen Denken aus dem übergreifenden Geistigen heraus zu verständigen,
  • am eigenen Tun und Wollen und
  • am eigenen Fühlen zu orientieren.

„Alles, was wir in diesem frühen Alter tun oder unterlassen, legt eine Spur fest, in der das Kind gehen muss. Im späteren Leben, wenn es darauf ankommt, dass es selbstständig denken kann, wenn es den ,Schritt aus dem Paradies‘, den Schritt des ersten Ungehorsams, immer wieder tun muss, kann es das umso besser, je mehr es sich mit dem identifizieren kann, was es auf dieser Erde vorhat, und wenn es ihm gelingt, sich seinen Leib gefügig zu machen, dass es dem auch standhält. Dafür braucht es eine Basis“

(Glöckler/Grah-Wittich 2020, S. 127).


Literaturverzeichnis:

Glöckler, M./Grah-Wittich, C. (Hrsg.) (2020): Die Würde des kleinen Kindes 2. Gesunde Entwicklung und Prävention. Dornach, am Goetheanum

Korczak, J. (1999): Wie liebt man ein Kind/Das Recht des Kindes auf Achtung/Fröhliche Pädagogik. Bearbeitet von F. Beiner und S. Ungermann. Gütersloh, Gerd Mohn

Schlack, H. G. (2005): Das Kind als Akteur seiner Entwicklung. In: Büchner, Chr. (Hrsg.): Lebensspuren. Über den Zusammenklang von Erziehung und Therapie. Luzern, SZH, S. 39 – 49

Der Autor:

Prof. Dr. Dr. et Prof h.c. Ferdinand Klein ist Lehrer, Heilpädagoge und Logotherapeut, Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik. Er war 14 Jahre in der heilpädagogischen Praxis tätig, dann an acht Universitäten im In- und Ausland. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Kindheitspädagogik, interkulturelle und inklusive Pädagogik, Forschungsmethoden, Korczakpädagogik und ethische Fragen.




Erziehungspartnerschaft statt Elternbelehrung – ein schwerer, doch lohnender Weg!

In einer Erziehungspartnerschaft heißt das Ziel: gemeinsam das Kindeswohl unterstützen

Vielleicht kennen elementarpädagogische Fachkräfte, sofern sie Eltern sind und ihre eigenen Kinder in einer Kindertagesstätte untergebracht hatten bzw. haben, bestimmte Situationen, die ihnen wenig angenehm waren. Gespräche mit den Erzieher*innen waren eher belehrend aufgebaut, häufig war ein erhobener Zeigefinger zu spüren, Erwartungen wurden formuliert, ohne dass die individuelle Lebenssituation bekannt war oder berücksichtigt wurde. Und so hatte man als Elternteil fast schon ein schlechtes Gewissen, wenn die Leitungskraft um ein Elterngespräch bat. Eine Erziehungspartnerschaft fordert ein Paradigmenwechsel: vom Monolog zum Dialog und von einer einseitigen Belehrung hin zu einem gemeinsamen, zugewandten Gespräch, gekennzeichnet durch ein gegenseitiges Informationsinteresse. 

KindheitspädagogInnen und Eltern tragen zur Entwicklung des Kindes bei!

Kinder – das ist bekannt – entwickeln schon in ihrem pränatalen Stadium und weiter  in den ersten Lebensjahren ihre individuelle Persönlichkeitsstruktur. Dabei läuft ihre Entwicklung nicht nur nach einer stringenten, inneren Abfolge von dispositionalen, vorgegebenen Entwicklungsschritten ab. Vielmehr wirkt sich die von ihnen erlebte Umgebung mit den ungezählten Einflussfaktoren auf die Art und Weise der ‚Formung’/ Ausprägung ihrer Entwicklungsprozesse aus, wobei sowohl die familiären, kulturellen und  wohnortspezifischen Einflüsse und die Einflüsse der Institution „Kindertagesstätte“ mit ihren besonderen Struktur- und Prozessbedingungen als auch die EntwicklungsbegleiterInnen (= KindheitspädagogInnen) in beiderseitiger Größe einen Einfluss auf das Entwicklungsgeschehen der Kinder haben.

Von der Elternbelehrung hin zur Erziehungspartnerschaft

Auf der einen Seite bestimmt der gesetzlich verankerte, eigenständige Erziehungs-, Betreuungs- und Bildungsauftrag“ für Kindertageseinrichtungen (in Verbindung mit den länderspezifischen Kindertagesgesetzen, Bildungsgrundsätzen und  trägerspezifischen Richtlinien/ Verordnungen etc.), welche Ziele und Aufgaben KindheitspädagogInnen zu leisten haben, auf der anderen Seite bringen die Familien, die ihr(e) Kind(er) in die Kita bringen, ihre einmalige, ganz persönliche Biographie mit und so treffen auf diese Weise – von Anfang an – zwei „Welten“ aufeinander, die es zu verbinden gilt. Eine solche Verbindung kann aber nur geschehen und von Erfolg gekrönt sein, wenn KindheitspädagogInnen die innerlich verankerte Bereitschaft an den Tag legen, (a) sich selbst als permanent Lernende zu verstehen, (b) ein großes Interesse an den Lebensverhältnissen der Familien zeigen, (c) Professionalität und Humanität im Alltagsgeschehen und dies im Umgang mit den Familien sowie den Kindern miteinander verbinden, (d) Partizipation der Familien und der Kinder zu einem festen Bestandteil ihrer Interaktion erklären, (e) ihre Arbeitsweise, Aufgaben und Ziele transparent machen sowie (f) ihr profundes Wissen aus den Bereichen der Entwicklungspsychologie/ -pädagogik, Bindungsforschung und Bildungswissenschaft gleichzeitig in eine zugewandte Gesprächsführung einbauen, so dass Familien die gepflegte Kommunikation als eine Bereicherung erleben können.

Damit stellt eine Erziehungspartnerschaft ein hohes Gut für beide Seiten dar, von denen das Kind im Mittelpunkt gleichermaßen profitiert.


Der Kindergarten als Lebensraum

Der Kindergarten als Lebensraum unterliegt immer der großen Gefahr, sich durch verschiedene Programme/Ansätze bildungspolitischer Strömungen allzu schnell von einem Lebensraum zu entfernen. Dabei gibt das Wort LEBENSRAUM schon die Grundlage vor: L wie Lust und Lebendigkeit, E wie Eigenständigkeit und ernstnehmend, B wie bunt und begreifen, E wie einfühlend und erfrischend, N wie neugierig und normal, S wie spannend und sorgsam, R wie reich an Erfahrungen und raumnutzend, A wie ausdauernd und akzeptierend, U wie umfassend und ursachenorientiert, M wie menschenorientiert und marginal.

Armin Krenz
Elementarpädagogik und Professionalität – Lebens- und Konfliktraum Kindergarten
Klappenbroschur, 192 Seiten
ISBN: 978-3-944548-00-5
24.95 €


Erziehungspartnerschaft verzichtet auf Überlegenheit und bedingungslose Akzeptanz

Kam es in einer funktional gestalteten Elternarbeit, wie sie in vergangener Zeit (und teilweise auch heute noch) üblich war bzw. ist, zu einer Erwartungskollision, weil den Elternteilen institutionelle/pädagogische Ziele vorgestellt und ihnen damit existierende Erwartungen übergestülpt wurden, geht eine Erziehungspartnerschaft einen anderen Weg. Durch das intensive und damit authentisch vorhandene Interesse der KindheitspädagogInnen, (a) Familien an ihren ziel- und aufgabenorientierten Schwerpunkten teilhaben zu lassen, (b) ihnen den besonderen Bedeutungswert ihres beruflichen Selbstverständnisses sowie (c) ihre kurz-, mittel- und langfristigen Aufgaben zu verdeutlichen und mit Zeit/ in Ruhe vorzustellen, dann entspricht es einer partnerschaftlichen Sichtweise, Familien genügend Raum und Platz zu lassen, den geäußerten Überlegungen beizupflichten oder selbstverständlich auch Kritik zu äußern, (Nach)Fragen zu stellen, eigene Überlegungen einzubringen, neue Vorschläge (beispielsweise bei einer Zielfindung) zu unterbreiten, selbstverständlich auch Unmut zu äußern oder ihr Unverständnis über bestimmte Tatsachen auszudrücken. Hier liegt es eindeutig auf der Seite der KindheitspädagogIn, immer wieder für eine entspannte Kommunikationsatmosphäre zu sorgen, die es auch ermöglicht, aus einem schwierigen, verhärteten, festgefahrenen oder konfrontativen Interaktionsprozess erneut zu einem zielführenden Gesprächsverlauf zurückzufinden, um letztlich ergebnisorientiert voranzukommen.

Bisherige, sehr oft genannte Merkmale eines erziehungspartnerschaftlichen Umgangs sind häufig nur ungenau bzw. missverständlich benannt

Schaut man in bisherige Buchinhalte und Fachartikel zur Erziehungspartnerschaft, trifft man einerseits auf immer dieselben Begriffe, in denen es nahezu plakativ (d.h. lediglich stichwortartig und damit nicht ausführlich genug) um solche Aussagen wie „Prozessorientierung ist der Weg“/ „Toleranz zeigen“/ „Gleichberechtigung realisieren“/ „Eltern müssen ernst genommen werden“/ „Radikalen Respekt für Verschiedenheit aufbringen“/  usw. geht. Nun: Eine Prozessorientierung kann ohne eine klare Zieldefinition sehr schnell auf einen Nebenweg mit einem anderen Ziel führen. Solche Aussage ähnelt der einer Selbsterfahrungsteilnehmerin, die nach ihrem aktuellen Entwicklungsvorhaben gefragt wurde und mit der Aussage: „Das kann ich nicht genau sagen: ich befinde mich nämlich gerade in einem Prozess.“ geantwortet hat.

Das Wort ‚Toleranz’ kommt aus dem lateinischen ‚tolerare’ und bedeutet übersetzt so viel wie ‚ertragen’. Dabei wird oftmals übersehen, dass etwas ertragen immer mit einem eigenen Unmut, mit einer offenen oder unterdrückten Zurückhaltung zu tun hat und im Widerspruch zur ‚Akzeptanz’ (der authentischen Annahme) steht. Eine ‚Gleichberechtigung’ kann es zwischen KindheitspädagogInnen und Familienmitgliedern nicht geben, denn das würde beispielsweise bedeuten, dass auch Familienmitglieder die Art und Weise der Arbeit, die konzeptionelle Ausrichtung, die Bildungsinhalte oder pädagogischen Vorhaben gleichberechtigt mitbestimmen könnten, auch im Gegensatz zu bestehenden Richtlinien oder ggf. humanistisch geprägten Werten. Und worin läge beispielsweise der Bedeutungswert einer qualifizierten Ausbildung von Kindheitspädagog*innen, wenn Familien die Ausrichtung der Arbeit vorgeben könnten?  So ist stattdessen der Begriff „Gleichwertigkeit als Person“ sicherlich weitaus angebrachter, weil eine Erziehungspartnerschaft durch eine Kommunikation auf „gleicher Augenhöhe“ gekennzeichnet ist.

Dass „Eltern ernst genommen werden müssen“ ist doch eine Selbstverständlichkeit – wer dies als Kennzeichen einer ‚Erziehungspartnerschaft’ hervorhebt, drückt damit auch aus, dass dies bei einer ‚Elternarbeit’ offensichtlich nicht stattgefunden hat. An dieser Stelle würden elementarpädagogische Fachkräfte, die bisher eine solche qualitätsorientiert umgesetzt haben, sicherlich (auch zu Recht) protestieren. Die Forderung nach einem „radikalen Respekt für Verschiedenheit“ ist in dieser generellen Formulierung nur schwer bzw. gar nicht nachzuvollziehen. Hätten Sie einen ‚radikalen Respekt’ vor Elternteilen oder Fachkräften, die Kinder schlagen, zum Essen zwingen, der Lächerlichkeit preisgeben, in Ohnmachtssituationen bringen, mit einem Bildungsangebot nach dem anderen konfrontieren oder in großen Gefahrensituationen alleine lassen, um sie auf diese Weise stark zu machen?

Doch eine immer wiederkehrende Aussage darf (und muss!) mehr als deutlich in Frage gestellt werden, wenn es immerzu heißt: „Eltern sind Experten für ihre Kinder“ bzw. „… sind Erziehungsexperten.“ Nun: Experten, egal welcher Ausrichtung, haben immer eine langjährige Ausbildung, haben diverse Zusatzqualifikationen erfolgreich absolviert, haben (bezogen auf die Bereiche Pädagogik/ Psychologie) Selbsterfahrung auf sich genommen und eine permanente Persönlichkeitsreflexion zum festen Bestandteil ihrer Professionalität erklärt. All’ dies haben Erziehungsberechtigte nicht. Insofern trifft die Aussage besser zu, dass diese durch eine kindeswohlorientierte, dauerhaft gepflegte Erziehungspartnerschaft mit ihren sehr unterschiedlichen Begleitformen immer stärker zu Experten einer/ einem kindorientierten und förderlichen Entwicklungsbegleiter*in werden.

Merkmale einer lebendigen, authentisch gelebten Erziehungspartnerschaft

Kindheitspädagog*innen, deren Ziel es ist, eine gelebte Erziehungspartnerschaft herzustellen bzw. weiterhin zu pflegen, können dies nur erreichen, wenn sie vor allem folgende Qualitätsmerkmale in ihrer Alltagspädagogik umsetzen:

  • Zunächst geht es um eine für alle positiv erlebte Atmosphäre, die sich durch Freundlichkeit, Zugewandtheit, Aufmerksamkeit, Interesse an den Freuden/ Ängsten/ Sorgen und Nöten der Menschen auszeichnet. Das fängt mit der täglichen Begrüßung der Team-/ Familienmitglieder und des Kindes an und endet mit der persönlichen Verabschiedung aller. Dadurch erleben und erfahren Kolleg*innen und Eltern einen besonderen Bedeutungswert, der ihnen zeigt, dass sie in der Kita eine gewichtige Rolle innehaben.
  • KindheitspädagogInnen haben sich als Motor der Beziehungspflege zu verstehen und können diese Aufgabe nicht von Familienangehörigen erwarten. Schuldelegationen wie „Die Eltern wollen gar nicht kommen“ oder „Die Eltern haben kein Interesse an unserer Arbeit“ müssen in die Fragestellung umgedeutet werden wie beispielsweise: „Was müssen wir tun und was haben wir in der Vergangenheit übersehen, dass sich Eltern nicht willkommen gefühlt haben, fern bleiben oder mit Konfrontationen reagieren?“
  • Professionelles Verhalten – angefangen von einer qualitätsorientierten Gesprächsführung (bestenfalls mit einer Weiterbildung in ‚Beratungspsychologie’) über eine vorhandene Konfliktkompetenz bis zu einem profunden Fachwissen, eingebettet in eine freundliche Umgangskultur – ist die Grundlage, um eine bisherige ‚Elternarbeit’ in eine Erziehungspartnerschaft zu wandeln bzw. eine solche zu pflegen.
  • Der ‚Dreiklang’ einer Erziehungspartnerschaft (die Familie – das Kind mit seinen Entwicklungsrechten und Grundbedürfnissen – die KindheitspädagogIn als ImpulsgeberIn, BeraterIn, UnterstützerIn) – setzt voraus, dass KindheitspädagogInnen sowohl eine Sensibilität für aktuelle Elternbedürfnisse als auch für ein situationsorientiertes Handeln besitzen, um möglichst punktgenaue Aktivitäten zu planen und umzusetzen.
  • Zur Umsetzung eines erziehungspartnerschaftlichen Umgangs miteinander gehört eine breite Kenntnis der Lebensbedingungen der Familie, ihrer Werte und Normen, ihrer Weltsichtweise sowie ihrer Erziehungsvorstellungen, um diese zu verstehen und bei der Beziehungspflege zu berücksichtigen.
  • Eine Erziehungspartnerschaft zeigt sich u.a. durch – zumindest kurze – freundlich geführte Tür- und Angelgespräche, lebendige und spannende Elternabende, interessante Elternbriefe, gemeinsame Feiern, ein offenes Ohr für Beschwerden, einen periodisch stattfindenden Elternstammtisch, wenn möglich ein Elterncafe (z.B. bei fehlenden Räumlichkeiten in einem geschmackvoll eingerichteten Bauwagen für Elterntreffs), gemeinsame Aktivitäten (auch mit Kindern) in der Kita, gemeinsamen Aktionen (auch außerhalb der Kita), dem Besprechen von Beobachtungen und Entwicklungsberichten sowie in einer Unterstützung bei besonderen Fragestellungen und – falls nötig und erwünscht – Hinweisen auf weiterführende Hilfen aus.
  • Einmal pro Jahr ausgelegte, anonymisierte Fragebögen zu bestimmten Bereichen (z.B. die Eigenbeteiligungsmöglichkeit betreffend, die Mitsprache, die erlebte Atmosphäre, das Aufgreifen von Ideen und Vorschlägen, die Weitergabe von Informationen, die Transparenz der Arbeit, eine ausreichende Zeit für Gespräche, Gestaltung der Räume, Engagement der Kindheitspädagog*innen …) und zum Grad einer (Un)Zufriedenheit geben Eltern die zusätzliche Möglichkeit, ihre Meinung kund zu tun und Veränderungswünsche zu formulieren.                             

Literatur:

Albers, Timm + Ritter, Eva: Zusammenarbeit mit Eltern und Familien in der Kita. Reinhardt Verlag, 2015

Dusolt, Hans: Elternarbeit als Erziehungspartnerschaft. Ein Leitfaden für den Vor- und Grundschulbereich. Beltz Verlag, 4. Aufl. 2018

Gerth, Andrea: Auf dem Weg zur Erziehungspartnerschaft. Lern- und Arbeitsbuch für Kindergartenteams. Verlag das netz, 2007

Schlösser, Elke: Zusammenarbeit mit Eltern – interkulturell. Informationen und Methoden zur Kooperation mit Eltern mit und ohne Migrationserfahrung in Kita, Grundschule und Familienbildung. Ökotopia Verlag, 4. Edition 2017

Textor, Martin: Bildungs- und Erziehungspartnerschaft in Kindertageseinrichtungen. Books on Demand, 2. Edition 2014

Woll, Rita: Partner für das Kind. Erziehungspartnerschaften zwischen Eltern, Kindergarten und Schule. Vandenhoeck & Ruprecht, 2008

Armin Krenz, Prof. h.c. et Dr. h.c., Honorarprofessor a.D., Wissenschaftsdozent für Elementar- und Entwicklungspädagogik/ Entwicklungspsychologie; Email: armin.krenz@web.de 




Körperliche Fitness verbessert Konzentration und Lebensqualität

Studie der TU-München belegt positive Wirkung von Bewegung und Sport auf Kinder

Regelmäßige Bewegung hält Kinder gesund und macht sie fit für die Schule. Die Vorteile von Sport sind in zahlreichen Studien belegt. Neu ist der Nachweis des Zusammenhangs von körperlicher Fitness, Konzentration und gesundheitsbezogener Lebensqualität von Grundschulkindern, den ein Forschungsteam der TU München jetzt erbracht hat.

An der Studie beteiligten sich 3285 Mädchen und 3248 Jungen aus dem Berchtesgadener Land. Die Schlüsselkriterien, körperliche Kraft und Ausdauer, Konzentrationsfähigkeit und die gesundheitsbezogene Lebensqualität wurden von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nach international standardisierten Testverfahren bestimmt.

Es ist wichtig, Kinder frühzeitig motorisch zu fördern

Die Studienergebnisse zeigen: Je besser die Fitness der Kinder ist, umso besser können sie sich konzentrieren und umso höher ist auch ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität. Dabei schnitten die Jungen bei den Fitnesstests besser ab, während die Mädchen bei den Konzentrations- und Lebensqualitätswerten überlegen waren.


Angeleitete Bewegung in der Frühpädagogik

Immer mehr Kinder zeigen deutlich, dass es ihnen an angeleiteter Bewegung mangelt. Bewegung jedoch ist wesentliches Element für Entwicklung und Wachstum – und sie ist Bedürfnis der Kinder. Deshalb muss unserer bewegungsarmen und reizüberfluteten Welt etwas gegenübergestellt werden: sinnvolles und sinnenvoll bewegtes Spiel! Genau damit befasst sich dieses Buch.
Dr. Andrea Falkenberg-Gurges realisierte mit ihren StudentInnen ein Projekt, welches sich mit der Lösung dieses Problems beschäftigte. Die Resultate, erprobt und überarbeitet, stehen hier zur Verfügung. Die dabei entwickelten Bewegungsangebote bilden die Grundlage für die in diesem Buch vorgestellten Spiel- und Körpererfahrungen.

Dr. Andrea Falkenberg-Gurges
Gefühl bis in die Fingerspitzen – Körpererfahrung in Kindergruppen
Broschur, 96 Seiten
ISBN: 978-3-944548-10-4
14,95 Euro


Gleichzeitig erreichten übergewichtige und fettleibige Kinder bei allen Tests für die körperliche Fitness signifikant schlechtere Ergebnisse als unter- oder normalgewichtige Kinder. Insbesondere bei den adipösen Kindern waren auch die Werte für die gesundheitsbezogene Lebensqualität insgesamt, körperliches Wohlbefinden, Selbstwertgefühl sowie das Wohlbefinden in Freundschaften und Schule deutlich vermindert.

Sport fördert Sprung aufs Gymnasium

Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Studie: „Grundschulkinder mit einer guten körperlichen Fitness und Konzentrationsfähigkeit schaffen eher den Sprung auf das Gymnasium“, sagt Prof. Renate Oberhoffer-Fritz, Inhaberin des Lehrstuhls für Präventive Pädiatrie und Dekanin der Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaften.

„Umso wichtiger ist es, Kinder frühzeitig motorisch zu fördern, weil sich damit auch die Entwicklung der geistigen Fitness positiv beeinflussen lässt“, sagt Prof. Oberhoffer-Fritz. Um hierfür flächendeckend ein geeignetes Angebot zu schaffen, sei ein Zusammenwirken von Eltern, Schulen, Gemeinden und Sportvereinen wichtig.

Ein Jahr Mitgliedschaft im Sportverein geschenkt

Dr. Thorsten Schulz, Leiter des Studienteams an der TUM ergänzt: „Die Studienergebnisse waren für das Landratsamt Berchtesgadener Land unter anderem auch ein Anlass, seit 2019 allen Erstklässlerinnen und Erstklässlern der Region ein Jahr Mitgliedschaft in einem Sportverein zu schenken. Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie verschiedene Akteure zusammenarbeiten und Kinder zum Sport motivieren und verhelfen können.“

Die Daten wurden auf Basis international anerkannter und standardisierter, altersgerechter Tests erhoben. So wurden körperliche Kraft und Ausdauer nach den Kriterien der FitnessGram-Leitlinien gemessen, die Konzentrationsfähigkeit wurde mit dem d2-R Test bestimmt und die gesundheitsbezogene Lebensqualität (health related quality of life, HRQOL) anhand des KINDL Fragebogens.

Die Studie wurde in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Deklaration von Helsinki durchgeführt und von der örtlichen Ethikkommission genehmigt.In einer weiteren Studie untersuchte das Forschungsteam auch ältere Kinder und Jugendliche auf weiterführenden Schulen. Für diese Daten ist eine weitere wissenschaftliche Veröffentlichung geplant.

Dr. Andreas Battenberg Corporate Communications Center, Technische Universität München




Häufige externe Kleinkindbetreuung kann das kindliche Verhalten beeinflussen

Studie: Je mehr Zeit Kleinkinder in der Tagesbetreuung verbringen, desto eher zeigen sie auffällige Verhaltensweisen

Wie wirkt sich die außerfamiliäre Betreuung auf die Entwicklung vom Kindes- bis ins Jugendalter aus? Forschende der Universität Zürich befragten dazu rund 1.300 Zürcher Schulkinder, ihre Eltern und Lehrpersonen. Das Ergebnis: Je mehr Zeit in Krippen oder bei Tagesmüttern verbracht wurde, desto eher zeigten sich auffallende Verhaltensweisen, die nach dem Primarschulalter allerdings wieder verschwanden.

Das Jacobs Center for Productive Youth Development der Universität Zürich hat untersucht, wie die externe Kinderbetreuung die Entwicklung des Kindes bis ins Erwachsenenalter beeinflusst. Die analysierten Daten wurden im Rahmen des Zürcher Projektes zur sozialen Entwicklung von der Kindheit ins Erwachsenenalter (z-proso) erhoben und umfassen rund 1.300 Stadtzürcher Schulkinder von sieben Jahren bis zum Alter von 20 Jahren.

Auswirkungen im Primarschulalter

Rund 67 Prozent dieser Kinder wurden vor dem Kindergartenalter fremd betreut. Davon besuchten 32 Prozent eine Kindertagesstätte, 22 Prozent eine Spielgruppe. Weitere 22 Prozent waren zeitweise bei Familienmitgliedern, drei Prozent bei Bekannten oder Nachbarn, zwölf Prozent bei Tagesmüttern. Die Forschenden befragten die Kinder wie auch die Eltern und Lehrpersonen zu auffallend extrovertiertem oder introvertiertem Verhalten, zu Straffälligkeit und Drogenkonsum. Dabei zeigte sich, dass sich die im Primarschulalter beobachteten Verhaltensweisen je nach Auskunftspersonen und je nach besuchter externer Betreuung unterschieden.

Nach Einschätzung der Eltern zeigten die Primarschülerinnen und Primarschüler mehr Aggressivität, ADHS-Symptome, aber auch Ängstlichkeit und Depressivität je mehr Zeit sie im Vorschulalter in einer Krippe verbrachte hatten. Die Angaben der Kinder selbst weisen teilweise in dieselbe Richtung.

Laut den Lehrpersonen sind Hyperaktivität, Impulsivität, Aufmerksamkeitsprobleme oder aggressives Verhalten eher bei denjenigen Schülerinnen und Schülern zu beobachten, die mehr als zwei Tage pro Woche bei einer Tagesmutter verbracht oder an mindestens drei Tagen pro Woche eine Spielgruppe besucht hatten.

Auffallende Verhaltensweisen verschwinden meist wieder

Wie lassen sich diese Befunde erklären? „Einerseits ist es möglich, dass eine externe Kinderbetreuung zu einer weniger sicheren Bindung und Interaktion zwischen Eltern und Kindern führen kann“, sagt Erstautorin Margit Averdijk. Andererseits könnten Kinder in Krippen und Spielgruppen das Problemverhalten von Gleichaltrigen nachahmen und es teilweise auch einsetzen, um von den Betreuungspersonen Aufmerksamkeit zu erhalten.

„Obwohl wir nicht direkt prüfen konnten, welche dieser Mechanismen unsere Ergebnisse am wahrscheinlichsten erklären, unterstützen beide unsere Ergebnisse“, erklärt die Forscherin. Die gute Nachricht: Die in der Primarschule beobachteten Verhaltensauffälligkeiten nehmen mit der Zeit ab und verschwinden ab dem 13. Altersjahr weitgehend. Nur die Symptome von ADHS halten sich etwas hartnäckiger.

Kein genereller Zusammenhang mit Substanzkonsum im Jugendalter

Die Forschenden fanden auch keine Hinweise darauf, dass externe Kinderbetreuung generell mit Delinquenz und Substanzkonsum im Jugendalter zusammenhängt. Einzig bei Kindern aus prekären Verhältnissen geht eine häufige Krippenbetreuung im Vorschulalter mit mehr Substanzkonsum im Jugendalter einher. „Es scheint, dass solche Kinder mit zunehmendem Alter auch eher zu Ängsten oder depressiven Symptomen neigen. Diese können sich aufgrund der Abwesenheit ihrer Eltern weiter verstärken“, erklärt Averdijk.

Vorsicht bei der Interpretation

„Unsere Studie beleuchtet mögliche ungünstige Zusammenhänge zwischen externer Kinderbetreuung und der kindlichen und späteren Entwicklung“, fasst Letztautor Manuel Eisner zusammen. Der Soziologieprofessor warnt jedoch davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. Zwar entspräche die Studie höchsten wissenschaftlichen Qualitätsstandards, basiere aber auf Beobachtungs- und Befragungsdaten, mit denen sich Rückschlüsse auf ursächliche Zusammenhänge nicht immer klar ziehen ließen. Auch konnte die Qualität der außerfamiliären Betreuung in der Studie nicht berücksichtigt werden.

Literatur:

Margit Averdijk, Denis Ribeaud, and Manuel Eisner. External childcare and socio-behavioral development in Switzerland: Long-term relations from childhood into young adulthood. PLOS ONE, 9 March. DOI: 10.1371/journal.pone.0263571

Hier der Link: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0263571

Quelle: Mitteilung der Universität Zürich




Emotionale Intelligenz Schritt für Schritt entwickeln

Warum ErzieherInnen und Eltern bei der Entwicklung der sozialen Kompetenzen der Kinder besonders gefordert sind

Jedes Kind bringt bei der Geburt sein unverwechselbares Temperament als emotionale Anlage mit auf die Welt. Es ist das Startpaket für seine lange emotionale Karriere. Schritt für Schritt entwickelt es die Vielfalt seiner emotionalen Fähigkeiten im alltäglichen Umgang mit seinen Eltern, seinen Geschwistern und den vielen Menschen aus seiner Umwelt, und zwar von frühester Kindheit an bis ins hohe Alter.

Nur wer die Herzen bewegt, bewegt die Welt!

Ernst Wiechert

Der emotionale Typus eines Kindes ist also angeboren; die Reifung zu einer emotional intelligenten Persönlichkeit ist jedoch sozial erworben. Erst aufgrund dieser einmaligen Mischung von Anlage und Umwelt entwickelt sich unsere Gefühlszentrale, das limbische System: von den überlebenswichtigen Basisfunktionen hin zu den höher entwickelten Fähigkeiten, die für unser komplexes soziales Miteinander erforderlich sind.

Emotionale Reaktionen sind sozial vermittelt

Da die meisten unserer emotionalen Reaktionen sozial vermittelt und somit individuell sind, gibt es für Eltern und Pädagogen viel zu tun. Denn wir alle müssen von klein auf lernen, unsere angeborenen Gefühle zu steuern, auf diejenigen unserer Mitmenschen zu reagieren und die Wertvorstellungen unserer Kultur zu respektieren. Gefühle bilden sozusagen die Gleise für den Zug des Lebens. Wenn sie in der Kindheit breit und stabil angelegt werden, dann ist ein Entgleisen sehr unwahrscheinlich.

Unsere Kinder brauchen im unsteten Fluss der gesellschaftlichen Veränderungen verlässliche Geländer. Wer glaubt, ein großes Wissensrepertoire allein reiche aus, um ihnen diese Sicherheit zu geben, der übersieht, dass zur Bildung im 21. Jahrhundert vor allem eine Schlüsselqualifikation gehört: emotionale Intelligenz. Ist diese gut ausgeprägt, so geht damit eine positive schulische Entwicklung einher. Umgekehrt bedeutet eine geringe emotionale Kompetenz jedoch einen Risikofaktor für die Schul- und Berufskarriere. Gefühle wirken demnach als Motor der geistigen Entwicklung eines Kindes.


Das Schatzbuch jetzt bei BurckhardtHaus

Viele Jahre lang hat die Pädagogik die emotionale Entwicklung der Kinder dem Zufall überlassen. Das hat traurige Konsequenzen: Etliche Kinder und Jugendliche leiden unter psychischen Erkrankungen wie Essstörungen oder Depressionen. Charmaine Liebertz fordert dazu auf, die Herzensbildung der Kinder zur wichtigsten Aufgabe zu machen. Dazu gibt sie neben gut verständlichen theoretischen Grundlagen über den aktuellen Stand der Hirnforschung auch viele praktische Tipps, stellt Spiele und Übungen zusammen, um die eigenen Emotionen kennen zu lernen, mit ihnen umzugehen, Empathie zu entwickeln und soziale Kompetenz zu erwerben.

Charmaine Liebertz: Das Schatzbuch der Herzensbildung – Grundlagen, Methoden und Spiele zur emotionalen Intelligenz. 200 Seiten, ISBN 978-3-96304-611-7, 20 €


Vernunft und Verstand sind eigebettet in die emotionale Struktur

Jeder Mensch meistert kritische Augenblicke, schwierige Phasen, gefährliche Versuchungen, dauerhafte Belastungen und ungünstige Lebensbedingungen umso besser, je ausgeprägter seine emotionale Intelligenz ist. Er vermag seine eigenen Gefühle und Reaktionen – ebenso wie die anderer – in verschiedenen Situationen einzuschätzen, zu handhaben und zu bewerten.

Die Hirnforschung lehrt uns heute, dass Vernunft und Verstand eingebettet sind in die emotionale Struktur des Menschen. Emotionale Reize wirken auf nahezu alle Bereiche der Großhirnrinde, die unsere Wahrnehmung und komplexen Denkabläufe steuert. Das limbische System bewertet und wägt alles, was wir tun, mit unserem emotionalen Erfahrungsschatz ab. Gedanken und Gefühle sind also im neuronalen Netzwerk eng miteinander verknüpft; sie funktionieren als ganzheitliche Einheit.

Den Umgang mit Gefühlen lernen

Wer in seiner Kindheit und Jugend gelernt hat, mit seinen Gefühlen und denen seiner Mitmenschen umzugehen, der vermag sein geistiges Potenzial voll auszuschöpfen, ohne zum Spielball seiner Emotionen zu werden. Kinder und Jugendliche mit hoher emotionaler Intelligenz verfügen über ein stabiles Selbstwertgefühl, über Problemlösungsstrategien, über ein inneres Krisenmanagement, und vor allem kennen sie Alternativen zu Gewalt und Drogen, um sich selbst zu spüren.

Eines ist jedoch besorgniserregend: Immer mehr Kinder beziehen ihre Identität aus der Interaktion mit zahlreichen Medien. Fernab vom realen Leben stattet sie die virtuelle Welt mit der ersehnten Omnipotenz aus und schenkt ihnen Beachtung. In dieser – etwa in Chatrooms oder Spielen erworbenen – künstlichen Identität verbringen sie oftmals mehr Zeit als in ihrer realen.

Pädagogen im Wettkampf mit virtuellen Erziehungsagenten

Im Wettkampf mit den virtuellen Erziehungsagenten, wie Fernsehen oder Computer, müssen wir Pädagogen mehr denn je den Respekt vor der Würde des Menschen, seine Fähigkeit zum Mitleid und seine emotionale Spannbreite im sozialen Miteinander fördern. Wir können uns nicht länger allein hinter den Strategien der Wissensvermittlung verschanzen und in Sachen Herzensbildung ein Ungenügend abliefern, während die Kinder orientierungslos nach starken Vorbildern suchen.

Das vielfältige Orchester der Gefühle braucht einen Dirigenten! Eine unserer wichtigsten Erziehungsaufgaben ist es, das Kind im Laufe seiner emotionalen Entwicklung zu einem kompetenten Dirigenten heranzubilden. Wir Eltern, ErzieherInnen und Lehrkräfte neigen oft dazu, dieses emotionale Wachstum als selbstverständlich, jede kleinste, neue Bewegung oder Wortschöpfung dagegen als Meilenstein in der kindlichen Entwicklung anzusehen.

Diesen Artikel haben wir aus dem Buch von Charmaine Liebertz „Spiele zur Herzensbildung“. Herzensbildung bedeutet, die Entwicklung des Kindes zu einem offenen, stabilen Erwachsenen, der das Leben als ein Miteinander versteht. Emotionale Intelligenz und das Zusammenspiel von Körper, Geist und Emotion sind der Schlüssel zu einem glückenden Leben. Mit zahlreichen leicht umsetzbaren Spielen, hilft Charmaine Liebertz, eigene Emotionen zu entdecken und soziale Kompetenzen aufzubauen und umzusetzen.

Charmaine Liebertz
Spiele zur Herzensbildung
Emotionale Intelligenz und soziales Lernen
80 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3-944548-17-3
14,95 €

Dr. Charmaine Liebertz ist Heilpädagogin und Lehrerin. Sie war zehn Jahre lang wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Heilpädagogik an der Universität Köln. Lernen besteht für sie nicht nur aus dem Anhäufen von Fakten, sondern muss im Einklang von Körper, Herz, Geist und Humor geschehen. Dafür setzt sie sich in der Gesellschaft für ganzheitliches Lernen e.V. ein, die sie 1996 gründete.




Wie wir Kinder mit ADS unterstützen können

Um Kindern zu helfen, ist ein koordiniertes Zusammenspiel aller an der Erziehung Beteiligten notwendig

Sie gehören zu den etwas anstrengenden Kindern. Max zappelt herum, ist wie aufgezogen, nur ohne Abstellknopf, platzt ständig aus sich heraus und fällt öfter mal aus dem Rahmen. Kim wirkt abgewendet, reagiert kaum auf ihre Umgebung und hat bei Klassenarbeiten ein „Brett vor dem Kopf“. Beide können sich nicht wirklich konzentrieren und sich auf ihre Umgebung einlassen. Beide leiden unter dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, kurz ADS. Nur ist bei Max das Syndrom mit Hyperaktivität verbunden, bei Kim nicht.

Viele reden darüber, nur wenige wissen Bescheid

Ein kurzer Blick auf landläufige Äußerungen zeigt auch: Viele reden darüber, nur wenige wissen Bescheid. Da heißt es etwa: „Bei Kindern ist ADS ein Hirngespinst, welches zu oft fehlerhaft diagnostiziert wird. Das kommt oft davon, dass sich Eltern mit ihren Sprösslingen von klein auf nicht genug abgeben.“ Oder: „ADHS zu diagnostizieren, ist oft leichter, als den Eltern ihr Erziehungsversagen über lange Zeit zu erklären …“

Aufklärung tut not

Aufklärung tut not. Denn unter den vielen Gerüchten und Unterstellungen leiden vor allem die Betroffenen und deren Angehörige. ADS ist eine neurobiologische Störung mit Problemen in der Informationsverarbeitung. Das heißt, dass unsere ADS-Kinder Max und Kim Schwierigkeiten mit den Aufmerksamkeitsfunktionen und der Impulssteuerung haben. „ADS-Betroffene sind in ihrer Konzentrationsfähigkeit erheblich eingeschränkt, Sie sind leicht ablenkbar, oft motorisch unruhig oder verträumt. Sie haben einen oberflächlichen, sprunghaften Wahrnehmungsstil und können Reizeinflüsse nicht gut sortieren und organisieren. Sie reagieren impulsiv und ecken dadurch oft mit ihrem Verhalten an. Sie sind durch diese Störung in allen Lebensbereichen erheblich beeinträchtigt.“ So erklärt das OptiMind-Institut von Dr. med. Elisabeth Aust-Claus und Dr. Dipl. Psych. Petra-Marina Hammer ADS. Gemeinsam haben die Medizinerin und die Psychologin den Klassiker unter den ADS-Ratgebern verfasst: „Das ADS-Buch“.

Koordiniertes Zusammenspiel notwendig

Eindringlich und mit der Erfahrung aus jahrzehntelanger Arbeit mit Betroffenen werben beide für ihr Trainingsprogramm. Dieses stellt zwar das Kind in den Mittelpunkt, setzt aber ganz stark darauf, dass Eltern, ErzieherInnen, LehrerInnen und andere wichtige Personen eng koordiniert zusammenspielen.

Den Eltern kommt neben den Kindern die anstrengendste und wichtigste Funktion zu.  Denn schwierige Kinder fallen nicht nur auf, sondern machen ihre Mitmenschen auch rat- und hilflos. Kind und Eltern spüren, dass sie den Erwartungen ihrer Umwelt nicht entsprechen. Max würde vermutlich mit noch mehr Aggression antworten, Kim sich ganz zurückziehen. Die Eltern verzweifeln oftmals. Dabei sollen doch gerade sie auf das Verhalten ihres ADS-Kindes ruhig, positiv und unterstützend reagieren.


Das ADS-Buch

Elisabeth Aust-Claus und Petra-Marina Hammer stellen mit Optimind ein Team-Konzept für die Betreuung von Kindern mit ADS vor: Wenn Eltern, Lehrer und Therapeuten zusammen arbeiten, kann die Lebensqualität der Kinder schnell ver-bessert werden!

Elisabeth Aust-Claus/Petra-Marina Hammer
Das ADS-Buch
Neue Konzentrationshilfen für Zappelphilippe und Träumer: Das Optimind®-Konzept
Broschur, 320 Seiten
ISBN/EAN: 978-3-96304-038-2
20 €


Informieren und aufklären

Eltern müssen sich deshalb nicht nur informieren, sondern zudem Aufklärungsarbeit bei den Bezugspersonen ihres Kindes leisten. Als ErzieherInnen können wir sie dabei unterstützen. Aust-Claus und Hammer geben dazu folgende Tipps:

  • Eltern sollten andere Personen über das ADS ihres Kindes informieren, aber mit den Defiziten ihres Kindes nicht hausieren gehen. Vielen Kindern ist es peinlich, wenn über ihre Probleme gesprochen wird.
  • Für Geschwisterkinder ist es hilfreich, wenn sie kindgerecht über ADS und seine Auswirkungen informiert werden.
  • Personen, bei denen das Kind sowieso funktioniert, also keine Auffälligkeiten zeigt, brauchen keine Aufklärung.
  • Wenn sich das Kind beim Besuch anderer Kinder in der Regel daneben benimmt, sollten die Eltern die anderen Eltern aufklären.
  • Alle Personen, die das Kind miterziehen, sollten sich möglichst über ADS informieren und motiviert sein, sich damit ernsthaft zu befassen.

Kurzregeln zu ADS

Nur so begreift die Umgebung, dass ein Kind wie Max nicht mit Absicht impulsiv ist oder wie Kim in Tagträume verfällt, beide keine Mitmenschen ärgern möchten. Und nur so können alle an einem Strang ziehen und zumindest die Kurzregeln zur ADS-Erziehung einheitlich befolgen, die laut unseren Expertinnen folgende sind:

  • Liebevoll, aber stur bleiben. Die Erziehenden stellen die Regeln auf und sind auf deren Einhaltung bedacht. Einmal „nein“ heißt „nein“.
  • Über Kleinigkeiten hinwegsehen. Wenn ein Mädchen den rosa Pullover zur roten Hose trägt, ist das kein Grund für eine Auseinandersetzung.
  • ADS-Kinder brauchen ein ruhiges Umfeld – mit Routine und Struktur.
  • Alle Erziehenden müssen klar und deutlich in ihren Aussagen bleiben.
  • Bei extrem negativem Verhalten ist eine „Auszeit“ nötig. Das bedeutet, dass das Kind in einer solchen Situation aus dem Verkehr gezogen werden sollte. Dabei hilft ruhiger Raum.

Hat sich das Kind beruhigt, sollten wir das Feuer nicht neu schüren, sondern am besten zur Tagesordnung übergehen. Einige Stunden später können wir gemeinsam den Vorfall besprechen.

Von der Negativ-Spirale in die Positiv-Spirale

Wichtig: Ein einheitlicher „roter Faden“ muss die Erziehungskonzepte der einzelnen Personen durchziehen. Noch wichtiger: Ein Kind sollte spüren, dass es die Erziehenden verstehen. Nur so kann es den Schritt von der Negativ-Spirale in die Positiv-Spirale schaffen.

Das fällt vielen Eltern und anderen Bezugspersonen von ADS Kindern schwer. Sie fühlen sich oft enttäuscht, genervt, erschöpft, entmutigt, verletzt, verärgert, verwirrt, beschämt und kraftlos. Das Team der Bezugspersonen sollte deshalb laufend miteinbeziehen sein und gleichzeitig das Kind unterstützen und stärken, wo es nur geht. Denn nur mit der Stärkung seines Selbstbewusstseins, kann sich das Kind positiv entwickeln. „Zum Ausbau eines guten Selbstwertgefühls sollten einer negativen Äußerung mindestens drei positive gegenüberstehen“, erklärt Hammer. Sollten die negativen Reaktionen häufiger als die positiven gewesen sein oder sich die Waage gehalten haben, müssen die Eltern etwas ändern. Hammer rät zu einem Tagebuch, in dem positive wie negative Äußerungen Niederschlag finden. Zudem raten Aust-Claus und Hammer noch zu folgendem:

  • Realistische Ziele setzen (damit das Kind auch die Anforderungen erfüllen kann)
  • Ermutigen: Die Bezugspersonen sollten Vertrauen in die Fähigkeiten ihres Kindes haben und das auch zeigen.
  • „Inseln der Kompetenz“ suchen: Jedes Kind kann irgendetwas sehr gut. Diese Fähigkeiten sollten die Erziehenden mit ihren Kindern gemeinsam aufspüren und fördern.
  • Dem Kind helfen, Freundschaften aufzubauen. Dazu gehört, das Kind im Spiel zu beobachten und mit ihm darüber zu sprechen, was den anderen Kindern nicht gefallen hat.
  • Bei passender Gelegenheit Körperkontakt zum Kind suchen. Zärtliche und liebevolle Berührungen signalisieren dem Kind, dass die Bezugspersonen gerne seine Nähe spüren und stärken damit sein Selbstbewusstsein.

Zeit ist ein Geschenk

Ein ganz wichtiges Geschenk für das Kind ist Zeit. Die Eltern sollten etwa zumindest einmal pro Tag mit ihrem Kind spielen, ohne zu kritisieren. Die gemeinsame Zeit sollte ein Genuss für das Kind sein. Es sollte die Aktivität aussuchen dürfen. Im Spiel sollte es nicht um Leistung gehen, sondern um das Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Ebenso wichtig ist das Gefühl von Zuverlässigkeit und Sicherheit. Dafür müssen alle Bezugspersonen den Kindern Struktur und Organisation vermitteln. Und damit sind sie auch Vorbild im Erlernen von Struktur und Disziplin, die für das Kind unerlässlich sind, um sich im Alltag behaupten zu können.

Fortschritte entdecken und würdigen

Sozusagen als Coach ihres Kindes müssen die Erziehenden deshalb diszipliniert, ruhig und gelassen, durchschaubar, gut organisiert, planvoll, unendlich geduldig, selbstverständlich gerecht und fähig sein, die Fortschritte des Kindes zu erkennen und zu loben. Dazu gehört es auch, Rituale in den Alltag einzubauen, Änderungen der Routine immer rechtzeitig bekannt zu geben und klare Anweisungen zu geben.

Das ist alles nicht so einfach und oft auch unbequem. Aber auch Aust-Claus und Hammer erinnern daran: Nichts ist so stark, wie ein gutes Vorbild.

Selbstständigkeit und Unabhängigkeit

Selbstständigkeit und Unabhängigkeit sind weitere wichtige Erziehungsziele. Das kann ein Mensch nur dann lernen, wenn er Aufgaben bekommt, die auch Wertschätzung finden. Für Kinder wie Kim und Max ist es deshalb wichtig, Aufgaben zugeteilt zu bekommen, die von seiner Umgebung geschätzt sind und für deren Erfüllung es auch Lob erhält. Dann wird es auch seine Aufgaben bewältigen und stolz auf sich sein. Dabei sind kleine Belohnungen oder ein ganzes Belohnungssystem, wie es etwa die Expertinnen empfehlen, durchaus erlaubt. In solch einem Umfeld könnten sich auch Kim und Max gut entwickeln.

ADS-Kinder haben es schwer – und ihre Eltern auch. Ebenso wichtig ist deshalb, dass die Eltern Unterstützung finden und sich von Zeit zu Zeit selbst belohnen. Sie haben es verdient. Gesprächs- oder Selbsthilfegruppen, die über das Internet leicht zu finden sind, können eine wesentliche Stütze sein. Trotz aller hohen Anforderungen ist Nachsicht gegen sich selbst gefragt. Denn wie vieles andere im Leben, braucht Erziehung Zeit und den langen Atem der Eltern.

Mehr zu Optimind finden Sie hier: https://opti-mind.de/home-2/

Unsere Empfehlung:

Elisabeth Aust-Claus / Marina Hammer: Das ADS-Buch – Neue Konzentrationshilfen für Zappelphilippe und Träumer: Das OptimMind-Konzept, 18. Auflage, Oberstebrink 2015, 320 Seiten, ISBN: 978-3-9804493-6-6, 19,80 Euro.

Elisabeth Aust-Claus / Marina Hammer: Das ADS-Buch für Erwachsene, Oberstebrink 2015, 352 Seiten, ISBN 978-3-934333-06-2, 19,80 Euro.

Gernot Körner




Besser lernen und kreativer durch Face to Face

Erhebung der Cornell University bestätigt: Kinder finden leichter neue Lösungen als Erwachsene

Von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen und nicht Schulter an Schulter, verbessert das Lernen, wie eine Studie der Cornell University http://cornell.edu zeigt. Laut den Psychologen gilt das auch dann, wenn dabei schwierige physische Fähigkeiten gelernt werden, die aus dieser Perspektive schwerer zu erwerben sein sollten. Bei Experimenten haben Kinder und Erwachsene ein komplexes visuelles und räumliches Problem – das Öffnen einer Puzzle-Box – rascher gelöst, wenn ein Modell ihnen die Lösung von Angesicht zu Angesicht zeigte – im Gegensatz zu anderen, die daneben oder senkrecht positioniert waren.

Direkter Blickkontakt wichtig

Über alle Altersgruppen schnitten die Studienteilnehmer besser ab, wenn sie nicht nur die Hände der Ausbilder sehen konnten, sondern auch ihre Augen, ihren Blick und die Bewegungen des Gesichts. Laut den Forschern vermittelt die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht zusätzlich zu den visuellen Infos über die Aufgabe wertvolle soziale Infos über Ziele und Motivationen. Laut der leitenden Wissenschaftlerin Ashley Ransom dürfte die geteilte geistige Perspektive für manche Arten des Lernens wichtiger sein als das Teilen einer gemeinsamen visuellen Perspektive. „Die Interaktion von Angesicht zu Angesicht könnte statt der genauen Nachahmung des Lehrers Kreativität und Fortschritt ermöglichen.“

Das Lernen einer neuen visuell-räumlichen Aufgabe, wie das Binden eines Knotens oder das Spielen eines Instruments, soll es notwendig machen, die Perspektive der Lehrenden zu übernehmen und zu versuchen, die Welt durch ihre Augen zu sehen. Die neue Studie deutet darauf hin, dass es auch wichtig sein dürfte, ihre Augen tatsächlich zu sehen. Die farbenfrohe Puzzle-Box enthielt vier Schichten. Für das Öffnen waren zwölf Schritte erforderlich. Dazu gehörte das Entfernen von Bolzen und Paneelen, das Bewegen von Schiebern sowie das Drehen von Schrauben. Dabei gab es mehrere mögliche Lösungen. Bei der Demonstration wurden überflüssige Bewegungen eingebaut, um die Nachahmung besser zu beurteilen.

Richtiger Winkel entscheidend

Die Forscher haben nach dem Zufallsprinzip 36 Kindern zwischen vier und sechs Jahren und 57 Studenten zwischen 18 und 27 Jahren Vorführungen mit einem Winkel von 0,90 und 180 Grad in Relation zu dem Modell gezeigt. Sie hatten dann drei Versuche, die Box von welcher Position auch immer zu öffnen. In einem Bereich waren jene, die von Angesicht zu Angesicht gelernt hatten, weniger erfolgreich: Sie imitierten weniger genau als die Teilnehmer, die die Gesichter nicht direkt sehen konnten. Beim Öffnen der Box waren sie jedoch schneller und fanden eher neue Lösungen und verließen sich nicht auf die gezeigte Lösung.

Laut Anderson waren sie beim Nachahmen nicht so gut. Das habe jedoch einen Vorteil, weil dadurch Entdeckungen unterstützt wurden. „Eine soziale Perspektive – das Anschauen von Menschen und wohin sie schauen – ermöglichte Kindern und Erwachsenen unter den Bedingungen, die die schwierigsten sein sollten, bessere Lernende zu werden. Die Erwachsenen kopierten eher die Lösung des Modells und entschieden sich dafür, die Puzzle-Box aus dem Blickwinkel des Lehrers zu lösen. Im Gegensatz dazu fanden die Kinder neue Lösungen und behielten ihre ursprüngliche Position bei. Diese Studienergebnisse legen nahe, dass Erwachsene im Laufe der Zeit besser im Auswendiglernen geworden waren, aber mit mehr formaler Bildung auch weniger innovativ. Details wurden in „PLOS ONE“ veröffentlicht.

Quelle: Moritz Bergmann/pressetext.redaktion




Was Kinder für ihre Entwicklung wirklich brauchen

Über die Notwendigkeit zur Gegensteuerung bei einer zunehmend funktionalisierten und didaktisierten Elementarpädagogik

Die Corona-Pandemie hat mit ihren unterschiedlichen Regelungen und Einschränkungen für das öffentliche Leben nicht nur Auswirkungen auf die breite Bevölkerung sondern auch auf die Gestaltung der Alltagspraxis in Kindertageseinrichtungen. Ohne die Bedeutsamkeit einiger dieser Maßnahmen in Abrede zu stellen, besitzt die Fülle dieser Maßnahmen allerdings einen zunehmenden entwicklungseinschränkenden Bedeutungswert für (selbst)bildungsrelevante Entwicklungsprozesse bei Kindern. Zusätzlich deswegen, weil schon die immer stärker ausgeprägte durchgetaktete Didaktisierung und alltagsferne Funktionalisierung der Elementarpädagogik damit vorangetrieben wird. Kindern wird ihre Kindheit im Hinblick auf deren Entwicklungschancen immer stärker geraubt.

Alltagsbeispiele, die nachdenklich machen müssen und Konsequenzen erforderlich machen

Durch die Corona-Pandemie und die damit vorgegebenen Umgangsbeschränkungen konnten bzw. können keine Lichterfeste, keine Weihnachtsfeiern, kein Laternen-/ Martinsumzug und auch keine Sommer- und Herbstfeste stattfinden. Zusätzlich findet in der Regel kein gemeinsames Frühstücksbuffet statt und Kindern werden die Speisen/Getränke serviert; Kinder dürfen auch keine Einladungen zum Geburtstagsfest aussprechen bzw. selber wahrnehmen. Darüber hinaus ist es in vielen Kindertageseinrichtungen nur möglich, in Absprache mit den anderen Kita-Gruppen eine vorher festgelegte, mit einem Absperrband gekennzeichnete Außenfläche innerhalb eines bestimmten Zeitfensters zu nutzen und gegenseitige Besuche in andere Kita-Gruppen sind untersagt, womit feste Freundschaften gruppenübergreifend nicht gepflegt werden können.

Besucherlisten müssen mit genauen Person-/Anschriftangaben und einer Begründung für den Besuch ausgefüllt, Kinder müssen bei Ankunft von ihren Eltern vor dem Kindergarten einer Fachkraft übergeben, Spielsachen dürfen von Zuhause nicht mehr mitgebracht werden und das gemeinsame Singen ist – wenn überhaupt – nur noch im Gruppenverbund erlaubt. Darüber hinaus gab bzw. gibt es weitere und immer wieder neue Vorgaben, so, als seien Kinder eine vom Aussterben bedrohte Spezies.

Kinder haben Entwicklungsrechte, die es zu (be)achten und umzusetzen gilt

Durch diese Maßnahmen wachsen Kinder zunehmend in einem Umfeld auf, in dem es ihnen durch eingeschränkte Lebenswelten, zerrissene Zeiten und eingegrenzte Lebensräume immer schwerer gemacht wird, sich selbst nach eigenen, psychosozialen Grundbedürfnissen und genetisch in Gang gesetzte Aktionsimpulsen zu entwickeln, sich selbst dabei mit Ruhe, ohne Unterbrechungen, wahrzunehmen, um sich dabei als unverwechselbare Persönlichkeit zu stabilisieren. Insofern ergeben sich sowohl für die Aufgaben einer kindorientierten AlltagsKitaPraxis als auch für die Schwerpunktsetzung unverzichtbare Eckwerte, die es genauer zu erfassen gilt.

Und genau hier kommen diese Merkmale in vielen elementarpädagogischen Einrichtungen häufig zu kurz, weil durch manche politisch gesetzte Schwerpunkte (z.B. durch die vielerorts übermächtig eingesetzte Digitalisierung und eine gegenwartsferne, funktional gestaltete naturwissenschaftliche Bildung), wirtschaftlich initiierte, durch manche Stiftungen und Wirtschaftsverbände ins Leben gerufene, teilleistungskonzipierte Förderprogramme’ unterschiedlicher Art sowie Listenführungen ohne Ende elementare Kinder- und Kindheitsbedürfnisse beiseite geschoben werden, für längere Zeit im Abseits liegen bleiben und immer wieder Träger-, Eltern- und ErzieherInnenbedürfnisse sowie deren Wünsche die Richtung sowie die Ausgestaltung der Pädagogik vorgeben. Dieser sich nach vorne bewegender Rückwärtsgang der Pädagogik ist unter dem Gesichtspunkt einer entwicklungsförderlichen Pädagogik weder fachlich zu verstehen noch gut zu heißen und bedarf daher einer Kehrtwendung hin zum KIND.

Das Leben hält entwicklungsförderliche und -hinderliche Einrücke bereit

Negative Alltagserfahrungen und entwicklungshinderliche Geschehnisse offenbaren sich in der Regel in Entwicklungsverzögerungen, Entwicklungsrückschritten oder in den kindlichen Irritationen (= Verhaltensauffälligkeiten, bspw. Angstempfindungen, Zurückhaltung, gesteigerter Aggressivität/Gewalt, zwanghafte Verhaltensweisen, psychosomatische Ausdrucksformen, Leistungsverweigerung….). Eingeschränkte Lebenswelten, eingegrenzte Lebensräume und zerteilte Kinderzeiten sorgen für nachhaltige Entwicklungshindernisse und werden von Kindern insbesondere durch so genannte Trennungserlebnisse (z.B. wenn seelische Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden, Kinder zu früh „vernünfteln“ müssen oder durch Einengungen in ihrem Erfahrungs-, Spiel- und Bewegungsbedürfnis eingeengt werden), Beziehungsnöte (z.B. wenn sich Kinder allein gelassen fühlen, Erwachsene Kinder mit einer belastenden Schuld belegen oder Kinder nur dann Liebe finden wenn sie möglichst früh „perfekt“ sind), Bedrohungsängste (z.B. wenn Kinder sich in problematisch erlebten Situationen alleine gelassen oder ausgegrenzt fühlen bzw. Gewalt in ihren unterschiedlichsten Formen erfahren müssen), Auslieferungserlebnisse (z.B. wenn Kinder sich in bestimmten Situationen völlig wehrlos erleben, unter einer  fehlenden Solidarität und mit einer fehlenden Wertschätzung aufwachsen/ leiden müssen) oder Ohnmachtserlebnisse (z.B. in denen Kinder beherrscht, gegängelt werden oder durch eine Machtausnutzung eines Erwachsenen schutzlos ausgesetzt sind) wahrgenommen.


Was brauchen Kinder für ihre Entwicklung?

„In einer Zeit wirtschaftlicher und technologischer Wandlungen, veränderter Situationen des Wohnens und Zusammenlebens, in der mediale Konsumorientierung bereits das frühkindliche Leben mitprägt, sollten wir einmal einen Schritt zurücktreten und – ohne uns den modernen Möglichkeiten zu verweigern – darüber nachdenken, was unsere Kinder, seien es eigene oder im pädagogischen Rahmen anvertraute, zu einer positiven Selbstentwicklung wirklich brauchen.“

Armin Krenz
Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik
Kinder sehen, verstehen und entwicklungsunterstützend handeln
Klappenbroschur, 200 Seiten
ISBN: 978-3-944548-02-9
24,95


Psycho-soziale Grausamkeiten – in kleinen und großen Ausprägungen – gegenüber Kindern gibt es auch in Kindertageseinrichtungen: auch heute noch. Dazu folgende, ganz aktuelle Beispiele:  In manchen Kindergärten gibt es für jeden Tag der Woche genau festgelegte ‚Stundenpläne’, denen sich die Kinder unterordnen müssen. Partizipation und Alltagsorientierung sind dort völlige Fremdworte. Einem Kind in einer Kita in Bayern, das seine Speise nicht essen wollte, wurde mit folgenden Worten gedroht: „Wenn Du das nicht aufisst, darf Deine Mutter Dich heute nicht abholen und Du musst über Nacht ganz alleine hier im dunklen Kindergarten schlafen.“

In einem niedersächsischen Kindergarten wurde/wird ein Tag in der Woche als ‚räderfreier’ Kita-Tag von der Leitungskraft mit der Begründung festgelegt, Kinder müssen gezielt den Umgang mit Frustrationen lernen und dadurch Belastbarkeit aufbauen. Das heißt, dass alle Dreiräder und andere fahrbare Untersetzer im Gartenschuppen eingeschlossen bleiben. Alle Kinder in einer Gruppe, die nicht müde sind, müssen sich zu einem bestimmten Zeitpunkt und für eine bestimmte Zeit zum Schlafen legen, verbunden mit der Anordnung, in dieser ‚Schlafenszeit’ auch nicht miteinander zu reden. Zusätzlich hält sich eine >Schlafwache< im Raum auf, um für Ruhe zu sorgen. Spielaktive Kinder werden in ihren eh schon viel zu knapp bemessenen Spielzeiten immer wieder unterbrochen und zur Teilnahme an Tätigkeiten aufgefordert, die in keiner Weise ihrem Entwicklungsinteresse entgegenkommt.

Dem Spiel wird dort nur eine fachlich untergeordnete Rolle beigemessen. Eine ‚Kommunikation’ mit Kindern sieht oftmals so aus, dass die Fachkräfte Fragen stellen (sie sind hier die Akteure) und Kinder damit zu Antwortgebern (als Reakteure) degradiert werden. Viele Erzieher*innen nutzen während ihrer Arbeitszeit mit Kindern ihre Handys für Privatgespräche, anstatt die gesamte Zeit den Kindern zu widmen. Ungezählte, weitere Beispiele könnten an dieser Stelle folgen. Solche und ähnliche Vorkommnisse widersprechen nicht nur in eklatanter Weise den Grundprinzipien einer humanistisch orientierten Pädagogik und spezifischen QM-Items sondern auch verbrieften Kinderrechten. Insofern bedarf es einer ungeteilten Aufmerksamkeit, entwicklungshinderliche Fakten/ Ereignisse stets bewusst wahrzunehmen, im Kollegium öffentlich zu thematisieren und für eine Veränderung zu sorgen.

Doch damit nicht genug…

Auch schon vor der der Corona-Zeitrechnung kamen (und kommen weiterhin) neue Aufgaben bzw. einzuhaltende Einschränkungen auf die elementarpädagogischen Fachkräfte zu – zusätzlich zu den nicht zu akzeptierenden Gruppengrößen und dem eklatanten Mangel an Fachkräften: beim Wickeln der Kinder müssen Gummihandschuhe getragen werden; Toilettenpapierrollen zum Basteln dürfen wegen möglicher Fäkalienspuren nicht mehr zum Werken benutzt werden; Topfblumen sollen wegen möglicher Sporen in der Blumenerde aus den Gruppenräumen verbannt werden; beim Füttern kleiner Kinder müssen Erzieher*innen in manchen Einrichtungen eine ganzkörperbedeckende „Schutzkleidung“ tragen; eine Dokumentation bei einer Medikamentenverabreichung an erkrankte Kinder; das Backen darf nur nach genehmigten Rezepten erfolgen und bei den Rezepten müssen die Allergene gekennzeichnet sein; bis auf die Küchenhilfen darf niemand die Küche betreten; Eltern- und Kinderinterviews sowie Elterngespräche sind zu dokumentieren und auszuwerten; anonymisierte Zufriedenheitsabfragen müssen in regelmäßigen Abständen durchgeführt, ausgewertet und öffentlich ausgehängt werden; tägliche Spielplatzkontrollen sind an der Tagesordnung; statt ‚echten’ Kerzen dürfen nur noch LED-Leuchten genutzt werden; schwer einsehbare Außenfläche müssen ‚bereinigt’ werden; Entwicklungsberichte sind zu jedem Kind in regelmäßigen Abständen anzufertigen … und darüber hinaus umfassen die meisten QM-Verfahren über 400 Seiten mit Anforderungsitems, die erfüllt und protokolliert werden müssen.

(Anmerkung: So berechtigt die Anfänge eines Qualitätsmanagements waren, so unglaublich stark haben sich viele QM-Verfahren mit einer Eigendynamik erweitert als gäbe es in der Pädagogik nichts Wesentlicheres als eine permanente Listenführung und eine ständige Dokumentation – und das auf Kosten der Zeit, die vielmehr den Kindern zusteht!) Unter all’ diesen Einschränkungen und Vorgaben leidet die Qualität von Kindheit, weil Kindern damit auch die Unternehmenslust, die Initiative, Unbekanntes zu entdecken und zu erforschen, die Risikofreude sowie das sich Einlassen auf Wagnisse immer stärker abhanden kommt (und sich im Jugendalter durch Initiativlosigkeit/ Lethargie  oder durch Erlebnisswünsche ausdrücken, die sich wiederum durch ein besonders ausgeprägtes Wagnisverhalten auszeichnen.)

Fazit:

(1) Solange Konzeptionen Aussagen enthalten, die ‚kindorientierte Entwicklungsbedürfnisse als Ausgangspunkt der pädagogischen Alltagsgestaltung beschreiben und diese in der Praxis nur bruchstückhaft zu entdecken oder gar nicht wiederzufinden sind, werden diese zu unverbindlichen Konzepten degradiert und besitzen infolge dessen keine Aussagekraft.

(2) Solange sich elementarpädagogische Fachkräfte nicht deutlich von fachlich unberechtigten Trägererwartungen oder überzogenen Elternwünschen abgrenzen, solange wird die Einrichtung kein professionelles Profil besitzen können.

(3) Solange die Elementarpädagogik es nicht schafft, die pädagogische Wertigkeit vom Kinde aus zu betrachten und zu gestalten, solange bleiben bedeutsame psycho-soziale Grundbedürfnisse von Kindern unbeachtet und werden in nachhaltigen Folgen zum Ausdruck kommen.

(4) Solange alltagsferne, inhaltlich voneinander abgetrennte Themenangebote den Kindern vorgesetzt und untrennbar vernetzte Sinnzusammenhänge voneinander isoliert werden, so dass nahezu alles auf eine strikte Didaktisierung der Pädagogik hinausläuft, solange werden spannende und beziehungsförderliche Bindungserfahrungen und (Selbst)Bildungsprozesse (auf beiden Seiten!) einer funktionalen Kognitionserziehung geopfert.

(5) Solange Freude, eine innere Zufriedenheit, ein tiefes Glücksempfinden und eine wache Neugierde nicht als a-prioriertes Ziele der Elementarpädagogik im uneingeschränkten Vordergrund stehen, solange entfernen sich Kinder und Erwachsene immer weiter voneinander.

(6) Solange in Kindertageseinrichtungen ein funktionales, fachlich verkümmertes Bildungsverständnis im olympischen Sinne von ‚früher, schneller, höher, weiter’ die Alltagspädagogik prägt, solange liegt diesem Missverständnis von Bildung eine didaktisierte Vorschulpädagogik zu Grunde.

(7) Solange die Elementarpädagogik die von wirtschaftlich geprägten Interessensgruppen/ Verbänden/ Stiftungenentwickelten und teilisolierten‚Förderprogramme’ ohne Wertigkeitsüberprüfung übernimmt, solange wird es keine Pädagogik vom Kinde aus geben.

(8) Solange Fachschulen/ Fachakademien u.ä. Ausbildungsstätten für Erzieher*innen an inhaltlich starren Ausbildungsplänen, einer funktional orientierten Unterrichtsgestaltung und an rigiden Praxisbeurteilungen ihrer Praktikant*innen festhalten, solange ist es den Erzieher*innen in ihrem späteren Beruf auch umso schwerer möglich, sich auf eine kindorientierte, lebendige und damit innovative und auch mal ungeplante Pädagogik einzulassen.

(9) Und solange elementarpädagogische Fachkräfte keine Solidarität – selbstverständlich trägerübergreifend – miteinander herstellen und keinen bzw. nur wenig Mut aufbringen, mit ihrem Träger, FachberaterInnen und Eltern bei fachlich unberechtigten Forderungen in ein konstruktives Streitgespräch einzusteigen, solange bleibt die Elementarpädagogik nur ein ‚Anhängsel’ anderer Fachdisziplinen.

Mögen diese Ausführungen dazu beitragen, dass die Kindheitspädagog*innen endlich der >gestohlenen Kindheit< aktiv und zugleich fachkompetent entgegentreten.

Alle bedeutsamen Schwerpunkte der Elementarpädagogik müssen vom Kind ausgehen: von ihren Bedürfnissen (nicht von ihren Wünschen!!!), ihren Interessen, ihrem Können und ihrer motivationalen Ausgangslage. Das geht nur, wenn sich elementarpädagogischeFachkräfte immer wieder in Selbstreflexionen und Selbtklärungen begeben (a), Kinder wahr- und ernst nehmen (b), sie sich selbst – und das jeden Tag aufs Neue – die Frage stellen, was tut den Kindern gut’(?) (c) und dann gemeinsam mit Kindern erörtern, wie die Gestaltungsumsetzung aussehen, geplant und durchgeführt werden kann (d).

Daher liegt der Lösungsbeginn bei allen vorgegebenen und vorhandenen Einschränkungen darin, mit Kräften, ausgehend durch eine Selbstmotivation, diese eben beschriebene Orientierung anzunehmen, um auch in einer zunehmend schwierigen Zeit den Einschränkungen, Einengungen und einer Zeitzerrissenheit Paroli zu bieten.

 (Anmerkung: Ich danke der Kindheitspädagogin Doris Krümberg (NS) und dem Kindheitspädagogen Michael Modrow (SH) für deren Unterstützung bei den Recherchen zur Faktensammlung im Hinblick auf eine sich zunehmend formalistisch entwickelnde Elementarpädagogik)

Literaturhinweise:

Krenz, Armin: ENTWICKLUNGSORIENTIERTE ELEMENTARPÄDAGOGIK. Kinder sehen, verstehen und entwicklungsunterstützend handeln. Burckhardthaus-Laetare, Körner Medien UG. München 2014

Largo, Remo H.: DAS PASSENDE LEBEN. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2. Aufl. 2017

Lee, Jeffrey: Abenteuer für eine echte Kindheit. DIE ANLEITUNG. Piper Verlag, München 2005

Armin Krenz, (*1952), Prof. h.c. Dr. h.c., Wissenschaftsdozent (mit Zulassung zur heilkundlich, psychologisch-therapeutischer Tätigkeit) war zuletzt als Honorarprofessor an den staatl. Universitäten in Bukarest & Moskau sowie als Wissenschaftsberater in Chongqing (China) tätig.

Kontakt: armin.krenz@web.de