Janusz Korczaks Pädagogik der Achtung

korczak

Schon das Neugeborene ist eine Person, über die keiner nach Gutdünken verfügen darf

Schon als junger Mensch interessierte sich Korczak für Kinder der Elendsviertel in Warschau. Er betreute sie in den Semesterferien in den sogenannten Sommerkolonien. Seine Erlebnisse (Enttäuschungen und Freuden, Misserfolge und Erfolge) verarbeitete er in Büchern und Aufsätzen. Mit dreißig Jahren fasste der junge Arzt den Entschluss den Kampf für das Wohl des benachteiligten Kindes zu seiner Lebensaufgabe zu machen. 1912 wurde er Direktor des Warschauer Waisenhauses „Dom Sierot“, das er zu einer demokratischen Gemeinschaft aufbaute. Er schrieb Bücher, hielt Vorlesungen über Erziehung, arbeitete als Gutachter für Jugendgerichte, sprach regelmäßig im polnischen Rundfunk und setzte sich für die Rechte der Kinder ein. Bald wurde er in ganz Polen bekannt.

Das Recht auf Achtung bis zuletzt leben

Als die Nazis Polen besetzten wurde in Warschau ein Ghetto errichtet, in das auch Korczak, seine Mitarbeiterinnen und 200 jüdische Waisenkinder einziehen mussten.

Korczak ist bemüht das Gegebene, also das, was wahrgenommen wird, unter den Bedingungen der Zeit zum Guten zu wandeln – ohne Illusionen. Mit „Weisheit des Herzens“ findet er im „Lachen des Kindes“ einen Anker:

„Was uns […] innigst
mit dem Leben verbindet,
ist ein Kinderlachen,
strahlend und klar.“

Korczak-Bulletin 2015, S. 2

Die Kinderrechte, die Korczak an vielen Beispielen – in oft dichterischer Sprache – facettenreich erläutert, nehmen der pädagogischen Fachkraft die Verfügungsmacht über das Kind aus der Hand. Korczak erkannte als feinfühlender Seelenarzt, dass schon das neugeborene Kind eine Person ist, das ein Ich oder Selbst hat, über das keiner nach eigenem Gutdünken verfügen darf. Das Recht des Kindes, „so zu sein, wie es ist“, muss der Erwachsene ganz ernst nehmen. Es schließt ein

  • sein Recht auf Unwissenheit, weil darin sein Recht auf Neugier enthalten ist;
  • sein Recht Fehler zu machen, weil jedes erfolglose Tun eine wichtige Lernerfahrung einschließt;
  • sein Recht seine Gedanken und Urteile auszusprechen, weil es nur so sein Denken und Urteilen üben kann;
  • sein Recht auf ein Geheimnis, denn wir haben kein Recht, das Kind „in Augenblicken schwerer Gewissenskonflikte zu bedrängen“ oder das Geheimnis gar zu „erzwingen, weder mit Bitten noch mit List oder Drohungen; alle diese Methoden sind gleichermaßen unwürdig, denn sie bringen dich deinem Erziehungsbefohlenen nicht näher, sondern lassen dich von ihnen abrücken“ (Korczak 1978, S. 200);
  • sein Recht nicht ganz ehrlich zu sein und „Rosinen aus dem Kuchen zu klauben und sie heimlich zu naschen“ (ebd., S. 205), nicht weil es allgemein lügen darf, sondern weil wir ihm erlauben müssen, eine übliche Regel zu erproben.

Bedürfnis nach Orientierung

Immer mehr Einrichtungen in der ganzen Welt tragen den Namen Janusz Korczak. Menschen verschiedener Länder finden unter seinem Namen zusammen und studieren seine Pädagogik. Korczaks vitaler Frageimpuls, geschrieben ohne Bibliothek, orientiert an der eigenen Erfahrung und dem Studium der deutschen und französischen medizinischen und pädagogischen Literatur (vor allem der Werke des Schweizer Menschenfreundes Pestalozzi), lädt zum Nachdenken ein.

Offenbar wächst das Bedürfnis nach Orientierung an Vorbildern in dem Maße, wie das Vertrauen in Institutionen und normative Denkstrukturen, die über Jahrzehnte Stabilität garantierten, brüchig geworden ist.Vor allem junge Menschen und jene, die in medizinisch-therapeutischen und pädagogischen Arbeitsfeldern tätig sind, erfahren durch die Begegnung mit Korczak eine motivierende und inspirierende Perspektive.


klein inklusion

Heilpädagogische Grundlagen

Pädagogisches Wirken beginnt bei der pädagogischen Fachkraft. So beginnt auch Prof. Dr. Ferdinand Klein bei seinem eigenen Werdegang als Heilpädagoge und beim Kinderarzt und Pädagogen Janusz Korczak, um sich dem Begriff und der Aufgabe des Heil- und Sonderpädagogen zu nähern. Zudem bietet das Buch vielfältige Fallbeispiele, konkrete Tipps und Hilfestellungen zum Umgang mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen, praxisgerecht, leicht verständlich und direkt umsetzbar.

Prof. Ferdinand Klein, Inklusive Erziehung in der Krippe, Kita und Grundschule, ISBN 978-3-963046-01-8, BurckhardtHaus, 2018, 168 Seiten, 19,95 €.


Den eigenen Weg suchen

Im Gegensatz zu den exakten Naturwissenschaften hat die Wissenschaft Pädagogik ihr eigenes Selbstverständnis, das sich von anderen Wissenschaften grundlegend unterscheidet. Pädagogik ist seit eh und je eine Beziehungswissenschaft mit und für Menschen. Diese Praxiswissenschaft erkennt: Alte pädagogische Einsichten sind nicht an zeitliche Zusammenhänge gebunden, sondern auf das Erziehen und Bilden des Kindes konzentriert.

Darauf müssen uns heute neurobiologische und psychosoziale Forschungen aufmerksam machen: Das Wissen darf dem Kind nicht wie mit dem „Nürnberger Trichter“ eingefüllt werden. Diesem technischen Beherrschen widersetzt sich seine Natur. Das Kind will nicht zum Reagierenden und Konsumierenden herabgewürdigt und fremdbestimmt werden. Diese Herrschaftspädagogik wandelt Korczak in eine Pädagogik, die ohne Vorbedingungen allein dem Kind – und damit der Zukunft der Menschheit – dienen will.

Korczaks Dienstpädagogik sprengt die lebensferne Theorie, an die sich viele um den Preis klammern, ihr eigenes Denken aufzugeben – und „ganz bequem und in aller Ruhe“ der vorgegebenen Theorie zu folgen. Zurecht betont deshalb Hartmut von Hentig, dass der pädagogischen Ausbildung das Wahrnehmen des Lebens fehlt, denn sie findet vorwiegend sitzend, hörend und darüber redend statt. Geboten ist das Erfahren und Reflektieren der Würde der Praxis.

Mit dem Kind in der Begegnung sein

Korczak knüpft an alltägliche Erfahrungen an, die er mit dem Kind macht. Die Erfahrungen werden in die pädagogische Urteilsfindung mit hineingenommen. Damit kehrt er der vorherrschenden Theoriegläubigkeit den Rücken und bringt den lebendigen Menschen, mit dem es nun einmal die Erziehung zu tun hat, ins Spiel. Hart aber fair zieht er gegen die „verknöcherte Theorie“, d. h. das begrifflich (vor-)gefasste Denken, zu Felde, wenn er sagt, dass „Anschauungen fremder Menschen sich im eigenen lebendigen Ich brechen müssen“ (Korczak 1978, S. 14).

Korczak sieht die Perspektive des Kindes und die Perspektive des Erziehers. In seiner Schrift „Wenn ich wieder klein bin“ (1973) versetzt er sich in die Situation eines kleinen Jungen und sieht die Gedanken der Erwachsenen aus der Sicht der Kinder, und die Gedanken der Kinder sieht er aus der Sicht der Erwachsenen. In dieser dialogischen Begegnung erkennt er die Aufgabe der Erziehung: „Ein Erzieher, der nicht einpaukt, sondern etwas freilegt, der […] nicht diktiert, sondern anfragt, der erlebt mit dem Kind manchen bewegenden Augenblick; und er wird manchmal mit Tränen in den Augen den Kampf zwischen Engel und Satan miterleben, bis der lichte Engel den Sieg davonträgt.“(Korczak 1973, S. 35 f.)

Die pädagogische Kompetenz

Korczaks ganz andere Pädagogik kann in keinem historiografischen Schema einer theoriegeleiteten Erziehungswissenschaft mit ihrer anspruchsvollen Rhetorik untergebracht werden. Von Korczak können wir in Wissenschaft und Praxis lernen, dass für das Erziehen ein einfach, aber gehaltvolle Sprache geboten ist. Bei seiner Erziehungspraxis im Kairos, nämlich im entscheidenden Moment geistesgegenwärtig situationsorientiert zu handeln, versuchte er aus der Perspektive des Kindes seine Sprache zu entwickeln. Sie lädt zum Mitdenken ein, die jeder in einem nicht abschließbaren Prozess weiterentwickeln kann.

Korczak hat das erzieherische Verhältnis radikal verändert. Wir können von einer „kopernikanischen Wende“ in der Pädagogik sprechen, denn er hat die Perspektive der Pädagogik revolutioniert. Er steht mit seiner Theorie mitten im Prozess der Erziehung und entwickelt aus dem Zusammensein mit den Kindern die Methoden, die ihnen Selbstwirksamkeit ermöglichen. Korczak legt nicht fest und schreibt nichts vor, bleibt vielmehr in einer offenen und fragenden Haltung, denn Kinder wollen mit Sehnsucht im Herzen sich das Wissen und Können selbst aneignen.

Einen weiteren Artikel zu Janusz Korczak von Prof. Klein finden Sie hier .

Literatur

Gruen, A. (2003): Wie man ein Kind lieben soll. In: publik-forum, journal nr. 6

Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks. München, BurckhardtHaus

Korczak-Bulletin (2015): 24. Jg., Ausgabe September, S. 2

Korczak, J. (1973): Wenn ich wieder klein bin. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht

Korczak, J. (1978): Wie man ein Kind lieben soll. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht

Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in der Krippe, Kita und Grundschule, München, BurckhardtHaus

Krenz, A. (2018): Der Situationsorientierte Ansatz – auf einem Blick. München, BurckhardtHaus

Krenz, A./Klein, F. (2012): Bildung durch Bindung. Frühpädagogik: inklusiv und beziehungsorientiert. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

Neuhäuser, G./Klein, F. (2019): Therapeutische Erziehung. Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule. München, BurckhardtHaus

Der Autor

Ferdinand Klein ist Heil- und Sonderpädagoge. Er wirkte und wirkt als Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik an den Universitäten Würzburg, Mainz, Halle-Wittenberg und an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, sowie als Gastprofessor an der Masaryk-Universität in Brünn, der Comeius-Universität in Bratislava und der Gusztáv-Bárczi-Fakultät für Heil- und Sonderpädagogik an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest.