GEW: Hochwertiger Ganztag nur mit massiven Investitionen möglich

Bildungsgewerkschaft und Kinderhilfswerk zum „Fachkräfte-Radar für Kita und Grundschule 2022“

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sieht sich mit Blick auf den „Fachkräfte-Radar für Kita und Grundschule 2022“ darin bestätigt, dass der ab 2026 geltende Rechtsanspruch auf Ganztag in der Grundschule ein gesellschaftspolitischer Kraftakt werden wird. „Die Zahlen der Bertelsmann-Studie zeigen deutlich, dass unser frühkindliches Bildungssystem vor dem Kollaps steht und wir jetzt unbedingt handeln müssen“, sagte Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied für Jugendhilfe und Sozialarbeit. Einen hochwertigen Ganztag in der Grundschule könne es nicht ohne massive Investitionen in Fachkräfte, Qualität und Ausbau geben, so Siebernik.

Wichtiger Beitrag für eine demokratische und offene Gesellschaft

„Die Kolleginnen und Kollegen in den Kitas und Schulen leisten täglich trotz enormer Belastungen einen wichtigen Beitrag für eine demokratische und offene Gesellschaft, aber sie sind nach den kräftezehrenden Herausforderungen der letzten Jahre am Limit!“ Es fehle überall Personal und Nachwuchs, das bestätige die heute vorgelegte Prognose, so die GEW-Kita-Expertin. „Durch das fehlende Personal entsteht ein zweites Problem. Die Arbeitsbelastung ist vielfach zu hoch. Dieser Zustand ist nicht mehr akzeptabel und wird sich mit Blick auf die demographische Entwicklung und den Berechnungen zu Bedarfen und Personalressourcen, insbesondere im Westen der Republik, in den nächsten zehn Jahren dramatisch zuspitzen“, so Siebernik.

Langfristig angelegte Fachkräfteoffensive

„Wir brauchen jetzt eine langfristig angelegte Fachkräfteoffensive vom Bund und den Ländern“, ergänzte Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied für den Organisationsbereich Schule. Sie wies auf blinde Flecken in der Prognose hin: „Es ist unglaublich, dass wir bundesweit keinen empirischen Überblick haben, welche Berufsgruppen überhaupt derzeit im Ganztag beschäftigt und inwieweit diese prekär beschäftigt sind.“ Um der Entwicklung zum schulischen Ganztag an Grundschulen und dem Rechtsanspruch auf ganztägige Förderung gerecht zu werden, müsse der Bund jetzt die qualitativen Rahmenbedingungen setzen und im Zuge dessen eine qualitative Datengrundlage schaffen. „Das Problem lässt sich nicht aussitzen. Die Arbeitsbedingungen müssen zügig verbessert werden, um die Arbeitsfelder Kita und Schule wieder attraktiv zu machen. Des Weiteren braucht es besonders im Westen der Republik einen koordinierten und bedarfsgerechten Ausbau der Plätze“, kritisierte Bensinger-Stolze abschließend.

Qualitätssicherung

Auch das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) fordert anlässlich des Fachkräfte-Radars von Bund, Ländern und Kommunen größere Kraftanstrengungen, damit bis zum Jahr 2030 jedem Grundschulkind ein qualitativ hochwertiger Platz in der Ganztagsbetreuung zur Verfügung stehe. Aus Sicht der DKHW muss sich der Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen konsequent an den Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention ausrichten. Ein rein quantitativer Ausbau von Betreuungsplätzen ohne ausreichende Qualitätssicherung widerspräche der in der UN-Kinderrechtskonvention normierten Vorrangstellung des Kindeswohls. Alle Anstrengungen in der Qualitätsentwicklung für Kita und Hort müssten sich daher vorrangig am psychischen und physischen Wohlergehen der Kinder messen lassen und das Ganztagsangebot explizit an demokratischen Grundprinzipien ausrichten. Hierfür brauche es klare, deutschlandweit einheitliche Rahmenvorgaben durch den Bund, um die Qualität dieser Betreuungsplätze nachhaltig sicherzustellen, so das DKHW in einer Mitteilung.




Über 100.000 Fachkräfte fehlen bei der Ganztagsförderung an Grundschulen bis 2030

Qualitätsverbesserungen im Osten und Quantitätsverbesserungen im Westen dringend nötig

Die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsförderung in der Grundschule und im Hort erfordert deutlich mehr Fachkräfte, als bis 2030 zur Verfügung stehen. Im Westen sind 76.000 Fachkräfte zusätzlich erforderlich, wenn bis Ende des Jahrzehnts für jedes Kind ein Platz mit einer Förderung von 40 Wochenstunden vorhanden sein soll. In den ostdeutschen Bundesländern steht zwar genügend Personal zur Verfügung, damit jedes Kind einen Platz erhalten kann. Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt allerdings – über den Rechtsanspruch hin-aus – die ostdeutschen Schulen und Horte mit so viel Personal auszustatten, dass sie die bessere Personalausstattung im Westen erreichen. Dafür wären zusätzlich 26.000 Fachkräfte erforderlich. Für eine flächendeckende und personell gut ausgestattete Ganztagsförderung würden also bis 2030 insgesamt über 100.000 pädagogische Mitarbeiter:innen mehr benötigt werden, als voraussichtlich zur Verfügung stehen. Das zeigt der neue „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2022“ der Bertelsmann Stiftung.

Die westdeutschen Bundesländer müssen sich auf den Platzausbau konzentrieren

Die ostdeutschen Bundesländer erfüllen für die Mehrheit der Grundschulkinder bereits den Rechtsanspruch auf eine ganztägige Betreuung – durchschnittlich 83 Prozent nutzen ein Ganztagsangebot sowie 3,5 Prozent ein Übermittagsangebot, das bis ca.  14:30 Uhr zur Ver-fügung steht. In den westdeutschen Bundesländern liegt die Teilhabequote im Schnitt nur bei 47 Prozent. Zudem besuchen hier 18 Prozent der Kinder im Grundschulalter ein Übermittagsangebot. Wenn im Westen jedes Grundschulkind bis 2030 ein Ganztagsangebot erhalten soll, müssen über eine Million Plätze zusätzlich zu den bestehenden geschaffen werden. Dafür sind rund 76.000 Fachkräfte mehr erforderlich, als bis dahin zur Verfügung stehen.

Im Osten ist eine bessere Personalausstattung nötig

Die ostdeutschen Bundesländer können zwar bis Ende des Jahrzehnts jedem Kind einen Platz anbieten, ohne dass ein Personalmangel zu erwarten ist. Allerdings plädiert die Bertelsmann Stiftung dafür, die personelle Situation an den ostdeutschen Grundschulen und Horten zu verbessern. Für die Personalausstattung legt der Rechtsanspruch keine bundeseinheitlichen Standards fest, doch die Unterschiede sind gravierend: Während die Horte in West-deutschland einen Personalschlüssel von 1 zu 6 aufweisen, liegt dieser im Osten bei 1 zu 14. Eine Vollzeit-Fachkraft in Ostdeutschland muss also – rechnerisch – mehr als doppelt so viele Kinder betreuen, wie in einem westdeutschen Hort. Daten zur Personalausstattung in schulischen Ganztagsangeboten werden bislang nicht erhoben. Orientierung bietet hier die landesspezifische Relation einer Lehrkraft zu Schüler:innen, die in Westdeutschland bei 1 zu 14,7 und in Ostdeutschland bei 1 zu 16,2 liegt. Damit in den ostdeutschen Bundesländern für alle Grundschulkinder ein ganztägiges Angebot mit einer, gemessen an der Personalausstattung, vergleichbaren Qualität wie im Westen bereitsteht, werden laut Prognose des Radars 26.000 zusätzliche Fachkräfte bis 2030 benötigt. Lediglich in Berlin und Thüringen werden nach derzeitigem Stand genügend Fachkräfte zur Verfügung stehen, um die Personalausstattung bis Ende des Jahrzehnts an den Westen anzugleichen.

Der zusätzliche Fachkräftebedarf fällt in Ost und West niedriger aus, wenn 2030 nicht alle Kinder ein Ganztagsangebot nutzen, sondern die Teilhabequoten bis dahin den Stand der ostdeutschen Teilhabequote erreichen (im Durchschnitt 86 Prozent). Doch selbst dann fehlen in Ost statt 26.000 noch 18.000 Personen, in West statt 76.000 noch 55.000 Personen. Nähme ein Teil der Kinder in Westdeutschland weiterhin die kürzere Übermittagsbetreuung in Anspruch, wäre der Personalmangel niedriger, läge aber noch bei fast 34.000 Personen. Insgesamt stünden damit in Deutschland noch immer zwischen 52.000 und 73.000 Fachkräfte weniger zur Verfügung, als benötigt. Das sind rund anderthalbmal beziehungsweise doppelt so viele Personen, wie die fast 37.000 Fachkräfte, die laut Prognose bis 2030 als neue Mitarbeiter:innen hinzukommen werden.

Die Bundesländer sollten schon jetzt Maßnahmen ergreifen

Die im „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2022“ beschriebenen Szenarien stellen verschiedene Handlungsoptionen für die Politik dar. Eine lückenhafte und zudem uneinheitliche Datengrundlage erschwert eine umfassende Bestandsaufnahme. Für Anette Stein, Direktorin im Programm „Bildung und Next Generation“ der Bertelsmann Stiftung, zeigen die Szenarien allerdings deutlich: „Die Umsetzung des Rechtsanspruchs lässt sich nur mit einem deutlich erhöhten Angebot an Fachkräften bewältigen. Daher müssen die Bundesländer gemein-sam mit allen Verantwortlichen schon jetzt differenzierte Maßnahmen ergreifen, um dem steigenden Personalmangel in Grundschulen und Horten vorzubeugen.“

Die westdeutschen Bundesländer sollten bis 2030 alle Anstrengungen darauf konzentrieren, das Platz- und damit das Personalangebot so auszubauen, dass der Rechtsanspruch auf Ganztagsförderung flächendeckend erfüllt werden kann. Die ostdeutschen Länder wiederum könnten einen Teil der Bundesmittel aus dem Ganztagsförderungsgesetz dazu einsetzen, eine Personalausstattung wie im Westen zu erreichen. Nach Einschätzung der Bertelsmann Stiftung sind weniger die finanziellen Mittel, sondern die fehlenden Mitarbeiter:innen die zentrale Herausforderung. Die Dimensionen des Personalmangels werden mit Blick auf die Ergebnisse der ersten Ausgabe des Fachkräfte-Radars aus dem August 2021 noch größer: Dieser ermittelte, dass im Kita-Bereich bis 2030 rund 230.000 pädagogische Beschäftigte fehlen werden.

„Damit der Rechtanspruch auf ganztägige Förderung für alle Grundschulkinder die besten Bildungschancen ermöglicht, brauchen wir ausreichend und gut qualifiziertes pädagogisches Personal. Der Hebel dafür ist eine langfristig angelegte Fachkräfteoffensive von Bund und Ländern. Für eine bessere sowie bundeseinheitliche Personalausstattung in Horten und Grundschulen muss die Politik jetzt die gesetzlichen Rahmenbedingungen, genügend Ausbildungskapazitäten sowie Anreize für den Einstieg in das Berufsfeld schaffen“, betont Stein.

Zusatzinformationen

Für den „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2022“ wurden Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder aus der Kinder- und Jugendhilfe-Statistik (Stichtag 1. März 2021), der Kultusministerkonferenz, der KiBS Studie aus 2020 und weiteren amtlichen Statistiken genutzt. Die Berechnungen führte Economix Research & Consulting durch. Die Publikation ist hier zu finden. Der Rechtsanspruch auf ganztägige Förderung für Grundschulkinder ist im Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) von Oktober 2021 geregelt und umfasst 40 Wochenstunden inklusiven Unterricht. Er gilt für Kinder von der 1. bis zur 4. Schulklasse und wird gestaffelt nach der Klassenstufe eingeführt. Ab dem Schuljahr 2026/2027 greift er bei Schüler:innen der 1. Klasse, ab 2029/2030 bei allen Grundschulklassen.

Quelle: Bertelsmann-Stiftung




IQB-Bildungstrend: Schüler:innen in der sozialen Entwicklung und im Lernerfolg erheblich zurückgefallen

Geringere Leistungen in Deutsch und Mathematik in schulisch herausfordernden Zeiten

Die Schülerinnen und Schüler in Deutschland sind in ihrer sozialen Entwicklung und in ihrem Lernerfolg erheblich zurückgefallen. Das zeigt jetzt auch eine Vorabauswertung des IQB-Bildungstrends 2021, der vor den Sommerferien im Jahr 2021 deutschlandweit in den vierten Klassen durchgeführt wurde. Bei der Präsentation der Ergebnisse hießt es, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass ausschließlich die Pandemiesituation für die Kompetenzrückgänge verantwortlich sei. Schon zwischen 2011 und 2016 sei die ungünstige Entwicklung zu beobachten gewesen.

Viele Viertklässler:innen erreichen die Bildungsstandards nicht

Demnach erreichen signifikant weniger Viertklässlerinnen und Viertklässlern in den Fächern Deutsch und Mathematik im Vergleich zu den letzten Erhebungen in den Jahren 2011 und 2016 die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK). Der Anteil der Kinder, die die Mindeststandards verfehlen, ist teilweise deutlich gestiegen, und die sozialen und zuwanderungsbezogenen Disparitäten haben sich verstärkt. Weitere Befunde zeigen zudem auch ein etwas geringeres fachliches Interesse für Deutsch und Mathematik, aber eine nach wie vor hohe Schulzufriedenheit und positive Bewertung der sozialen Integration in der Schulklasse. Der Kompetenzrückgang entspricht der Lernzeit von ca. einem drittel Schuljahr im Lesen, einem halben Schuljahr im Zuhören, einem viertel Schuljahr im Bereich Orthografie und einem viertel Schuljahr im Fach Mathematik, hieß es bei der Vorstellung des Kurzberichts.

Deutliche soziale Unterschiede

Prof. Dr. Petra Stanat, wissenschaftliche Leiterin des IQB: „Die ungünstigen Veränderungen in den erreichten Kompetenzen sind deutlich und sicherlich nicht unwesentlich darauf zurückzuführen, dass diese Kohorte von Kindern von den pandemiebedingten Einschränkungen betroffen war. Allerdings haben auch schon in den früheren Kohorten zu viele Kinder nicht die Mindeststandards erreicht. Um diese Kinder muss sich das Bildungssystem systematischer kümmern.“

Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Ministerin für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein: „Die Folgen der Corona-Pandemie bei den Viertklässlerinnen und Viertklässlern sind gravierend. Die Ergebnisse zeigen, dass besonders Kinder von den pandemiebedingten Schulschließungen betroffen waren, die zu Hause weniger Unterstützung erhalten können. Dies unterstreicht einmal mehr die Bedeutung von schulischem Lernen für die Bildungsgerechtigkeit. Die Schülerinnen und Schüler brauchen den Präsenzunterricht in der Schule und langfristig angelegte Maßnahmen, um die pandemiebedingten Lernrückstände aufzuholen. Um den Schülerinnen und Schülern weiterhin verstärkt gezielte Förderung zu ermöglichen, haben die Länder die Bundesregierung gebeten, das Bundesprogramm ,Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche‘ in Bezug auf Lernrückstände sowie psychosoziale Effekte im Schulbereich mit weiteren 500 Millionen Euro zunächst bis zum Ende des Schuljahres 2023/2024 zu verlängern. Die großen Schulleistungsstudien zeigen aber auch, dass schon vor der Pandemie seit 2011 negative Trends festzustellen sind. Wir müssen daher den eingeschlagenen Weg konsequent weiter gehen und die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen stärken!“

„Viele haben den Anschluss verloren“

Ties Rabe, A-Länderkoordinator und Hamburgs Senator für Schule und Berufsbildung: „Erneut bestätigt eine wichtige Studie die schlimmen Folgen der Schulschließungen und Unterrichtseinschränkungen in der Corona-Zeit: Viele Schülerinnen und Schüler haben den Anschluss verloren und große Lernrückstände. Es schmerzt besonders, dass die Schulschließungen gerade bei Kindern mit Lernproblemen die schlimmsten Auswirkungen hatten. Die IQB-Studie bestätigt erneut die Zweifel vieler Kultusminister, dass der deutsche Corona-Sonderweg mit den meisten Schulschließungen aller westeuropäischen Länder wirklich richtig war. In jedem Fall ist jetzt eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern notwendig, um den Schülerinnen und Schülern zu helfen. Wir erwarten, dass sich gerade der Bund jetzt nicht wegduckt, sondern das laufende Corona-Aufholprogramm aufstockt und verlängert sowie gemeinsam mit den Ländern zügig ein dauerhaftes Nachfolgeprogramm zur Verbesserung der Startchancen für benachteiligte Schülerinnen und Schüler entwickelt und umsetzt.“

Interessen der Schüler:innen in den Vordergrund stellen

Prof. Dr. R. Alexander Lorz, B-Länderkoordinator und Hessischer Kultusminister: „Die nun vorliegenden Ergebnisse sind eine Verpflichtung für uns als Politik, bei allen zukünftigen Pandemie-Entscheidungen noch mehr als zuvor die Interessen der jungen Schülerinnen und Schüler in den Vordergrund zu stellen und unsere umfassenden Aufhol-Bemühungen fortzusetzen – länger als bisher vom Bund vorgesehen. Dabei sind Mathe und Deutsch das Fundament für jede erfolgreiche Schullaufbahn. Hier müssen wir aktiv handeln.“

Trend des Rückgangs der Basiskompetenzen

„Auch wenn der IQB-Bildungstrends noch keine speziellen Ergebnisse für Baden-Württemberg ausweist, nehmen wir den Bildungstrend ernst. Die Ergebnisse sind nicht gut“, sagt baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper. Sie fügt hinzu: „Zwei Entwicklungen halte ich für besonders bedeutend. Zum einen zeigen sich Kompetenzrückgänge bei den Schülerinnen und Schülern bei den besonders wichtigen Basiskompetenzen. Es spricht viel dafür, dass es sich hier nicht nur um einen kurzfristigen Effekt der Pandemie handelt, sondern dass sich hier eine längerfristige Entwicklung des Rückgangs der Basiskompetenzen fortsetzt, deren Entwicklung sich schon 2011 und 2016 angedeutet hat. Außerdem zeigt der Bildungstrend, dass es besonders diejenigen Schülerinnen und Schüler sind, deren Kompetenzen sich verschlechtert haben, die nicht das gut ausgestattete Elternhaus hinter sich haben. Auf diese Gruppe müssen wir besonders achtgeben. Mit beiden Entwicklungen können wir uns nicht zufrieden geben und werden uns auch nicht damit abfinden.“

VBE: Pandemie Zäsur in der Bildungsbiografie

Auch der Verband Bildung und Erziehung stellt in seiner Betrachtung die wachsende Bildungsungerechtigkeit in den Mittelpunkt. „Die IQB-Bildungstrends bestätigen, was bereits andere Umfragen und Studien aufgezeigt haben. Die Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen waren und sind eine Zäsur in der Bildungsbiografie vieler Schülerinnen und Schüler. Aber sie betreffen diejenigen, die bereits vorher schon zu den Benachteiligten zählten, in überdurchschnittlichem Maße. Bildungschancen sind nach wie vor in starkem Maße von der sozialen Herkunft abhängig und bisher erkämpfte Fortschritte sind durch die Pandemie wieder verloren gegangen“, kommentiert Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des VBE die Ergebnisse. Dabei ist er sich mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft einig.


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GEW: Bildung muss alleroberste Priorität eingeräumt werden

„Wie laut müssen die Alarmglocken noch läuten, damit der Bildung in diesem Land endlich alleroberste Priorität eingeräumt wird?“, fragt Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Der sozioökonomische Status der Familie spielt eine immer größere Rolle beim Kompetenzerwerb der Kinder. Schulerfolg und Lebensperspektiven sind eng mit dem Elternhaus verknüpft, seit PISA 2001 die Achillesferse des Bildungssystems in Deutschland. Statt der gesellschaftlich notwendigen Entkopplung verschärft sich die Situation aber offenbar noch. Dieser Trend ist seit 2016 festzustellen und trifft alle Kinder, aber ganz besonders Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund.“

Philogenverband fokussiert auf Mathe und Deutsch

Die Defizite in der sozialen Entwicklung der Schüler werden kaum kommentiert. So konzentriert sich auch die Vorstandsvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes auf die mangelnden Orthographie- und Mathematikkenntnisse vieler Kinder: „Die jetzigen Ergebnisse bestätigen den Eindruck vieler Gymnasiallehrkräfte, dass das Leistungsniveau der Grundschülerinnen und -schüler beim Übergang auf die weiterführende Schulart gesunken sei. An den Grundschulen muss mehr auf den Lernerfolg geachtet werden“, erklärt sie.

Hintergrundinformationen zur Studie

Im IQB-Bildungstrend 2021 hat das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) im Auftrag der Kultusministerkonferenz zum dritten Mal untersucht, inwieweit Viertklässlerinnen und Viertklässler die bundesweit geltenden Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) in den Fächern Deutsch und Mathematik für den Primarbereich erreichen. Durch einen Vergleich mit den Ergebnissen des IQB-Ländervergleichs 2011 und des IQB-Bildungstrends 2016 ist es möglich, zu prüfen, inwieweit sich das Kompetenzniveau der Kinder in den letzten fünf beziehungsweise zehn Jahren verändert hat.

Am IQB-Bildungstrend 2021 haben 26.844 Schülerinnen und Schüler der 4. Jahrgangsstufe in 1.464 Grund- und Förderschulen aus allen 16 Ländern teilgenommen. Im Fach Deutsch wurden die Kompetenzbereiche „Lesen“, „Zuhören“ und „Orthografie“ geprüft, im Fach Mathematik fünf inhaltsbezogene Kompetenzbereiche (Leitideen), die sich in einer Globalskala mathematischer Kompetenz zusammenfassen lassen.    
Der vorgestellte Kurzbericht enthält erste Ergebnisse für Deutschland insgesamt und kann auf der Webseite des IQB heruntergeladen werden. Vertiefende Analysen und Ergebnisse zu den einzelnen Ländern werden im Oktober 2022 im Berichtsband zum IQB-Bildungstrend 2021 publiziert.

Quellen: Pressemitteilungen KMK, VBE, GEW, DPhV und des Kultusministeriums Baden-Württemberg




Wie die Pandemie Grundschulkinder belastet

Bildungsforscher:innen der Bergischen Universität Wuppertal stellen erhöhte Aggressivität, Zukunftsängste und mangelhaftes soziales Lernen fest

Wie geht es Kindern nach zwei Jahren Corona? Dieser Frage gingen Bildungsforscher:innen der Bergischen Universität Wuppertal nach. In der ersten Jahreshälfte 2022 befragten sie deshalb in Kooperation mit einem Schulamtsbezirk in Köln zahlreiche Eltern, Lehrkräfte, Kinder und Schulleitungen über die aktuelle Situation in den Grundschulen. Das Ergebnis: Die vergangenen zwei Pandemie-Jahre haben deutliche Spuren hinterlassen.

„Ausgangslage für die Studie war die hohe Anzahl an Problemen, die viele Lehrkräfte während der Corona-Pandemie bei Kindern festgestellt haben“, erklärt Prof. Dr. Christian Huber vom Arbeitsbereich für Rehabilitationswissenschaften mit dem Förderschwerpunkt Emotional-Soziale Entwicklung an der Bergischen Universität. Gemeint sind zum einen sogenannte externalisierende Auffälligkeiten – also etwa Unterrichtsstörungen, Konflikte und Hyperaktivität – aber auch internalisierende Verhaltensprobleme, wie sozialer Rückzug und Angst. Und auch die Lehrkräfte selber fühlten sich überfordert und hätten vor allem das Problem, dass sie die inhaltlichen Rückstände nach den Lockdowns – wie etwa Lesen, Schreiben, Rechnen – nicht aufholen können.

Auffälligkeiten und Belastungen sorgen für schwierige Lernatmosphäre

Um die aktuelle Situation genauer zu analysieren, befragte das Team um Prof. Christian Huber über 1200 Grundschulkinder, rund 1150 Eltern, fast 150 Lehrkräfte und 22 Schulleitungen aus insgesamt 30 Grundschulen im Schulamtsbezirk 3 in Köln.

Dabei stellte sich heraus,

  • dass Kinder selbst eine stark erhöhte Aggressivität bei sich selbst wahrnehmen, was laut den Forscher*innen eher ungewöhnlich ist,
  • dass diese Aggressivität insbesondere bei Kindern feststellbar ist, die auch starke Zukunftsängste im Zuge der Corona-Pandemie entwickelt haben,
  • dass Kinder der dritten und vierten Klassen im Schnitt deutlich in ihrem sozialen Lernen, insbesondere bei der sozial-kognitiven Verarbeitung, zurückliegen, weil sie in der Coronazeit viele soziale Lernerfahrungen nicht machen konnten.

Neben der gesteigerten Aggressivität waren auch Ängste und depressive Symptome bei den Kindern erhöht. „Viele Grundschulkinder sitzen somit in einem Zustand in den Klassenzimmern, in dem inhaltliches Lernen nur schwer möglich sein dürfte“, so Christian Huber.

Die Studie ergab aber auch, dass etwa 30 Prozent der Lehrkräfte stark oder auch sehr stark belastet sind, etwa 10 Prozent so stark, dass man befürchten muss, dass sie perspektivisch ausfallen könnten.

„Die Ergebnisse sind insofern interessant, weil sie unter anderem zeigen, wie stark die Pandemie – und auch die Situation in der Ukraine – viele Kinder noch beschäftigt und wie stark insbesondere coronabedingte Sorgen mit extern- und internalisierenden Verhaltensproblemen zusammenhängen“, sagt Huber.

Gemeinsame Aufbereitung und soziale Kontakte jetzt besonders wichtig

Aus ihren Ergebnissen konnten die Forscher:innen einige Empfehlungen ableiten, wie die Situation für Kinder, Familien und Eltern jetzt aufbereitet werden und der Stress im System reduziert werden könnte. So sind zum Beispiel viele Kinder mit der Aufbereitung der Corona-Pandemie und der Kriegsereignisse alleine. „Die Aufbereitung dieser Erlebnisse sollte in den Familien, Schule und Ganztag Vorrang vor dem Aufholen des verpassten Lernstoffs haben – sonst werden sich die Verhaltensprobleme auch im kommenden Schuljahr nicht oder nur sehr langsam reduzieren“, schätzt der Professor.

Zum anderen vollziehe sich soziales Lernen bei Kindern meist im Umgang mit Gleichaltrigen. Dies war in der Pandemiezeit aber nicht oder nur erschwert möglich. „Alle sozialen Erfahrungen in Schule, Sport und Freizeit sind jetzt wichtig. Die Rolle von Eltern und Schulen ist dabei, Konflikte regelmäßig zu besprechen und Konfliktlösungen mit den Kindern zu erarbeiten“, weiß Christian Huber. Zusätzlich können auch Sozialtrainings und Elterncoachings ein Teil der Lösung sein. Hier müssen jetzt alle Kräfte einer Schulregion gebündelt und niederschwellige Angebote geschaffen werden.

Denise Haberger Pressestelle/Bergische Universität Wuppertal




Grundschulkinder und Jugendliche rund 111 Minuten täglich im Netz

59 Prozent der Zehn- bis 18-Jährigen können sich ein Leben ohne Internet nicht vorstellen

Chatten, Videos schauen, Informationen suchen: So gut wie alle Kinder und Jugendlichen zwischen sechs und 18 Jahren (98 Prozent) nutzen ein Smartphone oder Tablet. Letzlich setzen mittlerweile ja auch voraus, dass Kinder sich viele notwendigen Informationen aus dem Netz ziehen können. Selbst die Jüngsten zwischen sechs und neun Jahren (95 Prozent) nutzen zumindest eines dieser beiden Geräte. Mit diesen oder anderen Geräten verbringen Deutschlands Kinder und Jugendliche im Alter ab sechs Jahren jeden Tag im Schnitt fast zwei Stunden (111 Minuten) im Netz.

Die Online-Zeit steigt mit dem Alter stark an: So sind Sechs- bis Neunjährige durchschnittlich 49 Minuten pro Tag im Internet und Zehn- bis Zwölfjährige eine Stunde und 27 Minuten. Jugendliche ab 13 Jahren verbringen über zwei Stunden im Netz: 13- bis 15-Jährige zwei Stunden und 20 Minuten, 16- bis 18-Jährige zwei Stunden und 46 Minuten. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Studie im Auftrag des Digitalverbands Bitkom, für die mehr als 900 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren befragt wurden. Die Angaben beruhen auf Selbstauskünften der Kinder und Jugendlichen, bei den jüngeren im Beisein der Eltern.

Kinder haben immer früher Kontakt mit Smartphone und Tablet

Sehr früh kommen Kinder und Jugendliche mit digitalen Medien und Geräten in Kontakt. 88 Prozent der Sechs- bis 18-Jährigen verbringen zumindest ab und zu Zeit im Internet. Fast genauso viele (87 Prozent) nutzen selbstständig oder zusammen mit ihren Eltern ein Smartphone. Acht von zehn Kindern und Jugendlichen (80 Prozent) nutzen Tablets – vor allem die Jüngeren zwischen sechs und neun Jahren (86 Prozent).

Mit dem Alter nimmt die Tablet-Nutzung leicht ab. 85 Prozent der Zehn- bis Zwölfährigen verwenden Tablets, unter den 16- bis 18-Jährigen noch 74 Prozent. Smartphones hingegen gehören ab dem Grundschulalter zum Alltag dazu: Während 66 Prozent der Sechs- bis Neunjährigen Smartphones nutzen, sind es bei den Zehn- bis Zwölfjährigen 92 Prozent und ab dem Alter von zwölf Jahren gibt es kaum ein Kind ohne Smartphone.

Viele Kinder und Jugendliche haben schon früh ein eigenes Gerät: So geben 36 Prozent der Sechs- bis Neunjährigen an, ein Tablet zu besitzen, ab zehn Jahren ist es mehr als die Hälfte. Insgesamt besitzt jede oder jeder Zweite zwischen sechs und 18 Jahren ein Tablet (50 Prozent). Auch der Smartphone-Besitz (gesamt: 71 Prozent) steigt mit dem Alter rasant: Während 21 Prozent der Sechs- bis Neunährigen ein eigenes Handy besitzen, sind es unter den Zehn- bis Zwölfährigen schon 86 Prozent und bei den 13- bis 15-Jährigen sogar 95 Prozent.

Das bedeutet aber auch, dass bei den Sechs- bis Neunjährigen 64 Prozent kein Tablet und 79 Prozent kein Smartphone besitzen. Erst in der weiterführenden Schule scheint der Großteil der Eltern geneigt, ihren Kindern ein solches Gerät zu beschaffen. Vorher verfügt der weitaus größte Teil eben über keines der beiden Geräte, womit Grundschulehrkräfte nicht annehmen dürfen, dass ihre Schüler und Schülerinnen darüber verfügen können.

Im Langzeit-Vergleich kommen Kinder und Jugendliche der Bitkom-Studie zufolge immer früher mit digitalen Endgeräten in Kontakt. Im Jahr 2014 nutzten lediglich 20 Prozent der Sechs- bis Siebenjährigen ab und zu ein Smartphone, aktuell sind es 64 Prozent. Bei den Zehn- bis Elfjährigen stieg der Nutzungsanteil von 57 Prozent im Jahr 2014 auf 87 Prozent im Jahr 2022. Auch bei den 16- bis 18-Jährigen ist die Handy-Nutzung heute nochmals ausgeprägter und stieg von 88 Prozent (2014) um weitere neun Prozentpunkte auf 97 Prozent.

Messenger- und Streaming-Dienste sind beim Nachwuchs am beliebtesten

Die Zeit im Netz verbringen Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 18 Jahren am liebsten mit Chatten oder Video-Streaming. So verschicken mehr als acht von zehn Kindern und Jugendlichen zumindest gelegentlich Chat-Nachrichten (86 Prozent) und schauen Filme, Serien und Co. (83 Prozent) im Netz. 71 Prozent hören Radio oder Musik und 69 Prozent suchen Informationen für Schule oder Ausbildung. Sechs von zehn spielen Online-Games (61 Prozent). Vier von zehn Kindern und Jugendlichen ab zehn Jahren informieren sich über aktuelle politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Nachrichten (38 Prozent). Etwa ein Viertel shoppt online (23 Prozent).

YouTube ist die meist genutzte Online-Plattform

Die große Beliebtheit von Videos und Streaming zeigt sich in der Plattformnutzung: Über alle Altersgruppen hinweg dominiert das Videoportal YouTube. So nutzen 82 Prozent der Zehn- bis 18-Jährigen zumindest ab und zu die Internetseite oder App. Mit großem Abstand folgt Instagram. Auf dieser sozialen Plattform ist etwas mehr als die Hälfte (54 Prozent) aktiv – die Nutzung nimmt mit dem Alter jedoch stark zu: Während erst 17 Prozent der Zehn- bis Zwölfjährigen auf Instagram Zeit verbringen, sind es unter den 13- bis 15-Jährigen schon 60 Prozent und 84 Prozent bei den 16- bis 18-Jährigen. TikTok (gesamt: 50 Prozent) hingegen büßt mit dem Alter an Interesse ein. So nutzen zwar knapp zwei Drittel der 13- bis 15-Jährigen (63 Prozent) die Video-Plattform, die Älteren zwischen 16 und 18 Jahren allerdings nur noch zur Hälfte (52 Prozent). Deutlich geringer ist das Interesse an Facebook und Twitter: So nutzen nur zwölf Prozent der Zehn- bis 18-Jährigen Twitter und elf Prozent Facebook. Von drei Prozent bzw. vier Prozent unter den 10- bis 12-Jährigen steigen die Werte bei den 16- bis 18-Jährigen auf 21 Prozent für Twitter und 17 Prozent für Facebook.

Bei den Kurznachrichtendiensten und Messenger-Apps dominiert WhatsApp die Kommunikation. Hier versenden 82 Prozent der Zehn- bis 18-Jährigen häufig Text-, Bild- oder Sprachnachrichten, weitere zehn Prozent manchmal. Mit deutlichem Abstand folgt Snapchat, worüber sich 52 Prozent häufig oder manchmal austauschen. Den iPhone-basierten Dienst iMessage nutzt noch etwa jede oder jeder Vierte in dieser Altersgruppe (23 Prozent) zumindest manchmal, Skype jede oder jeder Fünfte (20 Prozent). Andere Dienste wie Facebook-Messenger (zwölf Prozent) oder Telegram (acht Prozent) werden von den wenigsten verwendet.

69 Prozent achten in sozialen Netzwerken auf ihre Privatsphäre

Dabei achten viele Kinder und Jugendliche nach eigenen Angaben auf ihre Privatsphäre. So wissen 69 Prozent der Zehn- bis 18-Jährigen, die mindestens ein soziales Netzwerk nutzen, wie sie dort aktiv ihre Privatsphäre-Einstellungen ändern können. 22 Prozent wissen, dass es solche Einstellungen gibt, aber nicht, wie sie diese ändern können. Lediglich sechs Prozent ist die Möglichkeit unbekannt. Wer weiß, wie es geht, macht davon häufig Gebrauch: 83 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit entsprechendem Vorwissen haben ihre Privatsphäre-Einstellungen bereits aktiv geändert.

Grundsätzlich machen Kinder und Jugendliche viele positive Erfahrungen im Internet: 68 Prozent der 10- bis 18-Jährigen finden es gut, online immer mit Freundinnen, Freunden oder ihrer Klasse in Kontakt sein zu können. Etwa jede und jeder Dritte (31 Prozent) hat über das Netz schon neue Freundschaften geschlossen. Zudem haben knapp zwei Drittel (64 Prozent) online ihr Wissen erweitern können und ein Viertel (25 Prozent) hat so seine Leistungen in der Schule oder Ausbildung verbessert. Ob für das soziale Leben, zum Lernen oder einfach zur Unterhaltung: sechs von zehn Kindern und Jugendlichen (59 Prozent) können sich nicht vorstellen, nie wieder online zu sein.

45 Prozent haben negative Erfahrungen im Internet gemacht

Allerdings haben 35 Prozent der Zehn- bis 18-Jährigen das Gefühl, online zu viel Zeit zu verbringen. Und auch negative Erlebnisse gehören für sie dazu: 45 Prozent haben bei der Netz-Nutzung bereits schlechte Erfahrungen gemacht. So haben 19 Prozent Inhalte gesehen, die ihnen Angst eingeflößt haben. Etwa jede oder jeder Sechste (17 Prozent) wurde schon einmal beleidigt oder gemobbt – unter den Zwölf- bis 13-Jährigen gibt sogar fast ein Viertel (23 Prozent) an, im Netz Opfer von Mobbing oder Beleidigungen geworden zu sein. Dass Lügen über sie verbreitet wurden, sagten zwölf Prozent der Zehn- bis 18-Jährigen. Sexuelle Belästigung ist ein Problem, das vor allem Mädchen betrifft: So wurde bereits fast jedes zehnte Mädchen im Alter zwischen zehn und 18 Jahren von Gleichaltrigen im Netz sexuell belästigt (9 Prozent), jedes zwanzigste Mädchen von Erwachsenen (fünf Prozent). Jungen werden hingegen sehr viel seltener damit konfrontiert (ein Prozent bzw. zwei Prozent).

Kontrolle durch Eltern nimmt mit steigendem Alter der Kinder und Jugendlichen ab

Die Rolle der Eltern bei der Mediennutzung nimmt erwartungsgemäß mit dem Alter stark ab. So dürfen drei Viertel (76 Prozent) der Sechs- bis Neunährigen sowie 58 Prozent der 10- bis 12-Jährigen nur eine bestimmte Zeit online sein. Bei den 13- bis 15-Jährigen trifft das noch auf drei von zehn zu (30 Prozent), bei den 16- bis 18-Jährigen lediglich auf fümf Prozent. Insgesamt erhalten vier von zehn Kindern und Jugendlichen ab sechs Jahren (41 Prozent) zeitliche Vorgaben. Komplettes Online-Verbot erhalten auch mal 31 Prozent von ihren Eltern – 39 Prozent der Sechs- bis Neunjährigen, aber nur neun Prozent der 16- bis 18-Jährigen. Weiterhin sagen 44 Prozent der Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren, dass ihre Eltern ihnen bei der Internetnutzung nichts verbieten – unter den Sechs- bis Neunjährigen haben nur zwei Prozent alle Freiheiten. Insgesamt gibt ein Fünftel der Sechs- bis 18-Jährigen (19 Prozent) an, nichts vorgeschrieben zu bekommen.

Allerdings bekommen 59 Prozent der Kinder und Jugendlichen von ihren Eltern erklärt, was online erlaubt ist und was nicht. Bei den Sechs- bis Neunjährigen sind es 60 Prozent und bei den 16- bis 18-Jährigen noch knapp die Hälfte (47 Prozent). Das Posten von privaten Inhalten thematisieren insbesondere die Eltern bei ihrem Zwölf- bis 15-jährigen Nachwuchs (75 Prozent) – insgesamt wird bei 59 Prozent aller Kinder und Jugendlichen darüber gesprochen. Generell redet nur ein Drittel (34 Prozent) der Eltern regelmäßig mit ihren Kindern über deren Online-Erfahrungen.

Quelle: Pressemitteilung Bitkom




Massive Probleme beim Handschreiben nach Corona

Ergebnisse der Studie STEP 2022 – 850 Lehrkräfte befragt

Nachdem über 70 Prozent der Lehrkräfte bei ihren Schülerinnen und Schülern größere Probleme beim Handschreiben feststellen, sehen das Schreibmotorik Institut und der Verband Bildung und Erziehung (VBE) die Notwendigkeit, das Schreiben von Hand über alle Klassenstufen hinweg gezielter zu fördern.

An der STEP-Studie 2022 („Studie über die Entwicklung, Probleme und Interventionen zum Thema Handschreiben“) zum Schuljahr 2020/21 haben rund 850 Lehrkräfte aus dem Primar- und Sekundarbereich teilgenommen. Die Online-Umfrage des Schreibmotorik Instituts in Kooperation mit dem Verband Bildung und Erziehung (VBE) wurde nach 2015 und 2019 zum dritten Mal deutschlandweit durchgeführt.

„Das Ergebnis ist alarmierend“, sagt Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des VBE. „Kinder und Jugendliche, die schon vorher Schreibschwierigkeiten hatten, wurden in der Pandemie weiter abgehängt. Eine Ursache hierfür ist die personelle Unterdeckung, unter der Schulen seit Jahren leiden. Dies betrifft verstärkt die Grundschulen. Die notwendige individuelle Förderung, die auch im Schulgesetz verankert ist, kann deshalb nicht mehr geleistet werden.“

Lehrkräfte unzufrieden mit Schreibleistungen

Fast ein Drittel der Lehrkräfte im Primarbereich und sogar gut die Hälfte der Lehrkräfte im Sekundarbereich sind mit den Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler beim Handschreiben unzufrieden. Im vergangenen Schuljahr fand der Umfrage zufolge mit 48 Prozent knapp die Hälfte der Stunden als Distanz- oder Wechselunterricht statt. Anfang November 2020 wurde wegen der Corona-Pandemie das Leben in Deutschland ein zweites Mal weitgehend heruntergefahren. Erst ab Ende April 2021 wurden die Maßnahmen gelockert, was jedoch nur bedingt für die Schulen galt.

„Einen besonders starken Rückgang der Handschreibfertigkeiten gibt es infolge der Pandemie bei den Jungen, von denen ohnehin die Hälfte Probleme mit dem Handschreiben hat“, erläutert Marianela Diaz Meyer, Geschäftsführerin des Schreibmotorik Instituts, die Ergebnisse der Studie. Hier machten drei Viertel der Lehrkräfte einen leichten oder sogar starken Einbruch der Leistung aus. Bei den Mädchen, von denen sich ein Drittel mit dem Schreiben von Hand schwertut, sehen 56 Prozent der Befragten eine leichte bis starke Verschlechterung. Aber auch bei denjenigen, die bislang durch gute Leistungen beim Handschreiben glänzten, sieht jede vierte Lehrkraft eine negative Entwicklung.

Eine intensivere Förderung empfohlen

Neun von zehn Lehrkräften (89 Prozent) empfehlen deshalb, die Schreibfertigkeiten mehr zu fördern – über alle Klassenstufen hinweg. Dieses Resultat der Umfrage stützt die Forderung von Diaz Meyer, eine Stunde pro Woche ins Handschreiben zu investieren. Forschungsergebnisse des Schreibmotorik Instituts mit Erstklässlern haben gezeigt, dass Kinder damit ermüdungsfreier und schneller schreiben können. In weiterführenden Schulen kann laut STEP-Studie nicht einmal die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler länger als eine halbe Stunde ohne Verkrampfungen oder Ermüdung schreiben. Expertin Diaz Meyer: „Wer nicht flüssig und in einer gewissen Geschwindigkeit schreiben kann, kann dem Unterricht auch oft nicht mehr richtig folgen und fällt in seinen Leistungen zurück.“ Dem stimmt der VBE-Bundesvorsitzende Beckmann zu: „Wir sehen dadurch eine ganze Reihe Probleme auf betroffene Kinder und Jugendliche zukommen. Handschreiben hat einen großen Einfluss auf den Lernprozess in Gänze und damit auf die gesamte Bildungsbiografie.“

„Schwierigkeiten bei der Schreibstruktur, im Tempo des Handschreibens sowie bei der Leserlichkeit sind die drei Hauptprobleme, die sich nach Angaben der Lehrkräfte durch den Distanz- und Wechselunterricht verstärkt haben“, erläutert Diaz Meyer weiter. Wie es um die Schreibstruktur bestellt ist, hat eine Lehrerin in der Befragung drastisch veranschaulicht. Sie habe Schülerinnen und Schülern nach dem Homeschooling erst wieder beibringen müssen, „dass man vom linken bis zum rechten Rand schreibt und weder in der Mitte des Papiers anfängt noch über den rechten Rand hinausschreibt.“ Die fehlende Schreibstruktur bemängelten insgesamt 76 Prozent der Lehrkräfte als häufig oder sehr häufig, zu langsames Schreiben 71 Prozent. Über die Unleserlichkeit der Handschrift ihrer Schülerinnen und Schüler klagten 65 Prozent.

Zu wenig Bewegung

„Kinder und Jugendliche bewegen sich immer weniger. Das ist ein wichtiger Grund für den deutlichen Leistungsabfall beim Handschreiben“, sagt Marianela Diaz Meyer. „Viele Aktivitäten, die die Motorik fördern, konnten in den vergangenen beiden Jahren nicht stattfinden. Zudem fehlt zuhause oft der Platz, sich kreativ zu entfalten“, ergänzt Beckmann. „Da wundert es nicht, dass während der Pandemie zuhause mehr Zeit vor Displays und Bildschirmen verbracht wurde.“ Jede zweite Lehrkraft attestiert Schülerinnen und Schülern einen häufigen Medienkonsum, 30 Prozent einen sehr häufigen.

„Der Einsatz digitaler Medien wird für die Zukunft des Lernens allerdings immer wichtiger. Das hat die Pandemie gezeigt“, sagt Beckmann. „Aber noch melden uns die Lehrkräfte zurück, dass die technischen Möglichkeiten die Vorteile von Stift und Papier beim Schreiben mit der Hand nicht ersetzen können.“ Stift und Papier sind für 97 Prozent der Lehrkräfte der Primarstufe und für 98 Prozent der Sekundarstufe die bevorzugten Schreibmedien.

Problematischer Lehrkräftemangel

Die Vorteile handschriftlicher Bewegungen gegenüber dem Tippen erklärt Diaz Meyer so: „Kaum etwas hat auf die kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen einen derart großen Einfluss wie das Schreiben von Hand, weil dabei mehr als 30 Muskeln und 15 Gelenke koordiniert werden müssen. Dies aktiviert zwölf verschiedene Areale im Gehirn: von der Wahrnehmung über die Verarbeitung von Informationen bis hin zur motorischen Ausführung.“ Neurowissenschaftler hätten bei Gehirnscans entdeckt, dass beim Tippen viel weniger Hirnaktivität registriert wird, weil es sich dabei um die immer gleiche Bewegung handelt, egal ob man ein A oder S tippt.

Der Bundesvorsitzende des Bildungsverbandes, Udo Beckmann, nimmt beim Thema Handschreiben die Politik in die Verantwortung: „Die Probleme sind hausgemacht. Wir leiden seit Jahren an Lehrkräftemangel in den Schulen. Die Situation hat sich in den vergangenen Monaten durch Corona deutlich verschärft. Zudem müssen aktuell weit über 100.000 ukrainische Kinder und Jugendliche in den Unterricht integriert werden. Die Politik muss sich ehrlich machen und den Schulen, aber auch der Gesellschaft offen und transparent vermitteln, was unter den gegebenen Bedingungen leistbar ist und was nicht. Wie können wir dem Thema Handschreiben auch im Unterricht einen angemessenen Stellenwert einräumen? Trotz dieser enormen Arbeitsbelastung haben viele Lehrkräfte an der zeitintensiven Befragung teilgenommen. Das unterstreicht die Bedeutung, die dem Schreiben mit der Hand zugemessen wird.“




Schulfähigkeit und Schulbereitschaft bei Kindern

Hinweise zur Erfassung und Beurteilung schulfähigkeitsrelevanter Merkmale

Kinder sind in ihrem Leben immer wieder mit Übergängen – so genannten Transitionen – konfrontiert. Der erste große Übergang aus dem Sicherheit bietenden Elternhaus erfolgt für viele Kinder durch einen Krippen- oder Kindergartenbesuch, der zweite Übergang ist die Aufnahme in die Grundschule und so folgen im weiteren Leben immer wieder neue Übergänge (der Wechsel von der Primar- zur Sekundarschule, von der Schule zur Ausbildungsstelle bzw. zum Studium, der Auszug aus dem Elternhaus in eine eigene Wohnung, spätere Wohnortwechsel ….). Gerade der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule besitzt dabei einen lebensbestimmenden Bedeutungswert.

Übergangssituationen sind Chancen und Gefahrenquellen

Übergänge sind ein fester Bestandteil des Lebens und mit jedem Beginn ist bereits ein Ende programmiert. Jeder Übergang beinhaltet einen Austritt aus bisher bekannten, sicherheitgebenden Umgebungsbedingungen und einen Eintritt in etwas Neues, eine für sich gesehen „unbekannte Welt“. Dabei bieten Übergänge auf der einen Seite immer wieder neue Chancen auf eine Weiterentwicklung, auf der anderen Seite bergen Übergänge aber auch Risiken.

Um Bilder zu gebrauchen: Übergänge können sichere Stahlbrücken sein aber auch schwankende Hängebrücken. Sie können einen gefährlichen Drahtseilakt darstellen oder auch auf sicheren Schienen mit spurgenauen Weichen von statten gehen. Ein Übergang bleibt allerdings im Leben vieler Menschen ein Balanceakt, der auch zu einem Absturz führen kann, weil bekannte Stabilisationsfaktoren der Vergangenheit verlassen werden müssen.

Der Übergang Kiga-Grundschule im Fokus

Der zweite, bedeutsame Übergang im Leben der Kinder ist nach dem Eintritt in eine Kindertagesstätte der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Um Kindern diesen Wechsel zu erleichtern, werden in vielen Kindergärten gezielte Aktivitäten mit Kindern unternommen, um sie mit der anstehenden neuen Situation schon rechtzeitig vertraut zu machen. In der Regel bezieht sich die „Vorbereitung auf die Schule“ auf zwei große Schwerpunktbereiche. Zum einen werden mit den „Schulkindern“, wie Kinder häufig im letzten Kindergartenjahr genannt werden, gezielte „Vorschulprogramme“ durchgeführt, zum anderen kommt es in den letzten zwölf Monaten des Kindergartenbesuchs zu Aktivitäten, die den Kindern die Institution Schule näherbringen soll. Dazu gehören etwa gemeinsame, regelmäßige Treffen der „Schulkinder“ in einem besonderen Raum zu einem festen Termin, wo Kinder mit „Schulmaterialien“ vertraut gemacht werden, ein erster Schulbesuch, gezielte Sprach- und erste Leseförderung, Verkehrserziehung für eine sichere Nutzung des Schulweges, gemeinsames Bilderbuchbetrachten zum Thema Schule, Hospitationen und eine zeitweilige Teilnahme am Unterricht, Abschiedsfeier mit Übernachtung im Kindergarten, „Basteln“ einer Schultüte und entsprechende Elterngespräche. Eine solche „direkte Schulvorbereitung“, um dem „Kindergartenkind“ den Übergang zum „Schulkind“ zu erleichtern, steht in vielen Kindertagesstätten im Mittelpunkt, ist allerdings gerade unter bildungswissenschaftlicher und neuro-biologischer Betrachtung im Sinne einer Nachhaltigkeit sehr umstritten.

Eltern fordern und „fördern“ ihr Kind

Die Frage nach dem Stand der Schulfähigkeit steht auch für viele Eltern – vor allem im letzten Kindergartenjahr – an erster Stelle, weil sie den anstehenden Schulbesuch ihres Kindes einerseits mit eigenen Schulerfahrungen verbinden und andererseits wünschen, dass ihre Kinder von Anfang an einen gelungenen Schulstart erleben. So suchen sie immer wieder das Gespräch mit den Erzieherinnen, um abzuklären, welche besonderen Programme zum gezielten Auf- und Ausbau der Schulfähigkeit in der Kindertagesstätte durchgeführt wurden bzw. werden und wie auch Eltern selbst die „Vorschularbeit“ zu Hause fortsetzen können.

Kann Schulfähigkeit direkt „gefördert“ werden?

Eine solche gezielte „Schulentwicklungsförderung“ sowohl durch Eltern als auch in einer altershomogenen Kleingruppe im Kindergarten ist allerdings ebenso wie die gezielte Zusammenführung der beiden Institutionen „Kindergarten und Schule“ im letzten Kindergartenjahr aus Sicht vieler Schulfähigkeits-/ Bildungswissenschaftler schon seit mehr als zwei Jahrzehnten sehr umstritten (Bronfenbrenner 1988; Hacker 1998; Helmke 1992; Klein 1999; Crain 2005; Krenz 2006; Gebauer 2007; Brandes 2008; Lilienfeld/ Lynn/ Ruscio/ Beyerstein 2011; Bergmann 2011; Textor 2012; Renz-Polster + Hüther, 2013) und hat vor allem durch neuere Erkenntnisse der Hirnforschung immer wieder für fachlichen Zündstoff gesorgt. Dabei geht es stets um die bedeutsame Frage, ob sich die„Schulfähigkeit“ eines Kindes aus einer zeitbegrenzten, direkten Vorbereitung ergibt oder ob sie sich nicht vielmehr als das Ergebnis einer gesamten entwicklungsförderlichen Lernunterstützung von Kindern in den ersten sechs Lebensjahren herausstellt. Darüber hinaus wird zwischen Praktikern und Schulfähigkeitsforschern immer wieder heftig darüber diskutiert, ob es bei der Schulfähigkeit um schulerwartete Fertigkeiten geht, die sogleich einen lerngesteuerten Anfangsunterricht möglich machen oder ob es sich bei der Schulfähigkeit eines Kindes eher um eine „allgemeine Schulbereitschaft“ handelt, in der entsprechende Persönlichkeitsmerkmale von Schulkindern im Vordergrund stehen und sich nicht durch funktionsorientierte Übungen erreichen lassen.

Bevor es daher um die Frage gehen kann, wie sich die Schulfähigkeit eines Kindes entwickelt und ob sie beispielsweise „gefördert“ werden kann, ist es zu allererst notwendig, sich dem Begriff „Schulfähigkeit“ selbst zuzuwenden.

Was ist eigentlich „Schulfähigkeit?“

Auch wenn es in den vergangenen Jahrzehnten sehr vielfältige Definitionen von „Schulfähigkeit“ gab, hat sich herausgestellt, dass die Betrachtungen von Prof. Gerhard Witzlack besonders geeignet ist, die vielfältigen Facetten zu betrachten, die mit diesem Begriff verbunden sind.

Witzlack bezeichnet die Schulfähigkeit von Kindern als „die Summe ganz bestimmter Verhaltensmerkmale und Leistungseigenschaften, die notwendig sind, um im Anfangsunterricht und der weiteren Schulzeit Lernimpulse wahrzunehmen, aufzugreifen und im Sinne einer aktiven Lernauseinandersetzung zu nutzen. Diese Verhaltensmerkmale bilden aus seiner Sicht die Grundlage dafür, persönlichkeitsbildende (im emotionalen, motorischen sowie sozialen Bereich) und inhaltliche Weiterentwicklungen (im kognitiven Bereich) selbstmotiviert anzunehmen und umzusetzen. Gleichzeitig betrachtet Witzlack die Schulfähigkeit als einen vernetzten Teil eines Ganzen: sie ist immer abhängig von den besonderen Rahmenbedingungen einer Schule und den Persönlichkeitsmerkmalen sowie den fachlichen Kompetenzen der dort tätigen Lehrkräfte.“ ( vgl. Witzlack, G. in Krenz, 5. Aufl. 2009, S. 63).

Schulfähigkeit wird heute noch mit „Schulreife“ gleichgesetzt

Um die vielen angesprochenen Facetten dieser Begriffsbeschreibung zu sehen, ist es sicherlich hilfreich, noch einmal die Aussagen im Einzelnen zu sehen. Zunächst geht es darum, dass Witzlack – wie auch andere Schulfähigkeitsforscher – von Schulfähigkeit und nicht von „Schulreife“ spricht.

Bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde angenommen, dass vor allem die körperliche Entwicklung eines Kindes parallel mit seiner geistigen Entwicklung verlaufe. Ausgangspunkt dafür war der jahrzehntelange Bezug auf die Aussagen, die der Schularzt Wolfgang Zeller seit 1936 bis in die Mitte der 50er Jahre vertrat. Für ihn war die körperliche Entwicklung durch den so genannten ersten Gestaltswandel (von der Kleinkind- zur Schulkindform) sowohl „reifebedingt“ als auch von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung einer „Schulreife“. Er ging davon aus, dass letztlich die körperliche Entwicklung des Kindes zugleich auch immer ein Anzeichen für seine kognitive und soziale Entwicklung sei:

„In diesem ersten Gestaltswandel wird auch die seelische Gestalt des Kindes gleichzeitig mit den körperlichen Vorgängen verwandelt. Die kleinkindhafte Seelenstruktur mit ihrem magischen Weltbild und der ganzheitlichen vorwiegend synthetischen Wahrnehmung, macht einer neuen seelischen Haltung Platz, deren wesentlicher Grundzug die Fähigkeit zu analysierenden Vorgängen ist.“ (Zeller, 1952, S. 36). Seiner Ansicht nach reiche eine körperliche Untersuchung, um aus den Befunden einen Rückschluss auf eine Schul(un)reife der Kinder zu ziehen.

Dieselbe Meinung vertrat die Psychologin Hildegard Hetzer: „Dem Gestaltwandel entspricht also ein Wandel der seelischen Struktur und die Zusammenhänge zwischen den körperlichen Veränderungen und dem seelischen Anderswerden sind deutlich zu erkennen.“ (1936, S. 21). Diese Aussagen verdeutlichen, dass Schulfähigkeit so gut wie ausschließlich als „Reifungsphänomen“ aufgefasst wurde und dadurch prägte sich das Wort Schul„reife“ aus. Doch hat sich diese über viele Jahrzehnte bestehende Annahme fachlich in keiner Weise als haltbar erwiesen.

Heute weiß man, dass es vor allem um „innerliche Bereitschaften“, so genannte „intrapersonale Dispositionen“ geht (vgl. Bellenberg 1999, Breuer 1993; Helmke 1992). Aus diesem Grunde wechselte man auch in der Sprache das Wort „Schulreife“ gegen den Begriff „Schulfähigkeit“ aus. Dennoch hat sich in den nach wie vor durchgeführten schulärztlichen Untersuchungen die Auffassung gehalten, dass diese individualmedizinische Begutachtung der Kinder nötig sei. So wird nach wie vor der körperliche Entwicklungsstand der Kinder erfasst, das Seh- und Hörvermögen diagnostiziert, der individuelle Entwicklungsstand mit den Schwerpunkten Wahrnehmung, Motorik, Wissen und Sprache festgestellt sowie ein möglicher medizinischer und gesundheitspräventiver Förderbedarf ermittelt.


Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik

In einer Zeit wirtschaftlicher und technologischer Wandlungen, veränderter Situationen des Wohnens und Zusammenlebens, in der mediale Konsumorientierung bereits das frühkindliche Leben mitprägt, sollten wir einmal einen Schritt zurücktreten und – ohne uns den modernen Möglichkeiten zu verweigern – darüber nachdenken, was unsere Kinder, seien es eigene oder im pädagogischen Rahmen anvertraute, zu einer positiven Selbstentwicklung wirklich brauchen. Armin Krenz behandelt fach- und sachkundig und stets praxisnah das Thema der frühkindlichen Entwicklung, sei es im Bereich der Sprache, der Motorik, der sozialen Persönlichkeit oder der Kognition.

Armin Krenz
Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik – Kinder sehen, verstehen und entwicklungsunterstützend handeln
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Schulfähigkeit umfasst bestimmte Verhaltenseigenschaften des Kindes

Wenn Witzlack darüber hinaus von einer „Summe ganz bestimmter Verhaltensmerkmale und Leistungseigenschaften“ spricht, dann ergeben sich daraus wiederum zwei Aspekte:

Zum einen können Schulfähigkeitsmerkmale nicht durch Schulen, Schulärzte oder Eltern subjektiv festgestellt oder gar individuell festgelegt werden, weil umfangreiche Auswertungen von Untersuchungsergebnissen vorliegen, die diese Besonderheiten exakt erfasst haben.
Zum anderen geht es bei diesen spezifischen Verhaltensmerkmalen und Leistungseigenschaften nicht um kognitive Fertigkeiten wie beispielsweise darum, bestimmte, dem Kind vorgelegte Bilder in eine logische Reihenfolge zu bringen, zu erzählten Geschichten auf bestimmte Bildkarten zu zeigen, Mengenverhältnisse zu erfassen, geometrische Figuren zu erkennen und richtig zu benennen, Zahlenreihen korrekt aufzusagen, den eigenen Vor- und Zunamen schreiben zu können, die eigene Wohnanschrift zu kennen und auf Auforderung zu nennen oder einen vollständigen Menschen mit möglichst allen Körperteilen aufzuzeichnen.

Lange Zeit wurden und werden noch bis in die heutige Zeit solche „Schulfähigkeitsuntersuchungen“ durchgeführt, obwohl schon in der Mitte der 1970er Jahre der „Deutsche Bildungsrat“ von solchen kognitiv orientierten Überprüfungen aus den oben genannten Erkenntnissen abgeraten hat. Hinzu kommt, dass sie sich nahezu ausschließlich auf die Testung von kognitiven Merkmalen beziehen und auch hier wiederum nur einen kleinen Ausschnitt aufgreifen, der letztlich von untergeordneter Bedeutung in der Beurteilung von Schulfähigkeit ist.

Gleichzeitig kommt die im späteren Unterricht so wichtige Kommunikationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu kurz, weil die testenden Personen Aufgabenstellungen aussprechen und die Kinder lediglich ausschnitthafte Äußerungen von sich geben sollen. Kreative Lösungen sind bei den Wissensfragen ebenso wenig gefragt wie phantasieorientierte Gespräche und der für die Schulfähigkeit so wichtige sozial-emotionale Bereich kann durch solche Aufgabenstellungen auch nicht im Ansatz erfasst werden. Schließlich gibt ein solches Testverfahren keinerlei Auskunft über die „Kinderfähigkeit der Schule/ Schulbedingungen“ und letztendlich bringen unterschiedliche Schulfähigkeitsverfahren bei denselben untersuchten Kindern immer wieder unterschiedliche Ergebnisse zu Tage. Das hat mit der Tagesform der Kinder ebenso zu tun wie mit dem Beziehungsverhältnis zwischen dem Testdurchführer und dem getesteten Kind.

Weiterhin bezieht Witzlack die Frage nach einer vorhandenen Schulfähigkeit nicht nur auf den Einschulungstermin bzw. die erste Klasse, sondern auch auf die gesamte weitere Schulzeit! Und dazu gehört vor allem die Fähigkeit, direkte und indirekte Lernherausforderungen von sich aus (also intrinsisch motiviert) zu bemerken, aufzunehmen und letztendlich zu nutzen. Hier steckt „das sich bildende Kind bzw. der sich bildende Schüler“ im Mittelpunkt, so dass es weniger um ein Lernen und Belehren geht als vielmehr um die Fähigkeit der Kinder, den Lernstoff als eine Herausforderung zu verstehen und mit Interesse sowie Anstrengungsbereitschaft für eigene Lernauseinandersetzungen zu verwerten. Es hat sich dabei herausgestellt, dass folgende 16 Schulfähigkeitsmerkmale von besonderer Bedeutung sind

Emotionale Schulfähigkeit Soziale Schulfähigkeit Motorische Schulfähigkeit Kognitive Schulfähigkeit
weitgehend frei sein von inneren Spannungen (Belastbarkeit besitzen), um sich wahrnehmungsoffen den gestellten Aufgaben zuwenden zu können; auch mit Enttäuschungen umgehen können, um sich bei Misserfolgen dennoch den weiteren Lernherausforde-rungen zu widmen; Zuversicht und Vertrauen in die eigene Person besitzen, um sich als Akteur in Lernsituationen zu begreifen; neue, unbekannte Situationen weitgehend angstfrei wahrnehmen, um sich ohne Angstblockaden neuen Lernherausforderungen zu stellen. sich in einer Gruppe angesprochen fühlen, ohne persönlich angesprochen zu werden  – hier geht es um allgemein formulierte Arbeitsanforderungen, die das Kind auch auf sich bezieht; sich von vertrauten Personen lösen können, um alleine und ohne Hilfe gestellte Aufgaben zu erledigen; zuhören können und andere aussprechen lassen, um etwa Aufgaben-stellungen zu verstehen; Regelbedeutungen zu erfassen und sozial bedeutsame Regeln weitgehend einhalten zu können, um selbstaktiv – auch in einer Gruppe – zu einer konstruktiven Kommunikation beizutragen. eine visomotorische Koordination sowie eine Finger- und Handgeschick-lichkeit besitzen, um gezielte und „flüssige“ Schreib-/ Zeichen-bewegungen ausführen zu können; eigeninitiatives Verhalten zeigen (das Lerninteresse und die Arbeitshaltung betreffend) – zur Übernahme selbst-ständig gestalteter Arbeits-aufgaben; Belastungen erkennen und selbstaktiv verändern können, um zu ergebnisorientierten Lösungen zu kommen; Gleichgewichtswahr-nehmung besitzen, um aus einer Innenwahrnehmung eine Konzentration auf eine Außenwahrnehmung zu richten. Konzentrationsfertigkeit und Ausdauer bei mittelschweren Aufgaben aufbringen (ca. 15 Minuten), um zielgerichtet arbeiten zu können; Aufmerksamkeit (Neugierdeverhalten) für Lernherausforderungen zeigen, um mit Selbstmotivation die eigene Lernfreude zu aktivieren; folgerichtiges Denken bei logischen Aufgaben an den Tag legen und Beziehungen / Gesetzmäßig-keiten in Abläufen erkennen, um logische Zusammenhänge zu erkennen; eine lernorien-tierte Merkfähigkeit besitzen (im auditiven und visuellen Bereich), um zurückliegende Lernereignisse mit gegenwärtigen Lernheraus-forderungen zu verknüpfen.

(Tab.:  Merkmale einer vorhandenen Schulfähigkeit, © Krenz)

Selbstverständlich handelt es sich bei diesen 16 so genannten Basisfaktoren einer Schulfähigkeit/Schulbereitschaft nicht um Merkmale, die jeweils eine 100%ige Qualitätserfüllung erfordern. Vielmehr beschreiben diese 16 Basisfaktoren die Merkmale, die im Ansatz – wenn auch deutlich – bei Kindern erkennbar sind und die sich durch alltagsorientierte Lebens- und Lernerfahrungen in bindungsstarken Beziehungen auf- und ausbauen.

Zugleich bezieht Witzlack – ebenso wie der Psychologe Prof. Dr. Karlheinz Barth -aber auch die gesamten Umfeldbedingungen in die Frage der Schulfähigkeit von Kindern mit ein. (Barth: „Aber Schulfähigkeit darf nicht ausschließlich auf Merkmale bzw. Lernvoraussetzungen des Kindes reduziert werden. Es besteht vielmehr eine Wechselwirkung zwischen schulischen Einflussgrößen und den individuellen Lernvoraussetzungen eines Kindes.“ 1992, S. 40)

Damit haben nicht nur Kinder eine so genannte „Bringschuld“ sondern gleichzeitig auch die Schulen selbst. (vgl. Portmann 1995, S. 12 ff.) Anders ausgedrückt: „Schulfähigkeit stellt sich somit als ein interaktionistisches Konzept verschiedener Einflussgrößen dar.“ (Barth, 1992, S. 41).So spielen selbstverständlich auch die Rahmenbedingungen – etwa die Größe der Schulklassen, die Zusammensetzung der Klassen, das Verhältnis von Jungen und Mädchen, die Klassenraumgestaltung, der festgelegte Stundenrhythmus, Unterrichtsmaterialen wie die gesamte Ausstattung mit Medien –  ebenso eine große Rolle wie die bindungs- und beziehungsorientierten Ausdrucksformen der Lehrkräfte (vgl. dazu auch Johannson, 2007, S. 28 ff.)., ihre eigene Lernbereitschaft und ihr persönliches Engagement sowie ihre Unterrichtsvorbereitung und -durchführung bzw. ihr methodisch/ didaktisches Know-how.

Da Deutschland aus einem föderalistischen Staatssystem besteht, in dem die 16 einzelnen Bundesländer eine jeweilige Bildungshoheit besitzen, ist die Frage der Einschulung je nach Bundesland sehr unterschiedlich geregelt. Es gibt Bundesländer, die die Einschulung der Kinder vom sechsten Lebensjahr schrittweise auf das fünfte Lebensjahr vorziehen (z.B. Nordrhein-Westfalen und Bayern), andere Bundesländer folgen (noch) nicht dieser Tendenz. Des Weiteren gibt es Bundesländer, die auf jedwede Form von Schulfähigkeitsuntersuchungen verzichten (z.B. Bremen) und zunächst alle Kinder im entsprechenden Alter in die Grundschulen aufnehmen. Hier steht die Annahme im Hintergrund, dass es wahrscheinlich für viele Kinder sehr hilfreich ist, vor allem in den ersten beiden Klassen entsprechende Schulfähigkeitsmerkmale aufzubauen(als Aufgabe der Schule und nicht des Elternhauses bzw. des Kindergartens) und diese demnach nicht als Bedingungen für eine Schulaufnahme vorauszusetzen.

Kernelemente einer „Bildungsarbeit aus II. Hand“

Bei einer genaueren Betrachtung der aktuellen „Bildungsarbeit“ (zur  so genannten Schulvorbereitung des Kindergartenkindes)  in vielen Kindertagesstätten kann festgestellt werden, dass „schulvorbereitende Bildung“

a) zu einer belehrenden Angebotspädagogik deformiert wurde, in der sich die Fachkräfte als Akteure/ Impulsgeber verstehen und Kinder in die Rolle von Reakteuren gedrängt werden;
b) in künstlich hergestellten Lernsituationen angeboten wird und Kinder von ihren alltagsweltlichen Erlebnis-/Erkenntnisinteressen immer stärker abgelenkt/ weggeführt werden;
c) in einer erwachsenengesteuerten Bildungssystematik mündet, die dem Denken/ Verstehen/ Handeln kindeigener Lernvorgänge in der Regel widerspricht;
d) als eine Summe didaktisierter Programme den Kindern vorgesetzt wird, in denen Bildungsbereiche aufgegliedert, zerteilt und zerrissen erscheinen;
e) vor allem als „kognitive Förderung“ verstanden wird, wobei die emotional-soziale Bildung deutlich in den Hintergrund gerät und damit den neurobiologischen Erkenntnissen des kindlichen Lernens nicht gerecht werden kann;
f) als Fächerkanon – wie in der Schulpädagogik – gestaltet wird und damit die Elementarpädagogik ihre – trotz der im KJHG zugesprochenen – Eigenständigkeit aufgibt und zunehmend verliert.

Daher ist es verständlich, wenn immer mehr Bildungs- und Bindungsforscher, Neurobiologen und Entwicklungspsychologen/ -pädagogen immer stärker und immer häufiger auf einen notwendigen Perspektivwechsel in dem elementarpädagogischen Bildungsverständnis hinweisen.

Eine alte chinesische Weisheit lautet: „Das Gras wächst nicht schneller indem man daran zieht.“      

Warum eine „Bildung aus I. Hand“ gerechtfertigt und notwendig ist

Kinder sind von Anfang an von sich aus aktiv, wollen die Welt (in sich und um sich herum) entdecken, erkunden, begreifen und entwickeln sich in einer anregungsreichen Umgebung und einer beziehungsorientierten Pädagogik aus sich selbst heraus. Sie sind dabei von einer großen Neugierde getrieben, ihr eigenes Leben und ihre Existenz in eine Beziehung zu ihrem erlebten Umfeld zu setzen. Dabei wählen sie selbst aufgrund ihrer biographischen Eindrücke und entwicklungspsychologisch geprägten Merkmale in selektiver Form aus, was ihnen bedeutsam und wichtig erscheint, um sich den intrinsisch vorhandenen Wahrnehmungsschwerpunkten zuzuwenden.

Alle Bildungsprozesse ergeben sich aus sinnstiftenden Fragen, die sich das Kind immer wieder stellt: wer bin ich, was kann ich, was habe ich an Gestaltungsmöglichkeiten, zu wem gehöre ich, wer sind die anderen und was passiert gerade jetzt um mich herum? Infofern geschieht Bildung in aktiv beteiligten und bindungsorientierten Interaktions- und Kommunikations-prozessen! Die intraindividuelle Individualität des Kindes, die es verbietet, von einem >idealtypischen Durchschnittskind< zu sprechen, sorgt dabei stets für einen ganz persönlichen Entwicklungsverlauf, der je nach Sättigung der unterschiedlichen seelisch-sozialen und körperlichen Grundbedürfnisse einen mehr oder weniger aktiv gestalteten Entwicklungsverlauf nimmt. In dem Maße, in dem nun dem Kind seine Selbstaktivität sowie seine subjektiv geprägte Wahrnehmungsorientierung genommen wird, kommt es immer stärker zu einer Einschränkung und zum Abbau seiner Selbstbildungskräfte, was wiederum für eine nachhaltige Bildungsentwicklung kontraproduktiv ist.

Janusz Korczak, der große Arztpädagoge, trat stets für die „Rechte des Kindes“ ein und kam in diesem Zusammenhang zu folgendem Schluss: „Ein Kind ist kein Lotterielos, um den ersten Preis zu gewinnen“.

Bildung ist Persönlichkeitsbildung

1996 hat die Europäische Union im >Amsterdamer Vertrag< den Richtwert einer nachhaltigen Bildung beschlossen und 2001 hat der Europarat in Göteborg ein langfristiges Nachhaltigkeitskonzept verabschiedet. Im so genannten „Delors-Bericht“ ist Bildung als der Kern der Persönlichkeitsentwicklung und der Gemeinschaft hervorgehoben, deren Aufgabe es ist, jeden Menschen – ohne Ausnahme – in die Lage zu versetzen, dass er all seine Talente zur vollen Entwicklung bringen und sein kreatives Potenzial, einschließlich der Verantwortung für das eigene Leben und der Erreichung persönlicher Ziele, ausschöpfen kann.

Hier geht es primär  nicht um eine „kognitiven Förderung“ sondern eine sozial-emotionale stabile Handlungskompetenz, die im Vordergrund steht. Vergleiche mit der weit verbreiteten, realisierten Elementarpädagogik in Deutschland zeigen dagegen eine deutlich andere Schwerpunktsetzung! Nachhaltige Bildung drückt sich beispielsweise in den personalen Kompetenzen aus, im Sinne einer lebenslangen Lernfreude sein Wissen ständig erweitern zu wollen, die eigene Handlungskompetenz auszubauen (statt über Ungerechtigkeiten oder Konflikte zu klagen), Verständnis für andere Menschen/ Kulturen und deren Geschichte, Interkulturalität, den Wert einer inklusiven Gesellschaft aufzubringen, mit einem guten Urteilsvermögen, einer hohen Eigenständigkeit und sozialen Verantwortung das Leben aktiv zu gestalten, Solidarität zu zeigen, Empathie und Partizipationswünsche zu entwickeln, Selbstbildungsarbeit auf sich zu nehmen, eine allsinnige Weltwahrnehmung an den Tag zu legen, Lernangelegenheiten und –herausforderungen anzunehmen sowie Vernetzungen aus unterschiedlichen Beobachtungen/ Ereignissen herzustellen und folgerichtige Entscheidungen zu treffen, aus Fehlern immer wieder zu lernen und bei Problemlagen nach Lösungen zu suchen.

Diese „elementare Bildung“ ist von grundlegender Bedeutung für die weitere Lebensgestaltung bzw. –planung eines jeden Menschen. Dabei haben Erwachsene für eine lernunterstützende „Bildungsatmosphäre“ zu sorgen. Bildung hat im originären Sinne nichts mit einem „schulischen“ Lernen zu tun und noch weniger mit einem „vorschulorientierten“ Arbeiten. Bildung orientiert sich nicht auf einen Wissenswettbewerb mit Siegern und Verlierern sondern auf Werteentwicklungen, Zeitlosigkeit, Kunst, Musik und die Schönheit einer sorgfältig gepflegten Sprache. Bildung kennt keine Hektik sondern schätzt gelebte Zeiten, Ruhe und Muße. Sie lässt sich nicht nach „Nutzen“ zweckentfremden sondern schenkt gerade den Kindern eine große Gedanken-, Handlungs- und Selbstentfaltungsfreiheit, um Widersprüche zu entdecken, quer zu denken, Gefühle zu erleben und dadurch immer wieder mit sich selbst konfrontiert zu werden.

Kinder brauchen statt einer Beschleunigung ihrer Kindheit eine Entschleunigung ihres Alltags-erlebens. 

Konsequenzen für eine nachhaltige „Bildungsarbeit aus I. Hand“ 

Um aus dem Dilemma einer zunehmend verplanten „Bildungskindheit“ und einer dogmatisierten Elementarpädagogik herauszukommen, bedarf es eines radikalen Perspektivwechsels, um Kindern eine „Bildung aus erster Hand“ (Gerd Schäfer) zu gewährleisten:  

  • (1) Erwachsene müssen sich von dem derzeit weit verbreiteten Bild verabschieden, Kinder seien schon in den ersten fünf oder sechs Lebensjahren zu einem „Schulkind“ bzw. möglichst gut entwickelten „Jungerwachsenen“ zu perfektionieren, wodurch zukunftsorientierte Erwartungen an Kinder zur Gegenwart erklärt werden;
  • (2) Erwachsene müssen die ersten sechs Lebensjahre von Kindern als einen eigenständigen Entwicklungszeitraum einer „Kindheit“ begreifen, der durch entwicklungspsychologische Besonderheiten gekennzeichnet ist und darauf entsprechend die gesamte Arbeit abstimmt werden muss;
  • (3) Kinder brauchen eine Lernumgebung im Innen- und Außenbereich, in der sie handgreiflich, unmittelbar, aktiv, mit allen Sinnen, innerlich beteiligt und engagiert Erfahrungen machen können, die ihnen helfen, das Leben selbstständig, unabhängig und sozial beteiligt zu spüren und selbstaktiv zu gestalten. Gleichzeitig muss dabei dem Spiel ein entsprechend großer Raum zugestanden werden.
  • (4) Kinder brauchen keine künstlichen, von Erwachsenen arrangierte Welten, die sie „bespaßen“ bzw. „belehren“ und von ihren ureigenen intrinsischen Handlungsinteressen immer weiter wegführen.
  • (5) Erwachsene müssen Kindern vielfältige, alltagsbedeutsame Herausforderungen zutrauen, die Kinder mit Mut und Engagement, Lebendigkeit und Stolz, Risikobereitschaften und Leistungserlebnissen ausfüllen können. Dazu ist eine risikobereite Einstellung der Fachkräfte ebenso notwendig wie eine Umgebung (innerhalb und außerhalb der Kindertagesstätte), in der viele unsinnige und überflüssige „Sicherheitsvorschriften“ außer Kraft gesetzt werden müssen.
  • (6) Träger und Gesetzgeber sind in dem Zusammenhang aufgefordert, entsprechende Sicherheitsvorschriften und Richtlinien zu entkernen, um den Kindern und zugleich den elementarpädagogischen Fachkräften wieder die Freiheit zu schenken, die für ein entdeckendes Erfahrungslernen unumgänglich ist.
  • (7) Erwachsene müssen mit Kindern leben, mit Kindern fühlen, mit ihnen planen, mit ihnen spielen und mit ihnen die Welt entdecken (und nicht „am Kind“ bzw. „für das Kind“ planen, Vorhaben vorstrukturieren, Vorgedachtes anbieten).
  • (8) Erwachsene müssen sich der Perspektive der Kinder zuwenden und damit aufhören, Kinder in die Perspektive der Erwachsenen zu zerren.
  • (9) Kinder brauchen weniger eine didaktische Vielfalt an Programmen als vielmehr feste Bezugspersonen, die sich selbst als entscheidenden didaktischen Mittelpunkt begreifen; sie brauchen zuverlässige Bindungserfahrungen und damit engagierte, lebendige, staunende, mitfühlende, wissende, handlungsaktive, mutige, risikobereite, zuverlässige Menschen um sich herum und keine besser wissenden Rollenträger(innen), die immer noch meinen, Belehrungen der Kinder mache Kinder klug.
  • (10) Erwachsene müssen sich als Bildungsvorbilder verstehen, weil es die Facetten ihrer eigenen Sprache, ihr Sprechen, ihre vielfältigen Interessensschwerpunkte, ihre unersättliche Neugierde, ihre vielen Lebens- und Umfeldfragen, ihre unterschiedlichsten Aktivitäten, ihre Gefühlskompetenzen, ihr eigener Forscherdrang, ihre ausgeprägte Lernfreude und ihre hohe Motivation zum Beruf sind, die Kinder fasziniert und die Kinder sich zu ihnen regelrecht hingezogen fühlen.
  • (11) Bildungsarbeit ergibt sich aus den Lebensthemen der Kinder und dabei ist es die Aufgabe der Fachkräfte, das sich bildende Kind zu begleiten.
  • (12) Weil Kinder ihr Leben und ihr Umfeld ganzheitlich verstehen, müssen alle Lernerfahrungen für Kinder auch sinnlich und entwicklungsvernetzt möglich sein.

Diese Konsequenzen ergeben sich nicht zuletzt aus dem klar formulierten Diskussionsbeitrag der Deutschen UNESCO-Kommission (2010) zu einer nachhaltigen Bildung im Kindergarten, in dem die wesentlichen Elemente einer zeitgemäßen Elementarpädagogik angemahnt werden (Stichworte: Situations-, Handlungs- und Partizipationsorientierung, Orientierung an Ganzheitlichkeit, Selbstorganisation, Kooperation; Kindergartenpädagogik respektiert den geschützten Raum der Kindheit; Schaffung eines Bezugs zur realen Lebenswelt; Einbettung der Sprachförderung in die Lebenswelt des Kindes; Schutz vor einer Überfrachtung mit den von Erwachsenen verantworteten Problemen nicht-nachhaltiger Entwicklungen). Kinder leben durch Erlebnisse und lernen aus bedeutsamen Erfahrungen, die >unter die Haut gehen< – sie lernen nicht durch ein vorgesetztes Kopfkino, das mehr und mehr einem Stopfkopf gleichkommt.
Erinnert sei in dem Zusammenhang an Maria Montessori, die die Forderung aufstellte: „Die Aufgabe der Umgebung ist es nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren.“

Damit ist per se eine Aufteilung der Bildungskompetenzen und Bildungsfelder/-fächer – wie in vielen Bildungs- und Orientierungsrichtlinien dargestellt und ausgeführt sowie in vielen Einrichtungen „stundenplanmäßig“ angeboten und abgearbeitet- unzulässig und für eine bindungsorientierte  Selbstbildungspraxis ausgeschlossen.

Fazit zur Notwendigkeit eines Wandels des Bildungsverständnisses:

Tanjev Schultz schrieb in der Süddeutschen Zeitung am 05.02.2008 einen vielbeachteten Artikel mit der Überschrift „Kinder als Stopfgänse“ und führte u.a.  Folgendes aus: „Das Stopfen von Gänsen ist in Deutschland verboten, weil es eine Quälerei ist. Es fügt den Tieren Prellungen zu, sie erleiden Knochenbrüche, Entzündungen und Organstörungen. Die Stopfleber ist das Produkt einer Pein. Genauso kann es Kindern ergehen, denen in großer Eile viel Stoff in die Köpfe gestopft wird.“

Eine elementare Bildung fragt zunächst danach, welche Lebensinteressen Kinder ausdrücken und sie sorgt dafür, dass Kinder auf gebildete Erwachsene treffen, die ihnen dabei behilflich sind, ihren eigenen Lebenswert zu erfassen, Lebensfreude (weiter) zu entwickeln und seelische/ lernunterstützende Grundbedürfnisse befriedigt zu bekommen. Das kann nur gelingen, wenn sich Erwachsene von der Vorstellung, Kinder belehren zu müssen und Kindern >Wissen beizubringen<, radikal und konsequent verabschieden, um für eine alltagsorientierte, lebendige,lernunterstützende Bildungsatmosphäre zu sorgen. Bildung hat im originären Sinne nichts mit einem „schulischen“ Lernen zu tun und noch weniger mit einem „vorschulorientierten“ Arbeiten.

All das setzt voraus, dass elementarpädagogische Fachkräfte engagiert und selbstinteressiert noch viel stärker als bisher über den eigentlichen Sinn der Bildung und ihr unterschiedliches Selbstverständnis, die Ziele von Bildungsergebnissen und deren Zweck sowie die Aufgaben einer persönlichkeitsbildenden Elementarpädagogik grundlegend nachdenken. Nur dadurch kann eine nachhaltige Bildung auf allen Seiten gelingen. Die aktuelle Bildungspraxis ist allerdings dabei, diesen Fragen immer stärker aus dem Wege zu gehen. Vielleicht ist es hilfreich, sich auf Artikel 32, Absatz 1 der UN-Charta „Rechte des Kindes“ (ratifiziert durch den Deutschen Bundestag) zu besinnen, in dem den Kindern „ein Recht auf Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemäße Erholung“ zugesprochen wird.

Erinnert sei auch an Galileo Galilei, den großen italienischen Philosophen, Mathematiker, Physiker und Astronom, der im 17. Jahrhundert den Satz ausgesprochen hat: „Man kann einen Menschen nichts lehren. Man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken.“  Derzeit hat sich die deutsche Elementarpädagogik meilenweit von dieser – auch durch viele heutige, belegte Studien aus dem Feld der Bildungsforschung und Neurobiologie – Erkenntnis verabschiedet. Entweder hat sich Galilei geirrt oder die heutige Elementarpädagogik hat einen Weg eingeschlagen, der eine Kehrtwendung notwendig macht.  

Fazit zum Selbstverständnis der Begriffe „Schulfähigkeit/ Schulbereitschaft“:

Alle bedeutsamen Ergebnisse im Hinblick auf die Entwicklung einer Schulbereitschaft machen auf folgenden Aspekt aufmerksam: der Aufbau einer Schulfähigkeit kann kein zeitbegrenztes Vorhaben oder eine von außen, bewusst initiierte und gesteuerte Menge von Funktionsübungen beinhalten, geht es doch um intrapersonale Fähigkeiten und nicht um kognitiv gesteuerte Fertigkeiten.(vgl.: Klein, 1999, S. 12) Gleichzeitig wird in jüngster Zeit verstärkt davor gewarnt, dass sowohl durch verfrühte Lernprogramme als auch durch die damit verbundene Vernachlässigung des Spiels der gesamte Zeitraum Kindheit aufs Spiel gesetzt wird – mit dramatischen Entwicklungsirritationen für das Kind. (Pohl, 2006) Ein schulfähiges Kind besitzt so genannte nachhaltige Lerntendenzen wie Lerninteresse, einen ausgeprägten Lernwillen, eine hohe Lernfreude und eine große Lernbereitschaft, die weder durch zielgerichtete Übungen noch zeitbegrenzte Belehrungen in Kindern aufgebaut werden können. Offensichtlich hat der Umstand, dass die Begriffe „Schulfähigkeit“ und „Intelligenz bzw. Begabung“ gleichgesetzt wurden bzw. werden, bis in die heutige Zeit dazu beigetragen, dass eine Schulfähigkeit des Kindes mit dem Ausprägungsgrad seiner kognitiven Kompetenz (also seines Wissens und seiner Denkfähigkeit) im Verhältnis 1:1 betrachtet wurde/ wird. Genau das ist ein so genannter Kardinalfehler mit dramatischen Folgen! Gut begabte Kinder müssen nicht automatisch schulfähig sein, doch schulfähiger Kinder zeichnen sich stets durch eine reichhaltige Spielfähigkeit sowie eine ungebremste Neugierde, durch Fragen, Interesse an ihrem Umfeld, Soziabilität und eine ständige Lernfreude aus. Das ist das, was Prof. Dr. Gerd Schäfer eine „Bildung aus 1. Hand“ nennt und in vielfältiger Form von der Neurobiologie bestätigt wird (vgl.: Prof. Dr. Gerald Hüther/ Dr. Karl Gebauer).  

Literaturtipps:

Bergmann, Wolfgang (2011): Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn in der Erziehung. Kösel-Verlag, München

Brandes, Holger (2008): Selbstbildung in Kindergruppen. Die Ko-Konstruktion sozialer Beziehungen. Ernst Reinhardt Verlag, München

Deutsche UNESCO-Kommission e.V. (DUK) (Hrsg.) (2010): Zukunftsfähigkeit im Kindergarten vermitteln: Kinder stärken, nachhaltige Entwicklung befördern. Bonn

Deutsche UNESCO-Kommission e.V. (DUK) (Hrsg.) (1997): Lernfähigkeit – unser verborgener Reichtum. UNESCO-Bericht zur Bildung für das 21. Jahrhundert. (Delors-Bericht). Bonn

Dollase, Rainer (2006): Die Fünfjährigen einschulen – oder: Die Wiederbelebung einer gescheiterten Reform der 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. In: KiTa aktuell NRW, Nr.1, Seite 11-12

Gaschke, Susanne (2011): Die verkaufte Kindheit. Pantheon Verlag, München 2. Aufl.

Hannaford, Carla (2008): Bewegung – das Tor zum Lernen. VAK Verlag, Kirchzarten (7. Aufl.)  

Holt, John, (2003): Wie kleine Kinder schlau werden. Selbstständiges Lernen im Alltag. Weinheim: Beltz Verlag

Jackel, Birgit (2008): Lernen, wie das Gehirn es mag. VAK, Kirchzarten

Krenz, Armin (2018): Ist mein Kind schulfähig? KöselVerlag, München10. Aufl.

Lee, Jeffrey (2004): Abenteuer für eine echte Kindheit. Die Anleitung. München: Piper Verlag

Lilienfeld, Scott O. et al. (2011): Warum Mozart Babys nicht schlauer macht. Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Primus Verlag), Darmstadt

Markova, Dawna (2005): Wie Kinder lernen. Eine Entdeckungsreise für Eltern und Lehrer. VAK, Kirchzarten

Renz-Polster, Herbert + Hüther, Gerald (2013): Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken. Beltz-Verlag, Weinheim

Renz-Polster, Herbert (2014): DIE KINDHEIT IST UNANTASTBAR. Warum Eltern ihr Recht auf Erziehung zurückfordern müssen. Beltz-Verlag, Weinheim

Textor, Martin R. (2012): Zukunftsorientierte Pädagogik: Erziehen und Bilden für die Welt von morgen. Wie Kinder in Familie, Kita und Schule zukunftsfähig werden. Books on Demand, Norderstedt

Timm, Adolf (2009): Die Gesetze des Schulerfolgs. Kallmeyer in Verbindung mit Klett, Seelze-Velber

Zimpel, André Frank (2011): Lasst unsere Kinder spielen! Der Schlüssel zum Erfolg. Vandenhoeck + Ruprecht, Göttingen

Zimpel, André Frank (2014): Spielen macht schlau! Gräfe und Unzer, München

Zimpel, André Frank (2010): Zwischen Neurobiologie und Bildung. Vandenhoeck + Ruprecht, Göttingen

Armin Krenz, Prof. h.c. et  Dr. h.c., Honorarprofessor i. R., Wissenschaftsdozent für Entwicklungspsychologie und Elementarpädagogik




Deutsches Schulbarometer Spezial

Jede zweite Lehrkraft hat bereits geflüchtete Kinder aus der Ukraine an ihrer Schule

Die meisten ukrainischen Schüler und Schülerinnen lernen in Regelklassen, während ukrainischsprachige Lehrkräfte oder Unterrichtsangebote bisher fast keine Rolle spielen. Das zeigt das aktuelle Schulbarometer der Robert Bosch Stiftung. Jede zweite Lehrkraft in Deutschland hat an ihrer Schule bereits ukrainische Kinder und Jugendliche. Die Aufnahme der geflüchteten Kinder betrachten die allermeisten Lehrkräfte (92 %) jedoch aktuell nicht als zentrale Herausforderung. Vielmehr erleben sie nach zwei Jahren Pandemie Corona und die Corona-Maßnahmen als größte Belastung in ihrem Berufsalltag (38 %), gefolgt vom Lehrkräftemangel (26 %), dem Verhalten der Schüler und Schülerinnen (21 %) und der Digitalisierung (17 %). Das zeigen die Ergebnisse des Deutschen Schulbarometers Spezial, einer repräsentativen Umfrage der Robert Bosch Stiftung GmbH, durchgeführt von forsa.

Gemeinsames Lernen bisher die Regel

Die geflüchteten Kinder sind bei drei Vierteln der befragten Lehrkräfte (78 %) zumindest teilweise in Regelklassen integriert und lernen gemeinsam mit Schüler und Schülerinnen aus Deutschland. Reine Willkommensklassen ohne Anbindung an den gemeinsamen Unterricht sind mit 18 Prozent eher selten. Ukrainischsprachigen Präsenz- oder Online-Unterricht gibt es sogar nur an einem Prozent aller Schulen, die geflüchtete Ukrainer aufgenommen haben. Der Einsatz ukrainischsprachigen Personals als Übersetzer (9 %) oder Lehrkräfte (7 %) erfolgt ebenfalls bislang nur sporadisch.

Noch fehlen oftmals die Konzepte

49 % der Befragten geben an, dass ihre Schule bislang für die Aufnahme von Kindern mit wenig bis keinen Deutschkenntnissen nicht über entsprechende Konzepte verfügt. Schulen, die sich derzeit auf weitere Schüler und Schülerinnen aus der Ukraine vorbereiten (58 %), legen den Fokus vor allem auf die Bereitstellung von Räumen (43 %) und auf die Suche nach Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache (40 %). Erst danach kommen die Beschäftigung mit digitalen ukrainischen Lernangeboten (24 %) und die Suche nach ukrainischsprachigem Personal (rund 16 %).

Unbürokratische und schnelle Beschäftigung ukrainischsprachigen Fachpersonals

„Ukrainischsprachige Lehrkräfte und Übersetzerinnen können Schulen bei der Aufnahme der geflüchteten Schüler und Schülerinnen wirksam unterstützen. Wir sollten deshalb die Beschäftigung ukrainischen Personals an deutschen Schulen unbürokratisch und schnell ermöglichen, auch in Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und staatlichen Stellen“, sagt Dr. Dirk Zorn, Bereichsleiter Bildung der Robert Bosch Stiftung.

In einer gemeinsamen Initiative mit der Bertelsmann Stiftung unterstützt die Robert Bosch Stiftung Schulen bei der Aufnahme von geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine. Die Angebote sind auf dem Deutschen Schulportal verfügbar.

GEW: „Schulen sind bereit – aber viele auch am Limit!“

Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mahnt bei Bund, Ländern und Schulträgern rasche und unbürokratische, aber gut koordinierte und nachhaltige Unterstützung an. „Die Schulen stehen bereit, die ukrainischen Kinder und Jugendlichen zu integrieren, brauchen aber dringend Hilfe – vor allem mit Blick auf Personal, Räume und Sachmittel. Die Fachkräfte sind hoch motiviert, diese Herausforderung zu meistern, viele aber nach über zwei Jahren Corona-Pandemie auch am Limit, teils sogar darüber hinaus“, sagte Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied Schule, zur heute veröffentlichten Studie „Das Deutsche Schulbarometer Spezial: Geflüchtete ukrainische Schüler:innen“ der Robert Bosch Stiftung.

„Die Schulen brauchen vor allem Lehrkräfte für Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache, aber auch Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, Schulpsychologinnen und -psychologen, Fachkräfte für den Umgang mit Traumata sowie Dolmetscherinnen und Dolmetscher“, unterstrich Bensinger-Stolze mit Blick auf aktuell über 90.000 Kinder und Jugendlichen, die aus der Ukraine geflüchtete sind, und prognostizierter mehr als 400.000. „Diese Fachkräfte fehlen schon seit vielen Jahren. Schulen sowie die Kolleginnen und Kollegen hangeln sich von Anforderung zu Anforderung. Die Schulpolitik muss jetzt endlich deutliche Schritte in Richtung einer besseren personellen und materiellen Ausstattung des Bildungsbereichs machen.“ Viele Schulen und Fachkräfte hätten Erfahrungen mit geflüchteten Schülerinnen und Schülern. Aber sowohl die Belastungen, sozialen Verwerfungen und die schwierige Planbarkeit des Schulalltags durch die Corona-Pandemie als auch der dramatische Mangel an pädagogischem Personal gefährdeten mittlerweile die Bildungsanstrengungen in Deutschland insgesamt, begründete die GEW-Schulexpertin ihre Vorschläge.

Über das Deutsche Schulbarometer Spezial

Das Deutsche Schulbarometer Spezial ist eine Umfrage der Robert Bosch Stiftung unter Lehrkräften an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen in Deutschland. Die repräsentative Stichprobe umfasste insgesamt 1.017 Lehrer:innen und wurde zwischen dem 6. und 18. April 2022 als Online-Befragung von forsa durchgeführt. Die vollständigen Ergebnisse der Umfrage finden Sie hier: https://www.bosch-stiftung.de/de/die-haelfte-der-lehrkraefte-hat-bereits-ukrainische-schuelerinnen.

Quelle: Pressemitteilungen Robert Bosch Stiftung und GEW