Beobachtung und Dokumentation: Ansätze und Praxishilfen für die Kita

Fachbeiträge, Videos und Praxismaterial zum Download rund ums Thema

„Beobachtung ist die Grundlage für eine Pädagogik, in der das KIND und sein Recht auf eine möglichst förderliche Entwicklung im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Mit der Beobachtung fängt jede entwicklungsförderliche Pädagogik an und bildet den Grundstein (das Fundament) für wertschätzende Beziehungserlebnisse sowie begleitende Entwicklungsimpulse“, schreibt Prof. Armin Krenz in seinem Beitrag mit dem Titel „Kindliche Entwicklungsprozesse beobachten und dokumentieren“, den wir bei SPIELEN und LERNEN publiziert haben.

Damit dies einfacher gelingt, ist ein Konzept für die systematische Beobachtung in der Kita notwendig. Eine ganze Reihe von Arbeitshilfen und Instrumente können dabei sehr nützlich sein. Sehr gefragt ist unser Leitfaden zur Vorbereitung für Entwicklungsgespräche, den wir seit langer Zeit schon gratis zum Download anbieten. Bei unserer Internetrecherche ist uns vor allem der deutsche Bildungsserver aufgefallen. In der Rubrik „Entwicklungs- und Bildungsprozesse beobachten und dokumentieren“ finden sich zahlreiche Anregungen und Praxishilfen.

Ansätze und Konzepte

Für alle, die erst einmal einen groben Überblick zum Thema haben wollen, bietet sich das Video zum Thema „Bildungsdokumentation“ von „Schulen ans Netz e.V.“ an. Der kleine Film ist so einfach und eingängig, dass ihn auch Laien gut verstehen können. Mit einer Gesamtlänge von 3:56 Minuten ist er auch gut für einen Elternabend als Einstieg zum Thema geeignet:

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Unter den Ansätzen und Konzepten zur systematischen Beobachtung fanden wir vor allem den Beitrag zum Wahrnehmenden Beobachten stark. Die Website zu dem prozessorientierten Verfahren zur Beobachtung und Dokumentation bietet neben zahlreichen Downloads, etlichen Literaturtipps und Praxisbeispielen eine ganze Reihe Online-Vorträge, in denen Prof. Dr. Marjan Alemzadeh durch die vier praktischen Schritte des Wahrnehmenden Beobachtens führt.

Weitere spannende Beiträge finden sich etwa

Eine Vorlesung der Hochschule Hildesheim zum Thema „Kindheitspädagogische Beobachtung und Dokumentation“ von Prof. Dr. Peter Cloos ist auf Youtube zu sehen. Der Vortrag dauert etwa 75 Minuten:

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Ebenfalls von der Uni Hildesheim stammt auch das Buch Organisationsentwicklung in Kitas – Beispiele gelungener Praxis“ von Cindy Mieth. Das Buch lässt sich kostenlos als PDF downloaden.

Praktische Hilfen

Verschiedene Firmen bieten aktuell eine Fülle von Software zur Beobachtung und Dokumentation an. Da wir aber keine Möglichkeiten hatten, diese zu testen und wir uns zudem auf kostenfreie Angebote konzentrieren wollten, stellen wir hier keine kompletten Programme vor.

Vieles geht aber auch ohne PC. Und die beste Variante ist, wenn die Wahl Ihnen überlassen bleibt. Das ist etwa beim Kompik-Beobachtungsbogen der Fall. Mit Kompik können Sie die Entwicklung von Kita-Kindern im Alter von 3,5 bis 6,0 Jahren beobachten und dokumentieren. Das Programm lässt sich einfach herunterladen und installieren. Der Fragebogen kann auch ohne PC in Papierform ausgefüllt werden.

Das Netzwerk frühkindliche Entwicklung BIBER bietet einen guten Überblick mit praktischen Hilfen zur Bildungsdokumentation und Portfolioarbeit. „Um die Persönlichkeitsentwicklung bestmöglich zu fördern, wird das Kind – sein Verhalten, Spiel, Bewegung, Sprache – gezielt beobachtet. Diese Beobachtungen sind Grundlage für individuelle Förderschritte, die in der Bildungsdokumentation sichtbar gemacht und festgehalten werden“, beschreibt BIBER den Inhalt der Website.

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Rund um das „Bildungsbuch“ dreht sich alles auf der Seite der Gewerkschaft Bildung und Erziehung (GEW). Hier heißt es: „In nahezu allen Bildungsplänen für Kindertagesstätten wird verlangt, Bildung zu beobachten und zu dokumentieren. Aber wie lässt sich Bildung sichtbar machen? Ein Team von Pädagogen aus Praxis, Wissenschaft und Fort-/Weiterbildung geht seit Jahren dieser Frage nach und hat das Projekt ,Bildungsbuch‘ entwickelt, das zur Zeit in Kindertagesstätten praktiziert, weiterentwickelt und reflektiert wird.“ Daneben findet sich auf dem Bildungsserver auch „Das Übergangsbuch“ im PDF-Format. Hier dokumentieren Kinder, Eltern und pädagogische Fachkräfte den Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Schule.

Ebenfalls auf dem Bildungsserver finden sich weitere Links etwa

Eine ganze Reihe weiterer Fachartikel hält auch „Das Kita-Handbuch“ bereit.

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Datenschutz

Wer viel dokumentiert, sollte auch auf den Danteschutz achten. In den Beispielen, die oben aufgeführt sind, finden sich dazu etliche Leitfäden und Hinweise. Wer es noch detaillierter wünscht, sollte sich die „Empfehlungen zum Datenschutz bei Bildungs- und Lerndokumentationen in Kindertagesstätten“ downloaden. Herausgegeben hat das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung des Bundeslandes Rheinland-Pfalz die Empfehlungen. Sie dürften aber wohl für alle Bundesländer Geltung haben.

Weitere Fachbeiträge




Kinder sind Forschende in ihrer eigenen Welt

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Das Bedürfnis, sich selbst und die Umwelt zu begreifen, liegt in der Natur des Menschen

„Ich hätte viele Dinge begriffen, hätte man sie mir nicht erklärt.“, beklagte einst der polnische Lyriker und Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec eines der zentralen Missverständnisse in der Erziehung und im Bildungsbetrieb. Seit vielen tausend Jahren verspüren Erwachsene das Bedürfnis, Kindern die Welt zu erklären und sie nach einem fiktiven Bild zu „formen“. Und fast ebenso lange existiert die Erkenntnis, dass das so nicht nur nicht funktioniert, sondern oftmals sogar den gegenteiligen Effekt hat. Die chinesischen Philosophen Laotzi und Konfuzius waren wohl die ersten, die vor gut 2500 Jahren darauf hingewiesen haben. Auch die antiken Griechen und Römer erkannten das Problem. So erklärte der berühmteste Redner Roms, Marcus Tullius Cicero: „Die Autorität der Lehrenden ist oft ein Hindernis für jene, die lernen wollen.”

Lernen von Anfang an

Und lernen will jedes Kind von Anfang an. Schließlich ist das überlebenswichtig. So sucht ein Säugling den Kontakt zu seinem Gegenüber, und erfährt dabei, ob er willkommen ist. Er erforscht seinen Körper und seine nächste Umgebung. Dabei begreift er, wie sie auf ihn reagiert. Heute sagen wir dazu, „er geht in Resonanz“.

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Immanuel Kant

Fühlt sich ein Kind geborgen, macht es sich spätestens zu dem Zeitpunkt, wenn es krabbeln kann auf den Weg, die Welt zu erobern. Dieses Streben nach Autonomie verstärkt sich, wenn es sein Selbst erkennt. Das Bedürfnis nach Autonomie ist etwas zutiefst Menschliches. Es steht ein ganzes Leben lang im Spannungsfeld zu dem Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit. Zur Autonomie gehört die Möglichkeit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, Selbstwirksamkeit zu erleben. Das setzt von Anfang an nicht nur Beteiligung voraus, sondern ist auch die Voraussetzung für Forschergeist und Kreativität.

Keine Lust auf Bevormundung

Kein Wunder also, dass Kinder keine Lust darauf haben, sich ständig bevormunden zu lassen. Ihr Bedürfnis nach Autonomie ist nicht geringer als das von Erwachsenen. Andererseits sind sie auf einer ganz anderen Entwicklungsstufe, die nach einer anderen Form des „Lernens“ verlangt, als das von uns Erwachsenen. Für sie sind viele Dinge neu. Und darauf sind sie neugierig. Um ihre Welt verstehen zu können, wollen und müssen sie diese möglichst mit allen Sinnen begreifen.

Entgegen dieser Erkenntnis existiert noch immer das Vorurteil, dass es darauf ankomme, Kindern möglichst viel zu erklären, damit sie im Leben gut vorankommen. Dass das so nicht funktionieren kann, hat im 19. Jahrhundert der Pädagoge Friedrich Wilhelm Fröbel erkannt und in dem Satz zusammengefasst: „Bei der Erziehung muss man etwas aus dem Menschen herausbringen und nicht in ihn hinein.“ Daraus ist seine Idee für den ersten Kindergarten entstanden. Im Gegensatz zu den damals bereits existierenden Kinderbewahranstalten und Kleinkindschulen sah er die Aufgabe des Kindergartens unter anderem darin, das Spiel der Kinder und deren Bemühungen, die Welt zu erfahren, durch Erwachsene zu unterstützen.

Interesse und Möglichkeiten

Kinder sind also ab einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung immer Forschende und Experimentierende – wenn man sie lässt. Maria Montessori schrieb dazu: „Das Interesse des Kindes hängt von der Möglichkeit ab, eigene Entdeckungen zu machen.“ Eine Erkenntnis, die durch die Neurobiologie längst belegt ist. Dafür brauchen Kinder nicht viel. Naturräume sind sicher die besten Forschungsräume. Aber auch eine vorbereitete Umgebung mit anregenden Materialien kann entsprechende Impulse geben.

Vor allem aber benötigen Kinder pädagogische Fachkräfte nicht nur mit jeder Menge Fingerspitzengefühl, sondern auch mit Vertrauen, Geduld und einem gewissen Maß an Leidensfähigkeit. Denn beim Forschen und Experimentieren haben wir Erwachsene immer schon „die Lösung“ im Kopf. Kinder müssen aber ihren eigenen Weg finden und stoßen oftmals auch auf ganz eigene Lösungen. Dabei ist es für uns, mit all unserer Erfahrung, unseren Vorstellungen und Vorurteilen oftmals nicht leicht, solche, manchmal sehr eigenwilligen und originellen Wege zu akzeptieren, geschweige denn wertzuschätzen. Aber „wer in den Fußstapfen eines anderen wandelt, hinterlässt keine eigenen Spuren“, bringt es Wilhelm Busch auf dem Punkt.

Echte Erkenntnis ist gefragt

Selbstverständlich sollten wir die Kinder dabei nicht dauerhaft in die Irre gehen lassen. Ein ordentliches Maß an Professionalität hilft uns, im richtigen Moment Impulse zu setzen und Orientierung zu bieten. Dennoch gilt immer Rousseaus Motto: „Kindererziehung ist ein Beruf, wo man Zeit zu verlieren verstehen muss, um Zeit zu gewinnen.‘‘

Denn wer echte Erkenntnis erlangen soll, muss dies in seiner eigenen Geschwindigkeit tun können. Darauf haben Kinder ein Recht. Sie zu drängen oder einseitig zu fördern, ist sicher der falsche Weg. Und mag manchmal das ein oder andere Angebot eine Abkürzung verheißen, handelt es sich oftmals um Abwegiges. Unsere Gehirne ticken noch immer wie die unserer Vorfahren vor hunderttausenden von Jahren. Es ist uns noch immer nicht gelungen, Bildung downzuloaden. Schließlich würde uns dabei auch die sinnliche Erfahrung fehlen, die Voraussetzung für das Begreifen ist.

Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.

Albert Einstein

Für Kinder hat Experimentieren und Forschen nichts mit Laboren und Bibliotheken zu tun. Ihr Spiel erfüllt den Zweck. Und wer sie dabei über längere Zeit beobachtet, weiß, mit wie viel Freude und Anstrengungsbereitschaft sie sich nahezu jeder Herausforderung stellen.

Das ist echte Lebenserfahrung. Denn die Welt braucht Menschen, die sich selbstbewusst unbekannten Herausforderungen mit Engagement und auf eigenen Wegen stellen, um sie zu lösen.

Gernot Körner




Kostenloses Aktionsmaterial zum Thema „Entdecken, Forschen, Freisein!“

Stiftung Kinder forschen lädt zu den MINTmachtagen 2024 ein

Was bedeutet Freiheit und warum ist sie wichtig? Welche Erfindungen und technischen Neuerungen haben uns Freiheit ermöglicht und was braucht es, um Freiheit in allen Bereichen und Facetten zu erhalten? Welche Ideen haben Mädchen und Jungen, um sich freier zu fühlen? „Freiheit ist mehr als ein abstraktes Konzept. Sie ist das Fundament unserer Gesellschaft.

Durch die frühzeitige Integration von MINT-Bildung und die Auseinandersetzung mit dem Thema Freiheit stärken wir unsere Kinder und bereiten sie darauf vor, als mündige Bürgerinnen und Bürger unsere Zukunft mitzugestalten“, sagt Michael Fritz, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Kinder forschen. Und so beginnt mit dem Start der Bestellphase für das Aktionsmaterial eine spannende Entdeckungsreise, die ihren Höhepunkt beim zentralen Aktionstag am 18. Juni finden wird.

Früher Zugang zu MINT-Themen

Die MINTmachtage hießen bis 2023 „Tag der kleinen Forscher“. Das Ziel der deutschlandweiten Aktion bleibt unverändert: Jungen und Mädchen schon früh einen Zugang zu den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sowie nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.

In diesem Jahr knüpft das Projekt der Stiftung Kinder forschen an das Wissenschaftsjahr 2024 – Freiheit an. Für die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen von Freiheit, technischen Erfindungen und Kinderrechten stellt die Stiftung zahlreiche Ideen und Hintergrundwissen zur Verfügung.

Pädagogische Fach- und Lehrkräfte können sich das Aktionsmaterial online unter www.mintmachtage.de bestellen. Es beinhaltet eine Sonderausgabe der „Forscht mit!“ und ein Escape-Spiel mit MINT-Rätseln. Einrichtungen, die die Zeitschrift bereits regelmäßig erhalten, bekommen ihr Exemplar voller Anregungen zum Thema Freiheit in diesen Tagen automatisch zugestellt.

Kooperation mit Sesame Workshop

Was würden Kinder tun, wenn sie einen Tag lang alle Freiheiten hätten? Gemeinsam mit Sesame Workshop, der gemeinnützigen Organisation hinter der Sesamstraße, ruft die Stiftung Kinder forschen Kinder in Kitas, Horten und Grundschulen in ganz Deutschland auf, ihre Idee vom „allerbesten Tag“ zu Papier zu bringen. Die kreative Aufgabe soll Kinder dazu anregen, über ihre eigene Freiheit nachzudenken und ihre Träume und Wünsche zu erkunden. Die Malaktion läuft bis zum 31. Mai 2024. Alle Einzelheiten sind unter www.mintmachtage.de zu finden.

Quelle: Pressemitteilung Stiftung Kinder forschen




Vorlesen und Erinnern fördern Spracherwerb

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Eltern sollten gemeinsam verbrachte Zeit effektiv nutzen – Bildungsniveau ist oft entscheidend

Eltern sollten ihren Kindern viel vorlesen und dabei auch in Erinnerungen schwelgen, um die Sprachkenntnisse und Medienkompetenz bestmöglich zu fördern. Dazu raten Forscher der Florida Atlantic University und der Universität Aarhus. Die Wissenschaftler haben die Interaktionen zwischen dänischen Eltern und ihren drei- bis fünfjährigen Kindern bei drei verschiedenen Aktivitäten untersucht. Eltern und Kinder wurden gebeten, gemeinsam ein Bilderbuch anzuschauen, sich an vergangene Ereignisse zu erinnern und mit Legosteinen zu bauen.

Erinnern erhöht Sprachqualität

Anhand von Transkripten dieser Eltern-Kind-Gespräche haben die Forscher Eigenschaften der Elternsprache ermittelt, die nachweislich mit der Sprachentwicklung der Kinder zusammenhängen. Sie haben auch gemessen, wie viel die Kinder gesprochen haben. Es zeigte sich, dass sich Eltern beim Teilen von Erinnerungen um eine qualitativ hochwertige Sprache bemühen, ähnlich jener beim Vorlesen. Das traf für das Spielen mit Legosteinen weniger zu. Sowohl das Erinnern als auch das Teilen von Büchern steigerte den lexikalischen Reichtum der Elternsprache im Vergleich zum Spielen mit Spielzeug.

„Sprechen beim Erinnern zeichnet sich durch längere und komplexere Sätze aus als das Sprechen in vielen anderen Situationen, und es hat sich herausgestellt, dass besonders ausführliches Erinnern, bei dem der Erwachsene das Sprechen des Kindes unterstützt und fördert, die Sprachentwicklung von Kindern fördert“, sagt Psychologin Erika Hoff von der Florida Atlantic University.

Grammatikalische Komplexität

Die Qualität der Elternsprache hängt den Experten nach allerdings stark von deren Bildungsniveau ab. Die Sprache gebildeterer Eltern ist oft grammatikalisch komplexer. Auch wiederholen und erweitern sie häufiger frühere Äußerungen ihrer Kinder. „Ich sage allen Eltern, dass es nicht nur wichtig ist, Zeit mit den Kindern zu verbringen, sondern auch das, was man dabei tut. Wenn Sie gerne Bücher lesen, lesen Sie vor, wenn Sie lieber über die Planung der Zukunft oder über die Vergangenheit sprechen möchten, dann tun Sie das. Wichtig ist vor allem, sich Zeit für Gespräche mit Ihren Kindern zu nehmen“, so Hoff.

Wolfgang Kempkens/pressetext




Konzepte und Ansätze benötigen individualisierte Alleinstellungsmerkmale

Primärbedeutsame Merkmale sind keine Konzepte, sondern gehören zu jeder professionell gestalteten Elementarpädagogik

Eine professionell gestaltete Pädagogik orientiert sich stets an unterschiedlichen Ausgangsdaten mit ihren besonderen, klar beschriebenen und festgelegten Aussagemerkmalen. Überträgt man diese Aussage auf die Elementarpädagogik, so fallen verschiedene Merkmale ins Gewicht, die sich vor allem aus berufspolitischen Verbindlichkeiten, gesetzlichen Vorgaben, bundes- und länderspezifischen Richtlinien bzw. Verordnungen und vor allem aus wissenschaftlichen Forschungsergebnissen sowie Erkenntnissen ergeben.

Wann Kindertagesstättenarbeit gelingt

Die Elementarpädagogik, in der die Krippen- und Kindertagesstättenarbeit angesiedelt ist, trägt neben der elterlichen Erziehung in ganz besonderer Weise mit einem überaus hohen Bedeutungswert zum prozessualen Entwicklungsgeschehen in Kindern bei. Hier werden in bestem Falle Entwicklungsgrundlagen mit einer nachhaltigen Wirkung in Gang gesetzt bzw. stabilisiert, die wesentliche Persönlichkeitsmerkmale in eine förderliche Entwicklung bringen. Im Gegensatz dazu kann es allerdings auch passieren, dass die institutionelle „Erziehung, Betreuung und Bildung“ ihren Auftrag nicht angemessen erfüllt, wenn eine Konzeptionslosigkeit, indifferente Aussagen, fehlende Konzepte, ungenaue bzw. allgemein gehaltene Konzeptbeschreibungen, nur punktuell umgesetzte pädagogische Ansätze oder unangemessene pädagogische Ansätze die Arbeit bestimmen.

Konzepte sind Wegweiser – pädagogische Ansätze haben verbindliche Merkmale!

In der pädagogischen Praxis werden die beiden Termini häufig gleichgesetzt oder verwechselt, was aus professioneller Sicht nicht geschehen sollte. Konzepte sind so genannte „Wegweiser“ für die pädagogische Arbeit, in der Ziele, Methoden, Inhalte, Werte, das Menschenbild sowie Struktur- und Prozessvorschläge genannt sind. Sie sind in der Regel durch Absichten, Beispiele, persönliche Erfahrungen und generell bedeutsame Allgemeinaussagen belegt.

Im Gegensatz dazu fußt ein pädagogischer Ansatz auf einem differenziert beschriebenen Menschenbild, erfasst und beschreibt sämtliche Grundsätze und Grundlagen als verbindliche Anforderungen, vernetzt bei neueren Ansätzen wissenschaftliche Erkenntnisse aus den unterschiedlichen Fachdisziplinen der Entwicklungspsychologie, Bindungs- und Bildungsforschung, beschreibt ethische, ästhetische und kommunikative/ interaktionsbedeutsame Werte, leitet aus den Zielsetzungen praktische Handlungskompetenzen und -notwendigkeiten ab und entwickelt sich anhand neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse wenn nötig weiter.

Damit ist einer persönlich geprägten Vorliebe oder subjektiven Arbeitsausrichtung stets ein fachlich gesetzter Riegel vorgeschoben.   

Konzepte bzw. pädagogische Ansätze ergeben sich stets aus einer Situationsanalyse

Im Feld der Elementarpädagogik stehen viele pädagogische Ansätze bzw. Konzepte bereit, um der jeweiligen Einrichtung ein eigenes Profil zu geben. Genannt seien beispielsweise die folgenden Ansätze: Reggio-Pädagogik, die Fröbel-Pädagogik, die Montessori-Pädagogik, der lebensbezogene Ansatz, der Waldkindergarten, der Situationsansatz, der Situationsorientierte Ansatz, die Pestalozzi-Pädagogik, die Korczak-Pädagogik bzw. die Konzepte der Offenen Arbeit, die Situative Arbeit oder die Freinet-Pädagogik. Welches Konzept bzw. welcher pädagogische Ansatz als Ausgangs- bzw. Schwerpunkt für die jeweilige elementarpädagogische Einrichtung am besten geeignet ist, ergibt sich in erster Linie immer aus den Ergebnissen einer sorgsam durchgeführten Situationsanalyse unter Berücksichtigung des einzugsorientierten Sozialraumes sowie einer biographischen Grundsatzbetrachtung der meisten Kinder aus dem vorhandenen Einzugsbereich in Verbindung mit der aktuellen Situation heutiger Kindheiten!

Das Kind steht im Mittelpunkt, nicht die eigenen Vorlieben

Insofern kann und darf es nicht darum gehen, aus persönlichen Vorlieben oder Wünschen, abgeschlossenen Fort- oder Zusatzausbildungen oder einer persönlichen Faszination für ein bestimmtes Konzept/einen pädagogischen Ansatz ein Konzept bzw. einen pädagogischen Ansatz für die jeweilige Einrichtung festzulegen, wenn gleichzeitig die Aussage getroffen wird, dass „Kinder als Ausgangs- und Mittelpunkt der Pädagogik“ dienen. In diesem Fall wären die Fachkräfte die „vorgabebestimmenden Akteure“ und Kinder würden zu „Erfüllungsgehilfen“ (Reakteure) degradiert.  


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Elementarpädagogik und Professionalität – Lebens- und Konfliktraum Kindergarten

Eine qualitätsgeprägte Elementarpädagogik verlangt von den Fachkräften ein identisches und professionelles Handeln. Nur so geben ErzieherInnen und Leitungskräfte dem Kindergarten ein eigenes, unverwechselbares Profil und sorgen damit für Voraussetzungen und Merkmale einer kompetenten Pädagogik.

192 Seiten, Klappenbroschur
zahlreiche Abbildungen
ISBN: 978-3-944548-00-5
24,95 €


Allgemeinaussagen in Konzepten verhindern notwendige Alleinstellungsmerkmale

Es gibt einige wenige Konzepte, die sich mit Allgemeinaussagen hinsichtlich ihrer selbstbenannten Qualitätsbereiche zu definieren versuchen, obgleich diese vorgestellten Merkmale für alle Konzepte und pädagogischen Ansätze eine begründbare und fachlich notwendige Verbindlichkeit besitzen (müssen). Diese Verbindlichkeiten ergeben sich aus den länderspezifischen Bildungsrichtlinien, aktuellen Forschungsergebnissen aus der Bildungs- und Bindungsforschung sowie der Neurobiologie, dem berufsspezifischen Berufsbild, aus entwicklungspsychologischen Gesetzmäßigkeiten, den qualitätsdefinierten Items eines fachlich abgesicherten Qualitätsinstrumentariums, aus der Faktenlage zur Situation heutiger Kindheiten und aus den zutreffenden Artikeln der UN-Charta ‚Rechte des Kindes‘.

So muss es beispielsweise selbstverständlich sein,

  • dass Fachkräfte ihr berufliches Selbstverständnis aus dem „Berufsbild der Erzieher:innen“ ableiten,
  • dass sie den Prinzipien einer „Selbstbildung des Kindes“ zustimmen und funktionsorientierte, teilleistungsgeprägte Angebote nicht durchführen,
  • ihre pädagogische Arbeit zur Außenwelt, zum Gemeinwesen öffnen und Projekte mit der Außenwelt vernetzen,
  • die UN-Charta „Rechte des Kindes“ in allen Artikeln kennen und die zutreffenden Artikel in einen praktischen Bezug zur Gestaltung der Arbeit umsetzen,
  • ihr erzieherisches „Rollenverständnis“ immer wieder sorgsam und selbstreflexiv auf den Prüfstand legen, um aus tiefgehenden Selbsterfahrungserkenntnissen notwendige Weiterentwicklungsprozesse entdecken und umsetzen,
  • partizipatorische Grundlagen in die Alltagspädagogik implementieren
  • für eine Entwicklungsatmosphäre sorgen, die Kinder motiviert, Bindungs- und Selbstbildungswünsche zu entwickeln,
  • Individualisierungsbedürfnisse der Kinder unterstützen,
  • emotional-soziale sowie handlungsgeprägte Werte exakt benennen und zur Praxis werden lassen,
  • psycho-soziale und motorische Grundbedürfnisse des Kindes ableiten und sättigen können, hinter Kinderwünschen deren eigentliche Bedürfnisse entdecken und diese zum Arbeitsschwerpunkt werden lassen,
  • die vielzitierten Begriffe wie „Achtsamkeit“, „ein wertschätzender Umgang mit Kindern, Eltern und Kolleg:innen“ inhaltlich ausführen und einer Überprüfung mit eigenen Verhaltensweisen zuführen,
  • den vielfältigen „Spuren der Kinder“ folgen und deren Ausdrucksweisen und Erzählwerte fachlich deuten können,
  • normative/ tradierte Regelungen entdecken und deren Sinnhaftigkeit in Frage stellen,
  • Interesse an fachorientierter Fort- und Weiterbildung bekunden und entsprechende Angebote wahrnehmen,
  • Interesse an wissenschaftlich belegter Fachliteratur zeigen,
  • Teamarbeit regelmäßig auf den Prüfstand legen, Differenzen thematisieren und Lösungen bei Problemen finden,
  • formulierte Zielsetzungen umsetzen und mit den erreichten Ergebnisse vergleichen, ob Ziele erreicht wurden,
  • die Prozess-, Produkt- und Strukturqualität anhand eines Qualitätsinstrumentariums alljährlich überprüfen,
  • zeitaktuelle Neuerungen und Forderungen für die Einbeziehung in die Elementarpädagogik einer fachkritischen Berechtigungsanalyse unterziehen.

Primärbedeutsamen Merkmale sind keine konzeptspezifischen Merkmale

Diese primärbedeutsamen Merkmale, die zu jeder (!) kindorientierten, professionell gestalteten Elementarpädagogik gehören, sind damit keine Konzept-/ Ansatzalleinstellungsmerkmale, die eine individuelle, spezifische Konzept-/Ansatzbegründung rechtfertigen, auch wenn sie diese als konzeptspezifische Merkmale anführen, wie dies immer wieder der ‚Offene Kindergarten‘ propagiert und in den Vordergrund einer fachlichen Begründung stellt. Gleichwohl tragen die gefundenen und differenziert ausgeführten Beschreibungen zu einem notwendigen, begründbaren bzw. begründeten Beleg der durchgeführten/ durchzuführenden Arbeit bei. Insofern besteht für jede Einrichtung die Aufgabe, diese 20 Basaleckwerte Stück für Stück prioritätsorientiert zu besprechen, inhaltlich ausführlich mit Hintergrundbelegen zu füllen und durch alltägliche Praxis inhaltsstimmig auszuführen.   

Nur Alleinstellungsmerkmale geben Konzepten und Ansätzen ein Profil

Wie zuvor erwähnt haben alle „pädagogischen Ansätze“ spezifisch benannte Alleinstellungsmerkmale, die dem jeweiligen Ansatz ein unverwechselbares Profil verleihen. Diese sind in der jeweiligen Grundlagenliteratur der Ansatzentwickler sowie in darauf aufbauende Fortsetzungsliteratur stets punktgenau beschrieben und mit entsprechenden Aussagen aus den betreffenden fachwissenschaftlichen Disziplinen begründet bzw. begründbar.

Fehlen hingegen ganz spezifische Alleinstellungsmerkmale, wie es in den meisten pädagogischen Konzepten üblich ist bzw. sind in den Konzeptausführungen lediglich viele allgemeinübliche Aussagen schlagwortartig benannt, besteht immer die Gefahr, dass ein von den Mitarbeiter: innen vertretenes und für die Kindertageseinrichtung festgelegtes Konzept nach eigenen, persönlichen Vorstellungen konzipiert wurde und in der Praxis entsprechend nach subjektiven Vorlieben ausgefüllt wird. Dabei besteht die große Gefahr, dass zwischen professionell bestehenden Ansprüchen und einer umgesetzten Praxis eine Kluft entsteht, die der Elementarpädagogik aus ihrem Anspruch als eigenständige Wissenschaftsdisziplin anerkannt zu werden, abträglich ist.

Fachtheoretischen Grundlagen differenziert beschreiben und belegen

So gilt es dringender denn je, dass Konzepte ihre fachtheoretischen Grundlagen differenziert beschreiben und belegen sowie deren Alleinstellungsmerkmale daraus ableiten. Und Mitarbeiter:innen, die einen bestimmten pädagogischen Ansatz für ihre Einrichtung festgelegt haben, müssen gleichfalls darauf achten, auch tatsächlich die vorgegebenen Alleinstellungsmerkmale vollständig zu beachten und umzusetzen. Wenn dies geschieht, entsteht eine wunderbare Vielfalt, die dem Kindeswohl auf breiter Basis dienlich ist.

Armin Krenz, Prof. h.c. Dr. h.c. et Hon.-Prof. für Entwicklungspsychologie und Elementarpädagogik i.R., war über 4 Jahrzehnte als Wissenschaftsdozent, Wissenschaftsberater, Supervisor und Qualitätsbeauftragter in Deutschland und an einigen (außer)europäischen Universitäten tätig.

Kontakt: armin.krenz@web.de

Bücher des Autors:

Krenz, Armin: Grundlagen der Elementarpädagogik. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2014
Krenz, Armin: Elementarpädagogik aktuell. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2013
Krenz, Armin (Hrsg.): Psychologie für Erzieherinnen und Erzieher. 3. Aufl., Cornelsen, Berlin 2017
Krenz, Armin: Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2023




Wer früh mit Freude liest, hat ein leistungsfähigeres Gehirn

Umfassende Studie mit über 10.000 Kindern weist Zusammenhang zwischen dem frühen Lesen mit Freude und Intelligenz nach

Frühes Lesen ist für die Entwicklung des Gehirns, der Intelligenz und der psychischen Gesundheit von großer Bedeutung. Eine Studie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus England und China mit über 10.000 Kindern zeigt die überraschenden Auswirkungen von Lesebegeisterung bei Kindern, die spätestens im Alter von neun Jahren damit begonnen haben, zum Vergnügen zu lesen.

Was wir bereits wussten

Längst ist bekannt, dass Lesen eine kognitiv bereichernde Aktivität ist, bei der Sprache und Informationen in schriftlicher Form erworben werden, die den Grundstein für den Wissenserwerb legt und weitgehend zum Wissenserwerb beiträgt. Im Gegensatz zum Spracherwerb ist es nötig, dass das Lesen schrittweise und systematisch erlernt und regelmäßig geübt werden muss. Da Kinder vor allem spielerisch gut lernen, ist es wichtig, früh die Freude am Lesen zu vermitteln, etwa durch die Verwendung von gut illustriertem Bildmaterial, um das Verständnis zu erleichtern, erklären die Verfasserinnen und Verfasser der Studie.

Die enorme Bedeutung von Papp- und Bilderbüchern

An dieser Stelle sei angemerkt, dass das Lesen nicht erst mit dem Wissenserwerb über Buchstaben und Ziffern beginnt. Schon das Entziffern von Bildern in Büchern als Gegenstände aus der realen Welt etwa ist ein entscheidender erster Schritt dahin. Nicht von ungefähr sind die ersten Schriften der Menschheit Bilder oder Schriftzeichen mit erkennbar bildhaftem Charakter wie etwa die ägyptischen Hieroglyphen. Wer das weiß ,sollte sich etwa beim Kauf von Papp- und Bilderbüchern seiner Verantwortung bewusst sein.

Spaß muss sein!

Laut Studie kommt es deshalb beim Lesen nicht nur auf kognitive phonologische und orthographische Leseprozesse, sondern auch auf den Spaß an, sich Wissen über Interessen anzueignen, was bei der Entwicklung langfristiger Lesegewohnheiten hilfreich sein kann. Schon im frühkindlichen Bereich können Kinder unterstützt durch eine einfühlsame und verständnisvolle Begleitung erste gedruckte Informationen verstehen, erste Lesefähigkeiten einschließlich alphabetischer Dekodierung und phonologischer Prozesse erlernen, sich an interaktiven Diskussionen über entwicklungsgerechte Texte und Bilder beteiligen. Die Bindung zu Betreuerinnen und Betreuern stärkt den Spaß beim gemeinsamen Lesen. Zum Allgemeinwissen gehört zudem, dass das Vorlesen von Büchern nicht nur zur Entwicklung der Sprachkenntnisse kleiner Kinder beiträgt, sondern auch das Interesse und die Freude am Lesen fördert. Auch in Bezug auf die Prävention von Lese und Rechtschreibschwäche sind diese Vorgänge viel effizienter als in der Grundschulzeit.

Hirnscans weisen Veränderungen nach

Im Gegensatz zu vielen anderen Studien haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur auf die Testergebnisse der Kinder und die Elterninterviews gestützt, sondern auch auf eine große Zahl von Hirnscans. Auch wenn es sich in der Publikation der Ergebnisse etwas kryptisch anhört, hier das Originalzitat aus der Studie auf deutsch: „Diese Teilnehmer mit höheren frühen ,Lesen mit Freude Werten‘ (original reading for pleasure (RfP)) wiesen mäßig größere gesamte kortikale Bereiche und Volumina des Gehirns auf, mit vergrößerten Regionen, einschließlich der Schläfen-, Frontal-, Insula- und Supramarginalregion; links eckig, parahippocampal; rechte mittlere okzipitale, anterior-cinguläre, orbitale Bereiche; und subkortikales ventrales Zwischenhirn und Thalamus. Diese Gehirnstrukturen standen in signifikantem Zusammenhang mit ihren kognitiven und psychischen Gesundheitswerten und zeigten signifikante Mediationseffekte. Frühes ,Lesen mit Freude‘ war in Längsrichtung mit einer höheren kristallisierten Kognition und geringeren Aufmerksamkeitssymptomen bei der Nachuntersuchung verbunden.

Heruntergebrochen heißt das: Wer früh zur eigenen Unterhaltung liest, hat nicht nur ein zum Teil größeres, sondern auch besser ausgebildetes Gehirn. Damit steigt auch die Leistungsfähigkeit des Gehirns und damit der Intelligenz für das ganz Leben. Gleichzeitig zeigt sich, dass diese Menschen resilienter und damit weniger betroffen von psychischen Erkrankungen zeigen. Interessant ist auch, dass die Wissenschaftler die optimale Lesezeit pro Woche festgestellt haben: Zwölf Stunden pro Woche sind für junge Jugendliche kognitiv optimal.

Originalpublikation

Die Studie ist im vergangenen Jahr bei Cambridge University Press erschienen. Diese finden Sie unter folgendem Link: https://www.cambridge.org/core/journals/psychological-medicine/article/earlyinitiated-childhood-reading-for-pleasure-associations-with-better-cognitive-performance-mental-wellbeing-and-brain-structure-in-young-adolescence/03FB342223A3896DB8C39F171659AE33#

Gernot Körner




Frühe Widrigkeiten treiben die Gehirnentwicklung

Langfristig kann Anpassung der Psyche der Kinder jedoch in einem erheblichen Maß schaden

Forscher des Singapore Institute for Clinical Sciences haben einen Zusammenhang zwischen einem früh erlebten Leid und der Geschwindigkeit bei der Entwicklung des Gehirns nachgewiesen. Dafür wurden Neuroimaging-Daten der groß angelegten „Kohorte Growing Up in Singapore Towards healthy Outcomes“ (GUSTO) ausgewertet. Diese zeigen, dass eine erhöhte Belastung mit Widrigkeiten im frühen Leben (ELA) in den Jahren vor dem Schulbesuch zur Beschleunigung der Entwicklung des Gehirns führt.

Kognitive und psychische Probleme

Hat eine Mutter während der Schwangerschaft psychische oder körperliche Probleme, entwickelt sich das Gehirn des Kindes schneller, um sich an diese widrigen Umstände anzupassen, so die Experten. Diese Beschleunigung kann in der Folge zu einem höheren Risiko bei abträglichen kognitiven und psychischen Ergebnissen führen. Dazu gehören unter anderem schwere depressive Störungen.

Um die Auswirkungen von ELA zu quantifizieren, haben die Forscher ein von Patricia Silveira von der McGill University entwickeltes Bewertungsverfahren eingesetzt. Ziel war es, einen zusammengesetzten Score zu erstellen, der Faktoren berücksichtigt, die sich über eine Bevölkerung erstrecken. Diese Faktoren konzentrieren sich auf Belastungen, die vor der Geburt stattgefunden haben.

Dazu gehören die psychische und körperliche Gesundheit der Mutter während der Schwangerschaft, aber auch die Familienstruktur und die finanziellen Gegebenheiten. Werden verschiedene Risikofaktoren zusammengerechnet oder kombiniert, wird eine bessere Vorhersage der Ergebnisse eines Kindes möglich. Mittels dieses zusammengesetzten Scores hat das Team die GUSTO-Kohorte in verschiedene Ausmaße einer kumulativen ELA-Belastung aufgeschichtet.

Anpassung durch Neuroplastizität

Um die Geschwindigkeit der Entwicklung des Gehirns während der Kindheit zu modellieren, wurden multimodale MRT-Scans der GUSTO-Kohorte ausgewertet. Diese Scans wurden bei 549 Kindern im Alter von 4,5, 6 und 7,5 Jahren durchgeführt. Da die meisten psychischen Erkrankungen ihren Ursprung auch in der Kindheit haben, werden diese Werte als sehr relevant angesehen.

Die Fachleute haben einen Maßstab eingesetzt, der die strukturelle und funktionelle Konnektivität des Gehirns kombiniert, um Einblicke in den Zusammenhang zwischen der Gehirnstruktur und der -funktion darzustellen. Der Messwert „SC-FC“ spiegelt das Potenzial eines Kindes im Bereich der Neuroplastizität wider – also die Fähigkeit des Gehirns, sich anzupassen und um zu lernen, auch neu zu organisieren, sich von Verletzungen zu erholen und sich auf neue Erfahrungen einzustellen. Es wird vermutet, dass das Gehirn in der frühen Kindheit weniger spezialisiert und anpassungsfähiger ist. Dem würde im Verlauf der Kindheit eine abnehmende Kurve des SC-FC entsprechen.

Das Team unter der Leitung von Tan Ai Peng und Chan Shi Yu hat nachgewiesen, dass eine hohe Belastung mit ELA zu einem rascheren Abfall von SC-FC zwischen viereinhalb und sechs Jahren führt. Das weist auf eine beschleunigte Entwicklung des Gehirns hin. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um einen Mechanismus, der auf Anpassung ausgerichtet ist, heißt es.

Er tritt auf, wenn es zum Kontakt mit Umweltfaktoren kommt, die eine gewisse Reife erfordern. Obwohl es sich dabei um einen Schutz gegen Widrigkeiten handelt, gibt es auch negative Auswirkungen. Langfristig führt dieser Mechanismus nämlich dazu, dass das Zeitfenster bei Neuroplastizität und adaptivem Lernen kleiner wird. Details sind in „Nature Mental Health“ nachzulesen.

Moritz Bergmann, pressetext.redaktion




Märchen sind keine Geschichten von gestern

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Warum Märchen Kinder in ihrer Entwicklung sinnvoll untersützen

Erlauben Sie mir, diese Einführung mit einem wundervollen Zitat von Prof. Dr. Gerald Hüther zu beginnen: »Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Zaubermittel, das ihr Kind stillsitzen und aufmerksam zuhören lässt, das gleichzeitig seine Fantasie beflügelt und seinen Sprachschatz erweitert, das es darüber hinaus auch noch befähigt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Gefühle zu teilen, das gleichzeitig auch noch sein Vertrauen stärkt und es mit Mut und Zuversicht in die Zukunft schauen lässt. Dieses Super­doping für Kindergehirne gibt es. Es kostet nichts, im Gegenteil, wer es seinen Kindern schenkt, bekommt dafür sogar noch etwas zurück: Nähe, Vertrauen und ein Strahlen in den Augen des Kindes. Dieses unbezahlbare Zaubermittel sind die Märchen, die wir unseren Kindern erzählen oder vorlesen. Märchen sind die höchste Form des Unterrichtens.«

(G. Hüther: Weshalb Kinder Märchen brauchen. Neurobio­logische Argu­mente für den Erhalt einer Märchenerzählkultur. Text für den Kongressband Märchenkongress in Bad Karlshafen, Herbst 2005. http://maerchenquelle.ch – 23. 03. 2022)

Märchen sind die letzte Literaturgattung, die uns in dem Glauben verführt, dass die Liebe eine Chance auf dieser Welt hat.

Eugen ­Drewermann

Vom Ursprung der Märchen

Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm sammelten ab dem Jahre 1806 Märchen, die sie einerseits aus ihrem Bekanntenkreis zusammentragen ließen und andererseits aus literarischen Werken herausfilterten, um eine möglichst vollständige Märchensammlung zusammenzustellen. Es war zunächst ihr wissenschaftlich-volkskundliches Interesse, sich dieser Aufgabe zu stellen. So enthalten auch die ersten Auflagen vor allem viele wissenschaftliche orientierte Quellen­angaben und Anmerkungen.

Insofern war es zu Anfang gar nicht ihre primäre Absicht, eine Märchensammlung für Kinder zum Vorlesen und Erzählen zu verfassen. Jacob und Wilhelm Grimm haben sich keines der Märchen selbst ausgedacht und selbstentwickelt verfasst (im Gegensatz z. B. der Märchen von Hans Christian Andersen, dem bekanntesten Dichter und Schriftsteller Dänemarks. Seine Märchen werden daher auch unter der Kategorie Kunstmärchen geführt im Unterschied zu den Volksmärchen.) Mit der Zeit stellte sich heraus, dass besonders die Kinder die Märchen über alle Maßen liebten und immer wieder ­hören wollten, ob vorgelesen oder erzählt. Und eines war und ist den Kindern bis heute immer wichtig: an den Märchen durften keine Textstellen verändert werden.

Wenn du intelligente Kinder willst, lies ihnen Märchen vor. Wenn du noch intelligentere Kinder willst, lies ihnen noch mehr Märchen vor.

Albert Einstein

Über den Sinn von Märchen

Lange Zeit waren Märchen in der Pädagogik verpönt. So stellen sich Kindheitspädagog:innen und Eltern immer wieder die Frage, ob denn Märchen aus vergangenen Zeiten auch heute noch ›Geschichten‹ sind, die für Kinder interessant sein können, vielleicht sogar für ihre Entwicklung förderlich sind oder der Psyche von Kindern vielleicht schaden, weil in manchen Märchen Situationen vorkommen, die auf den ersten Blick grausame Elemente enthalten. So frisst der Wolf sechs kleine Ziegenkinder, die allerdings später wieder aus dem Bauch des Wolfes springlebendig herauskommen. Oder es wird eine böse Hexe im Brotofen verbrannt, weil sie selber Kinder fängt und diese aufessen möchte.

Um es vorweg zu sagen: Es gibt sowohl deutliche Befürworter, die sich aus fachlich berechtigten Gründen sehr deutlich für den Einsatz von Märchen in der elterlichen und institutionellen Pädagogik einsetzen als auch Märchengegner, die allerdings ihre Skepsis gegen Märchen aus dem Bauch heraus vorbringen. ­Vielleicht, weil sie selber nicht mit Märchen aufgewachsen sind und dadurch dieser ihnen unbekannten Literaturgattung eine grundlegende Skepsis entgegenbringen. Oder weil sie eine dogmatische Haltung besitzen, die es ihnen schwer bzw. unmöglich macht, eine andere, neue Perspektive auf Märchen zuzulassen.

Gleich­zeitig – und das ist ganz wichtig zu wissen – enthalten die allermeisten Märchen keine so genannten ›Grausamkeiten‹. Außerdem muss auch darauf hingewiesen werden, dass, sofern in den Märchen die Problematik des Sterbens vorkommt, in keinem Märchen der Sterbe­prozess beschrieben wird. Vielmehr spiegeln sich die damit verbundenen Bilder in den Köpfen der Personen wider. Hier werden eigene Bilder pro­duziert und projiziert: Sie geben daher vielmehr Auskunft darüber, wie die Person selbst ihr Verhältnis zum Lebensbereich Tod und Sterben bewertet und welche eigenen Ängste sie in sich trägt.

Erst das Erzählen gibt dem Märchen seine Seele. Gedruckt liegen Märchen nur in einem Grab, durch das Lesen holen wir sie in unsere Vorstellung herauf, durch das Erzählen werden sie lebendig.

Rudolf Geiger

Bekannte und unbekannte Märchen

Uns liegen über 200 Kinder- und Hausmärchen sowie zusätzlich einige Kinderlegenden der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm vor, wovon die meisten der Kinder- und Hausmärchen sowie der Kinder­legenden den meisten Erwachsenen vollkommen unbekannt sind, beispielsweise wie die Märchen »Der gute Handel«, »Die drei Spinnerinnen«, »Strohhalm, Kohle und Bohne«, »Läuschen und Flöhchen«, »Der Schneider im Himmel«, »Daumerlings Wanderschaft«, »Der alte Sultan«, »Der Hund und der Sperling«, »Die drei Federn«, »Der Fuchs und die Katze«, »Die Goldkinder« und »das Erdmännchen«, »Die Haselrute«, »Das alte Mütterchen«, »Die drei grünen Zweige«, »Die Kristallkugel«, »Das Meerhäschen«, »Der Riese und der Schneider«, um nur einige wenige Märchen zu nennen.

Da Kinder Märchen brauchen, durch die sie sich intrapsychisch angesprochen fühlen, ist es besonders hilfreich, dass sich Kindheitspädagog:innen zunächst einmal mit allen Grimm’schen Märchen vertraut machen, um aus der vorhandenen Fülle die Märchen in ihrer Pädagogik einzusetzen, die in ihrem Bedeutungs- und Erzählwert der Lebensrealität der Kinder möglichst nahekommen.

Märchen sind mehr als wahr. Nicht, weil sie uns sagen, dass es Drachen gibt. Sondern weil sie uns sagen, dass Drachen besiegt werden können.

G. K. ­Chesterton

Warum Kinder Märchen hören sollten

Die Frage, warum Kinder mit Vorliebe den Märchen lauschen, lässt sich mit unterschiedlichen Antworten erklären:

  1. Volksmärchen haben immer einen klaren Handlungsaufbau und Handlungsablauf: Zunächst findet eine kurze Skizzierung der Ausgangssituation statt. Dann kommt es zu einer Problembeschreibung, es folgt eine Situationsausführung und schließlich endet ein Märchen mit einem klaren Abschluss. Eine klare Struktur vermittelt Kindern Sicherheit!
  2. Jedes Märchen hat ein ganz bestimmtes Thema als Schwerpunkt. Es gibt Trauer-, Mutmach-, Entwicklungs-, Lösungs-, Rückschritt-, Hoffnungs-, Glücks-, Angst- und Sorgenmärchen. Somit umfasst die Märchenpalette alle wesentlichen Lebensereignisse, mit denen wir Menschen, Kinder ebenso wie Erwachsene, immer wieder mal konfrontiert werden. Kinder finden sich dann infolge einer Überschneidung ›biographische Ausgangssituation: Märchenthema‹ in den beschriebenen Märchenabläufen wieder, so dass eine Identifikation mit der Märchensituation und einer im Märchen vorkommenden Person sehr gut möglich ist.
  3. Jede Person/jedes Tier im Märchen präsentiert ein festes Bündel ganz bestimmter Verhaltensmerkmale, so dass die im Märchen vorkommenden Personen/Tiere einschätzbar sind. Was wiederum den Kindern eine zusätzliche Sicherheit schenkt.
  4. Märchen haben trotz ihres hohen Alters auch heute noch eine gleich hohe Aktualität wie vor Hunderten von Jahren.
  5. Märchen tragen uralte Weisheiten und Werte, die symbolisch betrachtet ›Wahrheiten des Lebens‹ thematisieren und offenbaren, in sich und provozieren damit eine Selbstexploration – eine Auseinandersetzung mit sich selbst –, was wiederum eine grund­sätzliche Voraussetzung zur Selbstbildung ist.
  6. Märchen berichten in den meisten Handlungsabläufen von einer Wanderschaft, einem Unterwegssein im Leben und weisen darauf hin, wie mit Hilfe von Mut, Entschlossenheit, Tatkraft, Belastbarkeit, Zielorientierung, Gradlinigkeit und Liebe neue Entwicklungsimpulse ausgelöst und aufgebaut werden können.
  7. Hingegen führen ein ängstliches, unentschlossenes, halbherzig eingegangenes Verhalten sowie Egozentrismus, Inkonsequenz, Hass, eine übernommene Fremdbestimmung sowie eine zu große und naive Gutgläubigkeit zu einem entwicklungshinderlichen Persönlichkeitsstillstand. Hier finden Märchenleser:innen/-zuhörer:innen durch das Märchen einen Spiegel, um sich selbst zu betrachten und um der Frage nachgehen zu können, wer man selbst ist und wer man vielleicht werden möchte/sollte, um letztendlich die eigene Entwicklung nach vorne zu bringen.
  8. Märchen besitzen die Kraft, von einem außenorientierten Leben zu einer inneren Resonanz zurückzufinden.
  9. Märchen bestehen aus ungezählten, symbolischen Bildern und sprechen damit Kinder in einer Art und Weise an, die sich gerade nicht in kognitiven Sprachauseinandersetzungen bewegen und damit das magische Denken der Kinder exakt treffen.

Märchen entspannen und heilen mit Worten. Sie können ein Schlüssel zu verborgenen Seelenbildern sein. Man wird wieder aus Himmel und Sternen Bilder machen und die Spinnweben alter Märchen auf offene Wunden legen.

Christian ­Morgenstern

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