Selbst gesteuerte Entdeckungen machen klug und stark

So entdecken Kinder ihre Fähigkeiten und machen Erfahrungen fürs Leben

In Kindergärten haben wir immer wieder erlebt, dass Kinder unabhängig voneinander – an völlig verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten – denselben Gegenstand zweimal erfanden.

In einem Kindergarten war gerade spielzeugfreie Zeit. Ein höchst kreatives Erlebnis, bei dem das sonst gewohnte Spielzeug von den Kindern durch selbst erfundenes oder gefundenes Material ersetzt werden muss, wenn man dieselbe Funktion damit erfüllen will. So war ein kaputter, luftleerer und daher eingedellter Ball zum einzigen Wasser-Transportmittel geworden. Ein Junge hatte ihn zufällig unter der Hecke gefunden. Dieser Ersatzeimer war plötzlich so wertvoll, dass er jeden Mittag bei Kindergartenende ins „Schatzversteck“ gebracht wurde.

Einige Monate später beobachteten wir Ähnliches in einem anderen Kindergarten, mehrere hundert Kilometer vom ersten entfernt. Eine Gruppe intensiv spielender Kinder hatte ein Kanalsystem in der Erde ausgehoben, das nun mit Wasser gefüllt werden sollte. Alle suchten nach dem Schlüssel für den Schuppen, in dem die Gartengerätschaften, also auch Gießkannen und Eimer, aufbewahrt wurden. Doch der Schlüssel war nicht aufzutreiben. Nach Gejammere, Schimpfen und Wutausbrüchen sah man einige Kinder intensiv nachdenken. Da fiel einem Mädchen ein, dass es auf dem Weg zum Kindergarten an einem Müllsack für Plastikabfall vorbeigekommen war, in dem durch die Folie ein „eingedellter Ball“ zu sehen war. Eine Erzieherin zog mit dem Mädchen los – und beide kamen wenige Minuten später mit dem Ball zurück, mit dem nun das Kanalsystem mit Wasser gefüllt werden konnte.

Im kindlichen Spiel herrscht eine Denk- und Arbeitsatmosphäre besonderer Art

Deshalb konnte der berühmte Nürnberger Trichter, mit dem Menschen das Wissen im Schlaf eingetrichtert werden sollte, nicht funktionieren. Denn Kinder sind nicht im Schlaf, anonym, belehrbar – schon gar nicht ohne ihr Zutun. Sie folgen ihren eigenen Fragen.

Das ist der Grund, warum Erwachsene auf kindliche Aktionen und Fragen achten und sie möglichst immer zulassen und beantworten sollten. Wollen Sie Ihr Kind tatsächlich fördern, müssen Sie seine Eigeninitiativen aufgreifen. Denn gerade dann, wenn es eine derartige Initiative zum Lernen startet, sind seine Aufmerksamkeit und sein Lernvermögen besonders groß. Jetzt müssen Sie nicht gegen Konzentrationsmängel ankämpfen. In diesen aufnahmebereiten Momenten ist Ihr Kind für jede Erfahrung offen. Es fordert mit Nachdruck Antworten und saugt die Informationen auf wie ein Schwamm. Es ist wissensdurstig.

Jetzt wird auch das neu Erfahrene und plötzlich Verstandene bestmöglich gespeichert. Das heißt: Es steht bei der nächsten passenden Gelegenheit abrufbereit als Wissen zur Verfügung.

Das Eingehen auf kindliche Fragen und Initiativen ist echte Förderung. Denn es geht um eigenes Ausprobieren und gezieltes Abfragen – jedes Mal ein wichtiger Etappensieg auf dem Weg zur Selbstständigkeit. Durch die zunehmende Selbstständigkeit und Wissenserweiterung entsteht ein Gefühl von Eigenkompetenz, das in immer neuen Situationen gestärkt und durch neue Erfahrungen erweitert wird.

Wenn Sie Kinder so fördern, machen Sie diese Kinder stark.

Jedes Kind sollte das Rad nochmal neu erfinden dürfen

Sie erinnern sich: Es geht um selbst gesteuerte Entdeckungen, die klug und stark machen. Ein Kind ist aktiv, es sucht sich seine Entdeckungsmöglichkeiten selbst. Wenn es in Suchstimmung ist, wirkt alles anregend – sehr geschickt eingerichtet von der Natur. Denn durch diese Offenheit für Neues erhöht sich automatisch die Chance, dass einem nichts entgeht und man sich nicht unnötig einschränkt.

Ein „Beobachtungsjuwel“ möchten wir Ihnen in diesem Zusammenhang nicht vorenthalten:

  • Zwei sechsjährige Mädchen, Lisa und Kim, sitzen am Rand eines Sandkastens, erzählen sich etwas und graben mit den nackten Zehen im Sand. Weil es kurz zuvor geregnet hat, ist der Sand noch feucht. Die Fußbewegungen hinterlassen Muster auf der Sandoberfläche. Die Erzählungen stoppen. Und immer aufmerksamer betrachten die beiden Mädchen die entstehenden Linien und Kreise. „Sieht aus wie Zauberschrift!“ „Oder wie Zeichen auf ganz alten Grabsteinen, die nur Indiana Jones lesen kann.“ Kim steigt aus dem Sandkasten und kniet sich auf die feuchte Erde. „Lisa, komm, ich mache uns eine bessere Tafel.“ Durch seitliche Einkerbungen leitet sie aus einer Pfütze das Wasser ab. Zurück bleibt eine glänzende, glatte Oberfläche. Ganz vorsichtig malen beide Mädchen Muster in den feuchten Schlamm. „Sieht man unsere Geheimschrift noch, wenn der Boden trocknet?“ Lisa überlegt, ihr Blick wandert durch den Park. Plötzlich springt sie auf und holt eine Handvoll weißen Sand aus der Kakteen­ecke. Sie füllt den Sand in die mit den Fingern gezogenen Gräben, sodass sich helle Rillen vom dunklen Schlammuntergrund abheben „Sieht aus wie geschrieben, aber mit Weiß auf schwarzem Papier.“

In Kinderaktivitäten kann echte Teamarbeit ablaufen. Das haben wir schon beim Rollenspiel von Moritz, Kai, Steffen und Freddy mit Spannung verfolgen können. Gegenseitige Anregung und gegenseitige Inspiration wirken. Die Ideen des anderen beflügeln das eigene Nachdenken, werden aufgegriffen und ausgebaut, jeweils erweitert um die Spezialitäten eines jeden Gruppenmitglieds. Alle sehen den Fortschritt – und jeder erkennt seine Beteiligung daran. Ein typisches Vorgehen im Gruppenspiel, das das einzelne Kind belohnt und die Gruppe stärkt.

Kinder sind Entdecker und höchst erfolgreiche Autodidakten – vorausgesetzt, sie haben die für diese Aktivitäten nötigen Freiräume. Diese kommen durch eine tragfähige und sichere Bindung und durch echte, bewusst geschaffene Handlungsspielräume zustande.

Die folgenden Leistungen kindlichen Entdeckungsdrangs haben wir alle schon kennengelernt:

  • Kinder entdecken ihren eigenen Körper, seine Bewegungsfähigkeit und im Spiegel der Erwachsenen sich selbst.
  • Kinder lieben positive Verunsicherung und streben danach, einer Sache auf den Grund zu gehen.
  • Sie suchen nach Ursachen, Konsequenzen und Zusammenhängen und bemühen sich, das alles zu verstehen.
  • Sie merken ihren Einfluss und ihre Wirksamkeit an Prozessen, die sie selbst in Bewegung gebracht haben – auch an den Verhaltensänderungen ihrer Interaktionspartner.
  • Durch provokante Vorstöße ins Gruppenleben testen sie ihre Möglichkeiten, ihren Verhaltensspielraum aus. Als Messlatte dienen ihnen die Kommentare und Reaktionen der anderen.
  • Neugierig, offen und motiviert für Neues sind sie, sobald sie sich geborgen fühlen, interagieren, kommunizieren und sich frei bewegen können.

Im folgenden Text erfahren Sie, …

  • dass Kinder hochmotiviert erforschen. Dabei beachten sie all das besonders, was vom bisher Erlebten abweicht. Gänzlich Neues lockt ihre Aufmerksamkeit. Bekanntes beruhigt sie, weil es eine Bestätigung ihrer Kenntnisse bedeutet.
  • dass Kinder auch passiv – allein durch Zuschauen – erforschen, nach dem Motto: „Man muss nicht jede Erfahrung selbst gemacht haben“.
  • dass Kinder naturgemäß Strategien haben, die ihnen Zugang zu Schlüsselqualifikationen verschaffen, die ihnen später manche Tür öffnen helfen.

Schritt für Schritt tasten sich Wissenschaftler an das Muster kindlicher Selbstbildungsprozesse heran, um zu verstehen, wie Kinder – wenn sie ungestört sind – sich selbst Wissen und Fähigkeiten aneignen.

Die ersten Zutaten sind bekannt: Erkunden, Spielen, Nachahmen, phantasievolles Gestalten und Erfinden. Diese Strategien zum Erfahrungserwerb haben ihre große Bedeutung in der Kindheit. Doch sie wirken weiter. Sie sind das naturgegebene Programm zur Entwicklung jedes Fortschritts. Sie gelten unter Heranwachsenden und Erwachsenen. Anfangs noch in Kinderausführung, später dann ausgewachsen – aber im Grunde identisch – sind sie die natürlichen Triebfedern, die letztendlich die Entfaltung von menschlicher Kultur, Wissenschaft und Kunst über Jahrmillionen möglich gemacht haben. Immer vorausgesetzt, es liegen Entwicklungsbedingungen vor, die ihre Entfaltung, ihr spielerisches Erproben und ihren kreativen Einsatz möglich machen.

Der kindlichen Selbstbildung stehen aber noch weitere Ressourcen zur Verfügung. Viele kennen wir noch gar nicht. Doch bereits bekannt ist die kindertypische Begabung, Interesse, Konzentration und Ausdauer „auf den Punkt genau“ zu bündeln, wenn etwas die Wissbegierde geweckt hat. Jetzt ergreifen Kinder auf eigene Initiative hin jede Chance, sich mehr Wissen zu verschaffen. Dazu erstellen sie sich wie Wissenschaftler Untersuchungsprogramme, um durch kontrollierte Tests mehr Einblick zu gewinnen.

Falls Sie glauben, dass wir hier wohl etwas übertreiben und Kinder überschätzen, wird Sie das nächste Beispiel vom Gegenteil überzeugen:

  • Der vierjährige Nico spielt in seiner aus Holzbausteinen errichteten Dachgarage mit Metall- und Plastikautos. Auf engstem Raum rangiert er die Wagen um und parkt sie neu ein. Dabei bricht eine Garagenwand ein und mehrere Autos stürzen zu Boden. Nico beginnt die Garage zu reparieren, hält dann aber inne und wendet sich den heruntergefallenen Autos zu. Zuerst nimmt er ein Metallauto in die Hand und lässt es mit erhobenem Arm aus etwa einem Meter Höhe auf den Boden fallen, danach aus identischer Höhe ein Plastik­auto. Abwechselnd wiederholt er diesen Vorgang mit Metall- und Plastikautos, wobei er jeweils mehrere Wagen der beiden Materialien verwendet. Lautmalerisch imitiert er das unterschiedliche Aufprallgeräusch auf dem Holzboden. Er nimmt noch einen Holzbaustein, einen alten Herrenhut und zum Abschluss einen Wollfaden in den galileischen „Fall-Test“ auf. Jeder Untersuchungsgegenstand wird mehrfach getestet. Danach scheint Nico diesen Spielabschnitt zu seiner Zufriedenheit beendet zu haben. Denn er wendet sich summend der Garagenreparatur und dem erneuten Einparken zu.

Kindheit verändert sich immer schneller immer mehr.

  • In den Kinderspielgruppen traditionaler Gesellschaften entstand eine eigenständige Kinderkultur, die ohne Zutun der Erwachsenen von den älteren an die jüngeren Kinder weitergegeben wird: vor allem Spiele, Reime und Verse.
  • Doch noch weit komplexere Aspekte des Sozialverhaltens wurden von den größeren Kindern an die jüngeren vermittelt.
  • Wie man miteinander Kontakt aufnimmt, Konflikte löst, seinen Verhaltensspielraum auslotet – also seine Möglichkeiten und Grenzen erkundet – und Beziehungen untereinander gestaltet, wurde vorgelebt, gezeigt und kontrolliert. Wer passen und dazugehören wollte, hielt sich daran.
  • Die Sozialisation eines Kindes lief zwar in Hör- und Blickkontaktnähe zu den Erwachsenen ab, wurde jedoch im Wesentlichen in der altersgemischten Kindergruppe vollzogen – auf der Basis von Selbstentdeckung und gewähltem und deshalb akzeptiertem Vorbild.
  • Dieses Modell entspricht mit Sicherheit den erprobten und erfolgreichen Sozialisationserfahrungen der menschlichen Stammesgeschichte. Es funktionierte so lange, bis Landwirtschaft, Industrialisierung, Trennung von Arbeits- und Familienwelt und nun vor allem Migration die Lebens- und Arbeitsbedingungen einschneidend veränderten.
  • Einen echten Ersatz gibt es noch nicht. Bei uns versuchen geschulte Erwachsene als Tagesmutter oder Erzieherin in Krippe und Kita einen Ausgleich zu bieten.

Die Simulation ist nicht perfekt:

  1. Die Einrichtung ist völlig getrennt vom Bereich der Kernfamilie, ein spontanes Aufsuchen der Eltern ist nicht möglich. Nichtverwandte, anfangs fremde Betreuerinnen treten an ihre Stelle.
  2. Die freie räumliche und soziale Entfaltung fehlt, weil Spielplatz und Spielpartner nur begrenzt zur Wahl stehen.
  3. Der Altersabstand zwischen den Kindern ist gering, sodass Vorbild, Schutz und Erfahrungen älterer Kinder kaum verfügbar sind.
  4. Erwachsene übernehmen die Strukturierung der Gruppe und die Organisation der Spielaktivitäten, was kindliche Entscheidungsmöglichkeiten einschränkt und zu Abhängigkeit und Erlebnisarmut führen kann.
  5. Alle Angebote bleiben auf den Ort der Einrichtung beschränkt, es erfolgt keine echte Integration in die Familienwelt des Kindes.

  • Die Elementarpädagogik versucht, die genannten Defizite durch Vernetzung im Sozialraum, Eingewöhnungsprozedere, vielfältig gestaltete Lebenswelten, große Altersmischung, Freispielzeit und offenes Arbeiten bewusst an kindlichen Entwicklungsbedürfnissen orientiert auszugleichen.
  • Immer mehr wird versucht, die Interessen und Fähigkeiten der Kinder zu beantworten.

 Es ist im Prinzip kein großer Unterschied zwischen der Motivation eines spielenden Kindes und eines Wissenschaftlers:

In beiden Fällen beruht sie auf Neugierde. Eine Vielzahl immer wieder systematisch variierter Versuchsanordnungen und deren konsequente Wiederholung bestätigen oder revidieren bislang vorhandenes Wissen und bereiten Gedankenblitze für ein neues, nun erweitertes Verständnis vor. Kind wie Wissenschaftler wollen dabei nicht gestört werden. Auch die Funktionslust wirkt selbstbildend. Es ist die immer und überall zu beobachtende Tatsache, dass Kinder komplizierte – also schwer zu erlernende – Bewegungsabläufe unermüdlich wiederholen, um sie zu beherrschen und zu perfektionieren.

Stark motiviert eignen sie sich ein selbst auferlegtes Bewegungsprogramm an – Kickboard-Fahren, Fahrradfahren ohne Hilfsräder, auf Stelzen gehen – allein dadurch belohnt, dass sie ihre Anstrengung spüren und ihren Erfolg sehen. Unermüdlich wird die Bewegungsfolge wiederholt: Ein Durchgang animiert zum nächsten. Einen Fehler will man sofort ausgleichen, einen Erfolg gleich wiederholen. Sie wollen es können. Freude und Selbstbewusstsein wachsen mit der Größe der Aufgabe und der gemeisterten Schwierigkeit. Das Wiederholen von Spielsequenzen ist ein Geheimtipp, der sich offensichtlich im Laufe der Evolution als wesentliche Voraussetzung für Erkenntnisgewinne herumgesprochen hat. Und Spaß macht es auch noch – besonders dann, wenn Gegenstände oder Spielpartner auffällig reagieren, etwa besonders amüsiert oder ganz unerwartet. Umweltreaktionen erfreuen Kinder, sie belohnen sie.

Doch nicht genug. Das Wiederholen im Spiel bringt wichtige Erfahrungen:

Wissenschaftlich durchaus korrekt, wiederholt ein Kind seine Handlungen auch deshalb mehrmals, weil es nur auf diesem Weg mit Sicherheit gesetzmäßige Konsequenzen seines Tuns von einem zufälligen Zusammentreffen mit anderen Ereignissen unterscheiden kann.

  • Lea (2 Jahre alt) knipst den Lichtschalter der Deckenlampe 32-mal an und aus. Dabei schaut sie auf den Schalter, knipst, schaut auf die Lampe, schaut zum Schalter, knipst wieder, schaut zur Lampe …

Sie will nicht nerven. Sie will nur feststellen und sich dann selbst noch davon überzeugen, dass es ihr Fingerdruck ist, der hier für Licht und Dunkelheit sorgt – nicht etwa Papa, der mit der Zeitung wackelt. Natürlich ist es auch schön, seinen Einfluss auf den ganzen Raum und auf die Tätigkeiten der anderen noch anwesenden Familienmitglieder festzustellen.

  • Linn (1 1/2 Jahre alt) sitzt im Hochstuhl. Auf dem Tisch vor ihr liegen Holzbausteine. Einen nach dem anderen nimmt sie in die Hand, hebt den Arm, öffnet das Händchen – und der Baustein fällt mit typischem Geräusch zu Boden. Sobald alle Bausteine gelandet sind, strahlt sie ihre Mutter an und signalisiert ihr, die Steine doch bitte wieder aufzuheben. Das Spiel beginnt von neuem. Plötzlich läutet es. Linn schaut auf, schaut ihre Mutter an. „Das ist die Türklingel,“ sagt diese. Dennoch schaut Linn misstrauisch auf die am Boden liegenden Bausteine. Vielleicht ist ja doch einer dabei, der den besonderen Ton gemacht hat.

Dass jetzt noch einige Male Bausteine hochgeholt und wieder runtergeworfen werden müssen, ist klar. Am besten klingelt Mama noch mal für Linn an der Tür. Sonst kann sie nicht sicher sein, dass das andere Geräusch tatsächlich die Türglocke war – und nicht einer ihrer Bausteine.

Abwechseln und Abwandeln von Spielhandlungen

Nico hat bei seinem Experiment neben der Wiederholung auch noch das Abwechseln und Abwandeln von Spielhandlungen eingesetzt. Durch Variationen des eigenen Verhaltens – zuerst prüfte er den Fall der Autos, dann des Bausteins, des Huts und schließlich des Wollfadens – konnte er auch Unterschiede bei den Reaktionen feststellen und die Materialien in ihren Fallbesonderheiten unterscheiden lernen.

„Jetzt hast du doch schon gesehen, wie Wasser in diesen zwei Bechern aussieht. Warum musst du denn jetzt auch noch Wasser in einem Glas ansehen – und das auch noch schmutzig machen? Gleich fällt es dir noch runter.“ Eine recht häufige, aber dennoch ungünstige Reaktion von Erwachsenen auf ihre experimentierenden Kinder.

Spielerisches Nachahmen

Eine weitere wichtige Zutat zur Selbstbildung ist spielerisches Nachahmen Von Kindern etwa ab dem siebten bis achten Lebensmonat an weiß man, dass sie ihre Mütter oder Väter bei sich wiederholenden Tätigkeiten immer wieder intensiv beobachten, um die Tätigkeiten dann schließlich selbst durchführen zu können. Der genaue Ablauf dieses speziellen Erkundungsprozesses erfolgt meist nach einem bestimmten Schema: Zuerst beobachtet das Kind mehrmals die Bewegungen der Mutter. Seine Augen begleiten mit hoher Anspannung die mütterlichen Routinetätigkeiten. Kennt es schon in etwa die Stationen des Ablaufs, kann man sehen, dass die kleinen Augen den mütterlichen Handlungen mitunter vorweg eilen, das Kind also schon ahnt, wie ihr nächster Schritt aussehen wird. Manche Kinder „durchlaufen“ den Gesamtvorgang nochmal allein mit den Augen, sozusagen „zur Probe“, bevor sie dann die Handlung selbst ausführen – übrigens unabhängig davon, was die Mutter nun zeitgleich gerade tut.

Wie viel einfacher hat es ein Kind, dessen Mutter sein Interesse bemerkt und durch ein Lächeln begrüßt, danach vielleicht einzelne ihrer Tätigkeiten kommentiert. Das Kind nun gleich gezielt anzuleiten, zum Mitmachen zu bewegen, wäre sicher nicht richtig. Die soziale Einbeziehung und das visuelle Angebot reichen für den Anfang bei weitem aus. Ist der Zeitpunkt gekommen, an dem das Kind selbst aktiv werden möchte und sich das auch zutraut, wird es diesen Entwicklungsschritt von selbst signalisieren.

Was andere Kinder– vor allem schon ältere – oder die Eltern oder andere wichtige Erwachsene machen, ist schon deshalb interessant, weil sie es machen. Es scheinen Handlungen der großen weiten Welt zu sein – sofort erkannt als aus dem „echten Leben“ stammend – die besonders attraktiv erscheinen und zum Imitieren reizen. Der Einsatz von „Echtzeug“ – Alltagsgegenständen – lockt Kinder weit mehr und vor allem längerfristig als Spielzeug.

Zu oft werden Kindern Pseudowelten zum Probeleben geboten statt echter Erlebnisse

Mit Waldtagen, Abenteuerspielplätzen, der monatli­chen Spezialaktivität und Werkbänken in Kindergärten und Schulen sind wir zwar schon ein ordentliches Stück weiter. Doch es sind immer noch „Erfahrungsinseln“, die angeboten werden. Warum, wenn doch ganze „Kontinente“ zum Erforschen zur Verfügung stehen? Ingrid Miklitz, eine der Pionierinnen des lebenspraktischen Ansatzes, drückt es passend aus: Statt in funktionsfähigen, offenen Küchen dürfen die neugierigen, intelligenten, wissenshungrigen „Kleinen“ nur in ihrer Puppenküche hantieren. Mit Holzäpfeln, die sich (man staune) mit einem stumpfen Holzmesser teilen lassen – dank Klettverschluss!

Diesen Artikel haben wir aus fogendem Buch entnommen:




Grundsatzgedanken zur Psychologie des Spiels

Das kindliche Spiel als Bildungsmittelpunkt für Kinder

Wenn sich kindheitspädagogische Fachkräfte mit dem großen und gleichzeitig bedeutsamen Thema „Psychologie des Spiels“ auseinandersetzen wollen, wird zunächst eines sehr deutlich werden: es gibt kaum einen zweiten Themenschwerpunkt in der Psychologie und Pädagogik, der in einem gleichen Maße so umfangreich in der Fachliteratur berücksichtigt und behandelt wurde/ wird. So sind hunderte von Büchern auf dem Markt, die sich dem Spiel zuwenden. Und es gibt weltweit Tausende wissenschaftliche Untersuchungen, die sich jeweils ganz bestimmten Phänomenen im weiten Feld der Spielpsychologie und Spielpädagogik gewidmet haben. Die Frage nach dem „warum“ ist auf den ersten Blick vielleicht schnell zu beantworten – weil das Spiel(en) in allen Kulturen und zu allen Zeiten ein fester Bestandteil im Leben des Menschen war bzw. ist und dadurch überall eine große Beachtung findet.

Die Quelle von allem Gutem liegt im Spiel.
(Friedrich Fröbel)

Ob in der Steinzeit, der Antike, im Hochland von Mexiko oder im alten Ägypten, im Mittelalter, in sakralen Handlungen oder auf Hinterhöfen: auf der ganzen Welt legen Aufzeichnungen, Dokumente und Berichte Zeugnis davon ab, dass das Spiel aus dem Leben des Menschen nicht wegzudenken war und es damit ganz offensichtlich eine wichtige Funktion im Leben von Menschen erfüllt hat. Insofern kann dieses wichtige Phänomen Spiel auch in der Alltagspädagogik gar nicht ausgeblendet werden, sondern muss zweifelsohne eine Berücksichtigung in der Kleinkindpädagogik finden. Andreas Flitner, einer der großen Spielforscher des letzten Jahrhunderts, schrieb:

„Das Kinderspiel ist eine zu auffällige Erscheinung aller Zeiten und aller Kulturen, als dass die Menschen es nicht von jeher beachtet […] hätten […]. Schon die frühesten Bilder des alten Reichs der Ägypter zeigen Puppen, Spieltiere, Bälle und Wagen zum Ziehen; sie zeigen Kinder, die tanzen und hüpfen, übereinander wegspringen und sich balgen, ja sogar theatralische Szenen spielen und dabei Masken tragen […]. In der vorindustriellen Gesellschaft haben die Kinder auch unmittelbar an den eigenen Spielen der Erwachsenen teilgenommen […], so wie ihr ganzes Kinderleben noch in das Leben und Arbeiten der Erwachsenen eingefügt war. Erst das Industriezeitalter zerstörte diese Gemeinschaft. Erst an der Schwelle entstand deshalb die moderne pädagogische Reflexion, welche Theorie und Erforschung des Kinderspiels ermöglichte. (2011, S. 13).

Heute hingegen verbinden viele Menschen mit dem Begriff Spiel weniger bedeutsame Lebensrituale oder gesellschaftspolitische Aspekte als vielmehr die einfache Gleichung, dass das Spiel vor allem etwas sei, was zu Kindern gehöre. Jeder, der sich mit seiner eigenen Kindheit beschäftigt, wird automatisch auch an eigene Kinderspiele denken.

Nebenbei fällt aber auch auf, dass das Wort selbst in unserer Sprache häufiger vorkommt als auf den ersten Blick gedacht. So sagen wir bei Dingen, die uns unwichtig erscheinen: „Das spielt doch keine Rolle.“ Menschen, die ein hohes Risiko eingegangen sind, haben „alles aufs Spiel gesetzt“ und wenn eine befreundete Person etwas getan hat, durch das man selbst tief verletzt wurde und von der man sich nun trennen wird, „hat ein für alle Mal verspielt“.

Menschen, die das Leben nicht so ernst nehmen, besitzen aus Sicht der ernsthafteren Personen eine „Spielernatur“ und andere wiederum sind der festen Überzeugung: „Das ganze Leben ist ein Spiel“. Wenn jemand ein außergewöhnlich hohes Risiko eingeht, dann sagen wir, die Person „spielt mit dem Feuer“ und wenn jemand etwas nicht versteht, heißt es: „Der weiß gar nicht, was hier gespielt wird.“ Menschen, die viele Schicksalsschläge hinnehmen mussten, wurde „im Leben übel mitgespielt“ und einem Übeltäter kann es passieren, dass er bei seiner Festnahme die Worte hört: „Das Spiel ist aus.“

So vielschichtig die jeweiligen Bedeutungen dieser alltagssprachlichen Aussagen sind, so unterschiedlich werden auch in der Psychologie sowie der Pädagogik des Spiels bestimmte Phänomene betrachtet. Doch darf diese Tatsache nicht dazu führen, dass man sich weniger ernsthaft diesem „Phänomen Spiel“ zuwendet.

Im Gegenteil: Es kommt darauf an, aus der ungewöhnlich großen Menge fachwissenschaftlicher Arbeiten das Wesentliche zu entdecken und für die Praxis nutzbar werden zu lassen. Im Rahmen des 16. Weltkongresses der Internationalen Gesellschaft für Spiel (IPA- International Play Association), die 2005 in Berlin tagte und bei der sich Fachleute aus aller Welt darüber austauschten, welche Rolle das Spiel(en) heute einnimmt und auch weiterhin dringend einnehmen muss, äußerte sich beispielsweise Jan van Gils, der damalige IPA-Präsident (IPA = International Play Association) damals wie folgt:

„Allzu oft wird Spiel als Zeitvertreib betrachtet, um Kinder ruhig zu halten bis sie erwachsen sind. Allzu oft wird Spiel auch als ein Bildungswerkzeug angesehen. Aber nur selten ist man sich der Tatsache bewusst, dass Kinder beim Spielen für das Leben lernen.

Mit allen Sinnen spielen ist sinnvolles Spielen, heißt sich in die Welt zu begeben und sich mit ihr auseinanderzusetzen.
(Renate Zimmer)

Zur Theorie des Kinderspiels

Ein Blick in die Zeitgeschichte zeigt, dass verschiedene Vertreter aus den Bereichen der Philosophie, Theologie, Psychologie, Pädagogik, Medizin, Soziologie und der Anthropologie ihre Einschätzung zur Funktion und Bedeutung des Spiels für die Entwicklung des Menschen vorgenommen haben. So unterschiedlich die Berufsfelder auch sind, so unterschiedlich, widersprüchlich und gegensätzlich sind auch deren Sichtweisen. Aus ihnen entstanden Meinungen und Hypothesen, warum Kinder in den meisten Fällen gerne und intensiv spielen, welche Wirkungen das Spiel auf die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit hat, ob das Spiel auch einen gesellschaftsrelevanten Sinn besitzt und inwieweit das Spiel im Rahmen unterschiedlicher pädagogischer bzw. psychologischer Zielsetzungen genutzt werden kann. bzw. eingesetzt werden sollte. Aus diesem Grunde scheint es sinnvoll zu sein, die bedeutendsten Grundlagenvertreter, die sich mit dem Bedeutungswert des SPIELS/ SPIELENS von und für den Menschen forschend auseinandergesetzt haben, mit ihren jeweiligen Erkenntnissen und Einschätzungen in Kürze zu nennen (Winter, 2015/ Rieck, 2015).

Hall und Wund, US-amerikanische Psychologen, gehen davon aus, dass sich im Spiel des Kindes die Stammesentwicklung (Phylogenese) des Menschen wiederholt. Sie beziehen sich dabei vor allem darauf, dass Kinder mit Vorliebe Erd-, Holz- oder Baumhöhlen bauen, auf Abenteuerspielplätzen ihrem ungebremsten Entdeckerinteresse nachgehen oder selbst mit Spielgegenständen immer wieder Häuser errichten, mit Dinosauriern hantieren oder Jagdrollenspiele und Ähnliches unternehmen. Spencer vertritt die so genannte Kraftüberschusstheorie. Seiner Meinung nach steckt das Kind voller Energie und nutzt das Spiel dazu, seine unverbrauchte Kraft hierbei umzusetzen. Diese Annahme kann beispielsweise dadurch gestützt werden, wenn wir Kinder beobachten, die gerade bei Bewegungsspielen ein unglaubliches Maß an Handlungsdrang ausagieren. Schaller – ähnlich wie Guts-Muths – glaubt, dass das Spiel dem Menschen die Möglichkeit bietet, nach einer partiellen Erschöpfung einen wichtigen Ausgleich zu finden, und Carr ist davon überzeugt, dass im Spiel aufgestaute Gefühle, dem Menschen inne liegende Instinkte und gedankliche sowie motorische Impulse abreagiert werden können.

Locke gesteht den Kindern zu, das Spiel aus dem Grunde zu erleben, weil es im Gegensatz zum Erwachsenen noch nicht in der Ernsthaftigkeit des Lebens eingebunden ist, und Kant sieht im Spiel eine absichtslose Beschäftigung, die der eigenen Muße dienlich ist. Schiller schuf mit seinen philosophischen Betrachtungen über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen eine Vernetzung zwischen Spiel, Schönheit und ästhetischem Sein. Er schätzt das Spiel als etwas so Bedeutsames ein, das den Menschen erst vollständig macht.

Groos vertritt in seiner Einübungs- und Vorübungstheorie die Ansicht, dass das Kind im Spiel die Möglichkeit findet, die vielfältigsten, angelegten Fähigkeiten zu üben und mit zunehmendem Alter in einer Form der Selbstausbildung weiterzuentwickeln. Richter geht von einem experimentierenden Spiel einerseits und vom dramatisierenden Fantasieren und Entladen körperlichen Überschusses durch Bewegung andererseits aus. Dabei geht seiner Meinung nach das Kind mit allen Gegenständen im Spiel so um, als wären sie lebendig.

Stern schätzt das Spiel als eine Tätigkeit ein, die einen direkten Bezug des Kindes zu den drei Zeitdimensionen – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – besitzt und in deren zeitlichen Dimensionen symbolische, magische und entwicklungsausgerichtete, funktionsübende Momente zum Tragen kommen. Bühler gibt der Funktionslust des Kindes mit seiner Spiel- und Wiederholungsfreude die größte Bedeutung und geht davon aus, dass das Kind durch seine hohe Spontaneität immer wieder versucht, aktuell herausfordernde Situationen spielend zu bewältigen und zu meistern.

Für Fröbel wird das Spiel zur höchsten Stufe der Kindheitsentwicklung, in der es vor allem darum geht, Äußerliches innerlich und Innerliches äußerlich zu machen, entsprechend der Vorstellung, dass Eindrücke ausgedrückt werden müssen und das eigene Ausdrucksverhalten einen Eindruck in der Welt hinterlassen soll. Der Holländer Buytendijk vergleicht das Spiel mit einem Theaterstück, in dem es immer einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende gibt. Für ihn geht es um die spielerische Dynamik im Umgang mit Dingen oder Lebewesen, die für das Kind im Spiel eine besondere Bedeutung besitzen und aus diesem Grunde dazu geeignet sind, eine Spieltätigkeit auszulösen.

Der Philosoph und Kunsthistoriker Huizinga geht von einem sehr weiten Spielbegriff aus. Er sieht die gesamte Kultur als eine Form des Spiels an, indem er beispielsweise die Spielregeln in der Kommunikation als ein „Spiel mit Regeln“ betrachtet, Menschen ihre individuellen „Spielrollen“ übernehmen und das ganze Leben ein „Spiel“ ist. Piaget ordnet das Spiel des Kindes als einen permanenten Versuch ein, sein Umfeld in das eigene Denken, Handeln und Gestalten einzubeziehen, um erlebte Situationen zu begreifen und möglichst aktiv mitbestimmen zu können. Für ihn ergibt sich daraus die logische Notwendigkeit, dass damit das Kind im Spiel vor allem eine egozentrische Haltung einnimmt und ausdrückt.

Hetzer glaubt im Spiel der Kinder eine wesentliche Möglichkeit ihrer Befriedigung entdecken zu können. Ereignisse, die aus Sicht der Kinder unbefriedigend oder belastend verliefen, können nun durch das Nachspielen und ein anderes Gestalten einen nachträglich besseren Verlauf nehmen als in der erlebten Realität. Haigis glaubt, dass das Spiel vor allem die Lust an existenzieller Erregung für Kinder bedeutet – jedes Risiko schafft ein Erlebnis zur emotional bestärkenden Berechtigung der eigenen Existenz und lässt das Kind damit spüren: „Ich bin wer! Nämlich ich.“ Freud vertritt in der Einschätzung und Beurteilung des kindlichen Spiels die Katharsis Hypothese. Seiner Einschätzung nach führt jedes Spiel zu einer Reinigung (Katharsis) von Erlebnissen, Erfahrungen und Eindrücken aus der Vergangenheit und hilft dem Kind immer wieder aufs Neue, sein seelisches Gleichgewicht aktiv wiederherzustellen.

Diese Übersicht stellt lediglich eine Auswahl an so genannten „Spieltheorien“ dar. Bei näherer Betrachtung können interessierte kindheitspädagogische Fachkräfte zu folgenden Schlüssen kommen:

  • Jede Einschätzung zur Funktion und Bedeutung des Spiels ist aus einer bestimmten ideologischen Idee oder einem bestimmten Kenntnisstand heraus konstatiert.
  • Die Einschätzungen des Spiels reichen von einer besonderen Wertschätzung bis zur unumstößlich größten Bedeutung für die kindliche Entwicklung.
  • Die besondere Bedeutung des Spiels für die weitere Entwicklung des Kindes entstand erst von dem Zeitpunkt an, als auch das Kind selbst (unter dem Gesichtspunkt einer eigenen Entwicklungszeit, der Kindheit) immer stärker in den Mittelpunkt einer respektvollen Betrachtung gerückt wurde.
  • Eine „alleinige“ Spieltheorie gibt es aufgrund der unterschiedlichen Sichtweisen nicht!
  • Da das Spiel des Menschen – in der Kindheit, Jugendzeit und Erwachsenenwelt – eine immer schon existierende Ausdrucksform war und ist muss davon ausgegangen werden, dass das Spiel zumindest eine Lebensnotwendigkeit ist.
  • Die Bedeutung des Spiels für die weitere Entwicklung von Kindern kann aus zweierlei Sichtweisen betrachtet werden: der Erwachsenensicht mit ihren dogmatischen Absichten und aus der Perspektive des Kindes und seinen Entwicklungswünschen, -bedürfnissen und -möglichkeiten. So besteht heute kein Zweifel daran, dass das Spiel in der Entwicklung des Kindes eine ganz zentrale Stellung einnimmt. Spiel ist damit keine reine Spielerei, die je nach Lust oder Unlust umgesetzt oder unterlassen wird oder durch einen Zufall – spontan – entsteht. So besitzt jede Spielhandlung einen Sinn und jedes Spielverhalten hat einen Hintergrund sowie eine Ursache! Es stecken demnach bestimmte, intrainidividuell vorhandene Bedürfnisse hinter jeder Spielhandlung, die in der Pädagogik – aus der Bewertung einer Geringschätzung oder einem ‚überflüssigen Ausdrucksverhalten, auf das auch verzichtet werden kann‘, nicht negiert werden dürfen.

Man kann die … Auffassung vom Spiel dahingehend zusammenfassen, dass das eigentliche Spielen in erster Linie und vor allem ein Erkenntnisprozess ist.
(Brian Sutton-Smith)

So unterschiedlich und auch widersprüchlich die „Spieltheorien“ von ihren Verfasser*innen geprägt sind, so vielschichtig stellt sich das Spiel auch in der Praxis dar. Immer wieder haben Wissenschaftler*innen aus vielen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten versucht, eine Definition des Spiels zu finden und es gibt in der Vielfalt der Literatur auch ungezählte, unterschiedliche Ansätze einer Definition. Vielen Definitionen ist vor allem eines gemeinsam: sie betonen die „freie Handlung“ des Spiels. So haben sich bis in die heutige Zeit zwei Grundaussagen von Huizinga und Caillois durchgesetzt:

Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selbst hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Anderseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‛.“ (Huizinga 1956, S. 46).

Und Caillois ergänzt diesen Gedankengang:

Das Spiel ist:

  • 1. eine freie Betätigung, zu der der Spieler nicht gezwungen werden kann, ohne dass das Spiel alsbald seines Charakters der anziehenden und fröhlichen Unterhaltung verlustig ginge;
  • 2. eine abgetrennte Betätigung, die sich innerhalb genauer und im Voraus festgelegter Grenzen von Zeit und Raum vollzieht;
  • 3. eine ungewisse Betätigung, deren Ablauf und deren Ergebnis nicht von vornherein feststeht, da bei allem Zwang, zu einem Ergebnis zu kommen, der Initiative des Spielers notwendiger Weise eine gewisse Bewegungsfreiheit zugebilligt werden muss;
  • 4. eine unproduktive Betätigung, die weder Güter noch Reichtum noch sonst ein neues Element erschafft, und die, abgesehen von einer Verschiebung des Eigentums innerhalb des Spielerkreises, bei einer Situation endet, die identisch ist mit der zu Beginn des Spiels;
  • 5. eine geregelte Betätigung, die Konventionen unterworfen ist, welche die üblichen Gesetze aufheben und für den Augenblick eine neue, allgemeingültige Gesetzgebung einführen;
  • 6. eine fiktive Betätigung, die von einem spezifischen Bewusstsein einer zweiten Wirklichkeit oder einer in Bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird.

(Caillois 1958, S. 16).

Ergänzt werden kann diese letzte Definition durch die Fixpunkte, die Chateau dem Spiel zuschreibt: Spiele haben keinen materiellen Wert, sie sind durch Freude charakterisiert, die erlebte Spielfreude ist aktiv und unmittelbar, sie zeichnen sich durch einen bestimmten Spielernst aus, sie bedeuten Wettkampf – wenn nicht mit anderen, so mit sich selbst – und das Spielen ist ein Aufsuchen von Schwierigkeiten, um sie selbst zu meistern. (1964). Vielleicht hat Portmann das Spiel am einfachsten und prägnantesten definiert, wenn er schreibt:

„Spiel ist freier Umgang mit der Zeit, ist erfüllte Zeit; es schenkt sinnvolles Erleben jenseits aller Erhaltungswerte; es ist ein Tun mit Spannung und Lösung, ein Umgang mit einem Partner, der mit einem spielt – auch wenn dieser Partner nur der Boden ist oder die Wand, welche dem Spielenden den elastischen Ball zurückwerfen.“ (1976, 60)

Das Menschenleben ist aus Ernst und Spiel zusammengesetzt, und der Weiseste und Glücklichste verdient nur derjenige genannt zu werden, der sich zwischen beiden im Gleichgewicht zu bewegen versteht.
(Johann Wolfgang von Goethe)

Diesen Beitrag haben wir folgendem Buch entnommen:

cover-krenz-spiel

Krenz, Armin

SPIEL und SELBSTBILDUNG

Kitas brauchen eine pädagogische Revolution

22,00 € (inkl. MwSt.)




Runter vom Gas 4 – richtig am Schulklima arbeiten

Wenn es gelingt, ein förderliches soziales Klima zu schaffen, wird auch besser gelernt

Erlittene Beschämungen führen zu Angst vor neuen Beschämungen. Angst aber ermöglicht nur ein Lernen, das das rasche Ausführen von einfachen Handlungen zum Ziele hat: Schnell nach links laufen, wenn der Löwe von rechts kommt. […] Denn verhindert wird durch Angst das lockere Assoziieren, das für die Lösung komplexer Probleme unbedingt erforderlich ist. […] Emotion und Kognition, Gefühl und Denken, sind eng miteinander verbunden […]. Sorgen wir dafür, dass dieses Lernen in einer positiven emotionalen Umgebung stattfindet, denn nur dann – so die Gehirnforschung – werden unsere Kinder in 30 Jahren in der Lage sein, das Gelernte nicht nur herzubeten, sondern es zur Lebensgestaltung und Problemlösung aktiv zu nutzen.

(Eckhard Schiffer, Heidrun Schiffer, Lerngesundheit, Weinheim und Basel, 2004, S.92 f.)

Klimaarbeit in der Schule – der Zeitaufwand lohnt sich für alle Beteiligten

Wenn wir mit einer Klasse zu arbeiten versuchen, in der es unterirdisch brodelt, in der einige Kinder Opfer sind und andere die Rädelsführer, dann werden wir sehr viel über die Köpfe hinweg agieren, ohne dass das Wesentliche ankommt.
Aber auch wenn es etwas harmloser und ohne „mafiose“ Strukturen zugeht: In einer Klasse, in der sich manche Kinder dumm vorkommen und in der Angst leben, sich durch falsche Antworten zu „outen“ und ausgelacht zu werden, ist mit Konzentration und Lernfreude wenig los.

Auch Klassen, in denen der Wettbewerb das Klima bestimmt und jede gute Note, die ein anderer bekommt, neidvoll registriert wird, sind nicht unbedingt das Umfeld, in dem ich unterrichten wollte.

Es ist also eigentlich ganz einfach: Wenn es uns gelingt, ein förderliches soziales Klima zu schaffen, wird auch besser gelernt. Ich investiere und bekomme dafür Zinsen. Eine kluge Entscheidung!

In der Theorie ist das sehr einleuchtend, doch wie soll das in der Praxis funktionieren? Gewiss nicht dadurch, dass wir Arbeitsblätter ausfüllen, in denen die Merkmale eines gedeihlichen Miteinanders benannt werden sollen. Gutes Zusammenleben und -arbeiten lernt man, indem man es täglich übt, ausdauernd und konsequent, wobei das natürlich nicht so explizit geschieht wie das Einüben des Einmaleins, sondern allmählich, in vielen Mikrosituationen.

Du als Lehrkraft bist dabei in der Klasse ein mächtiger Meinungsführer und kannst alleine durch das, was du vorlebst, einiges bewirken.

Dein positives Verhaltensvorbild wird dann besonders wirksam und wahrnehmbar sein, wenn du es bewusst und betont einsetzt. Das soll nicht heißen, dass du wie ein Schauspieler agierst, indem du etwas darstellst, was nicht authentisch zu dir passt.

Beschämungen – ein unbedingt zu vermeidendes Übel

Nehmen wir das große Thema Beschämungen. In diese Schublade gehört auch der Umgang mit Fehlern. Du wirst sicher – davon gehe ich aus – die pädagogische Haltung vertreten, Kinder sollten nicht beschämt werden, wenn sie etwas Falsches sagen. Aber wird diese deine Haltung auch allen Schülern in der Klasse so deutlich, dass sie das wahrnehmen? Hier kannst du zum Beispiel ganz bewusst als Vorbild auftreten.

Es macht für ein betroffenes Kind, das eine falsche Antwort gibt, einen großen Unterschied, ob du – da diese eine Antwort falsch war – einfach das nächste Kind aufrufst, vielleicht gar noch aus Unüberlegtheit mit der Hand eine abwertende Geste machst, zum Beispiel abwinkst, oder ob du den Mut und die gedankliche Anstrengung dieses einen Kindes explizit würdigst.

Das kostet weder besonders viel Zeit noch Mühe, erspart aber dem Delinquenten das ungute Gefühl, sich blamiert zu haben.

Du könntest zum Beispiel sagen: „Super, Franzi, dass du mitgedacht hast und dass du dich gemeldet hast. Ganz stimmt’s noch nicht. Aber das kriegen wir hin. Wer kann denn jetzt da weiterhelfen?“

In meinen Matheklassen gab es einen Slogan, der von mir gerne eingesetzt wurde und der sicher das Denken der Kinder beeinflusst hat. Ich sagte in den passenden Situationen oft und oft: „Falsch denken ist überhaupt nicht schlimm. Das einzige, was wirklich echt richtig schlimm ist…“
und die Kinder antworteten im Chor: „… gar nicht denken!“

Alleine das häufig wiederholte Erleben eines positiv-wohlwollenden Umgangs mit jedem Schülerbeitrag, oft noch verstärkt durch die „chorische Rezitation“, färbt das Klima in einer Klasse ein wenig hin zum Positiven. Aber das genügt natürlich bei weitem nicht. Gerade das Thema „Beschämung“ hat viele Facetten und muss aus einigen Richtungen angegangen werden. 

Dazu möchte ich erst noch einen gedanklichen Schwenk von den Kindern zu uns Lehrern machen.

Sich beschämt zu fühlen, sich hilflos einer demütigenden Situation ausgesetzt zu sehen, das können durchaus auch Lehrer erleben und auch für sie kann das traumatisierend sein.

Ich hatte eine Kollegin, die sich wirklich Mühe mit ihrer vierten Klasse gab. Aber sie war einfach für den Beruf der Lehrerin nicht geeignet. So etwas gibt es gar nicht so selten und es ist das maximale Unglück für alle Beteiligten. Mit dieser Lehrerin gab es zwei Tage vor den Weihnachtsferien einen Eklat, der die Kinder verstörte, aber nicht weniger auch die bedauernswerte Kollegin. Was war geschehen?

Diese Kollegin war – in bester pädagogischer Absicht – mit ihrer Klasse zum Schlittenfahren gegangen, an einen eher bescheidenen Hügel mitten im Dorf, der den Namen „Schlittenberg“ gar nicht richtig verdiente. Aber die Kinder waren fröhlich, es war der vorletzte Schultag vor den Ferien und alle rutschten lachend und voller Freude auf ihren verschiedenen Schlitten den Hang hinunter.
Dann geschah das, was bei allgemein aufgekratzter Stimmung schon einmal vorkommen kann: Einer kam auf eine dumme Idee und begann, Schneebälle auf die Kollegin zu werfen. Diese war mit der Situation überfordert, befahl dem Schüler, damit aufzuhören. Aber inzwischen hatten auch einige andere Kinder sich dem Spaß angeschlossen und „bombardierten“ ihre Lehrerin. Irgendwann gelang es dieser, das Treiben zu beenden und in schlechter Stimmung kehrten alle ins Schulhaus zurück.

Dort gab es im Klassenzimmer eine ordentliche Abreibung für die Kinder: Die Lehrerin erklärte, die für den letzten Schultag angesetzte Weihnachtsfeier würde nun ausfallen und sie würde auch keinerlei Geschenke von den Kindern annehmen. Und nach den Ferien – ja, da sollten die Kinder nur sehen! Da würde ein anderer Wind wehen.

Das war natürlich pädagogisch denkbar unselig, aber aus Sicht der Lehrerin zu verstehen. Sie fühlte sich durch ihre Hilflosigkeit bei der einseitigen Schneeballschlacht total beschämt und gedemütigt und saß, als sie mir all das erzählte, weinend bei mir im Büro.

Andererseits waren auch die Kinder völlig verstört und die Weihnachtsferien begannen in sehr gedrückter Stimmung. Besonders schlimm war es, dass sie – und vor allem auch die Eltern der Kinder – auch nach den Weihnachtsferien auf Kriegsfuß mit der Lehrerin standen und sich das zerstörte Verhältnis auch nicht mehr reparieren ließ.

Die Lehrerin meldete sich kurz darauf krank, kam in diesem Schuljahr auch nicht mehr zurück und wurde im Jahr darauf versetzt. Über ihren weiteren beruflichen Werdegang weiß ich nichts, aber mit Sicherheit wird sie im Lehrerberuf nicht glücklich geworden sein.

Natürlich hätte die Kollegin mit der vertrackten Situation wesentlich geschickter umgehen können. Aber das soll hier gar nicht thematisiert werden.
Ich möchte vielmehr deine Empathie für ein derartiges Beschämungserlebnis wecken.

Doch so schlimm auch das Erlebnis für diese Lehrerin war: Sie war eine erwachsene Frau und sie konnte eine Möglichkeit finden, der aktuellen Situation zu entfliehen.

Wie aber steht es mit Kindern, die in der Schule beschämt werden? Und das müssen nicht nur wir Lehrer sein, die wir vielleicht aus Unbedachtheit manchmal pädagogisch ungeschickt agieren. Viel häufiger kommt es vor, dass Kinder ganz gezielt und keineswegs „aus Versehen“ von Mitschülern gehänselt, geärgert, ausgegrenzt, kurz: auf schlimme Art beschämt und gedemütigt werden.

Wie sollen solche Kinder sich auf das Lernen konzentrieren, wenn jeder Gang zur Schule mit Angst verbunden ist? Da sind wir Lehrer gefordert, nicht wegzusehen, sondern zu handeln.

Die Maslow’sche Bedürfnispyramide

Der Psychologe Abraham Maslow hat in seiner Bedürfnispyramide die hierarchische Ordnung dargestellt, die für die Entfaltung unserer Aktivitäten von grundlegender Bedeutung ist. Er suchte die Antwort auf die Frage, was Menschen zu ihren Handlungen motiviert. Nach seinem Modell sind unsere Bedürfnisse in fünf aufeinander bezogenen Stufen hierarchisch angeordnet. Bevor wir darangehen, uns denkend und lernend zu entfalten, müssen erst vitale Bedürfnisse befriedigt sein, Maslow nennt sie Defizitbedürfnisse. Werden diese Bedürfnisse nicht befriedigt, kann das zu körperlichen oder seelischen Krankheiten führen. Erst wenn dieser „vitale Sockel“ gefestigt ist, kann unsere Motivation sich auf höhere Bedürfnisse – nach Maslow „Wachstumsbedürfnisse“ – richten (Abraham A. Maslow, Psychologie des Seins, Frankfurt am Main, 1985, S.198 f.).

Maslow erntete für seine Arbeit viel Anerkennung, aber auch Kritik, die sich vor allem daran entzündete, dass er zu seinem Hierarchie-Modell keine umfassenden Studien durchführte, mithin also für manche Fachkollegen nicht „wissenschaftlich“ genug vorzugehen schien, sondern durch Beobachtung, Selbsterforschung, theoretische Ableitung und Überlegung zu seinen Ergebnissen kam.

Er selbst äußert sich im Vorwort zur ersten Auflage von „Psychologie des Seins“ sehr differenziert über das Thema Wissenschaft:

Die Wissenschaft, so wie sie von den Orthodoxen gewöhnlich konzipiert wird, ist für diese Aufgaben (der neuen, persönlichen, erfahrungsgemäßen Psychologien, Anm.d.Verf.) ganz unzureichend. Doch ich bin mir sicher, dass man sich auf diese orthodoxen Wege und Mittel nicht zu beschränken braucht. Man muss nicht vor den Problemen der Liebe, der Kreativität, der Werte, der Schönheit, Imagination, Ethik und Freude abdanken und sie ganz den „Nichtwissenschaftlern“ überlassen, den Dichtern, Propheten, Priestern, Dramatikern, Künstlern oder Diplomaten. […]
Nur Wissenschaft kann die charakterologischen Unterschiede im Sehen und Glauben überwinden. Nur Wissenschaft kann fortschreiten.
Es verbleibt jedoch die Tatsache, dass sie in eine Sackgasse geraten ist und in einigen ihrer Formen als Bedrohung und Gefahr für die Menschheit angesehen werden kann, zumindest für die höchsten und vornehmsten Eigenschaften und Ambitionen der Menschheit.

(Abraham A. Maslow, a.a.O., S.16)

Ganz gleichgültig, wie wir uns in diesem Fall zum Thema „Wissenschaftlichkeit“ stellen: Ich finde die Beschäftigung mit der Maslowschen Bedürfnispyramide für die tägliche Arbeit in der Schule sehr hilfreich, denn sie hilft uns zu verstehen, wie wichtig es ist, erst einmal den Boden für gelingendes Lernen zu bereiten.

Wir können die schönsten Unterrichtsstunden vorbereiten und die modernste Technik verwenden und dennoch didaktisch erfolglos bleiben, denn:

Ein Schüler,

  • der auf dem Schulweg regelmäßig traktiert und gehänselt wird,
  • der jeden Tag in seinem Hausschuh einen Reißnagel findet,
  • der im Klassenzimmer hinter dem Rücken der Lehrkraft durch aggressive Gestik und Mimik verhöhnt wird,
  • der im Pausenhof bei Spielen ausgegrenzt oder getriezt wird, z.B.  durch das Wegnehmen seiner Mütze,

so ein Schüler hat ganz andere Dinge im Kopf als die Rechtschreibregeln für Dehnungen und Schärfungen oder das korrekte Anwenden eines Algorithmus beim Rechnen.

Kinder, die Derartiges erleben, haben existentielle Ängste, wenn sie in die Schule gehen müssen.

Die angeführten Gemeinheiten sind nur ein Bruchteil dessen, was es an Schikanemöglichkeiten gibt und dass die sozialen Netzwerke diese Palette noch aufs Unseligste erweitert haben, macht alles nur noch schlimmer.

Deshalb ist es für uns Lehrer von oberster pädagogischer Priorität, uns mit aller Macht darum zu bemühen, dass Kinder sich in der Schule, die sie ja nolens volens besuchen müssen, sicher fühlen und eine Chance haben, sich in die Peergroup – in diesem Fall die Klasse – zu integrieren.

Niemand von uns kann zaubern und es werden immer wieder Dinge geschehen, die nicht gut sind. Aber wir können uns auftretenden Problemen stellen, mutig hinschauen statt feige wegzusehen und uns mit allen Kräften darum bemühen, das Richtige zu tun.

Kinder wollen gesehen werden – das ist gelebte Akzeptanz 

Wenn wir in unserer Klasse sozialklimabewusst agieren wollen, dann heißt das nicht unbedingt, dass es nur um die wirklich schlimmen Dinge geht, sondern das Ganze beginnt sehr niedrigschwellig.

Wie ich zum Thema „Beschämung vermeiden“ bereits gesagt habe: Wir als Lehrer können eine bestimmte Haltung demonstrativ vorleben.

Das ist eine Facette des Prismas. Eine weitere, wichtige Facette ist das Ernstnehmen kindlicher Befindlichkeiten.
Das kann allein schon dadurch geschehen, dass wir von Zeit zu Zeit abfragen, wie es den Kindern mit bestimmten Themen oder Inhalten geht, z.B. mit den Hausaufgaben, mit dem täglichen Kopfrechnen, mit der Freiarbeit, mit dem Spielangebot in der Pause, mit den Portfolioproben, mit den Aktivitäten bei einem Projekt usw.

Und natürlich gehört zu diesem Ernstnehmen auch der individuelle Umgang mit einzelnen Kindern. Ob es um Angst vor Proben, um Zornschübe bei wiederholten Misserfolgen, um Frustrationserlebnisse, z.B. bei Über- oder Unterforderung oder um kleine Streitereien unter den Kindern geht: Es macht einen riesigen Unterschied, ob wir sagen: “Stell dich nicht so an“ oder „Das ist doch nicht schlimm“ oder „Du bist doch schon groß“ und was es sonst noch an pädagogischen Floskeln gibt oder ob wir zunächst einmal einfach einem Kind zuhören und ihm seine Emotionen zugestehen, was nichts anderes heißt als das Kind in seinem So-Sein zu akzeptieren. Dieses Akzeptieren ist im Grunde keine große Sache: Es genügt oft, einem Kind Verständnis dafür zu signalisieren, dass es jetzt traurig, enttäuscht oder was auch immer ist und vielleicht – je nach Lage – zu fragen, ob und wie man helfen kann.

Ich erinnere mich an eine Szene auf dem Pausenhof unserer Schule: Eine meiner Erstklässlerinnen hatte wohl Streit mit anderen Kindern und kam weinend zu mir, fasste mich um den Bauch und schluchzte ganz erbärmlich. Ich sagte zu ihr: “Ja, wein dich erst einmal richtig aus, das tut dir gut!“ Neben mir stand eine Kollegin, die meine Reaktion wohl überhaupt nicht verstand und sagte: „Also, weinen lass ich sie nicht! Die hören ja nicht mehr auf, wenn sie einmal anfangen!“

Ich vermag mir nicht vorzustellen, wie das geht, „sie“ nicht weinen zu lassen.

Die Wandzeitung – ein Vermächtnis von Celestin Freinet

Andere Ansätze zu sozialer Klimaarbeit

Es gibt einige Ansätze, Streit und Negativverhalten in Klassen zu verringern: Das sind zum einen die Streitschlichter, also Grundschüler, die ein entsprechendes Training absolviert haben, um bei Streitigkeiten vermitteln zu können. Dann gibt es die von der Polizei angebotenen Projekte „aufgschaut“ und „zammgrauft“ für Grundschulkinder und Jugendliche.

Dass diese Ansätze überhaupt existieren bedeutet die Anerkennung der Wichtigkeit von Prävention, und das ist sicher sehr positiv. Inwieweit dadurch das tägliche Miteinander langfristig und nachhaltig für alle Mitglieder einer Gruppe – hier: einer Klasse – zum Guten verändert wird, kann ich nicht fundiert beurteilen.

Ich kann nur aus eigener Anschauung berichten, dass etwa beim Programm „aufgschaut“ auch dann, wenn alle Gruppenaktivitäten und Sozialspiele der Projektmappe absolviert wurden, die daraus kognitiv gewonnen Einsichten beileibe nicht in den schulischen Alltag übertragen wurden.

Die Wandzeitung Celestin Freinets: Der Königsweg für soziale Klimaarbeit

Das kommt dir wahrscheinlich jetzt ziemlich vollmundig vor, wenn ich von einem Königsweg spreche, denn umfangreiche Studien zur Wandzeitung kann ich nicht zitieren, wohl aber über meine jahrzehntelange Erfahrung damit berichten.

Ein unschlagbarer Vorteil der Regelschule ist es, dass wir Lehrer die pädagogische Freiheit haben, unsere Lehrmethoden und unsere pädagogischen Schwerpunkte selbst zu wählen, ohne einem bestimmten System verpflichtet zu sein. Seit einigen Jahren ist der Klassenrat in Mode gekommen, der sich ableitet von der Wandzeitung des Reformpädagogen Celestin Freinet. Dieser Klassenrat hat – außer, dass er wöchentlich abgehalten wird – nicht unbedingt noch sehr viel mit dem ursprünglichen Vorgehen Freinets gemein.

Bei Freinet ging es ganz vorrangig um das gute Miteinander, um die Förderung einer positiven Gemeinschaft, mithin um das Erzeugen eines förderlichen Sozial- und Lernklimas und die Themen ergaben sich aus dem Klassenleben der vergangenen Woche:

Die Wandzeitung, die in der Sitzung der Klassenversammlung am Ende der Woche vorgelesen wird, veranlasst immer eine Gewissenserforschung, die für die Gemeinschaft vorteilhaft ist. […]
Dies alles vollzieht sich in einem mehr und mehr hilfreichen Milieu, das für das Gemeinschaftsleben eine unablässige Kraftquelle darstellt.

(Elise Freinet, Erziehung ohne Zwang, München, 1986, S.110)                             

Freinet hatte in seiner Wandzeitung vier Spalten: „Ich kritisiere, ich beglückwünsche, ich möchte gerne, ich habe verwirklicht.“
Diese Einträge wurden – für alle sichtbar! – im Laufe einer Woche gesammelt.

 Ein Mittel, die Schüler zu einem ehrlichen und guten mitmenschlichen Verhalten zu führen, sieht Freinet in der Wandzeitung oder dem Wandtagebuch. […] Sie (die Wandzeitung, Anm.d.Verf.) ist in vier Felder eingeteilt, in die die Schüler im Laufe der Woche ihre kritischen Bemerkungen, ihre Vorschläge und ihre Erfolge eintragen. […] Mit Hilfe dieser Wandzeitung, die Freinet schon von den Schülern der ersten Klasse anfertigen lässt, will man die Kinder zur Ehrlichkeit gegen sich und andere und zur Selbstkritik erziehen.
Macht der Schüler eine Eintragung, so muss er seinen Namen dazusetzen; eine anonyme Eintragung gibt es nicht.

(Hans Jörg (Hrsg.), Praxis der Freinet-Pädagogik. Paderborn, München, Wien, Zürich, 1981, S.156)

Das  Original von Freinet ist für die Klassengemeinschaft so wertvoll, dass wir keine grundsätzlichen Veränderungen vornehmen sollten. Über die verschiedenen Einträge bekommst du auch mit, wenn sich unter der Oberfläche in deiner Klasse Animositäten zusammenbrauen oder sich Unlust breitmacht.

Wenn die Spalte der kritischen Eintragungen länger wird, während gleichzeitig die der Glückwünsche kürzer wird, wenn die Vorhaben selten werden und die Verwirklichungen an Geschwindigkeit verlieren, ist eine Wiederbelebung nötig. Wenn immer die gleichen Namen wegen Verfehlungen in den Kritiken erscheinen, muss man den vom rechten Weg Abgewichenen helfen, den richtigen Weg wiederzufinden.

(Elise Freinet, a.a.O., S.109)

Diese Idee, durch eine Mitteilung in der Wandzeitung den Kindern Gelegenheit zu geben, sich auf der Stelle zu äußern, wenn sie etwas loswerden wollen, war für mich absolut überzeugend. Deshalb führte ich vor vielen Jahren, lange bevor der Klassenrat in Mode kam, die Freinetsche Wandzeitung ein.

Die Vorteile lagen für mich auf der Hand:

  • Kinder haben ein Sofort-Ventil für das, was sie der Welt mitteilen wollen.
  • Jedes Kind muss seinen Eintrag unterzeichnen.
  • Es gibt keine Heimlichkeiten.
  • Jeder weiß, was beim Klassengespräch verhandelt werden wird.

Nach einigen Experimenten sah die konkrete Durchführung bei mir so aus: An der rückwärtigen Pinnwand war ein Platz als Wandzeitung definiert. Es gab zwei Abteilungen: Das gefällt mir und Das freut mich auf der einen Steite und Das gefällt mir nicht und Das ärgert mich auf der anderen Seite.

Auf einem halbhohen Regal unter der Wandzeitung lag ein Stoß Zettel im Format DIN A6 sowie eine Schachtel mit Stiften. In der Pinnwand steckten Nadeln. Wer nun etwas mitzuteilen hatte, konnte jederzeit zur Wandzeitung gehen, einen Zettel beschriften und diesen in der passenden Abteilung an die Wand pinnen.

Die Regeln für die Wandzeitung waren:

  • Jeder Zettel ist unterschrieben, anonyme Zettel werden abgenommen.
  • Es gibt eine einzige Unterschrift pro Zettel, keine „Massenmeldungen“
  • Wenn man sich über einen Mitschüler beschwert, muss das sachlich formuliert werden und nicht auf herabsetzende Weise.

Am Donnerstag nach der Schule nahm ich die Zettel ab und am Freitag wurden dann in einer sozialen Stunde die Zettel gemeinsam gelesen. Wie im Freinet-Zitat beschrieben, galt auch bei uns das besondere Augenmerk einer Häufung von negativen Äußerungen zu einem bestimmten Sachverhalt oder zu einem bestimmten Kind.

Entscheidend für den Erfolg: Es gibt bei Konflikten nicht Sieger und Besiegte! Jeder muss sein Gesicht wahren können!

Ob ein Kind in der Pause ein anderes attackiert, ein Schüler beim Sportunterricht dauernd stört, jemand das Material von einem Mitschüler kaputt macht oder Sonstiges:
Niemals kann es die Lösung sein, dass ein Kind sich für sein Fehlverhalten entschuldigt und der „Geschädigte“ diese Entschuldigung annimmt.

Was würde das bedeuten? Der „Übeltäter“ müsste nicht nur einsehen, dass er falsch gehandelt hat, sondern er müsste auch in einer „Unterwerfungsgeste“ das öffentlich gestehen und um Verzeihung bitten.

Wenn aber – aus welchen Gründen auch immer – die ganze Wahrheit überhaupt nicht ans Licht gekommen wäre? Wenn der Täter vom Opfer so oft gereizt und attackiert worden wäre, dass ihm irgendwann der Kragen platzte und er dann ungeschickterweise dem anderen eins verpasste und so plötzlich als der Böse dastand? Natürlich ist es nicht die richtige Art und Weise, seine Emotionen – seien sie auch noch so berechtigt – durch Gewalt abzureagieren. Aber sich dann auch noch öffentlich beschämen lassen? Das erzeugt sicher aufs Neue negative Gefühle, die dann auch wieder irgendwann abreagiert werden müssen.

Oder ein Schüler ist wirklich ein „Rambo“, der sofort zuschlägt, auch ohne besonderen Grund. Wird der nach einer öffentlichen Entschuldigung einsehen, dass das falsch war und sich hinfort besser benehmen? Sicher nicht!

Was wir durch ein derartiges oberflächliches „Entschuldigungswesen“ allenfalls erreichen, ist Unehrlichkeit im Umgang mit Konflikten.

Blicken wir noch einmal auf das oben angeführte Zitat:

Mit Hilfe dieser Wandzeitung, die Freinet schon von den Schülern der ersten Klasse anfertigen lässt, will man die Kinder zur Ehrlichkeit gegen sich und andere und zur Selbstkritik erziehen. (Hans Jörg, a.a.O., S.156)


cover buchner

So wird Unterricht entspannt

Stress, Druck und Hetze bestimmen oft bereits in der Grundschule den Alltag von Lehrern, Schülern und Eltern. Doch es ist möglich, trotz starrer Rahmenbedingungen und zahlreicher Anforderungen den schulischen Alltag für alle Beteiligten angenehm zu gestalten – ohne Hektik und Stress.
Der Fokus liegt auf der Autonomie der einzelnen Lehrer. Du findest erprobtes Handwerkszeug für eine alternative Umsetzung des Lehrplans. Methodenfreiheit neu gedacht, fächerübergreifendes Unterrichten und Projektarbeit ermöglichen einen entschleunigten Unterricht. Zusätzlich gibt es noch Online-Materialien.

Buch, broschiert, 260 Seiten 
ISBN:978-3-407-25762-8
24,95 €

Mehr zum Buch


Selbstreflexion und Empathiefähigkeit sind zwei wichtige Eigenschaften, damit Menschen in einer Gruppe konstruktiv agieren können. Viele Erwachsene – auch Lehrer – können das nicht. Besonders Selbstreflexion, also das Besinnen auf eigenes Handeln, auch auf eigene Fehler, fällt wahrscheinlich niemandem leicht, ist aber für viele Menschen gar nicht möglich.

Wenn wir nun unsere Schüler an ein sozial gedeihliches Verhalten in der Gruppe heranführen wollen, so ist dazu natürlich nötig, dass auch Fehlverhalten angesprochen wird.
Aber eben auf eine Weise, bei der es nicht am Ende einen Bösen und einen Guten gibt.

Ein einfaches Beispiel soll das verdeutlichen. Genauere Informationen zum Umgang auch mit schwierigeren Fällen findest du in meinem Buch „Unterricht entschleunigen“. (Christina Buchner, Unterricht entschleunigen, Weinheim Basel, 2017, S. 125-133)

Konfliktlösung im Guten

An der Wandzeitung hängt folgende Anklage auf der Ärger-Seite:

Das ist natürlich nicht einfach hinzunehmen, sondern bedarf der Klärung.

Diese erfolgt nach meinem bewährten Lösungs-Schema:

  1. Schilderung 1
    Der Kläger darf sein Anliegen vorbringen, ohne unterbrochen zu werden. Der Beklagte muss still abwarten, bis er an der Reihe ist.
  2. Schilderung 2
    Der Beklagte darf nun seine Sicht der Dinge darlegen, ebenfalls, ohne unterbrochen zu werden.
  3. Nähere Klärung des Sachverhalts
    Ich stelle Fragen, um den Ablauf so genau wie möglich vor Augen zu haben. Wenn es um „tätliche Übergriffe“ geht, lasse ich mir in einem kurzen Rollenspiel genau zeigen, was vorgefallen ist. Dabei stelle ich mich als Zielperson für den Übergriff zur Verfügung, damit der Täter genau herzeigen kann, wie er seinen Kameraden geschubst, gezwickt oder was auch immer hat und ich lasse mir auch vom Opfer noch einmal zeigen, wie das in seiner Wahrnehmung aussieht.
    Bei Michael und Sebastian stellt sich heraus, dass Michael Sebastians Mütze genommen und auf einen Baum geworfen hat.
    Achtung: Was ich in dieser Phase unter keinen Umständen mache, ist die Befragung von Zeugen. Es geht hier nicht um eine Gerichtsverhandlung, sondern darum, einen Konflikt einvernehmlich zu klären. Das wird schiefgehen, wenn es hinterher einen „Bösen“ und einen „Guten“ gibt. Da ich selbst wahrscheinlich den Vorfall nicht gesehen habe, hüte ich mich, eine „objektive“ Variante als richtig darzustellen. Werden die Vorgänge von den beiden Parteien unterschiedlich geschildert, so sage ich höchstens: „Ich war nicht dabei und kann deshalb gar nicht sagen, wie es war. Ich kann mir schon vorstellen, dass jeder von euch beiden alles genau so erzählt hat, wie er es erlebt hat.“ Manchmal biete ich dann noch Varianten an und sage: „Könnte es vielleicht auch so oder so gewesen sein?“
  4. Empathiephase
    Wenn nun hinreichend geklärt ist, was genau passierte, ist es wichtig, eine Deutungsmöglichkeit zu finden, die den „Übeltäter“ nicht bloßstellt, aber trotzdem zu dem Ergebnis kommt, ein anderes Verhalten wäre in dieser Situation besser gewesen. Wenn es um zwei Streithähne, wie z.B. Michael und Sebastian, geht, biete ich jedem der beiden sozusagen „zur Wahl“ Motive an, die es ihm ermöglichen, ehrenhaft und ohne Gesichtsverlust abzuschneiden.
    Zum Beispiel könnte ich zu Sebastian sagen: „Ich kann gut verstehen, dass du dich geärgert hast, als Michael einfach mit deiner Mütze weggerannt ist. Das würde mich auch ärgern. Michael, ich glaube, das würde dir auch nicht passen. Du hast wahrscheinlich gedacht, das ist lustig, stimmt’s? Aber denk mal nach, ob du das gernhättest. Ja, Sebastian, und dann hast du dem Michael richtig ins Gesicht gespuckt. Das war sicher eklig, stimmt’s Michael? Hätte dir das gefallen, Sebastian? Jetzt habt ihr beide eigentlich einerseits einen Grund für euer Verhalten, andererseits hätte man das schon anders machen können, was meint ihr? Du, Michael, wolltest was Lustiges machen und du, Sebastian, hast dich dann recht geärgert.“
    In diesem Stil äußere ich Verständnis, baue Brücken, indem ich mögliche Motive liefere und wecke in jedem der Kontrahenten Verständnis für die jeweils andere Position.
  5. Abschluss
    Grundsätzlich werden in der Abschlussphase eines Konfliktgespräches gemeinsam Alternativmöglichkeiten gesammelt, was jeder der beiden hätte tun können, damit es nicht zum Streit kommt.

Beim „Spuck-Gespräch“ kamen dann Vorschläge wie: „Der Sebastian hätte dem Michael doch sagen können, dass er das mit der Mütze nicht mag.“
Und auf den Einwand, dass Michael sich davon vielleicht nicht hätte abhalten lassen, kam: Der Sebastian hätte das an die Wandzeitung schreiben können.“

In den Phasen 4 und 5 sind alle Schüler am Gespräch beteiligt. Zur Förderung der Empathie kann man die Mitschüler fragen, wem es schon einmal ähnlich ergangen ist wie in dem aktuellen Vorfall, sei es als „Täter“ mit etwas vermeintlich Lustigem oder als „Opfer“.

Was ich an diesen Gesprächen immer sehr ermutigend fand, war die Bereitschaft der Kinder, sich an eigene Verhaltensausrutscher zu erinnern und diese den anderen mitzuteilen.

Dieses „sharing“ entlastet den Protagonisten, nimmt ihm das unbehagliche Gefühl, mit seinem Verhalten im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden zu haben und stärkt den Gruppenzusammenhalt.
Das Resultat heißt also nicht: „Der da hat was gemacht und wir haben darüber geredet, sondern: Da wurde etwas thematisiert, was viele von uns kennen.“ (Christian Stadler, Sabine Kern, Psychodrama, Wiesbaden, 2010, S.86)

Abschließende Gedanken zu Wandzeitung

Die Themen für das wöchentliche Klassengespräch ergeben sich bei der Wandzeitung aus der aktuellen Befindlichkeit der Schüler. Gerade das macht die besondere Wirksamkeit für die Gruppenkohäsion aus:

Es geht um unsere Themen und Probleme, die uns alle angehen und die wir gemeinsam lösen. Weil es echte Themen aus dem echten Leben sind, die aus sich heraus Bedeutsamkeit haben, sind die Energien der Klasse darauf gebündelt.

Da werden nicht synthetische Gespräche geführt, weil man halt was zum Bereden braucht. Und wie bei den Wattekugeln gilt auch hier: Die angesprochenen Probleme sind evident, für alle Kinder sichtbar, und betreffen uns auch alle, das Thema „Diskretion“ ist also obsolet.

Ein weiterer Vorteil der Wandzeitung ist, dass Lehrer durch sie sehr viel mitbekommen, was sonst ihrer Aufmerksamkeit entgehen würde.

Gerade dadurch, dass die an der Wandzeitung veröffentlichten Vorfälle niemals zu Bestrafungen, sondern immer nur zu Lösungen und Hilfestellungen für den „Übeltäter“ führen, kommt auch der Makel des „Verpetzens“ den Meldungen nicht zu.

So können Lehrer erfahren, was in der Klasse vorgeht und haben die Möglichkeit, regulierend einzugreifen.

In einer Klasse, in der es einen geschützten Raum gibt, haben destruktive Tendenzen wenig Chancen. Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, das bei Grundschulkindern noch sehr stark ausgeprägt ist, führt im Gegenteil dazu, dass solche Tendenzen offengelegt werden.

So sind zum Beispiel durchaus auch Wandzeitungsbeiträge dieser Art möglich:

Wenn wir uns vorstellen, wie viel Leid es für ein Kind bedeutet, zum Opfer kollektiver Ablehnung zu werden, dann können wir uns doch nicht hinter dem Mäntelchen des Nicht-gewusst-Habens verstecken, sondern müssen alles daran setzen, in den eigenen Klassen Derartiges zu verhindern und Schule zu einem Schutzraum werden zu lassen, „der vor jeglicher Art Demütigungserfahrung schützt“ (Hartmut Rosa, Wolfgang Endres, Resonanzpädagogik, Weinheim und Basel, 2016, S.83).

Die Wandzeitung leistet hierzu einen wichtigen Beitrag.

Die Autorin:

Christina Buchner arbeitete viele Jahre als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen. Und sie war 16 Jahre Rektorin an Grundschulen im Landkreis München.
Sie ist in Oberbayern auf dem Land aufgewachsen. Ihre Kindheit war geprägt durch große Freiheit, Nähe zur Natur, Freude an Büchern und die Möglichkeit, kreative Einfälle in die Tat umzusetzen.
Vor diesem Hintergrund war es ihr von Anfang an ein zentrales Anliegen, für ihre Schüler eine bunte und anregende Lernwelt zu schaffen.

Sie ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass in der Schule ohne Freude, Begeisterung und ohne Erfolgserlebnisse sehr wenig läuft. Die Mischung aus Pflicht und Freude, aus Begeisterung und konsequenter Übung, aus Disziplin und individueller Freiheit beim Lernen ist ihr Markenzeichen. Für diese Mischung wirbt sie in ihren Büchern und in Vorträgen und Lehrerfortbildungen in Deutschland, Österreich, Italien, der Schweiz und Luxemburg.
Christina Buchner entwickelte eigene Methoden für das Lesenlernen, für Rechtschreiben und Schreiberziehung, für den elementaren Mathematikunterricht und für das Theaterspielen mit einer Klasse.
Ihr MatheBlog: www.die-rechentante.de
Ihre Website: www.christina-buchner.de

Weitere Beiträge:

Runter vom Gas 1 – Impulse für entspannten Unterricht in der Grundschule

Runter vom Gas 2 – Disziplin und Classroom Management

Runter vom Gas 3 – Abstrakte Zeichen und Symbole entdecken




Entwicklung geschieht durch positiv erlebte Bindung

Grundsätze für eine qualitätsgeprägte Beobachtung – Beziehungen prägen das Verhalten von Kindern entscheidend mit

Kindheitsforschungen belegen: immer mehr Kinder reagieren gereizt, fühlen sich überfordert, besitzen wenig Belastbarkeit, sind unruhig oder inaktiv; reagieren mit Aggressivität auf subjektiv erlebte Überforderungen und wenden zunehmend Gewalt gegen Dinge und andere Personen an. Sie wollen Wünsche möglichst umgehend erfüllt bekommen und ­reagieren mit Wutausbrüchen, wenn Wunscherfüllungen versagt werden. Kinder haben vermehrt Herzrasen, Schlafstörungen, Magenbeschwerden und Kopfschmerzen; sie trauen nahezu niemandem und kritisieren jeden und alles, der bzw. was ihnen missfällt. Psychosomatische An-/Auffälligkeiten und immer frühere sowie intensivere Erfahrungen mit Suchtmitteln lassen besorgte Eltern und professionelle Fachkräfte aufhorchen und führen zu der Formulierung, dass viele Kinder in zunehmendem Maße „innerlich aussteigen“. Kinderärzt*innen, Psycholog*innen und (Elementar)Pädagog*innen schlagen Alarm. Kindheiten und Kindsein sind heute schon lange kein Kinderspiel mehr.

„Wer bringt dem Kind das Lachen bei? Die Sonne, die Blumen.

Wer bringt dem Kind das Singen bei? Die Vögel, wenn sie jubilieren.

Wer bringt dem Kind das Staunen bei? Alle Dinge, die es sieht.

Wer bringt dem Kind das Weinen bei? Die Menschen, wenn sie die Seele verletzen.

Nur eine Kinderseele ohne Narben kann herzlich lachen.“

(R. Timm)

Offensichtlich kommt es bei einer großen Anzahl von Kindern zu Irritationen im Bereich der personalen Identität und Stabilität

Wie entwicklungspsychologisch bekannt, steht bei Kindern zunächst der Auf- und Ausbau der Ich-Kompetenz im Vordergrund, geht es doch hier vor allem um das Verhältnis des Kindes zu sich selbst und um seine Möglichkeiten, sich unter dem besonderen Aspekt der eigenen Interessen und Möglichkeiten mit sich sowie seinem unmittelbaren Umfeld auseinanderzusetzen, zu entdecken, zu explorieren und bedeutsame Erfahrungen zu machen. Dieser Ich-Kompetenz wird eine grundlegende Bedeutung im Hinblick auf die Entwicklung einer Ich-Autonomie beigemessen, die dem Kind hilft, (Selbst)Vertrauen zu sich und zu seinem Handeln zu erlangen. Doch gleichzeitig zeigen o.g. Beobachtungen, dass es offensichtlich vielen Kindern immer schwerer fällt /gemacht wird, diese basale Entwicklung zu realisieren. Die Frage nach möglichen Hintergründen wird durch vielfach belegte Untersuchungsergebnisse offenbar: Entwicklung geschieht durch positiv erlebte Bindung und Erziehung ist Beziehung.

Diese sichere Bindung bzw. Beziehungsqualität scheint daher von immer weniger Kindern in ihrer ganzen Tiefe erlebt zu werden

Erinnern wir uns an die große Familientherapeutin Virginia Satir, die einmal sagte: „Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt.“

In der aktuellen entwicklungspsychologischen Forschung gehen viele Wissenschaftler*innen inzwischen davon aus, dass Kinder in zunehmendem Maße Entwicklungsunterbrechungen durch Beziehungsstörungen erleben/erlebt haben, die es ihnen nahezu unmöglich machen, so genannte Basisfähigkeiten aufzubauen. (Genannt seien hier vor allem die Bereiche Selbst-/Fremdwahrnehmungsbereitschaft, Wahrnehmungsdifferenzierung, Selbstannahme, Erleben von Personstärke, Öffnungsbereitschaft für Selbstexploration, Motivation zur Selbstentwicklung neu zu entdeckender Lernbereiche, Aktivitätsmotivation zum Stressabbau, Wertigkeitssensibilität, Gefühlsexploration, intrinsische Lernmotivation, konstruktives Konfliktmanagement). Inzwischen hat sich gezeigt, dass es so genannte „innere, automatisierte und autonom gesteuerte Entwicklungsabläufe“ im Hinblick auf den Aufbau von Fähigkeiten nicht gibt. Allerdings zeigen Beobachtungsergebnisse, dass spezifische Basisfähigkeiten in Verbindung mit einer qualitativ intensiven Grundbedürfnisbefriedigung durch erlebte Bindungen in sehr engen Vernetzungen stehen. Gleichzeitig ergeben sich Verhaltensirritationen spezifischer Art aus der Nichtbefriedigung bestimmter seelischer Grundbedürfnisse.

Werden nun Basisfähigkeiten als Aufbauprozess und entsprechende Fertigkeiten als Ausbauentwicklung verbunden betrachtet, fokussiert sich die notwendige Aufmerksamkeit – auch und gerade in der ELEMENTARPÄDAGOGIK – auf zwei Elemente. Zum einen muss die gesamte pädagogische Art und Weise, wie das Kommunikations- und Interaktionsgeschehen mit Kindern gestaltet wird und welche Schwerpunkte im pädagogischen Alltagsgeschehen umgesetzt werden, darauf ausgerichtet sein, dass Kinder in der täglichen Arbeit ihre Grundbedürfnisbefriedigung durch Bindungserfahrungen erleben (können). Zum anderen sind es aber auch bestimmte Verhaltensmerkmale der Erwachsenen, die notwendig sind, dem Anspruch einer bedürfnisgerechten Kommunikation in einer beziehungsgeprägten Interaktion und in bindungsnahen Erlebnissen gerecht zu werden.

Du hast mir das Lachen und die Freude gezeigt,

mich vom Stillstand befreit.

Du hast mir Geborgenheit und Sicherheit gegeben,

hast mir gezeigt,

wie es ist zu leben.

Du hast in mir Zuversicht, Hoffnung, Ziele und Staunen geweckt,

hast gemeinsam mit mir

die vielen, eigenen verborgenen Talente entdeckt.

Und dafür liebe ich Dich.

(AK in Anlehnung an Siegfried Maier)

So stehen jeweils bestimmte Vernetzungen in einer kindorientierten Elementarpädagogik im Mittelpunkt:

  • die Befriedigung basaler Grundbedürfnisse sorgt für einen Entwicklungsaufbau von spezifischen Fähigkeiten bei Kindern
  • Basisfähigkeiten führen zu spezifischen kognitiven/ emotionalen/ motorischen/ sozialen Fertigkeiten
  • fehlende Basisfähigkeiten führen zu spezifischen Verhaltensirritationen
  • und eine Grundbedürfnisbefriedigung verlangt nach bindungsintensiven und spezifischen Erwachsenenkompetenzen

Doch alles fängt mit einer Kenntnis und Befriedigung der GRUNDBEDÜRFNISSE von Kindern an. Diese können entwicklungspsychologisch als „tragende Entwicklungssäulen“ bezeichnet werden, die Kindern helfen, „Wurzeln“ für ihre Persönlichkeits- und Lebensentfaltung zu entwickeln.

Die 16 seelischen Grundbedürfnisse

Ihre Merkmalsbezeichnungen lauten:

  • Zeit mit bindungsnahen Menschen erleben, um sich selbst in den eigenen Entwicklungsmöglichkeiten wahrzunehmen und die Welt um sich herum zu entdecken;
  • Ruhe in der Entwicklung erfahren, um die Basisfähigkeit „Wahrnehmungsdifferenzierung“ aufbauen zu können;
  • Liebe i.S. einer personalen Annahme erleben, um ein Gefühl der Selbstannahme zu entwickeln und Empathie für die lebende und dingliche Welt aufzubauen;
  • Vertrauen durch andere spüren, um eigenen Stolz erleben zu dürfen und Leistungsbereitschaft zu entwickeln;
  • von Mitmenschen verstanden werden, um in den vielfältigen Lebenssituationen und Lebensherausforderungen immer wieder Kontakt zu sich selbst herzustellen und eine Mitverantwortung für Situationsverläufe zu entdecken;
  • Sicherheit durch Nähe und feste (Sinn bedeutsame) Regeln erfahren, um in einen nachhaltigen Prozess der Selbstentwicklung zu finden;
  • Bewegung ausdrücken können, um durch gezielte und bewusst gewählte motorische Aktivitäten Stress abzubauen und in eine gedankliche, emotionale und motorische Selbststeuerung kommen zu können;
  • Intimität und Geheimnisse bejahend zuerkannt bekommen, um zu erkennen, dass es im Ausdrucksverhalten eine „öffentliche“ und eine „private“ Person gibt, die es in der Außenwirkung zu differenzieren gilt;
  • Mitsprache erleben und umsetzen dürfen, um ein individuelles, persönliches Wertigkeitsempfinden zu entwickeln;
  • Erfahrungsräume erkunden können, und die Vielfalt der eigenen Entwicklungspotenziale zu entdecken;
  • Gefühle (Freude, Angst, Wut, Trauer, Scham) entdecken, erleben und zuordnen dürfen, und ihre Existenz zu akzeptieren und in die eigene Gefühlswelt bejahend zu integrieren;
  • die eigene Sexualität/ sexuelle Ausrichtung in vollem Umfang annehmen und in sich stabil integrieren, um sich in seinem Körper wohlzufühlen;
  • Gewaltfreiheit als ein besonders wichtiges „Lebensgut“ erfahren, um in den vielfältigen, Angst auslösenden Alltagssituationen immer stärker angstfrei handeln zu können;
  • Neugierde spüren, zulassen und praktisch umsetzen können, um sich und der Welt immer wieder aufs Neue lernmotiviert zu begegnen;
  • Optimismus durch andere erleben, gerade wenn sich im Kind ein Pessimismus auszubreiten droht sowie
  • Respekt bzw. Achtung in der erlebten Kommunikation erfahren, um Lebensherausforderungen als Lernchancen anzusehen und mit konstruktiven Gedanken und Handlungsweisen selbst schwierige Situationen anzunehmen und zu lösen wollen.

Es sind also primär strukturelle Bedingungen und personale Kompetenzen der Erwachsenen, die für eine persönlichkeitsförderliche und stark machende, ressourcenorientierte Entwicklung von Kindern sorgen.

Reflexions- und Planungsbogen

Es ist – aus professioneller Sicht – notwendig und – aus einem intrinsisch motiviertem, selbstreflektorischen Anspruch heraus – sicherlich hilfreich, sich einmal mit den folgenden Fragen auseinanderzusetzen. Dies kann in einer Eigenarbeit, aber auch gemeinsam im Kollegium geschehen.

Wichtig ist allerdings dabei, dass es bei der Auseinandersetzung mit den Fragen nicht um bloße Absichtserklärungen oder persönlich ausgesprochene Meinungen geht. Ist doch bekannt, dass Selbsteinschätzungswerte in der Regel weitaus positiver ausfallen als beobachtbare Fakten. Insofern geht es darum, jede Beantwortung der einzelnen Fragen mit vielen Beispielen aus Ihrem Erleben noch einmal zu aktualisieren und mit der heutigen „Praxis im Alltag“ zu belegen:

A) Auswirkungen angenehmer Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen auf Ihre heutige Lebensgestaltung

  • Denken Sie bitte an Ihre Kinder(garten)-/Schulzeit: Was zeichneten die Personen aus, denen Sie eine hohe Bedeutung beigemessen haben, die Ihnen viel bedeutet haben? Und warum war das Ihrer Einschätzung nach so?
  • Wodurch zeichneten sich diese Personen besonders aus? Welche Persönlichkeitsmerkmale haben Sie tief beeindruckt und hatten auf diese Weise für Sie einen besonders hohen Bedeutungswert?
  • Was glauben Sie, haben diese als besonders angenehm erlebten Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen für eine Auswirkung auf Ihre damals stattgefundene und erlebte Biografie? Und welche Entwicklungsvorgänge haben diese Erlebnisse in Ihnen hervorgerufen?
  • Welche eigenen Persönlichkeitsmerkmale haben sich durch diese Erlebnisse bis heute in Ihnen erhalten?

B) Wie schätzen Sie das „soziale Klima“ in Ihrer Einrichtung ein?

  • im Kollegium, auch abhängig von Ihrer Haltung und Ihren konkreten Verhaltensweisen?
  • in der Kindergruppe, auch abhängig von Ihrer Haltung und Ihren konkreten Verhaltensweisen?
  • in der Beziehung zwischen Ihnen und den Kindern, auch abhängig von Ihrer Haltung und der Art und Weise Ihres Kommunikations- und Interaktionsverhaltens?

C) Was tragen Sie als Fachkraft im Alltagsgeschehen zum Auf-/Ausbau der personalen Ressourcen der Kinder bei (selbstwertschätzendes Erleben der Kinder)?

D) Wie verhindern Sie als Fachkraft im pädagogischen Alltag die Entstehung/ Festigung von Vulnerabilitäten (selbstwertschädigendes Erleben) der Kinder untereinander. Bzw. was tragen Sie in welcher Form dazu bei, dass Konflikte im Kollegium geklärt werden?

E) Was unternehmen Sie konkret, um

  • die Selbstwahrnehmung der Kinder im Alltag auf-/auszubauen?
  • die Erlebnisse einer Selbstwirksamkeit der Kinder auf-/auszubauen?
  • den Stressabbau der Kinder im Alltag aktiv zu unterstützen?
  • Problemlösungen mit Kindern zu suchen, zu entdecken und zu erleben anstatt ihnen Problemlösungen in direktiver Form vorzugeben?
  • die Partizipation der Kinder in der Einrichtung auf den unterschiedlichsten Ebenen zu aktivieren?
  • das Gefühl der Gruppen- und Einrichtungszugehörigkeit der Kinder und der Kolleg*innen aufzubauen und zu stabilisieren?

Zusammenfassung

Beobachtungen in der (elementar)pädagogischen Praxis haben nur dann eine fachliche Berechtigung, wenn sie systematisch vorbereitet, strukturiert und aufgabenorientiert gemacht sowie zielorientiert ausgewertet werden. Je nach ihrer Aufgabenstellung richtet sich eine Beobachtung punktgenau auf die entsprechende Fragestellung aus. Dann kann ein Beobachtungsergebnis mit dem formulierten Ziel in eine Deckungsgleichheit gebracht werden.

Ausgangspunkt für eine Beobachtung ist unsere Wahrnehmung, die allerdings immer subjektiv geprägt ist. Hier fallen persönliche Einstellungen, Sichtweisen, Vorlieben, Abneigungen, Werte und Normen ins Gewicht. Umso bedeutsamer ist es, diese „Beobachtungsfallen“ und „Beurteilungsverschiebungen“ zu bemerken. Sonst werden persönlich geprägte Wahrnehmungs-, Beobachtungs- und Beurteilungsabsichten in den Vordergrund gerückt. Erst wenn eine Beobachtung weitgehend frei von diesen intrapersonalen Aspekten ist, kann es gelingen,

  • sich selbst immer besser zu verstehen und den Zusammenhang von den biografischen Erlebnissen, Eindrücken und Erfahrungen zu entdecken,
  • ein Kind dort mit seinen Interessen und entwicklungspädagogischen Bedürfnissen abzuholen, wo es entwicklungspsychologisch steht,
  • auch die eigene Verantwortung für eine gelingende Zusammenarbeit im Kollegium anzunehmen und entsprechend teamförderlich zu handeln.

Diesen Beitrag haben wir folgendem Buch entnommen:

Krenz, Armin

Beobachtung und Entwicklungsdokumentation

Grundlagen – Praxisbeispiele – Beobachtungslisten – Dokumentationsmuster

Burckhardthaus

25,00 € (inkl. MwSt.)

Eigens für dieses Buch wurde die Website www.beobachten-und-dokumentieren.de eingerichtet, auf der sich die Formulare zum Download befinden. Das Buch richtet sich sowohl an Studierende der Sozial- und Heilpädagogik als auch an Erzieher*innen/Kindheitspädagog*innen, die schon im Beruf stehen.




Laut Vorlesemonitor lesen zwei Drittel der Eltern regelmäßig vor

Stiftung Lesen gibt Studie über das Vorleseverhalten von Familien heraus

Auch in diesem Jahr hat die die Stiftung Lesen unterstützt von den Finanzmitteln der Deutsche Bahn Stiftung und Die Zeit ihren so genannten „Vorlesemonitor“ herausgebracht. Schließlich ist Vorlesen ein wichtiges Thema, weil dadurch die sprachliche Entwicklung, die Freude am eigenen Lesen, die Entwicklung von Persönlichkeit und sozio-emotionalen Kompetenzen und die langfristigen Bildungs- und Lebenschancen unterstützt werden. Das betonen die Initiatoren auch eingangs ihres Info-PDFs.

Lediglich 815 Eltern mit Fragebogen befragt

Wiederum enttäuschend ist es, dass die von der Stiftung Lesen beauftragte Agentur iconkids & youth lediglich 815 Eltern von Kindern von Kindern im Alter zwischen einem und acht Jahren. Zwar behaupten Initiatoren und Agentur, dass die Studie aufgrund der Auswahl der Eltern nach bestimmten Merkmalen des Kindes (Alter, Geschlecht und Zuwanderungsgeschichte), Schulabschluss des Haushaltsvorstands, Familienstand der Mutter, sowie regionaler Verteilung über die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die genannten Merkmale repräsentativ sei. Da der Anteil der befragten Mütter (585) gemessen an der Gesamtanzahl der Mütter von Kindern in diesem Alter bei unter 0,01 Prozent liegen dürfte, kann die Studie bestenfalls eine Tendenz aufzeigen.

Vorsicht mit Aussagen geboten

Deshalb sind die anhand der Ergebnisse getroffenen Behauptungen mit äußerster Vorsicht zu genießen. So heißt es etwa, dass 32,3 Prozent der 1- bis 8-jährigen Kinder selten oder nie vorgelesen werde. Laut Studie lesen 6,6 Prozent (54 Eltern) nur einmal pro Woche vorgelesen, 7,2 Prozent (59 Eltern) selten, 18,5 Prozent (151 Eltern) nie vor. Dagegen lesen wohl 67,7 Prozent (551 Eltern) regelmäßig vor.

Das könnte durchaus als erfreulich gewertet werden. Denn immerhin ist der Anteil gegenüber 2023 um 4,3 Prozent und gegenüber 2022 sogar um 6,4 Prozent gestiegen. Mit Blick auf die absoluten Zahlen 35 Eltern und 53 Eltern kann es sich jedoch auch um einen Zufall handeln.

Die Dreijährigen bekommen laut Studie am meisten vorgelesen

Interessant ist, dass laut Studie die Einjährigen Kinder lediglich zu 59 Prozent, die Zweijährigen zu 78 Prozent, die Dreijährigen zu 90 Prozent und die Vierjähringen zu 88 Prozent regelmäßig vorgelesen bekommen. Umso älter die Kinder dann werden, umso weniger häufig dürfen sie sich über das Vorlesen freuen.

Das scheint nachvollziehbar. Ebenso, dass Eltern mit formal niedriger Bildung seltener oder nie vorlesen, erhärtet das Bild vergleichbarer, aber repräsentativer Studien.

Schlussfolgerungen passen ins Bild

Auch bezüglich der Folgen des Vorlesens sind die gegebenen Antworten folgerichtig. So erklären Eltern mit Schulkindern, die regelmäßig vorlesen, etwas häufiger, dass den Kindern das Lesenlernen leichter gefallen sei. Sie üben laut Vorlesemonitor das Lesen auch häufiger.

Trotz aller Mängel, lohnt sich ein Blick in den Vorlesemonitor. Wenn er auch nicht als Analyse des Vorleseverhaltens in Deutschland gelten kann und abgeleitete Aussagen daraus mit äußerster Vorsicht zu genießen sind, weist er doch einige erhellende Aspekte und Anregungen auf, so etwa, dass das Schenken und Ausleihen von Büchern hilft.    

Gernot Körner (Quelle: Vorlesemonitor 2024)




Mit Fröbel geometrische Prinzipien und Muster entdecken und erfinden

Die Legematerialien des Begründers des Kindergartens neu interpretiert

Deutschland ist weltweit für hohe Qualität, großen Erfindergeist und zahlreiche Innovationen bekannt, besonders im industriellen Bereich. Es ist jedoch bemerkenswert, dass bereits über ein Jahrhundert vor dem Wirtschaftswunder in Thüringen ein Begriff geprägt wurde, der für eines der bedeutendsten Exportgüter Deutschlands steht: „Kindergarten“. Dieses Wort wurde in acht Sprachen, darunter Englisch, unverändert übernommen und in über 40 weitere Länder in ihre jeweiligen Sprachen übersetzt.

Wichtiger als der Begriff selbst ist das dahinterstehende pädagogische Konzept, das von Friedrich Fröbel (1782-1852) entwickelt wurde. Fröbel erkannte die frühe Kindheit als eigenständige Lebensphase mit spezifischen Entwicklungsbedürfnissen. Er betonte die Bedeutung dieser Phase für die gesamte Entwicklung des Menschen.

Fröbels bahnbrechende Ideen mündeten nicht nur in theoretischen Überlegungen, sondern auch in der praktischen Gründung des ersten Kindergartens der Welt 1840 in Bad Blankenburg. Seine Spielpädagogik, insbesondere die Einführung der auf Kinder bezogene Spieltheorie, war revolutionär und wirkt bis heute modern. Fröbel erkannte, dass Kinder durch aktives Spiel die Welt begreifen. Diese Erkenntnis legt bis heute den Grundstein für die moderne Elementarpädagogik.

Fröbel, der Kindergarten und die Spielgaben sind eng miteinander verbunden und bilden wahrscheinlich bei vielen Pädagogen eine untrennbare begriffliche Assoziationskette. Diese Materialien dieser Spielgaben sind so konzipiert, dass sie die Kreativität und das Verständnis der Kinder für Formen, Muster und Zusammenhänge fördern. Die Spielgaben umfassen Objekte wie Kugeln, Würfel, Quader und Zylinder, die den Kindern helfen, grundlegende geometrische und physikalische Konzepte zu verstehen.

Die 4. Spielgabe zum Beispiel, besteht „nur“ aus acht Quadern oder Ziegelsteinen. Die Bandbreite an Möglichkeiten, wie damit und auch allen weiteren Spielgaben gespielt werden kann, ist jedoch sehr viel umfassender, als dies auf den ersten Blick erscheint.

Fröbel verfolgte mit seinen Spielgaben unter anderem das Ziel, mit Hilfe dieser Bausteine wesentliche Lebensbereiche vertiefter durchdringen zu können. Er formulierte dazu die Begriffe der Lebens-, Schönheits- und Erkenntnisformen.

Lebensformen: Mit dem Spielmaterial können Dinge aus dem Alltag der Kinder nachgebaut oder nachgespielt werden, hier z.B. eine Sitzgruppe mit den acht Quadern der 4. Spielgabe.

Schönheitsformen: Beim Spielen mit dem Material können ästhetische, auch ornamentale Bildformen nachgebaut werden. So können die 8 Quader der 4. Gabe zu immer neuen „schönen“ Figuren kombiniert werden. Hier handelt es sich um ein einfaches Mandala.

Erkenntnisformen: Beschäftigt sich das Kind mit dem Spielmaterial und finden mathematische Zusammenhänge (hier: Die Zahl Acht lässt sich in zweimal vier zerlegen), trägt das Material zum Erkenntnisgewinn bei. Schönheitsformen lassen sich nicht selten auch als Erkenntnisformen deuten.

Während die Spielgaben sich mit Körpern im Raum befassen und dreidimensionale Objekte umfassen, konzentrieren sich die nicht weniger bedeutsamen Legematerialien auf Längen und Flächen in der Ebene. Und um diese Legematerialien geht es im Folgenden.

Legematerialien bestehen aus verschieden langen und farbigen Stäbchen und geometrischen Formen wie Dreiecken, Vierecken und Kreisen, die Kindern helfen, Muster und Strukturen zu legen und zu verstehen.

Spielen mit den Legematerialien – Farben und Formen entdecken

 

Es ist vor allem die Mathematik, die hier Ordnung in das Durcheinander bringt und wieder war es Friedrich Fröbel, dem es als erstes gelang, ein System aus Legematerialien, wie Stäbchen und regelmäßigen Grundflächen zu entwerfen, welches einerseits strengen mathematikdidaktischen Anforderungen genügt und andererseits den Kindern unglaublich viel Freude macht, damit zu spielen.

Diese Materialien ermöglichen es Kindern, sich mit geometrischen Prinzipien und Mustern auseinanderzusetzen, indem sie verschiedene Formen legen und konstruieren.

Wer Kinder und nicht selten auch Erwachsene beobachtet, beispielweise bei einer Rast bei einem Waldspaziergang im Herbst, wird feststellen, welche Faszination das Sammeln, etwa von Kastanien, auf Kinder ausübt, um im Anschluss daran schöne bzw. regelhafte Strukturen oder ihnen bekannte Gegenstände aus ihrem Leben nachzulegen. Auch entstehen nahezu unwillkürlich Formen, die sich in die von ihm benannten und oben bereits beschriebenen Schönheits-, Erkenntnis- und Lebensformen einteilen lassen.

Spirale Natur und Spirale Fröbel Material (Schönheitsform)

Dreieck Natur und Dreieck aus Legematerialen (Erkenntnisform)

 Bild: Sitzgruppe aus Naturmaterialien und Sitzgruppe aus Legematerialien (Lebensform)

Die fünf Flächenformen nach Friedrich Fröbel

Wenig bekannt, aber durchaus interessant ist, dass Friedrich Fröbel ursprünglich nur fünf verschiedene Flächenformen entworfen hatte: das Quadrat und vier unterschiedliche Dreieckstypen. Diese Formen waren lediglich in den drei Farben Rot, Gelb und Grün gebeizt.

Obwohl ein Aufsatz von Fröbel zum Umgang mit den Stäbchen existiert, fehlen leider detaillierte Informationen über das Spiel mit den Legetäfelchen. Es waren vor allem Fröbels Schülerinnen und Schüler, die in enger Zusammenarbeit mit ihm diese Materialien weiterentwickelten. Sie erweiterten das Spektrum um neue geometrische Formen wie Kreisscheiben, Halbkreisscheiben und Kreisringe sowie Rechtecke, Rauten, Trapeze und Parallelogramme. Auch das Farbspektrum wurde erweitert und orientierte sich an den sechs Regenbogenfarben, die bereits in Fröbels erster Spielgabe zu finden waren.

Heutzutage ist es üblich geworden, solche Sammlungen, wie auch das Fröbel Set 3 der Firma Beleduc, die der Autor für diesen Aufsatz verwendet hat, allgemein als „Fröbel-Legematerial“ zu bezeichnen. Dieses Fröbel Set 3 der von Beleduc enthält insgesamt 1450 Trapeze, Parallelogramme. Rauten, verschiedene, regelmäßige Dreiecke, Halbkreisscheiben und Kreisscheiben, halbe und volle Kreisringe, Rechtecke, Quadrate und Stäbchen in verschiedenen Längen, alle in den sechs bekannten Regenbogenfarben. Darüber hinaus wird dieses Set 3 ergänzt durch ein informatives Handbuch mit didaktischen Tipps, sowie mit vielerlei weiteren Spielbegleitmaterialien und tollen Ideen, wie etwa motivierende Vorlagekarten, Themenhintergründe, eine Mandala-Matte oder etwa Sortierschalen und Baumwollbeutel, für verschiedenste Tastspiele.

Besonders innovativ erscheint dabei eine neue Interpretation im Umgang mit den Legematerialen in Form dreier Bücher mit Lege-Bild-Geschichten. Diese bieten sowohl sprachlich als auch künstlerisch einen neuen Zugang zu den Materialien und, das ist das Besondere, behalten dabei die strenge mathematische Systematik im Aufbau der Fröbelschen Legematerialien bei. Da dieser Zugang im Gesamt der Fröbel-Adaptionen ein Novum darstellt, wird darauf am Ende des Artikels noch gesondert eingegangen. 

Ein Grundprinzip im Umgang mit den Legematerialien

Sicherlich ist Ihnen der Satz „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ bekannt. Dieser Gedanke, der auf Aristoteles (384–322 v. Chr.) zurückgeht, wurde im 20. Jahrhundert zum zentralen Leitsatz einer ganzen psychologischen Richtung oder Schule, der Gestaltpsychologie. Diese befasst sich mit der menschlichen Fähigkeit, aus den zahlreichen Sinneseindrücken, die auf uns einwirken, nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten sinnvolle Ordnungsprinzipien und Strukturen zu schaffen. Dieses grundlegende Prinzip zeigt sich in nahezu jedem einzelnen Schritt des Legens.

Keine Frage: Die Summe der vier grünen Stäbchen bleibt hier doch „irgendwie“ vier grüne Stäbchen.

 

Hoppla, was ist da passiert? Die Summe der vier grünen Stäbchen bleiben vier Stäbchen und ergeben zugleich etwas ganz Neues: ein Quadrat.

Tipps für den Umgang mit den Legematerialien

1. Weniger ist mehr

Obwohl diese Aussage mathematisch betrachtet nicht zutrifft – schließlich sind fünf Legetäfelchen natürlich mehr als drei – erweist sich dieser Tipp im Zusammenhang mit der großen Formenvielfalt und der beeindruckenden Anzahl an Einzelteilen des Legematerials (insgesamt 1450) als äußerst sinnvoll. Die Vielzahl der Formen kann schnell ablenken und sollte daher zu Beginn vermieden werden. Eine gezielte Reduzierung auf ein begrenztes, möglicherweise bereits vorsortiertes Materialangebot erhöht die Motivation der Kinder, sich damit zu beschäftigen, erheblich. Denn wenn das gesamte Material von Anfang an in seiner vollen Vielfalt präsentiert wird, kann dies schnell zu Überforderung und Desinteresse führen.

Ein Beispiel hierfür ist das Angebot einer einzigen Form in allen sechs Farben oder aller fünf Grundformen (die jeweils in mehrere Teile untergliedert sind) in nur einer der sechs Farben. Dies reicht oft aus, um bei den Kindern ein wahres Feuerwerk an Kreativität zu entfachen. Die von Renate Schoof und dem Autor dieses Artikels entwickelten Lege-Bild-Geschichten (siehe die Beispielgeschichte am Ende des Artikels) basieren genau auf diesem Prinzip.

Hier wurden den Kindern beispielsweise nur vorsortierte Kreisringe angeboten und es entstand ein schönes Motiv, das eine Blumenblüte (Lebensform) darstellen könnte, aber ebenso als Schönheits- oder Erkenntnisform verstanden werden könnte.

2. Und mehr ist doch mehr

Es zeigt sich jedoch ein ganz anderes Bild, wenn wir den Kindern nur eine oder zwei Formen wie gleichseitige Quadrate oder Dreiecke anbieten. Langweilig? Ganz im Gegenteil! Diese Vorgehensweise kann überraschend faszinierend sein. Stellen wir den Kindern eine große Menge identischer Formen zur Verfügung, lässt sich nahezu gesichert vorhersagen, dass sie begeistert beginnen, Muster und Strukturen zu legen. Ein einfacher Impuls: „Kinder, seht mal, was ich heute dabeihabe!“ und das Ausbreiten des Materials auf einer passenden Unterlage genügt, um ihre Kreativität zu entfachen. Sie werden überrascht sein, wieviel Freude die Kinder dabei empfinden, regelhafte Muster und Strukturen zu gestalten.

3. Ein buntes Durcheinander – Ordnung ins Chaos bringen

Nachdem Sie die ersten beiden Tipps eventuell beherzigt und das Material vorsortiert haben, stellt sich die spannende Frage: Was geschieht, wenn Sie den Kindern eine bunte Vielfalt an Formen und Farben in einer scheinbaren Unordnung anbieten? Dieses kreative Chaos lädt geradezu dazu ein, auf unterschiedliche Weisen wieder geordnet zu werden.

  1. Nach Dimensionen: Hierbei können die Kinder das Material nach seinen räumlichen Eigenschaften sortieren. Dazu gehört die Einteilung nach Längen, wie etwa bei Stäbchen und Ringen oder Halbringen, die eindimensional sind, sowie nach Flächen, wie Rechtecken, Dreiecken und Kreisen, die zweidimensional sind.
  2. Nach Farben: Die Vielfalt der Farben eröffnet den Kindern eine einfache, aber wirkungsvolle Möglichkeit zur Ordnung. Dabei bietet das Sortieren nach Farben nicht nur ästhetische Anreize, sondern auch eine gute Gelegenheit, die visuelle Wahrnehmung zu schulen.
  3. Nach Formen: Hier gibt es besonders viel zu entdecken und zu besprechen. Das Unterscheiden von runden und eckigen Formen ist noch vergleichsweise einfach. Doch auch die Unterscheidung zwischen Vierecken und Dreiecken gelingt meist mühelos. Komplexer wird es jedoch, wenn es darum geht, die verschiedenen Typen innerhalb der Dreiecke zu differenzieren. Betrachten Sie gemeinsam mit den Kindern die unterschiedlichen Formen und erkunden Sie ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Wussten Sie schon?

Etwa fünf Prozent der Menschen sind von einer Farbenfehlsichtigkeit betroffen, die umgangssprachlich oft als Farbenblindheit bezeichnet wird. Besonders Jungen und Männer sind davon betroffen, fast zehnmal häufiger als Frauen. Bei dieser Fehlsichtigkeit, die genetisch bedingt ist, können Rot und Grün nur schwer unterschieden werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch in Ihrer Einrichtung Kinder mit dieser Anomalie sind. Das frühzeitige Erkennen dieser Fehlsichtigkeit ist von großer Bedeutung, und das Sortieren nach Farben kann dabei als nützliches Diagnoseinstrument dienen.

4. Interaktion als didaktisches Prinzip

Sie werden überrascht sein, wie viel Freude es den Kindern bereitet, wenn Sie sich aktiv am Spiel beteiligen oder selbst den ersten Schritt machen, indem Sie mit den Legematerialien ein Muster oder ein lebensnahes Bild gestalten. Ihre Initiative wird die Kinder fast unweigerlich dazu anregen, sich Ihrem Spiel anzuschließen. Oft genügen schon kleine, behutsam formulierte Impulse, um sie in das gemeinsame Spiel zu integrieren:

  • „Was würdest du an meiner Stelle jetzt tun?“
  • „Möchtest du es selbst einmal ausprobieren?“
  • Tun Sie absichtlich etwas, das nicht ganz passt, und äußern Sie Ihre Unzufriedenheit: „Irgendwie gefällt mir das nicht. Hast du oder habt ihr eine Idee, wie ich es besser machen könnte?“

Wichtig ist, während des Spiels mit dem Kind oder den Kindern im Gespräch zu bleiben. Der Fokus sollte nicht auf Belehrung liegen, sondern auf einem ko-konstruktiven Dialog, in dem gemeinsam Ideen entwickelt werden. Die gemeinsame Interaktion ist das didaktische Prinzip, das es umzusetzen gilt.

5. Einfach spielen – lassen Sie sich überraschen!

Die Legematerialien sind in erster Linie Spielzeuge und keine Unterrichtsmaterialien, was bedeutet, dass sich das Spiel damit nicht bis ins Detail planen lässt. Sie werden überrascht sein, welche kreativen Ideen die Kinder ganz von selbst entwickeln, ohne äußere Anregungen. Besonders faszinierend ist es, wenn die Kinder gemeinsam an einem Projekt arbeiten und sich dabei gegenseitig inspirieren. Sobald die Kinder mit den Legematerialien vertraut sind, ergibt sich oft eine natürliche Zusammenarbeit im Spiel. Lassen Sie sich von den Kindern erklären, wie sie dabei vorgehen – ihre Herangehensweisen und Einfälle werden Sie sicherlich begeistern.

6. Arbeiten mit den Lege-Bild-Geschichten Booklets

Kinder haben eine natürliche Affinität für spannende Geschichten, die über das bloße Zuhören hinausgeht. Besonders begeistert sind sie, wenn ihnen Geschichten vorgelesen werden, da dies nicht nur ihre Fantasie anregt, sondern ihnen auch die Möglichkeit gibt, in eine Welt der Bilder und Vorstellungen einzutauchen. Das aktive Zuhören und die damit verbundene innere Visualisierung von Erzählungen fördern die kognitive Entwicklung, indem sie die Fähigkeit der Kinder stärken, narrative Zusammenhänge zu verstehen und eigene Bilder im Kopf zu kreieren.

Die anschließende praktische Auseinandersetzung mit den Geschichten, beispielsweise durch das Nachstellen von Szenen mit Fröbelschen Legematerialien, ermöglicht es den Kindern, ihre Vorstellungen konkret zu manifestieren und das Gehörte kreativ zu verarbeiten. Diese methodische Verbindung von auditivem Lernen und kreativem Gestalten trägt zur ganzheitlichen Förderung bei. Kinder entwickeln dabei nicht nur sprachliche und narrative Kompetenzen, sondern schulen auch ihre Feinmotorik, ihr räumliches Vorstellungsvermögen sowie ihre Fähigkeit zur Problemlösung.

Darüber hinaus fördert diese Form des Lernens soziale Kompetenzen. In gemeinschaftlichen Aktivitäten, wie dem kooperativen Legen von Szenen, erleben Kinder Teamarbeit und Kommunikationsprozesse, wodurch sie lernen, sich abzusprechen, ihre Ideen zu teilen und gemeinsam Lösungen zu finden. Diese integrative Methode, die Hören, Vorstellen und Gestalten vereint, trägt somit umfassend zur individuellen und sozialen Entwicklung der Kinder bei und schafft eine positive Lernumgebung, in der Freude am Entdecken und Gestalten im Vordergrund steht.

Diese Überlegungen führten dazu, dass der Autor dieses Artikels ein Konzept im Rahmen des Fröbel Set 3 der Firma Beleduc entwickelte, welches es ermöglicht, der strengen Fröbelschen Legematerialsystematik zu folgen und diese in Form von 18 lustigen und kreativen Lege-Bild-Geschichten umzusetzen. Die kindgerechten Texte sowie die Bildkompositionen stammen von Renate Schoof, Konzeption und die Bildrealisation vom Autor.

Das jüngere Mädchen lauscht gespannt der Geschichte, während das ältere bereits beginnt, diese mit den Legematerialien zum Leben zu erwecken. Solch lustige Geschichten können als Ausgangspunkt für vertiefenden Wissenserwerb oder zu weiteren Aktivitäten anregen.

Entstanden sind dabei drei Booklets mit Kurzanleitungen und Inhaltsverzeichnis jeweils auf der Rückseite zu den Themen „Farben & Formen“, „Farben“ und „Formen“.

Als Abschluss dieses Aufsatzes folgt eine der 18 Lege-Bild-Geschichten, bei der es um Kreise, Halbkreise, Ringe und Halb-Ringe geht. Die Geschichte trägt die Überschrift:

Schnecke und Raupe träumen vom Fliegen

Im Garten wächst blauer und grüner Kohl,
rund und gemütlich fühlt er sich wohl.
Eine freundliche Sonne scheint gelb und rund,
davon leuchtet die Welt so hell und bunt.

Leise kommt die Schnecke angekrochen,
sie hat wohl den leckeren Kohl gerochen.
Ihr Haus trägt sie auf dem Rücken,
und beim Fressen muss sie sich nicht mal bücken.

Ins Bild kommt jemand, der kann fliegen,
er scheint sich in der Luft zu wiegen.
So würde die Schnecke auch gern schweben,
sich einfach in den Himmel erheben.

„Das ist meine Mutter, ein Schmetterling“,
ruft da so ein rot-grünes Krabbel-Ding.
„Und ich bin die Raupe, werde niemals satt“,
erklärt sie, und beißt in ein Blatt.

Eine Weile hört man die beiden schmatzen,
dann beginnt die Raupe wieder zu schwatzen:
„Ich kann mich verwandeln, und dann auch so fliegen,
brauche nicht für immer im Kohl zu liegen.“

Bald wird die Raupe Schmetterling sein,
davon träumt sie sanft und schläft ein.
Die Schnecke ist glücklich in ihrem Beet,
derweil schon der Mond am Himmel steht.

Beleduc (www.beleduc.de) stellt umfangreiche Vorschläge und Ideen für das Arbeiten mit den Lege-Bild-Geschichten direkt von der Autorin Renate Schoof unter der Überschrift „Mal mal anders!“ als QR-Downloadlink zur Verfügung.

Quellen:

Dr. paed. habil. Gerhard Friedrich, der Autor dieses Beitrags, ist Diplom-Pädagoge und unterrichtete als Lehrer die Fächer Mathematik, Technik, Pädagogik und Psychologie. Er ist Privatdozent für Allgemeine Didaktik an der Universität Bielefeld sowie Buch- und Spielautor.

Renate Schoof ist eine deutsche Schriftstellerin. Sie studierte Pädagogik und Germanistik und Lüneburg und Berlin. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen, Sachbücher, Jugend- und Kinderromane sowie Bilderbuchgeschichten.

Fotos: Beleduc Lernspielwaren GmbH und Gerhard Friedrich




Alle Jahre wieder: Viele Eltern verzweifeln in der Ferienzeit

Dass Kinder die Ferienzeit pädagogisch sinnvoll verbringen können, gelingt meist nur unzureichend

Die Zeiten, in denen ein einziges Einkommen ausreichte, um eine Familie gut zu ernähren, waren einmal. In immer mehr Familien gehen beide Elternteile einer Erwerbstätigkeit nach. Wer dort wie viel verdient und welcher zeitliche Umfang eingesetzt wird, variiert zwar stark, aber es ist längst die Regel geworden, dass beide Elternteile zur finanziellen Unterhaltung ihrer Familie beitragen.

66 Ferientage 2024 versus 30 Urlaubstage

Doch wenn beide arbeiten müssen, wer kümmert sich dann um die Kinder, wenn Schule und Kindergarten geschlossen sind? Bereits im Kindergarten stellt eine längere Sommer-Schließzeit von drei Wochen schon Flexibilität und Planungskompetenz der Elternteile auf die Probe. Doch mit dem Eintritt in die Grundschule wird das Ganze nicht viel leichter. Schließlich ist es nicht so, dass ein Grundschulkind von sechs oder sieben Jahren plötzlich keine Aufsicht mehr benötigt. Und zudem ist es mit Aufsicht allein ja auch nicht getan…

Doch wie überbrückt man die Ferien, ohne dass sich Youtuber, TikToc & Co die Hände reiben? Allein in Baden-Württemberg sind es 2024 ganze 66 Ferientage, einschließlich der flexiblen Ferientage und den zusätzlichen unterrichtsfreien Tagen. Wochenenden schon ausgenommen. Menschen mit Kindern, die auch an Feiertagen und den Wochenenden arbeiten müssen, haben die Problematik ohnehin unabhängig von den Ferien. Aber ab sofort nur noch getrennt in den Urlaub, weil zwei Elternteile im Idealfall 60 Urlaubstage zusammen haben?

Betreuungsplätze: Viel höherer Bedarf als Angebot

Das Bundesfamilienministerium veröffentlichte im letzten Jahr in der Auswertung „Kindertagesbetreuung Kompakt“ konkrete Zahlen zum Betreuungsbedarf im Land. Schon bei Krippenkindern klafft eine Lücke. Daran hat auch der Rechtsanspruch auf Betreuung ab dem ersten Lebensjahr noch nicht ausreichend viel geändert. Bezogen auf Kinder im Grundschulalter äußerten 73 Prozent der Eltern einen Betreuungsbedarf. Einen Hort- oder Ganztagsplatz ergatterten 55 Prozent. Der Rest schaut, wie er diese Lücke irgendwie gewuppt bekommt.

Kinder allein daheim, die Oma als Aufsicht, unlimitierte Medienzeit, Ferienbetreuung

Doch wie stemmt man jetzt die Ferien am besten für Kind und Eltern? An den bildungspolitischen Weichen wird sich von heute auf morgen nicht ausreichend stellen lassen, um Familien wirklich zu entlasten. Dr. Rüdiger Wild, Professor für Pädagogik an der SRH Fernhochschule, erklärt, dass ein Kind im Grundschulalter schon mal alleine zuhause bleibne könne. „Natürlich nicht den ganzen Tag. Es hängt auch stark von der Individualität des Kindes ab. Ein bis zwei Stunden ist das, je nach Typ und Charakter des Kindes, schon in Ordnung. Ein längerer Zeitraum ist im Grundschulalter nicht drin. Erst ab der weiterführenden Schule, ab 10, 11 Jahren kann der Zeitraum verlängert werden.“

Ist die Katze aus dem Haus, sitzen die Mäuse vorm PC

Allerdings, so Wild, sollte man sich im Klaren darüber sein, dass sich der Nachwuchs in dieser Zeit nicht unbedingt pädagogisch sinnvoll beschäftigt. Da würden dann mutmaßlich eher Fernseher und PC bemüht. Und das zu viel und vor allem unkontrollierte Medienzeit gefährlich werden können, ist soweit bekannt. Dazu Wild: „Zuviel Fernsehen behindert die Lust auf die Schule. Es gibt Studien, die besagen, dass Kinder Konzentrationsprobleme bekommen, wenn sie zu lange fernsehen. Es gibt auch das Problem, dass immer mehr Kinder in die Internet-Sucht abgleiten. Das hängt stark vom Charakter des Kindes ab.”

Ferienfreizeit: Was tun, wenn mein Kind nicht will?

Besser also wäre es, professionelle Betreuung in Anspruch zu nehmen, wenn man als Elternteil eben arbeiten muss. In vielen Gemeinden gibt es auch die Option der Ferienbetreuung. So ließe sich zumindest ein Teil der Ferienwochen abdecken, vorausgesetzt man bekäme einen der rar gesäten Plätze. Doch nicht jedes Kind ist begeistert von dieser Option. Was kann man tun, wenn der Nachwuchs lieber allein zu Hause wäre, anstatt an einer organisierten Ferienbetreuung teilzunehmen?

Verständnis: Grundschulkinder verstehen viel

Wild empfiehlt: „Holen Sie Verständnis bei Ihrem Kind ein. Erklären Sie, dass das einfach notwendig ist. Wenn es bei den Eltern nicht anders geht, weil sie arbeiten müssen, dann hilft Verständnis oft schon weiter. Wenn das nicht fruchtet, besteht immer noch die Option, die Betreuung privat zu organisieren. Durch Freunde, Mütternetzwerke, eventuell Leih-Omas falls keine (oder keine verfügbaren) Großeltern vorhanden sind.“

Lücken im Betreuungssystem

Die Betreuungssituation ist je nach Bundesland sehr unterschiedlich geregelt. In manchen Teilen des Landes gibt es viel mehr Hortplätze als anderswo und doch stehen Eltern überall vor der gleichen Thematik. Wild mahnt: „Da geht die Forderung ganz klar an die Bildungspolitik, sich dieses Thema mal genauer anzuschauen! Es braucht viel mehr gute pädagogisch strukturierte Betreuungsmöglichkeiten. Was passiert eigentlich mit den Kindern? Wenn sie permanent vor dem Bildschirm sitzen, wenn die Eltern eben arbeiten müssen? Es ist nachgewiesen, dass sie psychische Probleme bekommen können, weniger in der Lage sind, soziale Beziehungen aufrecht zu halten. Da muss ein Umdenken stattfinden.“

Mehr Betreuungsplätze, bedeuteten mehr Flexibilität für Eltern. Sie sorgen für die Freiheit, mehr oder anders zu arbeiten, einen Schritt in Richtung der Bekämpfung des Fachkräftemangels und bei guter pädagogisch sinnvoller Betreuung auch für glücklichere, sozialere Kinder. Und bis es so weit ist, heißt es Durchhalten!

Oder beruflich umsatteln, auf einen Job, der besser vereinbar ist mit Kind und Karriere. Vielleicht werden Sie ja bei uns fündig, in einem zeit- und ortsunabhängigen Studium.

Katja Narkprasert, SRH Fernhochschule




Mit Janusz Korczak Inklusion in Krippe und Kita gestalten

Inklusion

Inklusive Erziehung hat durch eine feinfühlende Haltung der Selbstbildung des Kindes zu dienen

Diesen grundlegenden Gedanken der Pädagogik versucht der Autor in seinem langen Berufsleben für die inklusive Erziehung zu pflegen, das ihm sein Vorbild Janusz Korczak nahelegt und im Folgenden für das Handlungsfeld der Frühpädagogik näher erläutert wird. Stets geh es darum: Mit dem Arztpädagogen im Dialog zu sein, mit ihm zu denken und zu handeln.

Persönliche Hinweise

  • Der Einblick in meine Professionalität kann als persönlicher Bericht eines Zeitzeugen verstanden werden, der seine berufliche Tätigkeit unter den Bedingungen der von ihm erlebten Zeit beschreibt und sein Denken und Handeln, sein Forschen und Lehren als Einheit sieht. Man könnte einwenden, dass der Darstellung der Geruch der Selbstbewunderung anhafte. Doch in neueren Beiträgen zur Forschung und Lehre wird der Selbstdarstellung des Wissenschaftlers Raum gegeben, da sie zu einem nicht unerheblichen Erkenntnisgewinn beitragen kann.
  • 1944 musste ich mit 10 Jahren mein geliebtes Dorf Schwedler (Ostslowakei) verlassen. Erst nach der politischen Wende 1989 konnte ich es wieder besuchen. Besonders die Flucht- und Lebenserfahrungen führten mich zur Einsicht: Der Mensch braucht Liebe, Vertrauen, Lebensfreude und Zuversicht, das mir der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak zeigt. Sein Denken in Freiheit folgt nicht dem Gesetz des Stärkeren, das ich in der angegebenen Literatur facettenreich ausführte.
  • Vor allem Friedrich Fröbel, der aus dem innersten Kern seines Wesens heraus Pädagoge, nichts als Pädagoge war, begleitet mein Denken und Handeln. Neben der beruflichen Tätigkeit studierte ich seine Spielpädagogik, die 1978 in die Dissertation „Die häusliche Früherziehung des entwicklungsbehinderten Kindes“ einging. (Klinkhardt 1979)
  • Besonders die über drei Jahrzehnte gepflegte Zusammenarbeit mit dem international bekannten Kindheitspädagogen Armin Krenz begleiten mein Denken. Mein erstes Korczak-Buch „Janusz Korczak – Sein Leben für Kinder …“ (Klinkhardt 1995; 1997, 2. Auflage) führte uns zusammen. 

Selbstbildung formt die Persönlichkeit

Bei der Selbstbildung (Selbstentwicklung, Selbstführung, Selbstgestaltung, selbstkritische Reflexion) geht es um Formung der Persönlichkeit, professionelle Selbstverwirklichung und berufliche Identität. Das zeigte der Arzt und Pädagoge Janusz Korczak: Er lebte aus der Kraft der Liebe mit seinen Waisenkindern im Warschauer Ghetto bis zuletzt. (Korczak wurden Angebot zur Flucht gemacht, die er entschieden ablehnte. Er begleitete seine Kinder bis zuletzt.) Für ihn war die Pädagogik keine Wissenschaft mit hochtrabenden Begriffen, sondern ein situationsorientiertes Handeln, das für jedes Kind tagtäglich zu finden ist. Stets geht es um ein Denken, das im Wesen des Menschen verankert und aus feinfühlender Haltung heraus zu gestalten ist.

 Korczak weist uns auf das pädagogische Urprinzip der Selbstbildung hin: „Sei Du selbst – suche Deinen eigenen Weg. Lerne Dich selbst kennen, ehe Du Kinder zu erkennen trachtest. Mache Dir klar, wo Deine Fähigkeiten liegen, ehe Du anfängst, den Kindern den Bereich ihrer Rechte und Pflichten abzustecken. Unter ihnen allen bist Du selbst ein Kind, das du vor allem kennenlernen, erziehen und formen musst“ (Korczak 2004, 147). Mit diesem selbstkritischen Nachdenken kann dem Zeittrend geantwortet werden.

Tendenzen der Zeit

Umbrüche und Entsolidarisierung erzeugen Unsicherheit und Angst

Viele Menschen finden in einer durch Krisen geprägten Zeit keinen ausreichenden Ratgeber mehr und leben in existentieller Angst. Weit verbreitet ist die Angst vor dem Anderen. Es können verschiedene Ursachen ausfindig gemacht werden. Liegen sie im Beziehungsgeflecht mitten unter uns?

Die Google-Facebook-Welt negiert das Begegnen von Mensch-zu-Mensch

Diskurse über das „neue Profil des Menschen“ weisen darauf hin, dass der Mensch zu einem Datensatz geworden ist, der durch Firmen wie Facebook und Google im Netz vermarktet wird. Informatiker sprechen vom Computer als Bewusstseinsmaschine. Doch die hergestellten Zusammenhänge sind keine von Menschen gestalteten Sinnzusammenhänge und es kommt nicht zu einer intersubjektiven Begegnung.

Auf diese drohende Unsicherheit, Angst und Vermarktung des Menschen, die auf pädagogische Fachkräfte und Kinder einwirken, ist durch Selbstbildung zu antworten.

Dem Kind sein schöpferisches Selbstbewusstsein ermöglichen

Alles, was das kleine Kind wahrnimmt, versucht es unermüdlich in schöpferische Eigenaktivität umzusetzen, auf die sein späteres Leben aufbaut. Solange es wach ist, gibt es keinen Moment, in dem es nicht etwas tut. Es will sich selbst entwickeln, aus seinen veranlagten Kräften heraus frei spielen, gestalten und arbeiten. Nach und nach erwacht sein schöpferisches Selbstbewusstsein, das sich bis ins hohe Alter wandelt.

Diese Erkenntnis fordert von der pädagogischen Fachkraft eine anspruchsvolle Professionalität. Es geht um eine persönliche Anstrengung zur Selbstführung, die keine beliebige Beigabe ist, sondern eine notwendige Verpflichtung. Besonders durch regelmäßiges Prüfen der Arbeit (Selbstbewertung, Selbstevaluation, Beurteilung durch Mitarbeiter oder Eltern) ist die Professionalität als nie endende Aufgabe zu pflegen. Dadurch wird Professionalismus verhindert, der Eigeninteressen vor die Bedürfnisse der Kinder stellt.

Geboten ist eine feinfühlende Haltung

Im Zuge der Verwissenschaftlichung der Pädagogik wurde der Begriff Haltung als unwissenschaftlich beiseitegeschoben. Heute wird er als Gegengewicht gegen Haltlosigkeit, Eile und Beschleunigung wiederentdeckt. Kinder sehnen sich nach Menschen, die ihnen seelischen Halt geben, bei ihnen positive Gefühle und Stimmungen auslösen.

Jedes Kind erwartet und benötigt bei der gemeinsamen Gestaltung der Bildungsarbeit einen äußeren und inneren Halt durch die pädagogische Fachkraft, damit sein Halt wachsen kann.

Eine Fachkraft, die dem Kind konsequent und eindeutig Halt gibt, ermöglicht ihm, dass es

  • sich wohlfühlen,
  • im strukturierten Raum und in der strukturierten Zeit geborgen erleben,
  • Selbstvertrauen und Sicherheit gewinnen  kann.

Durch diese Haltung kann die pädagogische Fachkraft entwicklungshinderliche Bedingungen und Einflüsse in entwicklungsförderliche wandeln und das seelische Grundbedürfnis des Kindes befriedigen. Sie ermöglicht ihm seine Selbststeuerung und Selbstaktivierung auf der Grundlage seiner Selbstwirksamkeitsüberzeugung.

Diese Entwicklungsarbeit beginnt dort, wo die pädagogische Fachkraft

  • selbst Freude und Interesse daran hat, immer wieder neues Wissen zu erwerben;
  • sich gemeinsam mit Kindern auf die Suche nach Antworten begibt;
  • sich bemüht, offen und neugierig schwierige Situationen zu meistern, damit Kinder erleben können, dass Konflikte zum Leben gehören und weitgehend lösbar sind;
  • verborgene Talente entdeckt, mutig aufgreift und sich mit Kindern auf eine spannende Entdeckungsreise einlässt; 
  • weltoffen auf alles Unbekannte zugeht, um mit Kindern den alltäglichen Schatz der unbekannten Welten zu heben.          

Dem Kind Selbstbildung ermöglichen

Eine sich selbst bildende Fachkraft versucht die günstigste Umgebung für das Kind zu geben, in die es durch eigenes Handeln und Entdeckerfreude eintauchen kann. Durch diese Haltung weckt und stärkt sie die Fähigkeit des Kindes zu seiner Selbstwirksamkeit. Das zeigt das folgende Beispiel, das wir Mariele Diekhof verdanken.

Anton und seine Erzieherin

Schon an ihrem ersten Arbeitstag hörte die Erzieherin von dem „schlimmsten Jungen im ganzen Kindergarten“. Der 5-jährige Anton würge die Kinder. Ihre Eltern wollen nicht, dass er mit ihnen spiele.

Die Erzieherin versucht das Kind aus gemeinsamen Erlebnissen heraus zu verstehen: Anton zeigt großen Bewegungsdrang, klettert am liebsten auf Bäume oder auf das Dach des Spielzeughäuschens. Er fühlt sich stark und mächtig, spart nicht mit Schimpfwörtern. Auch einige Kinder wollten so cool wie er sein. Halten sich Spielgefährten nicht an Antons Regeln, dann kann er aggressiv werden. Wird er zu Mahlzeiten gerufen, wenn er sich gemütlich auf dem Dach des Häuschens eingerichtet hat, dann kann es zu Tobsuchtsanfällen kommen, die dazu führen, dass er andere Kinder schubst, tritt oder auch würgt. Bald nennen ihn die Kinder nur noch „der Würger“. Antons Eltern suchen Rat und forschen „verzweifelt nach dem Grund für seine Aggressivität“. Sein auffälliges Verhalten führt bei Kindern und Erwachsenen zu verschiedenen Reaktionen, die zur Verfestigung des störenden Verhaltens beitragen. Anton steckt in einem unauflösbaren Teufelskreis.

Die Erzieherin setzt sich eines Tages zu Anton auf die Gartenbank. „Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander, dann nahm ich seine schmutzige Hand in meine Hände. Ganz vorsichtig streichelte ich sie und sagte leise zu ihm: ‘Anton, du hast so schöne Streichelhände. Hast du nicht Lust, unseren Kleinen in der Krippe mittags beim Einschlafen zu helfen?‘“ Schnell zieht Anton die Hand weg, das wäre ja völlig uncool. Er läuft weg. Doch die Erzieherin bleibt „sanft“ hartnäckig. Nach ihrem vierten Versuch erklärt sich Anton damit einverstanden darüber nachzudenken und mit einem „Na, gut“ zu bekräftigen. „Die zwei Worte lösen in ihr „ein unbeschreibliches Glücksgefühl“ aus. Die Erzieherin fühlt sich in ihrer Selbstwirksamkeit bestärkt.

Nun setzen sich beide auf die Bank, sie überlegen und stellen gemeinsam Regeln auf, damit alles gut gelingt.

Die Regeln wurden mit einem goldenen Stift auf „schönes Büttenpapier geschrieben:

  • „Bevor Anton ins Sternchenzimmer geht, wäscht er sich gründlich die Hände, damit beim Streicheln das Kind nicht schmutzig wird.
  • Im Sternchenzimmer wird geflüstert, damit die Kleinen nicht gestört werden.
  • Anton sucht sich aus, welches Kind er streicheln möchte.
  • Das Kind wird von Anton leise gefragt, ob es gestreichelt werden möchte. Wenn nicht, dann nicht!
  • Das Kind wird am Arm, an der Schulter, am Hinterkopf oder am Rücken zart gestreichelt. Anton fragt das Kind, wo es gerne gestreichelt werden möchte.
  • Sobald das Kind zeigt, dass es nicht mehr gestreichelt werden möchte, hört Anton sofort auf.
  • Wenn das Kind eingeschlafen ist oder Anton nicht mehr streicheln möchte, kann er leise hinausgehen.
  • Anton kann immer Nein sagen, wenn er wieder gefragt wird, ob er im Sternchenzimmer helfen möchte.“

Für die Erzieherin ist es wichtig, dass Anton das Streicheln als besondere Aufgabe empfindet.

Sie füllt für das Händewaschen eine Blechdose mit besonderen Duftseifen und einer bunten Nagelbürste. Die einzelnen Seifen duften nach Rosen, Zitronen, Erdbeeren, Pfirsichen, und eine schokoladenfarbige „Männerseife“ riecht nach Gewürzen. Anton kann entscheiden mit welcher Seife er sich die Hände waschen will. Die Erzieherin schreibt: „Ich werde nie den Anblick vergessen, wie versunken Anton alle Seifen beschnupperte und sich viel Zeit ließ, um sich dann für eine zu entscheiden. Die coole Männerseife sollte es sein.“

Nun tastet sich Anton mit geschrubbten und nach Gewürzen duftenden Händen durch den Schlafraum und „hielt zögernd nach einem geeigneten Kind Ausschau“. Er wählt die kleine Emely. Wie zuvor besprochen, fragt er sie „flüsternd, ob er sie ganz vorsichtig streicheln dürfe“. Streicheln ist für Emely keine ungewohnte Situation, da die Kinder von den Erzieherinnen täglich in den Schlaf gestreichelt werden. Anton macht es sich neben Emely auf der Matratze bequem und „bewegte seine Finger zunächst sehr zaghaft auf ihrer Schulter. Emely schien es zu gefallen, zunächst schaute sie Anton mit großen Augen an, bevor sie dann tatsächlich während des Streichelns in den Schlaf sank.“ Anton bleibt noch etwas auf der Matratze sitzen und schleicht dann aus dem Sternchenzimmer.

Im Verlauf der Wochen erlebt Anton was seine Hände bewirken können.

Durch Selbstwirksamkeit entwickelt er ein Verantwortungsbewusstsein. Die Kinder verlieren bald die Angst vor Anton. Der Teufelskreis ist durchbrochen. Andere Kinder folgen ihm. Bis zu drei Kinder können beim Streicheldienst mitwirken und die Erzieherinnen unterstützen. Interessierte Kinder können sich in eine Liste eintragen und die Kleinen nach den vereinbarten Regeln streicheln. Auch der Akt mit den besonderen Duftseifen entwickelt sich zu einer Zeremonie, die den Kindern sinnliche Düfte und Wertschätzung erleben lässt.

Das Beispiel motiviert das Team und die Eltern.

Sie überlegten, ob dieser Streicheldienst nicht als Standard in die Kita-Konzeption einfließen könne. Die älteren Kinder konnten für eine sozial motivierte Selbstwirksamkeit interessiert und bei der Betreuung der Kleinen mit einbezogen werden. Sie halfen nicht nur im Sternchenzimmer beim Streicheln, auch beim Füttern der Jüngsten übernahmen sie Verantwortung.

Nun kamen von Kindern und Erwachsenen immer wieder neue Ideen und Anregungen hinzu:

Spielsachen wurden für die Kleinen gebaut, Kissenbuden zum Reinkriechen gebastelt, Matschecken angelegt. Anton war immer mittendrin. Er war der Chef und Bestimmer. Er wusste, was zu tun war und wie man die Kleinen tröstet, wenn die Mama ging, wie man sie füttert und sanft in den Schlaf streichelt. Ja, so war er, unser Anton – und manches Kind wollte ein wenig so sein wie er, so klug, so stark, so voller Ideen und Tatendrang. Nachsatz: In der 4. Klasse wurde Anton von seinen Klassenkameraden zum Konfliktberater gewählt. (Klein 2021, 25 f.)

Fazit

  • Kinder mit und ohne Behinderung erwarten in der inklusiven Kita eine von der pädagogischen Fachkraft gestaltete Umgebung, in der sie sich vielfältig bewegen können, Anregungen für ihre Sinne, Phantasie, für die Lust am Gestalten und Forschen bekommen. Sie kann die Selbstbildung der Kinder begleiten, indem sie ihnen möglichst viele Erfahrungsbereiche eröffnet und sie selbst bestimmen lässt, welche sie nutzen wollen.
  • In dieser offenen und selbstkritischen Haltung wurzelt Korczaks Kultur des partnerschaftlichen Dialogs, der maßgebend sein soll für die Forschung in Wissenschaft und Praxis, denn wo Liebe gelebt wird findet Begegnung und Selbstbildung als nie endende Aufgabe statt.

Bücher von Prof. Ferdinand Klein im Verlag Burckhardthaus

Literatur

(Univ.-Prof. em. Dr. Dr. et Prof. h.c. Ferdinand Klein)