Mit Janusz Korczak Inklusion in Krippe und Kita gestalten
Inklusive Erziehung hat durch eine feinfühlende Haltung der Selbstbildung des Kindes zu dienen
Diesen grundlegenden Gedanken der Pädagogik versucht der Autor in seinem langen Berufsleben für die inklusive Erziehung zu pflegen, das ihm sein Vorbild Janusz Korczak nahelegt und im Folgenden für das Handlungsfeld der Frühpädagogik näher erläutert wird. Stets geh es darum: Mit dem Arztpädagogen im Dialog zu sein, mit ihm zu denken und zu handeln.
Persönliche Hinweise
- Der Einblick in meine Professionalität kann als persönlicher Bericht eines Zeitzeugen verstanden werden, der seine berufliche Tätigkeit unter den Bedingungen der von ihm erlebten Zeit beschreibt und sein Denken und Handeln, sein Forschen und Lehren als Einheit sieht. Man könnte einwenden, dass der Darstellung der Geruch der Selbstbewunderung anhafte. Doch in neueren Beiträgen zur Forschung und Lehre wird der Selbstdarstellung des Wissenschaftlers Raum gegeben, da sie zu einem nicht unerheblichen Erkenntnisgewinn beitragen kann.
- 1944 musste ich mit 10 Jahren mein geliebtes Dorf Schwedler (Ostslowakei) verlassen. Erst nach der politischen Wende 1989 konnte ich es wieder besuchen. Besonders die Flucht- und Lebenserfahrungen führten mich zur Einsicht: Der Mensch braucht Liebe, Vertrauen, Lebensfreude und Zuversicht, das mir der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak zeigt. Sein Denken in Freiheit folgt nicht dem Gesetz des Stärkeren, das ich in der angegebenen Literatur facettenreich ausführte.
- Vor allem Friedrich Fröbel, der aus dem innersten Kern seines Wesens heraus Pädagoge, nichts als Pädagoge war, begleitet mein Denken und Handeln. Neben der beruflichen Tätigkeit studierte ich seine Spielpädagogik, die 1978 in die Dissertation „Die häusliche Früherziehung des entwicklungsbehinderten Kindes“ einging. (Klinkhardt 1979)
- Besonders die über drei Jahrzehnte gepflegte Zusammenarbeit mit dem international bekannten Kindheitspädagogen Armin Krenz begleiten mein Denken. Mein erstes Korczak-Buch „Janusz Korczak – Sein Leben für Kinder …“ (Klinkhardt 1995; 1997, 2. Auflage) führte uns zusammen.
Selbstbildung formt die Persönlichkeit
Bei der Selbstbildung (Selbstentwicklung, Selbstführung, Selbstgestaltung, selbstkritische Reflexion) geht es um Formung der Persönlichkeit, professionelle Selbstverwirklichung und berufliche Identität. Das zeigte der Arzt und Pädagoge Janusz Korczak: Er lebte aus der Kraft der Liebe mit seinen Waisenkindern im Warschauer Ghetto bis zuletzt. (Korczak wurden Angebot zur Flucht gemacht, die er entschieden ablehnte. Er begleitete seine Kinder bis zuletzt.) Für ihn war die Pädagogik keine Wissenschaft mit hochtrabenden Begriffen, sondern ein situationsorientiertes Handeln, das für jedes Kind tagtäglich zu finden ist. Stets geht es um ein Denken, das im Wesen des Menschen verankert und aus feinfühlender Haltung heraus zu gestalten ist.
Korczak weist uns auf das pädagogische Urprinzip der Selbstbildung hin: „Sei Du selbst – suche Deinen eigenen Weg. Lerne Dich selbst kennen, ehe Du Kinder zu erkennen trachtest. Mache Dir klar, wo Deine Fähigkeiten liegen, ehe Du anfängst, den Kindern den Bereich ihrer Rechte und Pflichten abzustecken. Unter ihnen allen bist Du selbst ein Kind, das du vor allem kennenlernen, erziehen und formen musst“ (Korczak 2004, 147). Mit diesem selbstkritischen Nachdenken kann dem Zeittrend geantwortet werden.
Tendenzen der Zeit
Umbrüche und Entsolidarisierung erzeugen Unsicherheit und Angst
Viele Menschen finden in einer durch Krisen geprägten Zeit keinen ausreichenden Ratgeber mehr und leben in existentieller Angst. Weit verbreitet ist die Angst vor dem Anderen. Es können verschiedene Ursachen ausfindig gemacht werden. Liegen sie im Beziehungsgeflecht mitten unter uns?
Die Google-Facebook-Welt negiert das Begegnen von Mensch-zu-Mensch
Diskurse über das „neue Profil des Menschen“ weisen darauf hin, dass der Mensch zu einem Datensatz geworden ist, der durch Firmen wie Facebook und Google im Netz vermarktet wird. Informatiker sprechen vom Computer als Bewusstseinsmaschine. Doch die hergestellten Zusammenhänge sind keine von Menschen gestalteten Sinnzusammenhänge und es kommt nicht zu einer intersubjektiven Begegnung.
Auf diese drohende Unsicherheit, Angst und Vermarktung des Menschen, die auf pädagogische Fachkräfte und Kinder einwirken, ist durch Selbstbildung zu antworten.
Dem Kind sein schöpferisches Selbstbewusstsein ermöglichen
Alles, was das kleine Kind wahrnimmt, versucht es unermüdlich in schöpferische Eigenaktivität umzusetzen, auf die sein späteres Leben aufbaut. Solange es wach ist, gibt es keinen Moment, in dem es nicht etwas tut. Es will sich selbst entwickeln, aus seinen veranlagten Kräften heraus frei spielen, gestalten und arbeiten. Nach und nach erwacht sein schöpferisches Selbstbewusstsein, das sich bis ins hohe Alter wandelt.
Diese Erkenntnis fordert von der pädagogischen Fachkraft eine anspruchsvolle Professionalität. Es geht um eine persönliche Anstrengung zur Selbstführung, die keine beliebige Beigabe ist, sondern eine notwendige Verpflichtung. Besonders durch regelmäßiges Prüfen der Arbeit (Selbstbewertung, Selbstevaluation, Beurteilung durch Mitarbeiter oder Eltern) ist die Professionalität als nie endende Aufgabe zu pflegen. Dadurch wird Professionalismus verhindert, der Eigeninteressen vor die Bedürfnisse der Kinder stellt.
Geboten ist eine feinfühlende Haltung
Im Zuge der Verwissenschaftlichung der Pädagogik wurde der Begriff Haltung als unwissenschaftlich beiseitegeschoben. Heute wird er als Gegengewicht gegen Haltlosigkeit, Eile und Beschleunigung wiederentdeckt. Kinder sehnen sich nach Menschen, die ihnen seelischen Halt geben, bei ihnen positive Gefühle und Stimmungen auslösen.
Jedes Kind erwartet und benötigt bei der gemeinsamen Gestaltung der Bildungsarbeit einen äußeren und inneren Halt durch die pädagogische Fachkraft, damit sein Halt wachsen kann.
Eine Fachkraft, die dem Kind konsequent und eindeutig Halt gibt, ermöglicht ihm, dass es
- sich wohlfühlen,
- im strukturierten Raum und in der strukturierten Zeit geborgen erleben,
- Selbstvertrauen und Sicherheit gewinnen kann.
Durch diese Haltung kann die pädagogische Fachkraft entwicklungshinderliche Bedingungen und Einflüsse in entwicklungsförderliche wandeln und das seelische Grundbedürfnis des Kindes befriedigen. Sie ermöglicht ihm seine Selbststeuerung und Selbstaktivierung auf der Grundlage seiner Selbstwirksamkeitsüberzeugung.
Diese Entwicklungsarbeit beginnt dort, wo die pädagogische Fachkraft
- selbst Freude und Interesse daran hat, immer wieder neues Wissen zu erwerben;
- sich gemeinsam mit Kindern auf die Suche nach Antworten begibt;
- sich bemüht, offen und neugierig schwierige Situationen zu meistern, damit Kinder erleben können, dass Konflikte zum Leben gehören und weitgehend lösbar sind;
- verborgene Talente entdeckt, mutig aufgreift und sich mit Kindern auf eine spannende Entdeckungsreise einlässt;
- weltoffen auf alles Unbekannte zugeht, um mit Kindern den alltäglichen Schatz der unbekannten Welten zu heben.
Dem Kind Selbstbildung ermöglichen
Eine sich selbst bildende Fachkraft versucht die günstigste Umgebung für das Kind zu geben, in die es durch eigenes Handeln und Entdeckerfreude eintauchen kann. Durch diese Haltung weckt und stärkt sie die Fähigkeit des Kindes zu seiner Selbstwirksamkeit. Das zeigt das folgende Beispiel, das wir Mariele Diekhof verdanken.
Anton und seine Erzieherin
Schon an ihrem ersten Arbeitstag hörte die Erzieherin von dem „schlimmsten Jungen im ganzen Kindergarten“. Der 5-jährige Anton würge die Kinder. Ihre Eltern wollen nicht, dass er mit ihnen spiele.
Die Erzieherin versucht das Kind aus gemeinsamen Erlebnissen heraus zu verstehen: Anton zeigt großen Bewegungsdrang, klettert am liebsten auf Bäume oder auf das Dach des Spielzeughäuschens. Er fühlt sich stark und mächtig, spart nicht mit Schimpfwörtern. Auch einige Kinder wollten so cool wie er sein. Halten sich Spielgefährten nicht an Antons Regeln, dann kann er aggressiv werden. Wird er zu Mahlzeiten gerufen, wenn er sich gemütlich auf dem Dach des Häuschens eingerichtet hat, dann kann es zu Tobsuchtsanfällen kommen, die dazu führen, dass er andere Kinder schubst, tritt oder auch würgt. Bald nennen ihn die Kinder nur noch „der Würger“. Antons Eltern suchen Rat und forschen „verzweifelt nach dem Grund für seine Aggressivität“. Sein auffälliges Verhalten führt bei Kindern und Erwachsenen zu verschiedenen Reaktionen, die zur Verfestigung des störenden Verhaltens beitragen. Anton steckt in einem unauflösbaren Teufelskreis.
Die Erzieherin setzt sich eines Tages zu Anton auf die Gartenbank. „Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander, dann nahm ich seine schmutzige Hand in meine Hände. Ganz vorsichtig streichelte ich sie und sagte leise zu ihm: ‘Anton, du hast so schöne Streichelhände. Hast du nicht Lust, unseren Kleinen in der Krippe mittags beim Einschlafen zu helfen?‘“ Schnell zieht Anton die Hand weg, das wäre ja völlig uncool. Er läuft weg. Doch die Erzieherin bleibt „sanft“ hartnäckig. Nach ihrem vierten Versuch erklärt sich Anton damit einverstanden darüber nachzudenken und mit einem „Na, gut“ zu bekräftigen. „Die zwei Worte lösen in ihr „ein unbeschreibliches Glücksgefühl“ aus. Die Erzieherin fühlt sich in ihrer Selbstwirksamkeit bestärkt.
Nun setzen sich beide auf die Bank, sie überlegen und stellen gemeinsam Regeln auf, damit alles gut gelingt.
Die Regeln wurden mit einem goldenen Stift auf „schönes Büttenpapier geschrieben:
- „Bevor Anton ins Sternchenzimmer geht, wäscht er sich gründlich die Hände, damit beim Streicheln das Kind nicht schmutzig wird.
- Im Sternchenzimmer wird geflüstert, damit die Kleinen nicht gestört werden.
- Anton sucht sich aus, welches Kind er streicheln möchte.
- Das Kind wird von Anton leise gefragt, ob es gestreichelt werden möchte. Wenn nicht, dann nicht!
- Das Kind wird am Arm, an der Schulter, am Hinterkopf oder am Rücken zart gestreichelt. Anton fragt das Kind, wo es gerne gestreichelt werden möchte.
- Sobald das Kind zeigt, dass es nicht mehr gestreichelt werden möchte, hört Anton sofort auf.
- Wenn das Kind eingeschlafen ist oder Anton nicht mehr streicheln möchte, kann er leise hinausgehen.
- Anton kann immer Nein sagen, wenn er wieder gefragt wird, ob er im Sternchenzimmer helfen möchte.“
Für die Erzieherin ist es wichtig, dass Anton das Streicheln als besondere Aufgabe empfindet.
Sie füllt für das Händewaschen eine Blechdose mit besonderen Duftseifen und einer bunten Nagelbürste. Die einzelnen Seifen duften nach Rosen, Zitronen, Erdbeeren, Pfirsichen, und eine schokoladenfarbige „Männerseife“ riecht nach Gewürzen. Anton kann entscheiden mit welcher Seife er sich die Hände waschen will. Die Erzieherin schreibt: „Ich werde nie den Anblick vergessen, wie versunken Anton alle Seifen beschnupperte und sich viel Zeit ließ, um sich dann für eine zu entscheiden. Die coole Männerseife sollte es sein.“
Nun tastet sich Anton mit geschrubbten und nach Gewürzen duftenden Händen durch den Schlafraum und „hielt zögernd nach einem geeigneten Kind Ausschau“. Er wählt die kleine Emely. Wie zuvor besprochen, fragt er sie „flüsternd, ob er sie ganz vorsichtig streicheln dürfe“. Streicheln ist für Emely keine ungewohnte Situation, da die Kinder von den Erzieherinnen täglich in den Schlaf gestreichelt werden. Anton macht es sich neben Emely auf der Matratze bequem und „bewegte seine Finger zunächst sehr zaghaft auf ihrer Schulter. Emely schien es zu gefallen, zunächst schaute sie Anton mit großen Augen an, bevor sie dann tatsächlich während des Streichelns in den Schlaf sank.“ Anton bleibt noch etwas auf der Matratze sitzen und schleicht dann aus dem Sternchenzimmer.
Im Verlauf der Wochen erlebt Anton was seine Hände bewirken können.
Durch Selbstwirksamkeit entwickelt er ein Verantwortungsbewusstsein. Die Kinder verlieren bald die Angst vor Anton. Der Teufelskreis ist durchbrochen. Andere Kinder folgen ihm. Bis zu drei Kinder können beim Streicheldienst mitwirken und die Erzieherinnen unterstützen. Interessierte Kinder können sich in eine Liste eintragen und die Kleinen nach den vereinbarten Regeln streicheln. Auch der Akt mit den besonderen Duftseifen entwickelt sich zu einer Zeremonie, die den Kindern sinnliche Düfte und Wertschätzung erleben lässt.
Das Beispiel motiviert das Team und die Eltern.
Sie überlegten, ob dieser Streicheldienst nicht als Standard in die Kita-Konzeption einfließen könne. Die älteren Kinder konnten für eine sozial motivierte Selbstwirksamkeit interessiert und bei der Betreuung der Kleinen mit einbezogen werden. Sie halfen nicht nur im Sternchenzimmer beim Streicheln, auch beim Füttern der Jüngsten übernahmen sie Verantwortung.
Nun kamen von Kindern und Erwachsenen immer wieder neue Ideen und Anregungen hinzu:
Spielsachen wurden für die Kleinen gebaut, Kissenbuden zum Reinkriechen gebastelt, Matschecken angelegt. Anton war immer mittendrin. Er war der Chef und Bestimmer. Er wusste, was zu tun war und wie man die Kleinen tröstet, wenn die Mama ging, wie man sie füttert und sanft in den Schlaf streichelt. Ja, so war er, unser Anton – und manches Kind wollte ein wenig so sein wie er, so klug, so stark, so voller Ideen und Tatendrang. Nachsatz: In der 4. Klasse wurde Anton von seinen Klassenkameraden zum Konfliktberater gewählt. (Klein 2021, 25 f.)
Fazit
- Kinder mit und ohne Behinderung erwarten in der inklusiven Kita eine von der pädagogischen Fachkraft gestaltete Umgebung, in der sie sich vielfältig bewegen können, Anregungen für ihre Sinne, Phantasie, für die Lust am Gestalten und Forschen bekommen. Sie kann die Selbstbildung der Kinder begleiten, indem sie ihnen möglichst viele Erfahrungsbereiche eröffnet und sie selbst bestimmen lässt, welche sie nutzen wollen.
- In dieser offenen und selbstkritischen Haltung wurzelt Korczaks Kultur des partnerschaftlichen Dialogs, der maßgebend sein soll für die Forschung in Wissenschaft und Praxis, denn wo Liebe gelebt wird findet Begegnung und Selbstbildung als nie endende Aufgabe statt.
Bücher von Prof. Ferdinand Klein im Verlag Burckhardthaus
Literatur
- Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Freiburg, BurckhardtHaus
- Klein, F. (2021): Bewegung, Spiel und Rhythmik. Göttingen, verlag modernes lernen
- Klein, F. (2022): Waldorfpädagogik in Krippe und Kita. Freiburg, BurckhardtHaus
- Klein, F. (2024): Mit Janusz Korczak über Inklusion nachdenken. Freiburg, BurckhardtHaus (in Vorbereitung)
- Korczak, J, (2004): Wie liebt man ein Kind. Gütersloh, Gerd Mohn
- Krenz, A. (2022): Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht. Freiburg, BurckhardtHaus
- Krenz, A./Klein, F. (2013): Bildung durch Bindung. Inklusiv und beziehungsorientiert. 2. Auflage, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht
(Univ.-Prof. em. Dr. Dr. et Prof. h.c. Ferdinand Klein)