Projektarbeit neu denken: alltagsorientiert, lebensnah und gegenwartsorientiert

Merkmale, Planung und Durchführung von Projekten und was sie für Kinder bedeuten

Hört man sich deutschlandweit in vielen Kindertageseinrichtungen einmal um und fragt nach den zurückliegenden oder gerade aktuellen pädagogischen Arbeits- bzw. Beschäftigungsschwerpunkten, so fällt immerzu das Wort „Projekt“ in Kombination mit einer Wortergänzung oder einer Tätigkeitsbeschreibung. So ergab eine Befragung unter 160 Kindertagesstätten im Zeitraum vom, welcher pädagogische Arbeits- bzw. Beschäftigungsschwerpunkt für die elementarpädagogischen Fachkräfte aus der Vergangenheit in besonderer Erinnerung geblieben ist oder welcher Schwerpunkt gerade die gegenwärtige Pädagogik bestimmt, beispielsweise folgende Antworten:

„Projekt Zähne und Zahnarzt“/ „Projekt: warum die Körperpflege so wichtig für uns Menschen ist“/ „Projekt: Die vier Jahreszeiten – Frühling, Sommer, Herbst und Winter“/ „Projekt Fußgängerführerschein für jedes Kind“/ „Projekt: rot, gelb, grün und blau – wir lernen die wichtigsten Farben kennen./ „Projekt Obstsorten – was es da alles gibt, wie sie heißen und wie sie schmecken“/ „Projekt Verkehrserziehung – wie verhalten wir uns richtig im Straßenverkehr, so dass es nicht zu Unfällen kommt.“/ „Projekt Buchstabensalat: wie aus einzelnen Buchstaben ein Wort wird.“/ „Projekt kleine Forscher erkunden die Umgebung“/ „Projekt: Wir basteln mit Salzteig“/ „Projekt Schneekugel“/ „Projekt gesunde Ernährung“/ „Projekt zuckerfreies Essen und Trinken“/ „Projekt Fasching – wer oder was ich immer schon sein wollte“/ „Projekt saubere Umwelt – warum Mülltrennung und Müllvermeidung für uns Menschen und die ganze Welt so wichtig ist“/ „Projekt recycelte Kunst“/ „Projekt Helfer in der Not: Feuerwehr und Polizei“/ „Projekt warum es Weihnachten gibt“/ „Projekt: Jeder Mensch ist anders als der andere und jeder Mensch ist etwas ganz Besonderes“/ „Projekt: Kinder unterstützen ein Hilfsprojekt.“/ „Projekt: Die vier Elemente, die alle Menschen zum Leben brauchen – Wasser, Luft, Erde und Feuer.“

Diese Übersicht, die einen kleinen Ausschnitt aus der Vielzahl der gegebenen Antworten wiedergibt, mag genügen, um weitere Überlegungen zur Projektarbeit in Kindertageseinrichtungen vorzunehmen.

Die Begriffsbezeichnungen „Projektarbeit“ bzw. „Projekt“ werden inflationär benutzt

Es fällt auf, dass nahezu alle geplanten Vorhaben, die bundesweit in vielen Kindertageseinrichtungen durchgeführt werden, mit der Bezeichnung „Projekt“ bzw. „Projektarbeit“ versehen werden. Vor einigen Jahren stand der Begriff >Thema< im Mittelpunkt und es scheint so, als sei dieses Wort durch den Begriff >Projekt< ausgetauscht worden, so als gäbe es keinen Unterschied. Auch werden in vielen Fachschulen und Fachakademien für Sozialpädagogik die Begriffe nicht in ihrem ursprünglichen Bedeutungswert differenziert betrachtet und entsprechend ihrem genauen Bedeutungsgehalt genutzt. Doch ist es aus einer fachlichen Berechtigung tatsächlich möglich, eine Gleichstellung der beiden Begriffe vorzunehmen?

Dieser Frage soll an dieser Stelle einmal ebenso wie dem möglichen Hintergrund für diese undifferenzierte Begriffsauswechselung nachgegangen werden. Dafür ist zunächst ein Bezug zur ‚Bildungsarbeit in Kindertagesstätten’ herzustellen. >Bildung in der elementarpädagogischen Praxis< wird in den Bildungsrichtlinien aller 16 Bundesländer zwar stets mit dem Hinweis auf den Aufbau bzw. die Unterstützung einer Selbstbildung des Kindes bei einer notwendigen Partizipation versehen, gleichzeitig sind aber die unterschiedlichen Bildungsbereiche – getrennt voneinander – aufgegliedert/systematisiert und zu festgeschriebenen „Bildungsprogrammen“ zusammengetragen/länderspezifisch verabschiedet worden.

Ebenso wird in einem überwiegenden Anteil aller Fachschulen/Fachakademien für Sozialpädagogik der althergebrachte Kanon einer >zielführenden, exakt aufgeschlüsselten Didaktik mit einer entsprechend zugeordneten Methodik< – wenn auch in einem neuen Gewand mit neuen Begriffen – fortgeführt, so dass künftige Erzieher:innen sowohl im Unterricht als auch in der Aufgabenstellung für deren Praktika immer wieder aufs Neue lernen, themenorientierte bzw. kompetenzbenannte Themen bzw. Bildungsfelder als Angebote den Kindern vorzugeben.

Insofern wundert es nicht, dass aus komplex vernetzten Bildungsbereichen Fachschwerpunkte werden, die in Teilangeboten den Kindern nahegebracht werden. Dazu holen die Mitarbeiter:innen die Kinder zusammen, geben Informationen ein oder Fragen vor und die Kinder „dürfen“ auf diese Weise lernen, dass sie sich mit bestimmten Aufgabenstellungen beschäftigen sollen. Darüber hinaus werden Lernbereiche und Alltagssituationen der Kinder fein säuberlich in Arbeits-, Lern-, Spiel- und Freizeitfelder aufgeteilt: von dann bis dann wird gespielt, von dann bis dann geforscht, von dann bis dann sich bewegt und von dann bis dann gegessen, geschlafen…

Doch damit hört die zunehmende, thematisch gegliederte Funktionalisierung eines ursprünglich lebendigen Kinderlebens nicht auf: aus dem vielfältigen, in Kindern durch ein genetisch vorhandenes und damit vorhandenes Forschungsinteresse werden erwachsenengeplante und -gesteuerte Themenangebote fein säuberlich strukturiert und fächerspezifisch geordnet – getreu dem Motto: Bildung geschieht in einem aufgeteilten Fächerkanon und dies geschieht in vorgeplanten Teilschritten!

Statt im Leben der Kinder – sowohl im Innenbereich als auch im Außenbereich – deren Interessen und Fragen aufzugreifen, deren Neugierde aufzunehmen und in individuell konzipierte Projekte einzubinden, die ungezählten Alltagsphänomene aufzugreifen und zu untersuchen, werden immer wieder extra arrangierte, thematisch festgelegte Räume und Zeiten vorgegeben, was letztlich darin gipfelt, dass es möglich ist, sich als Kindertageseinrichtung mit der Auszeichnung „Haus der kleinen Forscher“ der Öffentlichkeit zu präsentieren. Dazu sei eine Anmerkung erlaubt: JEDES Kind ist ein Forscher, zu allen Zeiten und an allen Orten. Nur dann, wenn den Kindern diese ursprüngliche, intrinsisch angelegte Motivation als Forscher:in – die Welt zu entdecken – oder ihnendiesedurch Bindungsirritationen/ fehlende Beziehungsnähe/ normative Vorgaben oder interessenferne Angebote genommen wird, können Kinder das Interesse verlieren, Weltentdecker:in zu sein. Jede Kindertageseinrichtung hat die Bildungsaufgabe, eine forschende Institution zu sein: und dazu bedarf es keiner extra ausgewiesenen Auszeichnung.

Fazit: Die Selbstbildung der Kinder wurde und wird immer stärker zu einer belehrenden (=beleerenden) Bildungspädagogik degradiert und funktionalisiert, zumal nicht das Handeln und Fühlen der Kinder im Mittelpunkt der Pädagogik steht sondern die Bildungsarbeit mit  zeitlich fraktionierten Themenangeboten bestimmt wird. Und da es ab und zu kleinere Bündelungen im Sinne von Themenzusammenstellungen an einem oder einigen wenigen, aufeinander folgenden Tagen gab bzw. gibt, wurde diese Zusammenstellung als ein Projekt bezeichnet. Dieser Begriff selbst entstand ursprünglich im Rahmen der Entwicklung des Situationsansatzes bzw. des Situationsorientierten Ansatzes und wurde vollkommen anders verstanden.

Was zeichnet nun ein ‚Projekt’ im Gegensatz zu einem ‚Thema’ aus?   

Im Sinne einer nachhaltigen Bildung wird auf der Grundlage basaler Erkenntnisse aus den Feldern der Bildungsforschung, der Entwicklungs- und Lernpsychologie sowie der Neurobiologie von drei Grundsätzen ausgegangen: 1.) Der Beschäftigungsschwerpunkt des Kindes muss für das Kind bedeutsam sein, ganz im Sinne eines Selbstverständnisses: „Damit kann ich etwas anfangen, weil es mich in meinem jetzigen Leben berührt.“; 2.) Dieser „Beschäftigungsschwerpunkt“ muss einen aktuellen, realen Bezug zur Lebenswelt des Kindes besitzen, ganz im Sinne seines Selbstverständnisses: „Das kenne ich und das, was wir tun, kann ich gebrauchen/ zu Hause fortsetzen / in meinem jetzigen Leben aufgreifen und umsetzen“; 3.) Das Kind muss den starken Wunsch, ja das tiefe Bedürfnis haben, eine Beziehung zur elementarpädagogischen Fachkraft herstellen zu wollen, um mit ihr eine Art Bündnis– und Bindungsvernetzung einzugehen, mehr oder weniger fortlaufend bis hin zur selbstständigen, teilweise sogar alleinigen Weiterarbeit innerhalb des Projekts oder auch außerhalb der Einrichtung. Insofern werden schon an dieser Stelle ganz bedeutsame Unterschiede zu einem Thema deutlich:

krenz

Projekte

  • richten sich auf das Alltagsgeschehen, auf Alltagserlebnisse der Kinder und sprechen sie damit in ihrer konkreten Lebenssituation an, zumal Kinder sich und ihre Welt um sie herum nur als ‚interessant’ empfinden, wenn sie während ihrer Tätigkeiten eine Verbindung mit ihrer Lebensnähe herstellen können;
  • sind damit stets gegenwartsorientiert – im Unterschied zu einer thematischen Schwerpunktsetzung, die bei genauerer Betrachtung eine defizitäre Sichtweise des Kindes an den Tag legt, geht es doch bei einem Themenangebot in erster Linie darum, Kinder in bestimmten, noch nicht so gut entwickelten Kompetenzfeldern auf die Zukunft fixiert zu fördern. Projekte haben das Selbstverständnis, entwicklungsbegleitend zu agieren und nicht zukunftsorientierte Visionen/ Erwartungen von außen – wie beispielsweise der Grundschule oder durch Elternerwartungen – zu erfüllen.
  • ergeben sich aus Alltagsbeobachtungen und leiten sich auf der Grundlage von Beobachtungsergebnissen ab: womit beschäftigen sich die Kinder derzeit, womit setzen sie sich gerade auseinander, woran haben sie ein verstärktes Interesse und welcher Schwerpunkt sollte daher unbedingt aufgegriffen und vertieft werden?
  • ziehen sich in der Regel über einige Wochen oder mehrere Monate hin; sie sind keine Angebotseintagsfliegen sondern ermöglichen es den Kindern, mit Zeit und Ruhe, einem innerem Engagement und in einer zuverlässigen Begleitung der Fachkräfte in ein Projekt einzutauchen: vertiefend, handelnd, fragend, suchend, interessengeleitet…
  • haben nur dann einen hohen Bedeutungswert für Kinder, wenn sie ‚ihre’ Entwicklungsbegleiter:innen als zuverlässig, innerlich motiviert, lebendig, gleichsam neugierig und so weit wie möglich kontinuierlich anwesend erleben können, was natürlich in kontinuierlich bestehenden Gruppen bzw. in stammgruppenübergreifenden Zusammentreffen am besten umzusetzen ist. Das klassische Konzept des ‚Offenen Kindergartens’ mit den täglich wechselnden Angeboten  in den dafür vorgegebenen Funktionsräumen und einer ständig neu zusammengesetzten Gruppe lässt eine Projektarbeit kaum bis gar nicht zu. (Anmerkung: Gruppendynamisch betrachtet ergeben sich dadurch ständig neue Rollenzuweisungen, was bei verunsicherten Kindern zu einer Überforderungssituation und Irritationen führt. Daher wird bei der Umsetzung dieses pädagogischen Konzepts auch so gut wie ausschließlich nur mit Themenangeboten gearbeitet.
  • verlangen nach Fachkräften, die sich in einer ständigen Reflexionsbereitschaft befinden, ihre Bedeutsamkeit für die Kinder hinterfragen, die eigenen Beziehungsqualitäten hinterfragen und dafür sorgen, dass ihre Kommunikations- und Interaktionskultur kindorientierte Verhaltensmerkmale besitzen.
  • ergeben sich aus einem gemeinsam entdeckenden Lernen, bei dem die Projektschwerpunkte den Kindern die Möglichkeit bieten, diese mit allen Sinnen und aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu erfassen und dabei die einzelnen Vorhaben zwar gemeinsam abgesprochen und durchgeführt werden, gleichzeitig aber keine vorher festgelegten Ziele in einer ganz bestimmten Zeit erreicht werden sollen/ müssen. Eine Projektarbeit ist daher stets für neue Gedanken- und Handlungsimpulse der Kinder offen, so dass von einem prozessualen Vorgang die Rede ist.
  • bieten Kindern immer wieder die Möglichkeit, sich in den eigenen Ressourcen und Kompetenzfeldern besser kennenzulernen. Dabei unterstützen die elementarpädagogischen Fachkräfte als Planungsbegleiter:innen und Impulsgeber:innen alle Möglichkeiten des Kindes, in Prozesse der Selbstexploration einzutauchen: und das nicht nur in kognitiver, sondern vor allem in einer emotional-sozialen Sichtweise.
  • umfassen im Gegensatz zu Themen in diesem einen Projekt die ganze Vielfalt didaktischer Möglichkeiten, die innerhalb der Kindertagesstätte möglich sind, sich mit dem Projektschwerpunktzu beschäftigen: z.B. durch handwerkliche Tätigkeiten mit allerlei Werkzeug („Basteln“ kann man später noch im hohen Alter im Seniorenstift) , Musik, Liedern und Tanz, situationsbezogene Märchen, das Betrachten von situationsbezogenen Bilderbüchern, Vorlesen von situationsbezogenen Geschichten/ Texten, Umsetzen von Spielideen, philosophisch geführte Gesprächsrunden bis hin zur Möglichkeit, entstandene Ideen in Kunst- und Malausdrucksmöglichkeiten umzusetzen.
  • finden aber auch nach Möglichkeit außerhalb der Kindertageseinrichtung statt- durch gemeinsame Unternehmungen im Umfeld der Kita, sozialräumliche Erkundungen oder durch eine Kooperationspflege (Besuche) mit gemeinwesenorientierten Einrichtungen.
  • nehmen den Auftrag einer partizipatorisch geprägten Pädagogik sehr ernst. Hier „dürfen“ Kinder nicht nur an der Zusammenstellung des Speiseplans oder bei ‚normalen’ Entscheidungsfindungen ihr Votum abgeben sondern sie sind von Anfang an an allen Planungen beteiligt. So wie in einer Kinderkonferenz hat jedes Kind das Recht, seine Ideen einzugeben, seine Bedenken zu äußern, seine Einwürfe zu machen oder Veränderungsvorschläge vorzubringen.
  • entstehen mit den Kindern! Hier wird nicht wie bei einem themenorientierten Angebot den Kindern in der Form das Angebotsvorhaben vorgesetzt, indem schon alle für das betreffende Angebot benötigten Materialien von der Fachkraft fein säuberlich auf dem Tisch ausgebreitet sind bzw. der Raum vorbereitet wurde, so dass sich die Kinder nur – wie bei einem Buffet – bedienen können/ sollen. In einem Projekt wird zu Beginn überlegt und abgesprochen, welche Werkmaterialen gebraucht werden, wie sie zu besorgen sind, was für die Durchführung benötigt wird und bis wann was vorhanden sein muss. Kinder sind auch hier die Akteure und sie lernen auf diese Weise, dass das Leben durch Anstrengungsbereitschaft geprägt ist. Angebote führen zu einer schleichenden Konsumorientierung mit einer zunehmenden Erwartungshaltung. Dem setzt eine Projektarbeit ein Riegel vor.
  • sind so konzipiert, dass während der verschiedenen Handlungsaktivitäten möglichst alle neun Entwicklungsfelder  (Kognition, Emotionen, Soziabilität, Fein- und Grobmotorik, Sprache, Fantasie, Kreativität, Denken, Motivation) gleichzeitig angesprochen werden und nicht wie bei einem Thema jeweils ein ausgewähltes Entwicklungsfeld isoliert und als Themenschwerpunkt zum ‚Förderschwerpunkt’ erklärt wird.
Projektarbeit
(Abb.1: Grundlegende Merkmale, durch die ein Projekt gekennzeichnet ist)

Schaut man sich nun die ganz zu Anfang zitierten, so genannten ‚Projekte’ an, so wird aus einer fachlichen Betrachtung deutlich, dass es sich dabei um Themen gehandelt hat.

Aufbau und Ablauf eines Projekts

Ein Projekt setzt sich aus vielen, unterschiedlichen Tätigkeitsschwerpunkten und Unternehmungen zusammen, weil auch das Leben nicht eindimensional verläuft sondern ein großer, vernetzter Block aus vielfältigen, miteinander verbundenen Situationen besteht und somit sich auch ein Projekt als ein aktuelles Spiegelbild der Gegenwart darstellt. Insofern berücksichtigt ein Projekt auch vielfältige Bereiche, auf die Kinder ein Erlebnisrecht haben, auch um die Vielfalt des Lebens entdecken und sich damit auseinandersetzen zu können. So sei an dieser Stelle eine Übersicht vorgestellt, in der die unterschiedlichen Erkundungs- und Erlebnisbereiche in einer Projektgestaltung aufgeführt sind und dazu gleichzeitig dienen können, bei einer Projektplanung zu schauen, welche Bereiche tatsächlich berücksichtigt wurden, welche außer acht gelassen wurden und welche in die Projektdurchführung zusätzlich aufgenommen werden sollten.

Projektarbeit-Kreis

Um ein Projekt zu planen und durchzuführen, bedarf es zunächst einer sorgsamen

  • Situationsanalyse (1), um herauszufinden, welche Interessen die meisten Kinder zum Ausdruck bringen. Dabei bieten sich vor allem die von Kindern gewählten und umgesetzten Spielaktionen, ihre Erzählungen, ihre Handlungsbedürfnisse, ihre Malthemen und ihre geäußerten Bedürfnisse an. Natürlich kann dabei nicht davon ausgegangen werden, dass alle Kinder dieselben Ausdrucksformen zeigen. Gleichwohl geht es darum, herauszufinden, ob es einen Interessenschwerpunkt vieler Kinder gibt. Beobachtungen in Kindertageseinrichtungen haben immer wieder gezeigt, dass es solche Bündelungen gibt. Zudem ist es auch möglich, unterschiedliche Schwerpunkte zu einem übergeordneten Bereich zusammenzufassen. Sobald die elementarpädagogische Fachkraft, ausgehend von der Situationsanalyse, eine solche Bündelung feststellen konnte, bittet sie die Kinder, dass sich alle zu einer
  • Situationsbesprechung (2) zusammenzufinden. Hier berichtet sie von ihren Beobachtungen, die sie in der zurückliegenden Zeit gemacht hat, benennt Beispiele (mit einer Zuordnung zu dem jeweiligen Kind) und schlägt dann vor, dass die Kinder ganz viele Ideen einbringen können, damit gemeinsame Überlegungen angestellt werden können, welcher
  • Projektschwerpunkt (3) die nächsten Tage und Wochen das Alltagserleben in der Gruppe bestimmen könnte. Dabei hält die Fachkraft alle von den Kindern geäußerten Ideen und Vorschläge schriftlich fest und ergänzt das Ganze auch durch eigene Ideen, auf die die Kinder nicht kommen konnten (z.B. mögliche Liedideen, Werkvorschläge, Erkundungen im Umfeld der Kindertageseinrichtung, Ausflüge/ Besuche von bestimmten Institutionen, Theaterspiel, Naturerkundungen, Experimente etc.). Nun wird anhand der umfangreich geführten Liste die
  • Planung des Projekts (4) besprochen, wobei die einzelnen Projektaspekte in eine bestimmte Reihenfolge gebracht werden: mit welchem Handlungsvorhaben wollen die Kinder beginnen? Welche Materialien sind dafür erforderlich? Gibt es diese Materialien in der Kindertagesstätte oder haben vielleicht die Eltern die benötigten Dinge zu Hause, die die Kinder mitbringen könnten? Was gibt es darüber hinaus alles an Vorbereitung zu bedenken? Aus diesem Planungsgespräch leitet sich die konkrete Vorbereitung der ersten
  • Handlungsvorhaben (5) ab, so dass schließlich die
  • Umsetzung des Projekts (6) begonnen werden kann. Währenddessen – und das haben immer wieder ungezählte Praxisbeispiele offenbart – kommt es stets zu weiteren Ergänzungsvorschlägen/ Änderungswünschen durch die Kinder, die dann in kurzfristig einberufenen Treffen miteinander besprochen werden. Während der
  • Projektdurchführung führen die elementarpädagogischen Fachkräfte eine Verlaufsdokumentation, in der sie alle wichtigen Ereignisse aufschreibt. Und am Ende einer Woche findet eine Kinderkonferenz statt, in der die Fachkraft den Kindern ihre aufgeschriebenen Beobachtungen vorliest (besondere, zum Ausdruck gekommene Stärken einzelner Kinder, was beispielsweise die Ausdauer, den Mut, soziale Handlungen wie beispielsweise Rücksichtnahme, eine besondere Hilfsbereitschaft, konstruktiv geführte Konfliktgespräche unter den Kindern… betrifft.). Um auch den Eltern eine mögliche Rückmeldung über das, was alles in einer Woche unternommen wurde, zu geben und sie auch fachlich über das Geschehen zu informieren, bietet sich ein schriftlich fixierter Wochenrückblick an, der sich aus der Projektdokumentation (6) ergibt. Das kann beispielsweise so aussehen, dass auf der Hälfte eines Flipchart-Bogens die so genannten ‚Lernmöglichkeiten’ für Kinder aufgeführt wurden.
Plan

Dieser von der elementarpädagogischen Fachkraft ausgefüllte Bogen kann dann – nachdem  mindestens ein Beispiel in jeder Kategorie eingetragen wurde – am ersten Tag der kommenden Woche von außen an der Gruppentüre angebracht werden: in großer, gut lesbarer Schrift, wenn notwendig und möglich bei überhaupt nicht deutsch sprechenden Familien auch in deren Landessprache. Dazu gibt es im Internet vollkommen einfache Übersetzungsprogramme! Ganz zum Schluss eines Projekts erfolgt gemeinsam mit den Kindern ein

  • Projektabschluss (7), der sich beispielsweise in einem gemeinsamen Fest manifestiert und zu dem ggf. auch alle extern beteiligten Personen oder die Eltern herzlich eingeladen werden. Im Kreis der Mitarbeiter:innen findet schließlich eine Projektreflexion in Form einer
  • Evaluation (8) statt, um zu prüfen, was besonders gut verlaufen ist, was vielleicht noch besser gewesen wäre und ob es Erkenntnisse gibt, die für weitere Projektplanungen unbedingt beachtet werden sollten.    

Projekte greifen aktuelle, emotional-soziale Welteindrücke der Kinder auf

Wie schon erwähnt, orientiert sich der mit Kindern festgelegte Projektschwerpunkt einerseits an den Beobachtungsergebnissen und andererseits anden von Kindern geäußerten Schwerpunkten und ihren Interessen. Gleichzeitig beziehen sich die Projektschwerpunkte auf die aktuelle Lebenssituation der meisten Kinder, auf ihre biographischen Lebenseindrücke und deren Bedeutungswerte für ihr Erleben.

An dieser Stelle erlaube ich mir, zunächst ein besonderes Projekt, das in einer Kindertagesstätte in Sachsen-Anhalt durchgeführt wurde, vorzustellen. Dort fiel der Erzieherin auf, dass viele Kinder damit begannen, sie nach einem bestimmten Gebäudekomplex zu fragen, an dem sie stets auf ihrem Weg zur Kindertagesstätte vorbeikamen. Es war ein ehemaliges Konzentrationslager aus der Nazi-Zeit, das nun als Gedenkstätte von Besucher:innen aus nah und fern aufgesucht werden konnte. Die Erzieherin berichtete also von einer Zeit, als es in Deutschland einen Krieg gab (so wie jetzt in dem Land der Ukraine) und dass dort Menschen eingesperrt wurden, die der damalige Staatsführer als Feinde bezeichnet hat. Die Kinder fragten viel nach, warum immer Menschen mit Blumensträußen diesen Ort aufsuchten, was die dort eingesperrten Menschen denn Schlimmes getan hätten, ob sie immer genug zu essen bekommen haben und ob sie auch ihre Haustiere, Hunde und Katzen, dorthin mitbringen durften. Je mehr die Erzieherin auf die Fragen der Kinder einging, desto größer war der Wunsch, auch einmal diesen Gebäudekomplex zu besuchen. Die Erzieherin überlegte eine längere Zeit, ob und wie sie diesem großen Interesse der Kinder gerecht werden konnte und leitete das Interesse der Kinder auf die Behauptung, dass sie bestimmt sehr traurig wären, wenn man nicht mehr dort wohnen bleiben dürfte, wo man bisher gewohnt hat und dann mit ganz, ganz vielen Menschen zusammenleben müsste, die man gar nicht kennt. Und schon begannen die Kinder von ihren traurigen Momenten zu erzählen, wenn beispielsweise ihre Geschwister häufig anfingen zu streiten oder weil die Oma/ der Opa sehr krank sei usw. Daraus ergab sich recht schnell ein Projektschwerpunkt „traurig sein ist gar nicht schön! Schöner ist es, wenn man fröhlich/ glücklich ist.“ Im Rahmen dieses Projekts, was über 7 Monate lief, haben die Kinder sehr viele Schwerpunkte zum Vertiefungsfeld „Trauer und Glück erleben“ vertiefend bearbeitet und auf benachbarte Gebiete, die alle von Kindern vorgeschlagen wurden (z.B. Besuch in einem Altenheim mit kleinen, mitgebrachten Geschenken/ Besuch eines Friedhofes und einer Kirche/ Planung und Übernahme eines Gießdienstes für die Pflanzen vor dem Kindergarten, damit diese bei großer Hitze nicht traurig sein müssen, wenn sie bei großem Durst nicht gewässert werden würden/ Rollenspiel „Beerdigung“ und „Krankenhaus“… Dann haben die Kinder mit der Erzieherin viele ‚philosophische“ Gespräche über den Tod (und was danach passiert) geführt, haben einmal auf der Straße Menschen gefragt, ob sie schon einmal traurig waren und warum und ob/ warum sie schon einmal richtig glücklich gewesen sind. Es wurden Bilder zum Schwerpunkt „traurige Menschen, Tiere und Pflanzen“ gemalt, Bilderbücher mit dem Themenschwerpunkt „Abschied, Tod und Trauer“ angeschaut – und Vieles mehr – und erst dann (!) wurde ein Besuch im Vorhof des Konzentrationslagers unternommen, wo die Kinder auch einen großen Blumenstrauß in die Gedenkstätte brachten. (Anmerkung: es versteht sich von selbst, dass die Erzieherin den Kindern keine Fakten zu den Gräueltaten berichteten!) Wichtig: Hier hat es die Erzieherin in ganz hervorragender Weise verstanden, die Kinder sehr achtsam und langsam mit einer Lebensrealität in Verbindung zu bringen, die normalerweise in dieser Form nicht aufgenommen werden würde, obgleich es ein Interessenschwerpunkt der Kinder war. Wäre dieser Schwerpunkt nicht aufgenommen worden, wäre es ein Indiz dafür gewesen, dass die elementarpädagogische Fachkraft hier ihre Schwierigkeit im Umgang mit dieser Lebensfrage gehabt hätte und ihr Problem zu dem der Kinder gemacht worden wäre, indem sie dieses >Thema< als ein mögliches, entstehendes Projekt nicht weiter verfolgt hätte.      

Häufige Praxisprojekte setzen sich beispielsweise mit folgenden Schwerpunkten auseinander. Dabei stehen die Projektbezeichnungen als Überschrift stellvertretend für die vielen Einzelvorhaben/ -aktivitäten, die sich aus der gemeinsamen Vorhabensammlung ergeben:

  • Ängste haben – Ängste überwinden: was Angst macht und wie man wieder die Angst verlieren/ besiegen kann;
  • Mut macht stark: sich etwas trauen hilft dabei, immer fröhlicher zu werden;
  • Wie Traurigkeiten entstehen und wie man wieder glücklicher werden kann;
  • Freundschaften tun gut und Streitigkeiten machen einsam:
    warum es so wichtig ist, Freundinnen und Freunde zu haben;
  • Da muss auch mal der Ärger raus – wie Ärger wieder zur Ruhe kommt;
  • Krieg macht Angst – Frieden macht zufrieden;
  • Warum man unzufrieden ist und wie man für Zufriedenheit sorgen kann;
  • Ich bin ich und du bist du! Jedes Kind ist anders – was jeder kann und was an ihm besonders ist;
  • Wir Menschen sind ein Teil der Natur – was wir alle zu einer besseren Welt beitragen können;
  • Freude ist etwas Schönes: womit wir uns selbst und anderen Freude bereiten können;
  • Menschen, Pflanzen und Tiere in Not: Kleine Helfer:innen bewirken viel.

Abschlussgedanken

Wenn die vielzitierte und in vielen Konzeptionen enthaltene Aussage >Wir holen die Kinder ab, wo sie stehen’ tatsächlich zutreffen soll, ist es dringend angezeigt, dass sich Kindertageseinrichtungen von ihren ungezählten ‚Themenangeboten’ verabschieden. Diese sind in der Regel belehrende, primär kognitiv, sozial oder motorisch ausgerichtete Einzelangebote, um Teilleistungsförderungen bei Kindern zu erreichen. Dabei sind die Themen durch Außenerwartungen (wie von vielen Grundschulen oder Elternhäusern) initiiert, auf zukünftige Ziele programmiert, einem in Bildungsplänen aufgeführten Bildungskanon entnommen und durch elementarpädagogische Fachkräfte umgesetzt. Was daher vonnöten ist, zeigt sich auf folgenden Ebenen:

  1. Ausbildungsstätten für Erzieher:innen sollten auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse in den Wissenschaftsfeldern der Lern- und Entwicklungspsychologie, der Neurobiologie sowie der Bildungswissenschaft von ihrer traditionsgeprägten Vorgehensweise Abschied nehmen, zukünftigen Erzieher:innen immer wieder aufs Neue einzuimpfen, die funktionsgeprägte und teilleistungsorientierte Lernzieltaxonomie als Grundlage der pädagogischen Angebotspädagogik anzuwenden. Hier ist eine Kehrtwende, hin zu einer kindorientierten Projektarbeit, dringend notwendig, um auch den wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden.
  2. Elementarpädagogische Fachkräfte haben ebenfalls die Aufgabe, wieder zu einer verstärkten Kindorientierung zurückzufinden, um gemeinsam mit Kindern – von Anfang an – spannende, lebendige, interessengeleitete und vor allem ganzheitlich vernetzte Projekte zu entwickeln, zu gestalten und prozessorientiert durchzuführen. Dazu bedarf es auf Seiten der elementarpädagogischen Fachkräfte einer ausgeprägten Neugier und eine intrinsisch gespürte Motivation, Pädagogik neu zu denken. Erzieher:innen, die sich in der Vergangenheit auf eine solche Projektarbeit eingelassen haben, berichten immer wieder mit sehr viel Freude, wie sich die Arbeit deutlich lebendiger, konstruktiver, spannender und entwicklungsförderlicher für Kinder  u n d  sie selbst weiterentwickelt hat und sie sich nicht mehr wie Domteur:innen vorkamen sondern zu einem stabilisierenden Teil eines Ganzen werden konnten. Wenn Kinder die >Akteure ihrer eigenen Entwicklung< werden sollen, ausgestattet mit einem hohen Maß an Selbstständigkeit, Autonomie, Selbststeuerungskompetenz, sozialer Verantwortung und Selbstbildungsinteresse, dann muss ihnen auch die Möglichkeit geboten werden, aus ihrer bisherigen Rollenzuweisung als ‚Reakteur:innen’ herauszukommen. Und genau dazu sind Projekte in ganz besonderem Maße geeignet.

Prof. h.c. Dr. h.c. Armin Krenz

Literaturhinweise:




Konzepte und Ansätze benötigen individualisierte Alleinstellungsmerkmale

Primärbedeutsame Merkmale sind keine Konzepte, sondern gehören zu jeder professionell gestalteten Elementarpädagogik

Eine professionell gestaltete Pädagogik orientiert sich stets an unterschiedlichen Ausgangsdaten mit ihren besonderen, klar beschriebenen und festgelegten Aussagemerkmalen. Überträgt man diese Aussage auf die Elementarpädagogik, so fallen verschiedene Merkmale ins Gewicht, die sich vor allem aus berufspolitischen Verbindlichkeiten, gesetzlichen Vorgaben, bundes- und länderspezifischen Richtlinien bzw. Verordnungen und vor allem aus wissenschaftlichen Forschungsergebnissen sowie Erkenntnissen ergeben.

Wann Kindertagesstättenarbeit gelingt

Die Elementarpädagogik, in der die Krippen- und Kindertagesstättenarbeit angesiedelt ist, trägt neben der elterlichen Erziehung in ganz besonderer Weise mit einem überaus hohen Bedeutungswert zum prozessualen Entwicklungsgeschehen in Kindern bei. Hier werden in bestem Falle Entwicklungsgrundlagen mit einer nachhaltigen Wirkung in Gang gesetzt bzw. stabilisiert, die wesentliche Persönlichkeitsmerkmale in eine förderliche Entwicklung bringen. Im Gegensatz dazu kann es allerdings auch passieren, dass die institutionelle „Erziehung, Betreuung und Bildung“ ihren Auftrag nicht angemessen erfüllt, wenn eine Konzeptionslosigkeit, indifferente Aussagen, fehlende Konzepte, ungenaue bzw. allgemein gehaltene Konzeptbeschreibungen, nur punktuell umgesetzte pädagogische Ansätze oder unangemessene pädagogische Ansätze die Arbeit bestimmen.

Konzepte sind Wegweiser – pädagogische Ansätze haben verbindliche Merkmale!

In der pädagogischen Praxis werden die beiden Termini häufig gleichgesetzt oder verwechselt, was aus professioneller Sicht nicht geschehen sollte. Konzepte sind so genannte „Wegweiser“ für die pädagogische Arbeit, in der Ziele, Methoden, Inhalte, Werte, das Menschenbild sowie Struktur- und Prozessvorschläge genannt sind. Sie sind in der Regel durch Absichten, Beispiele, persönliche Erfahrungen und generell bedeutsame Allgemeinaussagen belegt.

Im Gegensatz dazu fußt ein pädagogischer Ansatz auf einem differenziert beschriebenen Menschenbild, erfasst und beschreibt sämtliche Grundsätze und Grundlagen als verbindliche Anforderungen, vernetzt bei neueren Ansätzen wissenschaftliche Erkenntnisse aus den unterschiedlichen Fachdisziplinen der Entwicklungspsychologie, Bindungs- und Bildungsforschung, beschreibt ethische, ästhetische und kommunikative/ interaktionsbedeutsame Werte, leitet aus den Zielsetzungen praktische Handlungskompetenzen und -notwendigkeiten ab und entwickelt sich anhand neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse wenn nötig weiter.

Damit ist einer persönlich geprägten Vorliebe oder subjektiven Arbeitsausrichtung stets ein fachlich gesetzter Riegel vorgeschoben.   

Konzepte bzw. pädagogische Ansätze ergeben sich stets aus einer Situationsanalyse

Im Feld der Elementarpädagogik stehen viele pädagogische Ansätze bzw. Konzepte bereit, um der jeweiligen Einrichtung ein eigenes Profil zu geben. Genannt seien beispielsweise die folgenden Ansätze: Reggio-Pädagogik, die Fröbel-Pädagogik, die Montessori-Pädagogik, der lebensbezogene Ansatz, der Waldkindergarten, der Situationsansatz, der Situationsorientierte Ansatz, die Pestalozzi-Pädagogik, die Korczak-Pädagogik bzw. die Konzepte der Offenen Arbeit, die Situative Arbeit oder die Freinet-Pädagogik. Welches Konzept bzw. welcher pädagogische Ansatz als Ausgangs- bzw. Schwerpunkt für die jeweilige elementarpädagogische Einrichtung am besten geeignet ist, ergibt sich in erster Linie immer aus den Ergebnissen einer sorgsam durchgeführten Situationsanalyse unter Berücksichtigung des einzugsorientierten Sozialraumes sowie einer biographischen Grundsatzbetrachtung der meisten Kinder aus dem vorhandenen Einzugsbereich in Verbindung mit der aktuellen Situation heutiger Kindheiten!

Das Kind steht im Mittelpunkt, nicht die eigenen Vorlieben

Insofern kann und darf es nicht darum gehen, aus persönlichen Vorlieben oder Wünschen, abgeschlossenen Fort- oder Zusatzausbildungen oder einer persönlichen Faszination für ein bestimmtes Konzept/einen pädagogischen Ansatz ein Konzept bzw. einen pädagogischen Ansatz für die jeweilige Einrichtung festzulegen, wenn gleichzeitig die Aussage getroffen wird, dass „Kinder als Ausgangs- und Mittelpunkt der Pädagogik“ dienen. In diesem Fall wären die Fachkräfte die „vorgabebestimmenden Akteure“ und Kinder würden zu „Erfüllungsgehilfen“ (Reakteure) degradiert.  


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Elementarpädagogik und Professionalität – Lebens- und Konfliktraum Kindergarten

Eine qualitätsgeprägte Elementarpädagogik verlangt von den Fachkräften ein identisches und professionelles Handeln. Nur so geben ErzieherInnen und Leitungskräfte dem Kindergarten ein eigenes, unverwechselbares Profil und sorgen damit für Voraussetzungen und Merkmale einer kompetenten Pädagogik.

192 Seiten, Klappenbroschur
zahlreiche Abbildungen
ISBN: 978-3-944548-00-5
24,95 €


Allgemeinaussagen in Konzepten verhindern notwendige Alleinstellungsmerkmale

Es gibt einige wenige Konzepte, die sich mit Allgemeinaussagen hinsichtlich ihrer selbstbenannten Qualitätsbereiche zu definieren versuchen, obgleich diese vorgestellten Merkmale für alle Konzepte und pädagogischen Ansätze eine begründbare und fachlich notwendige Verbindlichkeit besitzen (müssen). Diese Verbindlichkeiten ergeben sich aus den länderspezifischen Bildungsrichtlinien, aktuellen Forschungsergebnissen aus der Bildungs- und Bindungsforschung sowie der Neurobiologie, dem berufsspezifischen Berufsbild, aus entwicklungspsychologischen Gesetzmäßigkeiten, den qualitätsdefinierten Items eines fachlich abgesicherten Qualitätsinstrumentariums, aus der Faktenlage zur Situation heutiger Kindheiten und aus den zutreffenden Artikeln der UN-Charta ‚Rechte des Kindes‘.

So muss es beispielsweise selbstverständlich sein,

  • dass Fachkräfte ihr berufliches Selbstverständnis aus dem „Berufsbild der Erzieher:innen“ ableiten,
  • dass sie den Prinzipien einer „Selbstbildung des Kindes“ zustimmen und funktionsorientierte, teilleistungsgeprägte Angebote nicht durchführen,
  • ihre pädagogische Arbeit zur Außenwelt, zum Gemeinwesen öffnen und Projekte mit der Außenwelt vernetzen,
  • die UN-Charta „Rechte des Kindes“ in allen Artikeln kennen und die zutreffenden Artikel in einen praktischen Bezug zur Gestaltung der Arbeit umsetzen,
  • ihr erzieherisches „Rollenverständnis“ immer wieder sorgsam und selbstreflexiv auf den Prüfstand legen, um aus tiefgehenden Selbsterfahrungserkenntnissen notwendige Weiterentwicklungsprozesse entdecken und umsetzen,
  • partizipatorische Grundlagen in die Alltagspädagogik implementieren
  • für eine Entwicklungsatmosphäre sorgen, die Kinder motiviert, Bindungs- und Selbstbildungswünsche zu entwickeln,
  • Individualisierungsbedürfnisse der Kinder unterstützen,
  • emotional-soziale sowie handlungsgeprägte Werte exakt benennen und zur Praxis werden lassen,
  • psycho-soziale und motorische Grundbedürfnisse des Kindes ableiten und sättigen können, hinter Kinderwünschen deren eigentliche Bedürfnisse entdecken und diese zum Arbeitsschwerpunkt werden lassen,
  • die vielzitierten Begriffe wie „Achtsamkeit“, „ein wertschätzender Umgang mit Kindern, Eltern und Kolleg:innen“ inhaltlich ausführen und einer Überprüfung mit eigenen Verhaltensweisen zuführen,
  • den vielfältigen „Spuren der Kinder“ folgen und deren Ausdrucksweisen und Erzählwerte fachlich deuten können,
  • normative/ tradierte Regelungen entdecken und deren Sinnhaftigkeit in Frage stellen,
  • Interesse an fachorientierter Fort- und Weiterbildung bekunden und entsprechende Angebote wahrnehmen,
  • Interesse an wissenschaftlich belegter Fachliteratur zeigen,
  • Teamarbeit regelmäßig auf den Prüfstand legen, Differenzen thematisieren und Lösungen bei Problemen finden,
  • formulierte Zielsetzungen umsetzen und mit den erreichten Ergebnisse vergleichen, ob Ziele erreicht wurden,
  • die Prozess-, Produkt- und Strukturqualität anhand eines Qualitätsinstrumentariums alljährlich überprüfen,
  • zeitaktuelle Neuerungen und Forderungen für die Einbeziehung in die Elementarpädagogik einer fachkritischen Berechtigungsanalyse unterziehen.

Primärbedeutsamen Merkmale sind keine konzeptspezifischen Merkmale

Diese primärbedeutsamen Merkmale, die zu jeder (!) kindorientierten, professionell gestalteten Elementarpädagogik gehören, sind damit keine Konzept-/ Ansatzalleinstellungsmerkmale, die eine individuelle, spezifische Konzept-/Ansatzbegründung rechtfertigen, auch wenn sie diese als konzeptspezifische Merkmale anführen, wie dies immer wieder der ‚Offene Kindergarten‘ propagiert und in den Vordergrund einer fachlichen Begründung stellt. Gleichwohl tragen die gefundenen und differenziert ausgeführten Beschreibungen zu einem notwendigen, begründbaren bzw. begründeten Beleg der durchgeführten/ durchzuführenden Arbeit bei. Insofern besteht für jede Einrichtung die Aufgabe, diese 20 Basaleckwerte Stück für Stück prioritätsorientiert zu besprechen, inhaltlich ausführlich mit Hintergrundbelegen zu füllen und durch alltägliche Praxis inhaltsstimmig auszuführen.   

Nur Alleinstellungsmerkmale geben Konzepten und Ansätzen ein Profil

Wie zuvor erwähnt haben alle „pädagogischen Ansätze“ spezifisch benannte Alleinstellungsmerkmale, die dem jeweiligen Ansatz ein unverwechselbares Profil verleihen. Diese sind in der jeweiligen Grundlagenliteratur der Ansatzentwickler sowie in darauf aufbauende Fortsetzungsliteratur stets punktgenau beschrieben und mit entsprechenden Aussagen aus den betreffenden fachwissenschaftlichen Disziplinen begründet bzw. begründbar.

Fehlen hingegen ganz spezifische Alleinstellungsmerkmale, wie es in den meisten pädagogischen Konzepten üblich ist bzw. sind in den Konzeptausführungen lediglich viele allgemeinübliche Aussagen schlagwortartig benannt, besteht immer die Gefahr, dass ein von den Mitarbeiter: innen vertretenes und für die Kindertageseinrichtung festgelegtes Konzept nach eigenen, persönlichen Vorstellungen konzipiert wurde und in der Praxis entsprechend nach subjektiven Vorlieben ausgefüllt wird. Dabei besteht die große Gefahr, dass zwischen professionell bestehenden Ansprüchen und einer umgesetzten Praxis eine Kluft entsteht, die der Elementarpädagogik aus ihrem Anspruch als eigenständige Wissenschaftsdisziplin anerkannt zu werden, abträglich ist.

Fachtheoretischen Grundlagen differenziert beschreiben und belegen

So gilt es dringender denn je, dass Konzepte ihre fachtheoretischen Grundlagen differenziert beschreiben und belegen sowie deren Alleinstellungsmerkmale daraus ableiten. Und Mitarbeiter:innen, die einen bestimmten pädagogischen Ansatz für ihre Einrichtung festgelegt haben, müssen gleichfalls darauf achten, auch tatsächlich die vorgegebenen Alleinstellungsmerkmale vollständig zu beachten und umzusetzen. Wenn dies geschieht, entsteht eine wunderbare Vielfalt, die dem Kindeswohl auf breiter Basis dienlich ist.

Armin Krenz, Prof. h.c. Dr. h.c. et Hon.-Prof. für Entwicklungspsychologie und Elementarpädagogik i.R., war über 4 Jahrzehnte als Wissenschaftsdozent, Wissenschaftsberater, Supervisor und Qualitätsbeauftragter in Deutschland und an einigen (außer)europäischen Universitäten tätig.

Kontakt: armin.krenz@web.de

Bücher des Autors:

Krenz, Armin: Grundlagen der Elementarpädagogik. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2014
Krenz, Armin: Elementarpädagogik aktuell. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2013
Krenz, Armin (Hrsg.): Psychologie für Erzieherinnen und Erzieher. 3. Aufl., Cornelsen, Berlin 2017
Krenz, Armin: Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2023




Bildung in der Kindertagesstätte

Kinder sind von Anfang an von sich aus aktiv und entwickeln sich aus sich selbst heraus

Kinder sind von Anfang an von sich aus aktiv, wollen die Welt (in sich und ums sich herum) entdecken, erkunden, Zusammenhänge begreifen und sie entwickeln sich in einer anregungs- sowie facettenreichen Umgebung und einer beziehungsorientierten Pädagogik aus sich selbst heraus. Sie sind dabei von einer großen Neugierde getrieben, ihr eigenes Leben und ihre Existenz in eine Beziehung zu ihrem erlebten Umfeld zu setzen, um ihren eigenen Wert zu entdecken sowie ihren ganz persönlichen Platz zu erkunden. Dabei wählen sie selbst – aufgrund ihrer biographischen Eindrücke und entwicklungspsychologisch geprägten Merkmale – in selektiver Form aus, was ihnen bedeutsam und wichtig erscheint, um sich den intrinsisch vorhandenen Wahrnehmungsschwerpunkten aktiv und interessiert zuzuwenden.

Alle Bildungsprozesse ergeben sich aus sinnstiftenden Fragen, die sich das Kind immer wieder stellt: wer bin ich, was kann ich, was habe ich an Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung, zu wem gehöre ich, wer sind die anderen und was pas­siert gerade jetzt um mich herum? lnsofern geschieht Bildung stets am besten und mit einem hohen Nachhaltigkeitswert in aktiv beteiligten und bindungsorientierten Interaktions- und Kommunikationsprozessen!

Die Einschränkung der Selbstaktivität führt zum Abbau der Selbstbildungskräfte

Die intraindividuelle Individualität des Kindes, die es verbietet, von einem „idealtypischen Durchschnittskind“ zu sprechen, sorgt dabei stets für einen ganz persönlichen Entwicklungsverlauf, der je nach Sättigung der unterschiedlichen seelisch-sozialen und körperlichen Grundbedürfnisse einen mehr oder weniger aktiv gestalteten Entwicklungsverlauf nimmt. In dem Maße, in dem nun dem Kind seine Selbstaktivität sowie seine subjektiv geprägte Wahrnehmungsorientierung genommen wird, kommt es immer stärker zu einer Einschränkung und zum Abbau seiner Selbstbildungskräfte, was wiederum für eine nachhaltige Bildungsentwicklung kontraproduktiv ist. Janusz Korczak, der große Arztpädagoge, trat stets für die Rechte des Kindes ein und kam in diesem Zusammenhang zu folgendem Schluss: „Ein Kind ist kein Lotterielos, um den ersten Preis zu gewinnen“.

Ein radikaler Perspektivwechsel ist notwenig

Um aus dem Dilemma einer zunehmend verplanten „Bildungskindheit“ und einer dogmatisierten Elementarpädagogik herauszukommen, bedarf es eines radikalen Perspektivwechsels, um Kindern eine Bildung aus erster Hand (Prof. Dr. Gerd Schäfer) zu gewährleisten:

  1. Erwachsene müssen sich von dem derzeit weit verbreiteten Bild verabschieden, Kinder seien schon in den ersten fünf oder sechs Lebensjahren zu einem Schulkind bzw. möglichst gut entwickelten Jungerwachsenen zu perfektionieren, wodurch zukunftsorientierte Erwartungen an Kinder zur Gegenwart erklärt werden;
  2. Erwachsene müssen die ersten sechs Lebensjahre von Kindern als einen eigenständigen Entwicklungszeitraum einer Kindheit begreifen, der durch entwicklungspsychologische Besonderheiten gekennzeichnet ist und daraus entsprechend die gesamte Arbeit abgeleitet werden muss;
  3. Kinder brauchen eine Lernumgebung im Innen- und Außenbereich, in der sie handgreiflich, unmittelbar, aktiv, mit allen Sinnen, innerlich beteiligt und engagiert Erfahrungen machen können, die ihnen helfen, das Leben selbstständig, unabhängig und sozial beteiligt zu spüren und selbstaktiv zu gestalten. Gleichzeitig muss dabei dem Spiel ein entsprechend großer Raum zugestanden werden.
  4. Kinder brauchen keine künstlichen, von Erwachsenen arrangierte Welten, die sie bespaßen bzw. belehren und von ihren ureigenen intrinsischen Handlungsinteressen immer weiter wegführen.
  5. Erwachsene müssen Kindern vielfältige, alltagsbedeutsame Herausforderungen zutrauen, die Kinder mit Mut und Engagement, Lebendigkeit und Stolz, Risikobereitschaften und Leistungserlebnissen ausfüllen können. Dazu ist eine risikobereite Einstellung der Fachkräfte ebenso notwendig wie eine Umgebung (innerhalb und außerhalb der Kindertagesstätte), in der viele unsinnige und überflüssige Sicherheitsvorschriften außer Kraft gesetzt werden müssen. (Anmerkung: An dieser Stelle bietet es sich an, dass KindheitspädagogInnen einmal eine Bestandsaufnahme vorhandener Sicherheitsvorschriften machen und sich dafür einsetzen, dass unsinnige Regelungen aufgehoben werden!).
  6. Träger und Gesetzgeber sind in dem Zusammenhang ebenfalls aufgefordert, entsprechende Sicherheitsvorschriften und Richtlinien zu entkernen, um den Kindern und zugleich den elementarpädagogischen Fachkräften wieder die Freiheit zu schenken, die für ein entdeckendes Erfahrungslernen unumgänglich ist.
  7. Erwachsene müssen mit Kindern leben, mit Kindern fühlen, mit ihnen planen, mit ihnen spielen und mit ihnen die Welt entdecken (und nicht am Kind bzw. für das Kind planen, Vorhaben vorstrukturieren, Vorgedachtes anbieten).
  8. Erwachsene müssen sich der Perspektive der Kinder zuwenden und damit aufhören, Kinder in die Perspektive der Erwachsenen zu zerren.
  9. Kinder brauchen weniger eine didaktische Vielfalt an Programmen als vielmehr feste Bezugspersonen, die sich selbst als entscheidenden didaktischen Mittelpunkt begreifen; sie brauchen zuverlässige Bindungserfahrungen und damit engagierte, lebendige, staunende, mitfühlende, wissende, handlungsaktive, mutige, risikobereite, zuverlässige Menschen um sich herum und keine besserwissenden RollenträgerInnen, die immer noch meinen, Belehrungen der Kinder mache Kinder klug.
  10. Erwachsene müssen sich als Bildungsvorbilder verstehen, weil es die Facetten ihrer eige­nen Sprache, ihr Sprechen, ihre vielfältigen lnteressensschwerpunkte, ihre unersättliche Neugierde, ihre vielen Lebens- und Umfeldfragen, ihre unterschiedlichsten Aktivitäten, ihre Gefühlskompetenzen, ihr eigener Forscherdrang, ihre ausgeprägte Lernfreude und ihre hohe Motivation zum Beruf sind, die Kinder fasziniert und die Kinder sich zu ihnen regelrecht hingezogen fühlen.
  11. Bildungsarbeit ergibt sich aus den Lebensthemen der Kinder und dabei ist es die Aufgabe der Fachkräfte, das sich bildende Kind zu begleiten.
  12. Weil Kinder ihr Leben und ihr Umfeld ganzheitlich verstehen, müssen alle Lernerfahrungen für Kinder auch entwicklungsvernetzt möglich sein.

Konsequenzen aus dem Diskussionsbeitrag der Deutschen UNESCO-Kommission

Diese Konsequenzen ergeben sich nicht zuletzt aus dem klar formulierten Diskussionsbeitrag der Deutschen UNESCO-Kommission (2010) zu einer nachhaltigen Bildung im Kindergarten, in dem die wesentlichen Elemente einer zeitgemäßen Elementarpädagogik angemahnt werden (Stichworte: Situations-, Handlungs- und Partizipationsorientierung, Orientierung an Ganzheitlichkeit, Selbstorganisation, Kooperation; Kindergartenpädagogik respektiert den geschützten Raum der Kindheit; Schaffung eines Bezugs zur realen Lebenswelt; Einbettung der Sprachförderung in die Lebenswelt des Kindes; Schutz vor einer Überfrachtung mit den von Erwachsenen verantworteten Problemen nicht-nachhaltiger Entwicklungen).

Kinder leben durch Erlebnisse und lernen aus bedeutsamen Erfahrungen

Kinder leben durch Erlebnisse und lernen aus bedeutsamen Erfahrungen, die „unter die Haut gehen“. Sie lernen nicht durch ein vorgesetztes Kopfkino, das mehr und mehr einem Stopfkopf gleichkommt. Erinnert sei in dem Zusammenhang an Maria Montessori, die die Forderung aufstellte: „Die Aufgabe der Umgebung ist es nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren.“ Damit ist per se eine Aufteilung der Bildungskompetenzen und Bildungsfelder /-fächer – wie in vielen Bildungs- und Orientierungsrichtlinien dargestellt und ausgeführt sowie in vielen Einrichtungen stundenplanmäßig angeboten und abgearbeitet – in keiner Weise zielführend und für eine bindungsorientierte Selbstbildungspraxis ausgeschlossen. Auch wenn in nahezu allen Bildungsprogrammen die Aussage enthalten ist, dass jeder Bildungsbereich nicht als isoliertes Förderfeld genutzt werden darf /sollte, sieht die Praxis der Bildungsvermittlung in vielen Kindertagesstätten so aus, dass wie in einer Schule die Bildungsbereiche getrennt voneinander aufgenommen und in Übungen/Lernangeboten dargereicht werden.

Armin Krenz, Prof. h.c. Dr. h.c., Jg. 1952, hat über 40 Jahre als Wissenschaftsdozent mit den Schwerpunkten ‚Entwicklungspsychologie der ersten 7 Lebensjahre & Qualität in der Elementarpädagogik’ in Deutschland, Moskau und Bukarest gelehrt und (über)regionale Seminare durchgeführt. Er ist Begründer des ‚Situationsorientierten Ansatzes’.

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Diesen Beitrag haben wir aus:

Armin Krenz
Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht
20 PowerPoint Präsentationen als Grundlage für Teambesprechungen, Fortbildungsveranstaltungen und Fachberatungen
344 Seiten mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 978-96304-613-1
29,95 €

Die PowerPointPräsentationen und Seminarunterlagen von Prof. Armin Krenz haben sich in zahlreichen Vorträgen und Weiterbildungen bewährt. Sie vermitteln kurz und prägnant das Wesentliche für die pädagogische Praxis und stützen sich dabei auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse. Mit seinem Buch unterstützt er pädagogische Fachkräfte dabei aktuelles Wissen in die Praxis umzusetzen.




Wir müssen selbst die Musik als ein Erlebnisinstrument entdecken!

Prof. Armin Krenz im Interview zur Bedeutung von Musik und Tanz für Kinder

Im Interview mit dem renommierten Sozialpädagogen und Entwickler des „Situationsorientierten Ansatzes“ Prof. Armin Krenz (Foto) versuchen wir dem Widerspruch auf den Grund zu gehen, warum Musik und Tanz einerseits von so elementar wichtiger Bedeutung von Kindern sind, andererseits aber nur ein Mauerblümchendasein im pädagogischen Alltag vieler Kindertageseinrichtungen und Grundschulen spielen.

Dabei zitiert Krenz neben vielen anderen den Musikwissenschaftler und Bildungsexperten Prof. Hans Günther Bastian mit den Worten: „Es musiziert in jedem Kind, ob es das weiß oder will oder nicht.“ Laut Krenz werden Kinder als „Ohrenmenschen“ geboren mit einer „musikalischen Biographie“. „Sie haben die Stimme der Mutter wahrgenommen, reagieren schon im Mutterleib auf Musik und Melodien, hören den Herzschlag, nehmen Vibrationen der Stimme der Mutter wahr … Somit ist eine Bereitschaft zum Musikempfinden immer vorhanden – und wir können diese Kompetenz aufgreifen oder verkümmern lassen!“

(Das komplette Interview können Sie sich hier anhören)

Interview mit Armin Krenz

Entsprechend groß ist die Bedeutung der Musik für Kinder: „Lernen mit allen Sinnen“, „Rhythmik“, „Wahrnehmungsbereitschaft, Geräuschesensibilisierung und Wahrnehmungsdifferenzierung“, „Inklusionsmethode“, „Bewegungsfreude und Tanz“, „Hinhören, soziales Lernen, Kontaktfähigkeit und Aktivitätswünsche“ seien hier als Stichworte genannt, die Krenz im Interview weiter ausführt.

Lernprozesse durch Musik

Zu den Lernprozessen erläutert er, dass Musik immer beide Gehirnhälften anrege und damit für die Ausformung des Gedächtnisses und alle Bildungsprozesse von größter Bedeutung sei. „Insofern kann man sagen: Musik ist hör- und fühlbare Mathematik, weil sich der Rhythmus immer in einem Takt ausdrückt und für eine systematische Wahrnehmung mit festzustellenden Entwicklungsfortschritten sorgt“, so der Professor. Musik schaffe soziale Gelegenheiten und fördere ein Gemeinschaftsgefühl. Durch Musik könnten Kinder ihren Körper ganz intensiv spüren und so sorge sie dafür, ganz in sich und bei sich selbst zu sein. Mit Musik würden Kinder auch ihre Stimme entdecken, indem sie die Melodie sprachlich unterstützten und Freude dabei empfänden, mit der Musik in einen Dialog einzutreten. Sie rege die Sprache an – den Wunsch, Gefühle und Erlebnisse in Worte zu fassen, zu beschreiben und entstandene Gedanken in Handlungen umzusetzen. Sie helfe einen individuellen Musikgeschmack zu entwickeln, mit dem sich das Kind identifizieren könne. Gerade solche Identifikationen tragen zu einer persönlichen Stabilität bei, die das Selbstwertgefühl eines Kindes stärke Diese Zusammenfassung zeige damit auf, dass es beim Erleben von Musik immer um die Trinität von „Musikerleben-Bewegungsaktivität-Sprachentwicklung“ gehe.


Was Erzieherinnen und Erzieher wissen sollten

Die Rolle der Erzieherinnen und Erzieher ist vielfältig und stets im Wandel begriffen. Weiterbildung zu Themen wie Bindungs- und Bildungsforschung, Neurobiologie und Lern- und Entwicklungspsychologie ist daher ständig notwendig. Damit das Wissen um die neuesten Erkenntnisse im Bereich Elementarpädagogik immer zur Hand ist, hat Dr. Armin Krenz 20 zentrale Präsentationen aus seinen Seminaren und Workshops zusammengestellt.

Armin Krenz
Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht
20 Fact-Sheets für Fortbildungen, Beratungsgespräche, Teamgespräche und zur Prüfungsvorbereitung
344 Seiten mit den Abbildungen von 20 Powerpoint Präsentationen
ISBN: 978-3-96304-613-1
29,95 €


Musik dürfe allerdings nicht zur Geräuschkulisse oder Berieselung verkommen. Sie brauche Stille und Konzentration, um zum Bildungserlebnis zu werden. „Musik muss sich immer – stimmlich, instrumentell, rhythmisch und textbezogen – an den Themen der Kinder, ihren Musikorientierungen und an den spezifischen Bedürfnissen der Kinder orientieren!… Kinder wollen Akteure sein – gespürte Selbstaktivitäten zum Ausdruck bringen und damit ihre Selbstwirksamkeit erleben: Ich bin wichtig, bedeutsam, jemand, der beachtet und gesehen wird, nicht überflüssig, ich bin Ich und ich kann schon Vieles mitbewirken, Einfluss nehmen, mich freuen und Zufriedenheit spüren… Diese zwei grundlegenden Erfahrungen – ich bin und ich kann – bilden die Grundlage für eine Identitätsentwicklung und sind eine Voraussetzung für die Entwicklung von Sicherheit im Sinne einer Persönlichkeitsstabilisierung!“

Gründe für den Bedeutungsverlust

Gründe für den Bedeutungsverlust von Musik in der pädagogischen Praxis sieht Krenz unter anderem darin begründet, dass mittlerweile vielen elementarpädagogische Fachkräfte nicht gerne an „Bewegungsaktivitäten“ teilnehmen, nicht gerne singen oder Schwierigkeiten damit haben, nur noch selten ein Instrument und selbst nur noch ein recht kleines Repertoire an Liedern und Singspielen haben.

Ein Plädoyer für viel mehr Musik

„Wir müssen endlich – unumstößlich – der MUSIK (mit Rhythmus und Tanz) den bildungsrelevanten Bildungswert zugestehen, diesen in die Elementarpädagogik aufnehmen und in die projektorientierte Arbeit integrieren, auch um wissenschaftliche Erkenntnisse umzusetzen.
Wir müssen aufhören, eine Elementarpädagogik zu konzipieren und den Kindern aufzudrücken, die nur noch auf kognitive Frühförderung ausgerichtet ist und funktional, lieblos, lernzielorientiert gestaltet wird.
Wir müssen damit beginnen, Musik, Bewegung, Tanz nicht wie ein Nebenfach in der Schule zu betrachten und immer mehr in den Hintergrund zu schieben.
Wir müssen selbst die Musik als ein Erlebnisinstrument entdecken und wertschätzen, um die „Sprache der Musik“ als ein durch nichts zu ersetzendes Medium zu begreifen!“, lautet das Plädoyer von Armin Krenz. „Nur die Töne sind imstande, die Gedankenrätsel zu lösen, die oft in unserer Seele geweckt werden.“, zitiert er Hans Christian Andersen und schließt mit den Worten: „Und weil wir selbst der Musik, dem Rhythmus des Lebens und dem Tanz in der Pädagogik eine immer geringere Bedeutung beimessen, bleiben uns viele Geheimnisse des Lebens verborgen. Doch sie zu entdecken, hilft dabei, ganz spannende Gedankenrätsel zu lösen. Was kann es Spannenderes geben?!“




„Eingewöhnung“ erfasst auch eine „Ausgewöhnung“!

Ein herausfordernder Übergangsweg für Kinder in ein neues, unbekanntes Lebensumfeld

Notwendige, erzwungene und selbst freiwillig gewählte Übergänge (= Transitionen) von einem bekannten und bisher Sicherheit bietenden Lebensumfeld an einen unbekannten Ort stellen für alle Menschen eine große Herausforderung dar. Dies trifft auf alle Erwachsenen, insbesondere aber für Kinder zu. Und wenn diese besonders jung sind, ergeben sich um so mehr notwendige Überlegungen und dringlich angezeigte Handlungsvorhaben, um aktuelle und nachhaltige seelische Verletzungen (= Vulnerabilitäten) zu vermeiden.

Für viele Eltern(teile) ergibt sich – oftmals schon vor der Geburt ihres Kindes – die Frage, ob bzw. wie sie ihr weiteres (Berufs)Leben mit der neuen Situation, dass sie Eltern werden bzw. geworden sind, verbinden können/ wollen/ müssen. Soll/ wird das Kind eine Krippe besuchen, gibt es die Möglichkeit einer Tagespflegestelle. Ist vielleicht erst mit dem dritten Lebensjahr der Besuch eines Kindergartens angedacht oder ist der Krippen- und folgende Kindergartenbesuch schon fest eingeplant? Auf jeden Fall wird es verantwortungsvollen Eltern(teilen) stets darum gehen, eigene Wünsche/ Erwartungen/ Vorstellungen mit den notwendigen Überlegungen abzuwägen, was auch das Beste für das Kind sein könnte. So stellt sich ihnen bei einer bevorstehenden Entscheidung auch die Frage, wie das Kind die „Eingewöhnung“ erleben wird.

Der Begriff „Eingewöhnung“ ist nicht unproblematisch und zielt in eine falsche Richtung

Bevor es in diesem Beitrag um inhaltliche Ausführungen und Hinweise geht, muss eine wichtige Vorbemerkung vorgenommen werden.

Einerseits hat sich der Begriff „Eingewöhnung“ seit langer Zeit in das pädagogische Vokabular der Elementarpädagogik etabliert. Andererseits ist es immer wieder angebracht, auch etablierte Begriffe, gerade in der Pädagogik, deutlich in Frage zu stellen. Was gibt es nun an kritischen Anmerkungen, was dieses Wort in eine bedenkliche Richtung führt?

  1. „Eingewöhnung“ bedeutet, dass sich eine Person in eine unbekannte, fremde Situation eingewöhnen muss. Und damit zielt das Wort auf das „Objekt Kind“, das keine andere Wahl hat, sich den vielfältigen, neuen Herausforderungen stellen zu müssen. PARTIZIPATION im Sinne einer aktiven Mitsprache und Mitentscheidung ist für ein Kind dabei nicht möglich.
  2. Mit dem Begriff „Eingewöhnung“ wird in erster Linie dem KIND die Verantwortung aufgedrückt, sich in ein bestehendes Struktur-, Prozess- und Beziehungssystem einzufügen, um sich möglichst komplikationslos (und schnell?) an existierende Bedingungen >anzupassen<.
  3. Mit diesem Blick auf den Begriff „Eingewöhnung“ wird dem Kind eine so genannte >Bringschuld< zugewiesen, anstatt in erster Linie den Eltern(teilen) und den pädagogischen Fachkräften ihre primäre Verantwortung für einen gelingenden Übergang zu überbringen.

Um diesen, einen für das Kind entwicklungsförderlichen Übergang und notwendigen Perspektivwechsel zu erreichen, ist es geboten, eine neue Begriffsbestimmung zu nutzen, um damit auch den Bedeutungsgehalt zu wandeln. Zwei Vorschläge wären denkbar: statt „Eingewöhnung“ könnte der Zeitraum des Wechsels vom Elternhaus in einen neu anstehenden, tageszeitbegrenzten Aufenthaltsort als „kindzentrierte Übergangshilfe I“ oder „kindzentrierte Transitionsunterstützung I (für die Aufnahme in eine Krippe) bzw. „kindzentrierte Übergangshilfe II“ oder „kindzentrierte Transitionsunterstützung II“ (für die Aufnahme in einen Kindergarten“ gewählt werden. Da benutzte Begriffe auch bestimmte Gedankengänge in eine bestimmte Richtung führen, ist dies wahrlich kein überflüssiges Wortspiel. Damit stehen die ERWACHSENEN im Vordergrund und gleichzeitig in der Pflicht, für einen entwicklungsförderlichen Übergang zu sorgen. Wodurch dem zuvor erwähnten Perspektivwechsel Rechnung getragen werden würde.

Jeder einschneidende Übergang stellt für das Kind große Herausforderungen dar

Bei einem Übergang ist das Kind mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. So strömen die vollkommen neue Umgebung, die große Kinderzahl, unbekannte Erwachsene, andere Tagesrhythmen und –abläufe, unbekannte Geräusche und Gerüche auf das Kind ein. U n d  es muss in relativer Kürze mit einer mehrstündigen Trennung von seinen Eltern(teilen) zurecht kommen. Damit werden vom Kind relativ schlagartig neue >Lern- und Anpassungsleistungen< verlangt, die bei vielen verunsicherten/ ängstlichen Kindern unweigerlich zu starken Stressempfindungen führen. Jede pädagogische Fachkraft wird das herzzerreißende Weinen von Kindern, die verzweifelte Blicksuche nach den Eltern(teilen) oder schlimmstenfalls das apathische Stillsitzen eines Kindes, bei dem alles am Kind vorbeizugehen scheint, kennen. So gilt es als oberste Priorität, folgende seelische Verletzungserfahrungen konsequent zu vermeiden, damit das Kind keine zu frühen/ unerwarteten Trennungserlebnisse ertragen muss, in denen es Verlassenheitsängsten und Einsamkeitsgefühlen ausgesetzt ist,

  1. keine Beziehungsnöte aushalten muss, die durch empfundene, personausgedrückte Kälte, Unfreundlichkeiten, emotionale oder sprachliche Ablehnungen zum Ausdruck kommen,
  2. nicht mit Bedrohungsängsten konfrontiert wird – verursacht durch eine unangemessene Lautstärke, Reizüberflutungen, Distanzen durch eine ‚harte Mimik’ – ,
  3. keine Auslieferungserlebnisse erfahren muss, indem ein Kind keine Spiel- oder mit fehlender Zuwendung versehene Begleitung erfährt. Und es bei einem Hilfsbedarf mit einer fehlenden Unterstützung konfrontiert ist
  4. sowie in keine Ohnmachtssituationen durch ein respektloses/ geringschätzendes Erwachsenenverhalten oder gar durch Gewalterfahrungen gebracht wird.
  5. Ansonsten folgen unweigerlich vor allem zwei Erscheinungsformen bei Kindern, die durch Beobachtungen aus der Bindungs- und Vulnerabilitätsforschung vielfach belegt wurden. Einerseits kommt es dann bei sehr vielen Kindern zu deutlichen Entwicklungsrückschritten, die sich in vielfältiger Weise zeigen – auch mit nachhaltigen Auswirkungen auf den späteren Schulstart und die weitere Schulentwicklung. Und andererseits zeigen Kinder deutliche Irritationen im Bindungsverhalten an ihre Eltern(teile).

Kurz, präzise und übersichtlich: die Grundlagen der Kindheitspädagogik

Die Rolle der Erzieherinnen und Erzieher ist vielfältig und stets im Wandel begriffen. Weiterbildung zu Themen wie Bindungs- und Bildungsforschung, Neurobiologie und Lern- und Entwicklungspsychologie ist daher ständig notwendig. Damit das Wissen um die neuesten Erkenntnisse im Bereich Elementarpädagogik immer zur Hand ist, hat Dr. Armin Krenz 20 zentrale Präsentationen aus seinen Seminaren und Workshops zusammengestellt. So können Sie sich jederzeit schnell und effektiv einen Überblick verschaffen!

Armin Krenz
Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht
344 Seien
ISBN: 978-3-96304-613-1
29,95 €


Praktische Hinweise und Anforderungen an die elementarpädagogischen Fachkräfte

Aus den zuvor aufgeführten Argumenten ergeben sich deutliche Hinweise und Anforderungen für alle elementarpädagogischen Fachkräfte, die während der >kindzentrierten Übergangshilfe< mit den Kindern in Beziehung stehen und ihnen dabei entwicklungsstützend helfen wollen, ihren schwierigen Übergang aus der Familie (= ‚Ausgewöhnung’) in die Institution Krippe oder Kindergarten (= bisher in der Elementarpädagogik als ‚Eingewöhnung’ bezeichnet) möglichst schadlos zu meistern.

Die wichtigsten Eckwerte seien nun benannt:

  1. Kinder suchen in der Regel bei erlebten Unsicherheiten nach ihrer bevorzugten Bindungsperson. Diese sollten so lange zur Verfügung stehen, bis Kinder ihre innere Stabilität gefunden haben und sie  i h r e  Erzieher:in als zusätzliche Beziehungsperson gerne und zugleich zuversichtlich annehmen können.
  2. Die pädagogischen Fachkräfte dürfen dem Kind nicht zu schnell zu nahekommen, indem sie beispielsweise ein weinendes/ schreiendes Kind sofort auf ihren Schoß oder auf ihre Arme nehmen und – wenn auch mit liebevollen Versuchen – auf das Kind beruhigend einreden! Besser ist es, sich neben das Kind zu hocken und einfühlsam mit dem Kind versuchen zu sprechen. Bindungswünsche gehen immer vom Kind aus und können nicht durch eine distanzlose Körpernähe erzwungen/ hergestellt werden. Oftmals trägt ein solches Verhalten noch mehr zu einer Steigerung der Abwehr bei.
  3. Die Sprache der pädagogischen Fachkräfte sollte leise, ruhig, möglichst entspannt gestaltet und das Sprechtempo langsam sein. Dabei eignen sich kurze Sätze mit entsprechenden Sprachpausen.
  4. Es versteht sich von selbst, dass die ‚neuen’ Bezugspersonen dem Kind Zuverlässigkeit und Dauerhaftigkeit vermitteln. Ständig neue Gesichter, Stimmen und unterschiedliche Verhaltensspezifika irritieren ‚Übergangskinder’ und machen einen festen Beziehungsaufbau kaum bzw. gar nicht möglich.
  5. Eltern(teile), die das Kind in seiner Übergangszeit begleiten, sollten sich in der Zeit des Übergangs möglichst aus der Interaktionsgeschehen/ dem Erkunden des Kindes heraushalten, um dem Kind vielfältige Chancen zu geben, die neue Umgebung neugierig und mit einem eigenen Zeitempfinden zu erkunden.
  6. Zu Beginn des Übergangs haben die Eltern(teile) zunächst mehrere Tage dabei zu sein. Der genaue Zeitraum richtet sich nach der Zufriedenheit/ der selbstständigen Erkundung/ dem Wohlgefühl des Kindes. In dieser Zeit des Ankommens und Kennenlernens sollten von Seiten der Eltern(teile) keine Trennungsversuche unternommen werden. Viele Eltern(teile) erwarten eine zu schnelle Loslösung des Kindes. Beobachtungen zeigen: zu frühe/ schnelle Trennungen erhöhen den Unsicherheitsfaktor des Kindes und verlängern häufig die Übergangszeiten signifikant um ein Vielfaches!   
  7. Die Fachkräfte sollten dem Kind ebenfalls Zeit lassen, eigene Beobachtungen zu machen und Vorhaben auszuprobieren. Nichts ist schlimmer als dass Fachkräfte dem Kind immer wieder irgendwelche Dinge zeigen oder versuchen, sie für Handlungsaktivitäten zu motivieren.
  8. Während der Anwesenheit der Eltern(teile) ist es sehr hilfreich, wenn sich die Fachkräfte auch viel und intensiv mit den Eltern(teilen) entspannt und wertschätzend unterhalten, so dass dadurch dem Kind vermittelt wird: „Mama bzw. Papa fühlen sich hier wohl. Hier geht es ihnen gut. Dann kann es mir hier auch gut gehen.“
  9. Es ist immer von Vorteil, wenn 2 Fachkräfte für das ‚Übergangskind’ Ansprechpartner:innen/ Bezugspersonen sind. Weil es auch in der Zeit des Übergangs durchaus möglich ist, dass eine Fachkraft durch Krankheit/ Fortbildung/ Urlaub/ Vertretungen als Bezugsperson nicht zur Verfügung steht. Damit wäre das Kind gezwungen, erneut einen Beziehungsabbruch in Kauf zu nehmen. Und wäre darüber hinaus erneut mit einem „fremden Gesicht“ konfrontiert.
  10. Die Fachkräfte sollten nach Möglichkeit die Handlungsimpulse des Kindes wohlwollend kommentieren, aufgreifen und sich auf diese Weise langsam dem Interesse des Kindes zuwenden.
  11. Wie in den gängigen „Eingewöhnungsprogrammen“ sind die Übergangskinder einzeln oder zu zweit über eine Zeitspanne von einer oder zwei Wochen aufzunehmen, bevor sich die Fachkräfte weiteren Übergangskindern zuwenden.
  12. Je kleiner die feste Gruppe, in die die Kinder aufgenommen werden, ist, umso mehr kann das Kind Sicherheiten aufbauen und sich mit entspannter Freude auf den aktuellen/ neuen Tag einlassen.
  13. Jede Übergangszeit ist ein individuumsbezogener Versuch, dem betreffenden Kind die Übergangszeit so angenehm wie möglich zu machen. Aus diesem Grund sind starre, so genannte standardisierte Vorgehensweisen abzulehnen und müssen vielmehr auf das individuelle Kind abgestimmt werden. Wie heißt es doch immer wieder: „Wir holen das Kind da ab, wo es steht“. Und nicht: „Wir ziehen ein Kind dorthin, wo wir bzw. Eltern es haben wollen.“
  14. Die neue Situation und das neue Aufenthaltsfeld müssen für das Kind überschaubar und einschätzbar, bekannt und annehmbar sein. Das hilft seinem Orientierungswunsch, Sicherheit zu erlangen und die Überschaubarkeit des Raumes/ der Kindergruppe selbst schließt eine Reizüberflutung eher aus. Reizüberflutungen führen zu Irritationen und neuen Belastungen.
  15. Manches Mal ist es für das ‚Übergangskind’ hilfreich, wenn ihm ein älteres ‚Patenkind’ zur Seite gestellt wird, das – selbstverständlich freiwillig und gerne – in gewisser Weise die Aufgabe eines/einer Begleiter:in übernimmt.           

Diese o.g. Anforderungen müssen für Übergangskinder stimmen, um ihren neuen, zeitlich begrenzten aber zugleich auch neuen Aufenthaltsort mit Freude und intrinsisch motiviertem Interesse als gegenwärtigen sowie zukünftigen ‚Entwicklungsort’ gerne anzunehmen.                                 

Resümee:

Es geht bei der Frage nach einer optimalen Übergangsgestaltung für das Kind in erster Linie nicht um die Frage, ob das Kind schon „reif“ für die Krippe bzw. den Kindergarten ist sondern vielmehr darum, ob die Krippe/ der Kindergarten, die Struktur-/ Rahmenbedingungen sowie die Persönlichkeiten der Fachkräfte „reif“ (= entwicklungsförderlich) für das Kind sind! Auch hier ist also – ganz im Interesse des Kindes und den dafür notwendigen Ausgangsbedingungen – ein deutlicher Perspektivwechsel zur gängigen elementarpädagogischen Praxis vorzunehmen. 

Prof. h.c. Dr. h.c. Armin Krenz, Hon.-Prof. a.D.

Prof. h.c. Dr. h.c. Armin Krenz, Hon.-Prof. a.D., Wissenschaftsdozent, F.R. Entwicklungspsychologie/ -pädagogik mit Zulassung zur heilkundlich, psychologisch therapeutischer Tätigkeit und internationalen Lehraufträgen

Literatur

  • Burat-Hiemer, Edith: Ein gelungener Start in die Kita. Cornelsen Verlag, 2011
  • Dreyer, Rahel. Eingewöhnung und Beziehungsaufbau in Krippe und Kita. Verlag Herder, 2017
  • Griebel, Wilfried + Niesel, Renate, Übergänge verstehen und begleiten. Cornelsen Verlag, 2011
  • Hédervári-Heller, Éva (Hrsg.), Eingewöhnung und Bindung. Verlag Brandes & Apsel, 2019   
  • Krenz, Armin, Kinder brauchen Seelenproviant. Kösel Verlag, 6. Auf. 2019

Buchtipp für Tageseltern:

tagesmutter

Meine ersten Wochen bei der Tagesmutter
Mazzaglia, Marion Klara

Oberstebrink
ISBN: 9783963040214
16 Seiten, 10,00 €

Dieses Buch hilft Kindern und Eltern bei der Eingewöhnung bei der Tagesmutter. Durch die klare und detaillierte Darstellung ist es der ideale Begleiter für die erste Zeit in der neuen Umgebung.




Verhaltensweisen sind Spiegelbilder der Seele!

Zweck und Bedeutungswert von Verhaltensirritationen

Wie aus heiterem Himmel fangen Kinder häufig an zu schreien, ohne dass es aus Sicht der Erwachsenen dafür einen triftigen Grund gibt, ein solches Verhalten an den Tag zu legen. Oder sie weigern sich vehement, bei Gemeinschaftsaufgaben mitzuhelfen. Sie lassen sich ungewöhnlich lange Zeit, um bestimmte Vorhaben zügig durchzuführen, schubsen andere Kinder, ohne dass diese sie absichtlich provoziert hätten, schweigen beharrlich bei Fragen, die an sie gerichtet werden oder reden ohne Pause und Rücksicht auf andere ein, haben entweder tagsüber kaum Appetit oder können auf der anderen Seiten pausenlos essen. Sie eignen sich heimlich Besitztümer von anderen Kindern an, die ihnen nicht gehören oder nässen regelmäßig ein, obgleich eine medizinische Untersuchung keinen organischen Befund festgestellt hat. Eine weitere Aufzählung von Verhaltensirritationen könnte an dieser Stelle endlos angeführt werden.

Vieles, was Kinder tun, bleibt für Erwachsene ein Rätsel

So zeigen Kinder immer wieder Ausdrucksformen, die den elementarpädagogischen Fachkräften und auch den Eltern ein Rätsel sind. Es kommen Fragen auf, warum ein Kind sich in dieser Form verhält, warum es ihm offensichtlich nicht gelingt, ein „angemessenes Verhalten“ zu zeigen und wie „man“ dieses Verhalten „beim Kind“ verändern könnte. „Vernünftige Gespräche“ mit dem Kind bleiben oftmals erfolglos und enden damit, dass Widerstände aufseiten des Kindes noch größer werden bzw. nachhaltige Veränderungen nicht feststellbar sind.

Eindrücke und Gefühle prägen das Verhalten eines Kindes

Das gesamte Leben eines Menschen ist geprägt durch besonders bedeutsame Alltagserfahrungen, Erlebnisse, Eindrücke und Geschehnisse, die ihre entsprechenden Spuren und Auswirkungen auf die Persönlichkeitsbildung und die jeweils individuellen Verhaltensweisen des Kindes hinterlassen. Menschliches Verhalten ist damit nie ein „Zufallsprodukt“ oder „konstant genetisch festgelegt“. Vielmehr sind es immer wieder bedeutsame Ereignisse, die sich als Erlebnisbilder im Gehirn des Menschen abspeichern und in der Folge in entsprechenden Ausdrucksformen zeigen, wenn aktuelle Situationen diese in der Vergangenheit gespeicherten Bilder wieder hervorrufen. Zudem sind mit den Erlebnissen immer auch bestimmte Gefühle (Trauer, Angst, Ärger/Wut, Freude) verbunden, die sich in einer Bild-Emotionsvernetzung wie eine Straße im Gehirn anlegen und in ähnlichen, vergleichbaren Erlebnissituationen einen Aktualisierungswert provozieren. Die Gegenwart entpuppt sich als ein Wiederholungserlebnis aus der Vergangenheit.

Gefühle und Gefühlsausdrucksformen sind ein fest zu uns gehörender und lebensnotwendiger Teil der menschlichen Existenz! Sie zeigen anderen Menschen, wer und wie wir sind, wie es uns geht, was wir von uns selbst und anderen Menschen halten und wie wir zu uns und ihnen in welchem emotional-sozialen Bezug stehen.


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Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht

Kurz, präzise und übersichtlich: die Grundlagen der Kindheitspädagogik Die Rolle der Erzieherinnen und Erzieher ist vielfältig und stets im Wandel begriffen. Weiterbildung zu Themen wie Bindungs- und Bildungsforschung, Neurobiologie und Lern- und Entwicklungspsychologie ist daher ständig notwendig. Damit das Wissen um die neuesten Erkenntnisse im Bereich Elementarpädagogik immer zur Hand ist, hat Dr. Armin Krenz 20 zentrale Präsentationen aus seinen Seminaren und Workshops zusammengestellt. So können Sie sich jederzeit schnell und effektiv einen Überblick verschaffen!

Kita-Basiswissen für Erzieherinnen und Erzieher. 20 Fact-Sheets für Fortbildungen, Beratungsgespräche und zur Prüfungsvorbereitung
Softcover, 344 Seiten
ISBN: 9783963046131
29,95 Euro


Das Leben hält entwicklungsförderliche und -hinderliche Einrücke bereit

Es können besonders angenehme Eindrücke sein, die dem Kind immer wieder das Gefühl vermittelt haben, sich als ein gerngesehener Gast in dieser Welt zu fühlen. Solche Eindrücke wirken sich besonders entwicklungsförderlich auf das weitere seelische Wachstum von Kindern aus. Gleichzeitig sind diese förderlichen Eindrücke die Grundlage für den Aufbau von Lebensfreude und Zufriedenheit, Entspannung und Belastbarkeit, Empathie, Sozialverhalten und Lernbereitschaft.

Natürlich können es aber auch unangenehme Erlebnisse gewesen sein, die sich entwicklungshinderlich auf ein Kind ausgewirkt haben. Solche negativen Erfahrungen und Geschehnisse offenbaren sich dann beispielsweise in Entwicklungsverzögerungen, Entwicklungsrückschritten oder in den kindlichen Irritationen (=Verhaltensauffälligkeiten) – von Angstempfindungen, Zurückhaltung, gesteigerter Aggressivität/Gewalt bis hin zu zwanghaften Verhaltensweisen oder psychosomatischen Ausdrucksformen.

Nun kommt es im Leben der Kinder darauf an, ob sie eine überwiegend entwicklungshinderliche Pädagogik oder eine überwiegend entwicklungsförderliche Entwicklungsbegleitung in ihrem Alltag erfahren haben. Typische Beispiele für entwicklungshinderliche Einflüsse entstehen häufig aus folgenden Erlebnissen/Erfahrungen und tragen schnell zur Entstehung von Verhaltensirritationen bei:

  • Trennungserlebnisse – zum Beispiel wenn Kinder sich häufig einsam oder alleine/ im Stich gelassen fühlen und zudem viele ihrer seelischen Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden. Das geschieht beispielsweise, wenn Kinder zu früh „vernünfteln“ müssen, sie regelmäßig in ihrem Erfahrungs-, Spiel- und Bewegungsbedürfnis eingeengt werden oder sie das Gefühl haben, nicht mehr KIND sein zu dürfen;
  • Beziehungsnöte – etwa, wenn Erwachsene Kinder mit einer belastenden Schuld belegen oder Kinder nur dann Beachtung und Liebe finden, wenn sie sich so verhalten wie es die Erwachsenen erwarten oder möglichst früh „perfekt“ sind. Hier wächst ein Kind in einer „Liebe unter Bedingungen“ auf. Ähnliches erlebt ein Kind, wenn es Hilfe/ Unterstützung braucht und diese nicht erhält, weil Erwachsene anderen (egozentrischen) Lebensschwerpunkten einen Bedeutungswert beimessen und sich Kinder als überflüssig/beiseitegeschoben fühlen.
  • Bedrohungsängste – zum Beispiel wenn Kinder sich in Beziehungen ausgeschlossen oder ausgegrenzt fühlen bzw. Gewalt in ihren unterschiedlichsten Formen erfahren müssen; wenn Kinder unter großer Angst stehen, für klein(st)e Missgeschicke oder Verfehlungen bestraft zu werden; wenn Kinder spüren, dass Erwachsene unterdrückte oder offene Aggressionen gegen sie hegen oder keine Sicherheit bietende, warmherzige Kommunikation in der Beziehung zu ihnen besteht;
  • Auslieferungserlebnisse – zum Beispiel wenn Kinder sich in bestimmten Situationen völlig wehrlos erleben, unter einer fehlenden Solidarität aufwachsen/ leiden müssen; wenn Kinder mit Tatsachen/ Anforderungen konfrontiert werden, auf die sie keinen Einfluss haben dürfen; wenn Kinder in Auseinandersetzungen, die Erwachsene untereinander haben, einbezogen werden oder in denen sie sich  hin- und hergerissen fühlen müssen;
  • Ohnmachtserlebnisse – zum Beispiel wenn Kinder immer wieder ihre Wirkungslosigkeit erfahren, trotz ihrer Vorschläge oder Beteiligungswünsche; Situationen, in denen sie beherrscht, gegängelt werden oder schutzlos ausgesetzt sind.  

Eindrücke suchen ständig Ausdrucksmöglichkeiten

Betrachtet man einmal die unterschiedlichen Ausdrucksformen, die Kindern zur Verfügung stehen, so sind es stets sechs Ausdrucksmöglichkeiten, durch die Kinder ihr Seelenleben preisgeben: 1.) in ihren Spielformen und in ihrem vorzugsweise gewählten Spielverhalten; 2.) in ihrer Sprache, ihrem Sprechverhalten und ihren Erzählthemen; 3.) in ihren besonderen, alltäglichen Verhaltensweisen; 4.) in ihrem Malen und Zeichnen; 5.) in ihren Bewegungsaktivitäten und in ihrer Körpersprache; 6.) in ihren Tag- und Nachtträumen. 

Dabei besitzen diese jeweils zwei Funktionen. Die erste Funktion liegt im „Aus-druck“ von Gefühlen (ursprüngliche Bedeutung: aus dem Druck kommen). Das heißt, dass unterschiedliche Lebensereignisse Kinder immerzu in Anspannung, Aufregung oder Unruhe versetzen. Diese können angenehmer (=spannungsentlastender) oder auch unangenehmer (belastender) Art sein. Auf jeden Fall erzeugen bedeutsame, prägende „Ein-Drücke“ stets eine Drucksituation auf Kinder:

  • wenn beispielsweise ein Vorhaben, eine Absicht nicht geklappt hat bzw. umgesetzt werden konnte, wird aus einer Vorfreue Ärger oder Traurigkeit;
  • wenn Erwachsene ihre Zusagen nicht eingehalten haben, entsteht aus hoffnungsvoller Freude ebenfalls Traurigkeit oder Wut;
  • wenn sich in Kindern Langeweile breit macht und sie keine Idee haben, was sie aktiv unternehmen könnten, bündelt sich häufig recht schnell Ärger über die eigene Initiativlosigkeit oder Antriebsschwäche;
  • wenn im Kindergarten eine richtig spannende Aktion läuft, die Kinderherzen höher schlagen lässt, dann fällt es Kindern schwer, sich zum Tagesende aus ihrer Gruppe zu verabschieden, um erst am nächsten Morgen weitermachen zu können;
  • wenn Kinder ihrer Erzieherin/ ihrem Erzieher etwas Bedeutsames erzählen wollen, diese(r) im Augenblick aber keine Zeit hat, in Ruhe zuzuhören, dann wird schnell aus der Vorfreude und der jetzigen Enttäuschung heftige Wut;

Diese und alle Ausdrucksweisen der Kinder haben zugleich einen „Appell- und Erzählwert“, der sich an ihre Umgebung richtet, getreu dem Motto: „Schaut her, wie es mir geht.“ So tanzt ein Kind vor Freude, zieht sich bei Enttäuschungen zurück, weint heftig bei Misserfolgen oder Versagenserlebnissen, kaut an Nägeln bei starken inneren Spannungen, setzt sich bei einem geringen Selbstwertgefühl immer wieder in den Mittelpunkt oder hält sich aus allen Situationen, in denen es den Eindruck hat versagen zu können, zurück, zeigt bei Unter- oder Überforderungssituationen Clownerien, berichtet von Angstträumen, wenn es erlebte Situationen nicht verarbeiten konnte, schlägt auf andere Kinder ein, wenn es selbst voller Spannungen steckt (getreu dem Motto: „geteiltes Leid ist halbes Leid“), klagt über Magenschmerzen, weil es sich von bestimmten Ereignissen überfordert fühlt, möchte immer wieder der Bestimmer in Spielsituationen sein, weil es sich ansonsten in Ohnmachtssituationen befindet, erzählt wie ein Wasserfall, weil es in seiner Vergangenheit des Öfteren erlebt hat überhört worden zu sein oder macht anderen Kindern alles nach, weil es selbst keine eigene Identität besitzt.

Verhaltensirritationen entstehen überwiegend aus Beziehungsstörungen und unbefriedigten Grundbedürfnissen

Bei einer näheren Betrachtung nahezu aller Verhaltensirritationen von Kindern stoßen wir immer wieder auf zwei Phänomene: einerseits muss davon ausgegangen werden, dass sich auffällige Verhaltensweisen stets aus gestörten Beziehungen heraus entwickeln, andererseits sozial-emotional geprägte, seelische Grundbedürfnisse beim Kind ungesättigt geblieben sind, verbunden mit der Folge, dass es Kindern weder in der Gegenwart noch für die Zukunft gelingen könnte, lebensbedeutsame Fähigkeiten auf- und auszubauen.

Das Drama besteht nun über die aktuell erlebte Situation hinaus darin, dass auch in zukünftigen Situationen die unbefriedigten Grundbedürfnisse des Kindes immer wieder aktualisiert werden würden (verbunden mit der Angst, zu kurz zu kommen, keinen Einfluss zu haben, wieder einmal zu versagen …), so dass ein Kind in dem aktuellen Ereignis (unterbewusst) an seine vergangenen Erfahrungen erinnert wird und diese immer wieder neu „erlebt“, mit all’ den aufgestauten Gefühlen vergangener Situationserlebnisse. So etwas kennen viele Fachkräfte sicherlich, wenn aus einem anscheinend nichtigen, völlig geringfügigem Anlass Kinder plötzlich – auf den ersten Blick – unangemessen reagieren. Vergleichbar wäre dies mit einem Vulkan, in dem sich in der (un)mittelbaren Vergangenheit jede Menge Magma unter der Bergkuppe angestaut hat und nun völlig überraschend zum Ausbruch kommt.

Das Maß, wie stark oder schwach die seelischen Grundbedürfnisse des jeweiligen Menschen in seiner frühen Kindheit befriedigt (gesättigt) wurden, lässt schon im Kind so genannte Grundsätze des Lebens / Lebensphilosophien / Haltungen/ grundsätzliche Sichtweisen entstehen. Diese werden in der analytischen Psychologie als „Lebenspläne“ bezeichnet. Sie sind der jeweils „rote Faden“ im Leben eines Menschen und bilden die Grundlage für seine Gefühls-, Denk- und Handlungsstrukturen. Der Lebensplan entwickelt sich aus der jeweils ganz persönlichen Bewertung aller zurückliegenden, bedeutungsvollen Lebenserfahrungen und sucht stets nach seiner Erfüllung. Somit bedingt der in dem Menschen liegende Lebensplan sein individuelles Verhaltensmuster. Beispiele:

Einsamkeit führt zur Suche nach Geborgenheitserlebnissen (Kinder „kleben“ regelrecht am Erwachsenen), Spannung führt zur Suche nach Entspannungsmöglichkeiten (Kinder sind ständig „auf Achse“, immer in Bewegung, können nicht ruhig sitzen oder sich konzentrieren), Nichtbeachtung führt zum vehementen Wünsch, Beachtung zu finden (so wollen bestimmte Kinder immer im Mittelpunkt stehen), Überforderungen führen zur Suche nach Ruhesituationen (Kinder ziehen sich zurück, wollen lieber alleine als mit anderen spielen oder zeigen wenig Interesse an Gruppenaktivitäten, wollen den Gruppenraum oder die Einrichtung verlassen), Minderwertigkeitsgefühle führen zur Suche nach Stolz und Anerkennungswünschen (Kinder wollen immer wieder gelobt werden), Langeweile führt zur Suche nach Herausforderungen (Kinder begeben sich auf Grenzüberschreitungen)…

Annahme, verstehen, Selbstveränderung: der Königsweg für Veränderungen

Um Kinder zu verstehen, bedarf es daher einerseits einer Annahme des Kindes, indem wir ihm ein Beziehungsangebot machen, damit es sich vom Erwachsenen nicht erneut isoliert, ausgegrenzt, bevormundet, gedemütigt, verlassen, ins Abseits gedrängt fühlt, andererseits geht es um eine fachlich verstehende, deutende Entschlüsselung der gezeigten Ausdrucksweise, um „das Kind da abzuholen, wo es steht“ … und nicht dort hinzuziehen, wo wir es gerne haben würden. Und schließlich ist es notwendig, dass Erwachsene einen radikalen Perspektivwechsel vorzunehmen haben: es geht nicht darum, das Kind zu verändern, sondern vielmehr hat der Erwachsene dafür zu sorgen, dass Kinder sich verändern können. Erwachsene müssen dem einzelnen Kind dabei helfen, das Können zu können, weil Verhaltensirritationen eine wichtige, wegweisende Funktion haben: sie offenbaren sich als Spiegelbild einer entwicklungshinderlichen Umgebung, die dem Kind keine andere Möglichkeit lässt, als verhaltensirritiert zu reagieren. Verhaltensirritationen sind also stets situationsangemessene Reaktionen des Kindes, auch wenn sie in der Situation selbst untaugliche Problemlösungsversuche darstellen.

Literaturliste: Ausdrucksformen und Erzählwerte sehen und verstehen

Doherty-Sneddon, Gwyneth: Was will das Kind mir sagen? Die Körpersprache des Kindes verstehen lernen. Verlag Hans Huber, Bern 2005
Finger, Gertraud & Simon-Wundt, Traudel: Was auffällige Kinder uns sagen wollen. Verhaltensstörungen neu deuten. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 6. Druckauflage 2019
Jung, Carl Gustav: Der Mensch und seine Symbole. WalterVerlag, Olten (Schweiz), 15. Aufl. 1999
Krenz, Armin: Was Kinderzeichnungen erzählen. Kinder in ihrer Bildsprache verstehen. Verlag modernes lernen, Dortmund, 4. Aufl. 2018
Krenz, Armin: Kinderseelen verstehen. Verhaltensauffälligkeiten und ihre Hintergründe. Kösel-Verlag, München, 6. Aufl. 2019
Martell, Jaques: Mein Körper –Barometer der Seele. VAK Verlag, Kirchzarten, 13. Aufl. 2016
Morschitzky, Hans + Sator, Sigrid: Wenn die Seele durch den Körper spricht. Psychosomatische Störungen verstehen und heilen. Patmos Verlag, Düsseldorf, 10. Auf. 2015
Renz-Polster, Herbert: Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt. KöselVerlag, 9. Aufl. 2015
Römer, Felicitas: Meine liebe Nervensäge: Warum störende Kinder nicht gestört sind und wie wir ihnen helfen können. Beltz Verlag, Weinheim 2012
Schmid König, Nelia: Damit den Kindern kein Flügel bricht. Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern. Kösel-Verlag, München 5. Aufl. 2012

Prof. h.c. Dr. h.c. Armin Krenz, Honorarprofessor i.R.,
Wissenschaftsdozent für Elementarpädagogik und Entwicklungspsychologie




Auf Kinder hören – mit Kindern sprechen

Sprache ist der Motor für jede Selbstexploration und Selbstbildung

Die PowerPoint Präsentationen und Seminarunterlagen von Armin Krenz haben sich in zahllosen Vorträgen und Weiterbildungen bewährt. Sie vermitteln kurz und prägnant das Wesentliche für die pädagogische Praxis und stützen sich dabei auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse. Eben hat er mit „Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht“ ein neues Buch vorgelegt, in dem er jedes Kapitel mit einem Fachrartikel einleitet. Im Anschluss daran findet sich ein Abdruck der jeweiligen Powerpoint. Jedes Kapitel schließ mit einer ausfürhlichen Literaturliste.

Das Buch unterstützt pädagogische Fachkräfte dabei, in Bereichen wie Raumgestaltung, Kindheitspädagogik oder in der Beziehung zum Kind aktuelles Wissen in die Praxis umzusetzen. Ob in der Ausbildung, als Vorbereitung auf Gespräche im Kita-Team oder zur Auffrischung des eigenen Fachwissens.

Mit Erlaubnis des Autors publizieren wir hier ein vollstädiges Kapitel aus seinem neuen Buch „Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht“. Im Anhang finden Sie eine PowerPoint Präsentation von Prof. Krenz, die wir hier einen Monat lang für Sie zur Verfügung stellen.

Was Sprache bedeutet

Sprache ist Erlebnis – durch sie kann der Mensch sich selbst in Erstaunen versetzen.
Sprache ist wie ein Wunder – sie kann dazu beitragen, in völlig neue Gedankenwelten einzutauchen und gedankliche Tiefen zu erleben, die bis dahin völlig unentdeckt geblieben sind.
Sprache ist Genuss – durch sie versetzt sich der Mensch immer wieder selbst in die Lage, den eigenen Worten gerne zu lauschen.
Sprache fasziniert – durch sie ergeben sich Erkenntnisse, die bisherige (entwicklungshinderliche) Überlegungen auflösen können und innovative Gedanken provozieren.
Sprache verbindet – und lässt im ersten Augenblick unüberbrückbar erscheinende Grenzen zusammenbrechen, wodurch der Mensch ins unerwartete Erstaunen gerät.
Sprache erfreut – und bringt in Selbstgesprächen Sonne in das eigene Herz, um beispielsweise Trauer zu verstehen oder den Sinn bzw. die Bedeutung plötzlicher Irritationen zu begreifen.
Sprache beglückt – und eröffnet in einem konstruktiven Selbstgespräch gedankliche Perspektiven, die bis dahin kaum zugelassen werden konnten.
Sprache berührt – und lässt den Menschen in nachsinnende Gedankenwelten kommen, so dass neue Gedankenverbindungen geknüpft werden können und neue Gefühlswelten entdeckt werden.
Sprache ist wie die Feder eines Vogels – leicht, beschwingt und wundervoll zu betrachten, um sich selbst aus festgefahrenen Gedankenstrukturen zu befreien.
Sprache ist wie ein heller Sonnenstrahl – wegweisend für das eigene Leben, zielgebend und richtungsorientierend.

Gleichzeitig kann Sprache aber auch wie ein Schwert sein: scharf wie eine frisch geschliffene Klinge, zerstörend und vernichtend. Sie kann sich wie ein Feuer in das eigene Herz oder in die Herzen anderer Menschen brennen und eine nachhaltig destruktive Wirkung haben.

Sprache kann auch ermüden, abschrecken, Ängste provozieren und krank machen.

Sprache kann damit Selbstbildungswelten im Menschen öffnen oder verschließen und wirkt (unbemerkt) permanent entwicklungsförderlich oder entwicklungshinderlich.

Das größte Problem in der Kommunikation ist, dass wir nicht zuhören, um zu verstehen. Wir hören zu, um zu antworten.

Thomas Schäring


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Armin Krenz
Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht
20 PowerPoint Präsentationen als Grundlage für Teambesprechungen, Fortbildungsveranstaltungen, Fachberatungen
Softcover, 336 Seiten, durchgehend vierfarbig
ISBN: 978-3-96304-613-1
29,95 €


Was Kinder dringender denn je brauchen, ist ein sprachaktives, sprechmotivierendes Lebens- und Lernumfeld:

  • Sie brauchen ungeteilte Zeiten, in denen sie mit Ausdauer und nach eigenen Zeitempfindungen Dinge in Ruhe zu Ende führen können, um Sprachgedanken zu entwickeln, zu verfolgen und auch abschließen zu können.
  • Sie brauchen vor allem Erwachsene, die ihre Ausdrucksformen wirklich verstehen, die Symbole ihres Handelns und Erzählens begreifen und sprachlich „übersetzen“.
  • Sie brauchen den Kindergarten als einen Ort, an dem sie ein aktives Mitspracherecht haben: von der Gestaltung des Tagesablaufes bis hin zur Kinderkonferenz.
  • Sie brauchen offene Ohren, die hören, was Kinder zurzeit beschäftigt und dabei immer wieder mit ihnen in einen lebendigen Kommunikationsaustausch über die kinderbedeutsamen Themen einsteigen.
  • Sie brauchen vielfältige Möglichkeiten, das wirkliche Leben – und keine künstlich gestaltete und strukturierte Welt – kennen zu lernen und dabei philosophische Betrachtungen über ihre Beobachtungen vornehmen zu können.
  • Sie brauchen eine Umgebung, in der sie sich in ihrer Individualität entwickeln können und den Fragen –sprachlich ausgedrückt – nachgehen, „Wer bin ich, was macht mich einmalig in dieser Welt, was kann ich gut und was gibt es alles zu lernen?“, bevor eine so genannte Sozialentwicklung auf sie einströmt.
  • Sie brauchen Menschen, die ihnen einen Raum zugestehen, in dem sie mit Versuch und Irrtum das Weltgeschehen um sie herum begreifen und sprachlich in Worte fassen können.
  • Sie brauchen Erwachsene (und ein entsprechendes Umfeld), die der Prozesshaftigkeit in einem Gespräch eine hohe Beachtung schenken und ihnen  als Bündnispartner zur Umsetzung ihrer ureigenen Interessen zur Seite stehen, die immer wieder sprachlich aufgenommen und weiterverfolgt werden können.
  • Sie brauchen und suchen einen Ort, an dem ihr magisches Denken ausreichend Platz findet, erlebt und sprachlich vielschichtig ausgedrückt zu werden.
  • Sie brauchen und suchen in Erwachsenen Mitspieler/innen und keine Dirigenten, die wirklich auf der Ebene von Kindern – im wahrsten Sinne des Wortes – sind und sie brauchen Erwachsene, die mit ihnen sprechen anstatt auf sie einzureden, an ihnen vorbei reden oder über sie zu sprechen.
  • Sie brauchen Menschen, die ihre Stärken sehen und nicht gegen ihre vermeintlichen Schwächen kämpfen, die ihre Stärken und Handlungstätigkeiten sprachlich begleiten (und nicht loben!).
  • Sie suchen Erwachsene, die statt eines Pessimismusses einen hohen Optimismus ausstrahlen und ihr Lebensglück durch eine reichhaltige und motivierende Sprache zum Ausdruck bringen.

Gebe es keine Kommunikation, wären die Menschen aufgeschmissen. Aber aufgrund von Smartphones merken sie nicht einmal, dass sie aufgeschmissen sind.

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Dort, wo der Kindergarten zu einem alltagstauglichen, >bildungsorientierten und lernprovozierendem Lebensraum< geworden ist und die gesamte Kommunikation respektvoll und wertschätzend gestaltet ist, fühlen sich Kinder angenommen und verstanden. Dies schafft die notwendige Sicherheit für Kinder, sich in Sicherheit zu wissen, wodurch es ihnen leichter fällt, eigene Erlebnisse, Erfahrungen und Eindrücke zu äußern, über ihr Gefühlserleben zu sprechen, sich auf neue Erfahrungen einzulassen, auch alte (Sprach)Muster zu verändern und mit neuen Verhaltensweisen zu experimentieren.

Wenn Kinder diesen »lernprovozierenden Bullerbü – Effekt« nicht mehr im Kindergarten erleben können, dann müssen sie auch hier resignieren, verlieren ihre Freude am Sprechen, experimentieren nicht mehr mit ihrer Sprache oder fallen in frühere Sprachformen zurück und entwickeln bzw. verfestigen zusätzlich auffällige Verhaltensweisen, die sich folgenotwendig weiter in die Schulzeit verlagern bzw. Kinder ihre Erfahrungen »auf der Straße« suchen. Das ist – auf die Gegenwart bezogen – dramatisch und wäre im Hinblick auf die Zukunft fatal. Kinder brauchen nötiger denn je einen beziehungsorientierten und lernintensiven, werteorientierten, kommunikationsinteressanten, sprachintensiven Alltags-Lebensraum, in dem Kinder immer wieder aufs Neue Freude an ihrer Sprache empfinden und gleichzeitig auch Freude daran haben, sich mit anderen Kindern und den Erwachsenen zu unterhalten — die Kindertagesstätte kann Kindern diesen Raum bieten und den Kindern nutzbar machen.

Sprechen und Hören ist Befruchten und Empfangen.

Novalis

Es besteht heute überhaupt kein Zweifel daran, was die Sprache nachhaltig fördert:  Eine „integrierte Sprachförderung“ geschieht vor allem durch die Merkmale, die Sprache außergewöhnlich stark aktivieren, provozieren, lebendig werden lassen:ein alltägliches miteinander sprechen; miteinander singen; miteinander dichten und reimen, Dialoge lebendig pflegen und gemeinsam auf die Suche nach Antworten gehen; miteinander philosophieren; Kinderaktivitäten sprachlich Begleitung; gemeinsames Genießen einer lebendigen Bewegungskultur; Geschichten vorlesen und nacherzählen; Märchen vorlesen und nachspielen; Geschichten erfinden und aufschreiben; miteinander spielen; sorgsam aufeinander hören; Hörspiele erfinden und aufzeichnen; Kindergartenzeitungen erstellen und drucken; Kinderkonferenzen gemeinsam gestalten.

„Gute Sprachförderung“ ist damit alltäglich und werteorientiert hörbar – nämlich in einer werteorientierten Kommunikations-, Interaktions-, Konflikt-, Spiel- und Sprachkultur. Sie ist anstrengend und wundervoll zugleich.

Die Menschheit zur Freiheit bringen, das heißt, sie zum Miteinander reden bringen
To bring freedom to mankind means to get them to talk to each other
Mener les hommes à la liberté veut dire les amener à dialoguer

Karl Jaspers

Armin Krenz




„Das Spiel ist der Nährboden für alle bedeutsamen Entwicklungsvorgänge“

Ein Interview mit Prof. Dr. Armin Krenz über das Spiel(en) und seine Bedeutung für die Entwicklung des Menschen

Keinem Menschen ist die Spielfähigkeit in die Wiege gelegt. Auch diese muss er erst entwickeln. Ist das geschehen, beginnt er, sich die Welt spielend zu erschließen – und das Spiel begleitet ihn ein Leben lang. Wer seine Spielfähigkeit nicht aufbauen kann, der weist in allen Kompetenzfeldern Defizite auf. Was das Spiel für den Menschen bedeutet, wie wir Spielfähigkeit entwickeln, wie wir Kinder dabei begleiten und welche Chancen uns das Spiel bietet, erklärt Prof. Dr. Armin Krenz im Interview.

Du bist vor ein paar Monaten 70 Jahre alt geworden. Das Spielen hast du in all der Zeit nicht verlernt. Wann hast Du das letzte Mal gespielt und was war das?

Auch wenn ich mich inzwischen im 71. Lebensjahr befinde, gehört das Spiel(en) immer noch zum festen Bestandteil meines privaten Lebens und meiner beruflichen Tätigkeit. So ist es beispielsweise üblich, dass bei Familienbesuchen nahezu immer ein Teil der Zusammenkünfte mit Spielaktivitäten ausgefüllt sind.

Bei Qualitätsuntersuchungen oder Supervisionscoachings in Kindertageseinrichtungen trete ich dann mit Kindern in Spielhandlungen ein, wenn ich mitbekomme, dass elementarpädagogische Fachkräfte dem Spiel(en) der Kinder eine untergeordnete Rolle zusprechen und lieber „nur“ dem Spiel der Kinder zuschauen, ohne selbst diesen aktiven Mitspielimpuls zu spüren. Leider muss ich das in den vergangenen Jahren zunehmend zur Kenntnis nehmen.

Wie heißt es doch in einer Aussage von Augustinus Aurelius, dem einstigen Bischof von Hippo, der auch als Philosoph ganz wundervolle Gedanken zu Papier gebracht hat, so treffend: „In Dir muss brennen, was Du entzünden willst“. Dieses Feuer habe ich schon als Kind spüren und in meiner Freizeit sowie im Elternhaus ausleben dürfen, wodurch sich wundervolle, spannende und aufregende Bilder in meinem Gedächtnis eingebrannt haben – und das mit einer nachhaltigen Wirkung.

Bei der unüberschaubaren Menge an Gesellschaftsspielen fällt es mir hingegen schwer, immer eine Entscheidung für ein bestimmtes Spiel zu fällen, zumal es gleichzeitig so viele, wunderbare Spiele gibt. Zuletzt habe ich mich vor ganz kurzer Zeit im Rahmen eines Supervisionscoachings in neun Kindertageseinrichtungen in viele verschiedene Tanz-, Bewegungs- und Regelspielaktionen hineinbegeben, verbunden mit den Fragen der Kinder, als ich mich aus den Spielen herauslösen musste: „Wann kommst Du wieder?“ „Spielen wir nachher weiter?“

In Dir muss brennen, was Du entzünden willst!

Augustinus Aurelius (354 – 430)

Kinder suchen immer wieder Spielerlebnisse – so wie ich auch. Und ganz aktuell habe ich auch ein „Kinder- Reim- Geschichten- Ausmalbuch“ mit dem Titel „Vom Warzenschwein und anderen Tieren“ publiziert und dabei mit Worten, ausgedachten und imaginären Tiergeschichten gespielt.

Der deutsche Aktionskünstler Joseph Heinrich Beuys (1921 – 1986) und Professor an der Kunstakademie Düsseldorf hat einmal gesagt: „Lass dich fallen – Lerne Schlangen zu beobachten – Pflanze unmögliche Gärten – Lade jemanden Gefährlichen zum Tee ein – Mache kleine Gesten – Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit – Freue dich auf Träume – Weine bei Kinofilmen – Schaukel so hoch du kannst – Tu Dinge aus Liebe – Mach eine Menge Nickerchen – Gib Geld weiter – Mach es jetzt – Glaube an Zauberei – Lache eine Menge – Nimm Kinder ernst – Bade im Mondlicht – Lies jeden Tag – Stelle dir vor, du bist verzaubert – Höre alten Leuten zu – Freue dich – Lass die Angst fallen – Unterhalte das Kind in dir – Umarme Bäume – Schreibe Briefe – Lebe“. So gibt es auch ungezählte Möglichkeiten, den Alltag mit Spielfantasien auszufüllen und auszuleben!


Armin Krenz/Christian Kämpf
Vom Warzenschwein und anderen Tieren
Vorlesen, Malen, Philosophieren: ein Bilder- und Geschichtenbuch. Reime und Tierbilder zum Ausmalen
für Kinder ab 4 Jahren
Hardcover, 36 Seiten, DIN A 4
ISBN 978-3-910295-00-1
15 €


Was hältst Du von dem Zitat „We don’t stop playing because we grow old; we grow old because we stop playing.”?

Diesem Zitat von George Bernard Shaw, dem irischen Dramatiker, Satiriker und Politiker, kann ich sowohl aus fachwissenschaftlicher Sicht als auch aus meiner eigenen biographischen Rückschau in vollem Maße zustimmen, denn einerseits sind es die in unserem Gehirn abgespeicherten „Bilder“ aus der sehr frühen und frühen Kindheit, die unsere Gehirn- und damit unsere Persönlichkeitsstruktur in einer ganz entscheidenden Weise prägen. Andererseits ist es die weitere Lebensgestaltung, die uns zu dem Menschen werden lässt, der wir dann werden. Unsere gesamte Wahrnehmung, die daraus folgende Situationseinschätzung und der daraus abgeleitete Handlungsimpuls werden durch unsere Gefühlswelt beeinflusst. Zudem haben „Spielaktive Menschen“ eine entspanntere Sichtweise auf die Welt, ohne dabei eine weniger ernsthafte Situationseinschätzung zu besitzen.

We don’t stop playing because we grow old;
we grow old because we stop playing.

George Bernard Shaw

Als meine Frau und ich noch vor unserem Eintritt in den offiziellen Ruhestand beruflich sehr eingespannt waren, haben wir uns beispielsweise immer wieder mit guten Freunden übers Wochenende ein Ferienhaus in Dänemark angemietet, um gut zwei Tage lang ein gemeinsames Spielewochenende zu verbringen. Jedes Paar brachte ein neues Spiel mit – und so erweiterte sich für alle das Spielespektrum um ein Vielfaches.

Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit wir von einem Spiel sprechen können?

Es gibt – je nach der spezifischen Ausrichtung der Pädagogik bzw. der Psychologie – nicht nur eine einzige Definition zum „Spiel“ zumal dieses Wort zunächst kein wissenschaftlicher Begriff ist. Gleichwohl gibt es einige übereinstimmende, sich als deckungsgleich erweisende Beschreibungskriterien, die vorhanden sein müss(t)en, um von einer Spielhandlung sprechen zu können:

  1. Ein „Spiel“ ist eine aktive Geschehnis-Einheit, in der es für die (mit)spielenden Personen einen „Handlungsfreiraum“ gibt, in dem sie sich ohne Not, Sorge oder Angst sprachlich und/ oder motorisch ausdrücken können.
  2. Jedes Spiel beruht auf einer „freiwilligen Teilnahme“, in dem die mitspielenden Personen eigene Ideen und Vorhaben umsetzen können.
  3. Ein Spiel ist nur dann ein Spiel, wenn es weitestgehend „zweckfrei“ ist, so dass in erster Linie der „Spielgedanke“ im Vordergrund steht und nicht ein starr vorgegebenes Ziel, das in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort zu erreichen ist.
  4. Die Mitspielerinnen müssen dem Spielgedanken/dem Spielimpuls/dem Spielverlauf einen Sinn zuordnen können, von dem sie den Eindruck haben, dass sie einerseits das betreffende Spiel mit Spannung gestalten und ausfüllen, gleichzeitig in dem Spiel aber auch Entspannungsmomente erleben, so dass das so genannte „rhythmische Prinzip’ zum Tragen kommt: ein wellenförmiger Wechsel von Spannung und Entspannung.
  5. Spiele müssen verschiedene Möglichkeiten zulassen, Veränderungen vornehmen zu können, die dann beispielsweise in einer gemeinsamen Absprache übernommen werden.
  6. Spielerische, experimentelle Handlungen können sich nur dann zu einem Spiel entwickeln, wenn eine intrinsische Motivation, die ausschlaggebend für eine Spielfaszination sowie eine vertiefende Spielvertiefung ausschlaggebend ist, vorhanden ist.
  7. Wenn die Beschäftigungszeit als eine erfüllte, zufriedenstellende, intensiv berührende Zeit erlebt wird, hat das Spiel seinen Wert zum Ausdruck gebracht.

Welche Bedeutung hat das Spiel mit Blick auf die Evolution? Warum ist es so wichtig, dass wir spielen?

Spielen, das wissen wir aus vielen Forschungsuntersuchungen, ist keine angeborene Tätigkeit, die dem Menschen in die Wiege gelegt und damit für den Lebensweg mitgegeben wird. Diese Tatsache ist von einer außergewöhnlich großen Bedeutung, zum Beispiel wenn es darum geht, einerseits den hohen Wert des Spielens für die förderliche Entwicklung eines Menschen im Auge zu haben und andererseits nicht annehmen zu dürfen, dass das Spiel „von ganz alleine“ entsteht.
Was dem Menschen angeboren ist, ist seine „Neugierde“, die Welt um sich herum zu entdecken und zu erkunden und gleichzeitig den eigenen Bedeutungswert in der Welt bzw. für die Welt in Erfahrung zu bringen. Und hierbei ist es notwendig, dass es im unmittelbaren Umfeld des Menschen Personen gibt, die sich auf die Neugierde des Kindes einlassen und seine seelischen Grundbedürfnisse sättigen, so dass aus diesem dialogen Zusammenspiel eine Einheit entsteht, die sich durch ein lebendiges Kommunikations- und Interaktionsgeschehen in unterschiedlichen Formen als Spiel ausdrücken.

Spielen, das wissen wir aus vielen Forschungsuntersuchungen, ist keine angeborene Tätigkeit, die dem Menschen in die Wiege gelegt und damit für den Lebensweg mitgegeben wird.

Erfolgt also im Rahmen der vorhandenen Neugierde kein aktives, zugewandtes und durch Wertschätzung geprägtes Kommunikations- und Interaktionsverhalten, verringert sich einerseits die Neugierde im Hinblick auf das Umfeld und eigene Entwicklungsmöglichkeiten und andererseits können sich dadurch auch keine Spielfreude, kein Spielinteresse und keine Spielmotivation entwickeln, was wiederum gleichzeitig die Lernmotivation, die Lernfreude sowie das Lerninteresse deckelt.

Diese Tatsache ist leider vielen Erwachsenen unbekannt: Würden sie diese Vernetzung kennen, würden sie mit großer Wahrscheinlichkeit dem Spiel(en) eine größere Wertigkeit beimessen. Dr. Jan van Gils, (seinerzeit ‚President of the International Council for Children’s Play’), hat es 2005 in seinem Vortrag auf dem Weltkongress der International Play Association wie folgt auf den Punkt gebracht: „Allzu oft wird das Spiel als ein Zeitvertreib betrachtet, um Kinder ruhig zu halten, bis sie erwachsen sind. Allzu oft wird das Spiel auch als Bildungswerkzeug angesehen. Aber nur selten ist man sich der Tatsache bewusst, dass Kinder bei dem Spielen für das Leben lernen.“

Zusammenfassend lässt sich sagen: der evolutionäre Bedeutungswert liegt demnach darin zu begreifen, dass das Spiel als Nährboden für alle bedeutsamen Entwicklungsvorgänge, für den Erwerb ganz bestimmter kognitiver, motorischer, sozialer und emotionaler Fertigkeiten dienlich ist und damit gleichzeitig einen sehr hohen Bedeutungswert für die eigene Persönlichkeitsentwicklung besitzt.

Allzu oft wird das Spiel als ein Zeitvertreib betrachtet, um Kinder ruhig zu halten, bis sie erwachsen sind. Allzu oft wird das Spiel auch als Bildungswerkzeug angesehen. Aber nur selten ist man sich der Tatsache bewusst, dass Kinder bei dem Spielen für das Leben lernen

Dr. Jan van Gils

Hat es denn negative Folgen, wenn wir nicht spielen, sprich, würdest Du dem Spielen eine ähnliche Bedeutung zuschreiben wie gesunder, ausgewogener Ernährung oder Bewegung?

Ungezählte, wissenschaftlich fundierte Untersuchungsergebnisse haben immer wieder bestätigt, dass Kinder, denen es verwehrt war, eine Spielfähigkeit aufzubauen, in allen vier Kompetenzfeldern (im emotionalen, sozialen, kognitiven und motorischen Bereich) deutliche Einschränkungen aufwiesen.

Beispielsweise zeigen spielkompetenzeingeschränkte Kinder – auch in ihrem späteren Leben – im emotionalen Bereich größere Schwierigkeiten im Verarbeiten von Enttäuschungen, eine geringere Toleranz bei Frustrationen, einen stärker ausgeprägten Pessimismus sowie weniger tiefgehende Freudeerlebnisse.

Im sozialen Bereich haben spielkompetenzeingeschränkte Personen eine höhere Vorurteilsbildung, eine geringere Kooperationsbereitschaft, eine höhere Gewaltbereitschaft bzw. ein stark eingeschränktes Selbstbewusstsein sowie eine geringer ausgeprägte Hilfsbereitschaft.


Armin Krenz
Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht
Kita-Basiswissen für Erzieherinnen und Erzieher. 20 Fact-Sheets für Fortbildungen, Beratungsgespräche und zur Prüfungsvorbereitung
336 Seiten, zahlreiche Abbildungen
ISBN 978-3-96304-613-1
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Im kognitiven Bereich ist ein vernetztes Denken eingeschränkt. Diesen Kindern fällt die Kontrolle eigener Handlungen deutlich schwerer (gemeint sind hier vor allem die Handlungsfelder Selbstkontrolle und Selbstdisziplin) und die Konzentrationsfertigkeit ist deutlich gesenkt im Vergleich mit spielkompetenten Personen.

Im motorischen Bereich sind vor allem die Selbstwirksamkeitsüberzeugung, die Vielfaltnutzung von Selbstaktivitäten, eine differenzierte Feinmotorik und die motorische Reaktionsfertigkeit gering ausgeprägt.

Was eine ausgewogene Ernährung für den Körper an Wohlbefinden mit sich bringt, bewirkt eine vorhandene Spielfähigkeit für den gesamten psycho-sozialen, motorischen und kognitiven Bereich.

Was bewirkt spielen, was macht das Spielen mit uns als Mensch?

Spielen setzt frei flottierende Gedanken und damit spontan entstehende Handlungsideen in Gang. Es ermöglicht in erlebten Außenspannungen ein Gefühl von Freiheit, wodurch der Mensch aus Stresssituationen herausfinden kann und in der Lage ist, abzuschalten, die unmittelbare Vergangenheit oder vorherrschend besitzergreifende Gegenwartserlebnisse beiseite zu stellen, was wiederum zu einer emotional-kognitiven BALANCE führt.

Dabei entdeckt der Mensch die Vielschichtigkeiten und Mehrdeutigkeiten von Situationen, die dabei helfen, aus eindimensionalen Einschätzungen herauszufinden und aus einem erlebten Entspannungsfreiraum Dinge neu betrachten zu können. Vor allem eröffnet sich der Mensch dabei den Weg für eine Selbstexploration: die Auseinandersetzung mit sich selbst, seine eigenen Gedankenwegenund Gedankenstrukturmuster, ohne die Sichtweise fokussiert auf die Außenwelt zu richten sondern zu erkunden, was dazu beigetragen hat, dass sich Situationen so entwickelt haben wie sie sind und wie sie auch anders gestaltet werden können.

Gerade der „spielende Mensch“ eröffnet sich durch die eigene Spielfreude sowie ein weitumfassendes Spielinteresse einen lebenslangen Bildungsweg, auf dem immer wieder neue Bildungsprozesse entstehen können und uns Menschen daran hindern, Lebenswege stets gleichartig, gleichförmig‚ normal und variationsfrei zu gestalten.

Gerade der „spielende Mensch“ eröffnet sich durch die eigene Spielfreude sowie ein weitumfassendes Spielinteresse einen lebenslangen Bildungsweg, auf dem immer wieder neue Bildungsprozesse entstehen können und uns Menschen daran hindern, Lebenswege stets gleichartig, gleichförmig‚ normal und variationsfrei zu gestalten.

Der Maler Vincent Willem van Gogh hat sich einmal so geäußert: „Die Normalität ist eine gepflasterte Straße. Man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Bäume auf ihr.“ Und wenn wir nun aus psychoanalytischer Sicht den Baum als ein ‚lebendiges Wachstumsfeld der eigenen Person’ verstehen, dann wird deutlich: ohne das Spielen steckt der Mensch in seiner Entwicklung fest, lebt aus Wiederholungen, die nicht selten entwicklungshinderlich sind, weil keine neuen und damit innovativen Handlungsimpulse entstehen können.  

Die Normalität ist eine gepflasterte Straße. Man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Bäume auf ihr.

Vincent Willem van Gogh

Wann wird aus einem Spiel Ernst?

Ein Spiel ist immer eine ernste Angelegenheit, zumal Einzelspielerinnen und -spieler als auch jede mitspielende Person ihre angedachten Überlegungen in die jeweils aktuelle Spielhandlung einbringen wollen. So hat Prof. Hans Scheuerl, ein Pionier im Feld der Spieleforschung, schon vor einigen Jahrzehnten den Satz geprägt: „Das Spiel ist der Beruf des Kindes.“ Und damit umfasst das Spiel grundsätzlich alle Facetten, die auch in fast jedem Beruf zum Tragen kommen: Anstrengung an den Tag legen, Versuch und Irrtum auszuhalten, Belastbarkeit aushalten, Innovationsgedanken umsetzen, Zufriedenheit erleben, Konflikte mit sich und anderen austragen, Selbstdisziplin auf sich nehmen, Enttäuschungen ertragen, uneindeutige Situationen für sich oder mit anderen klären, Aggressionen in lösungsorientierte Schritte umwandeln usw.

Das Spiel ist der Beruf des Kindes.

Prof. Hans Scheuerl

Ist Humor eine Sonderform des Spiels?

Humor ist keine Sonderform des Spiels sondern eine lebensbedeutsame Verhaltensweise des Menschen, um bei Missgeschicken oder in schwierigen Lebenssituationen eine Gelassenheit an den Tag zu legen, die die Situation – zumindest für einen Augenblick – entschärft und die es dem Menschen möglich macht, sich selbst und andere nicht immer allzu ernst zu nehmen.

Humorlose Menschen sind häufig nur sehr schwer zu ertragen, zumal wenn alleine der reinen Kognition eine permanente A-Priorität beigemessen wird. Hier scheint ganz besonders eine „Herzensbildung“ von Nöten zu sein, in der auch der Humor einen festen Platz besitzt. Joachim Ringelnatz, Schriftsteller, Maler und Kabarettist, sagte einmal: „Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt.“

So genannte Helikopter-Eltern oder auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bzw. Lehrkräfte, die sich zu Unrecht als Pädagogen bezeichnen, Vorstandspersonen oder (sozial)politische Funktionsträger:innen ohne Humor versuchen ihr privates und berufliches Selbstverständnis häufig nur aus kognitiv gefällten Entscheidungen abzuleiten, wobei emotional-soziale Aspekte unberücksichtigt bleiben. Damit sind nicht selten inhumane und rein funktional gesteuerte Vorgaben die Folge – und das mit häufig dramatischen Folgen für das Umfeld. 

Die Bedeutung des Spiels für Kinder, für die Entwicklung der Kinder. Worauf sollten die Eltern achten? Wie regt man Kinder zum Spielen ideal an?

Johann Heinrich Pestalozzi, ein Schweizer Pädagoge und zugleich ein Schul- und Sozialreformer hat folgenden Satz geprägt: „Erziehung ist Liebe und Vorbild. Sonst Nichts!“ und einer der bedeutendsten Reformpädagogen des vergangenen Jahrhunderts, Dr. Janusz Korczak, dessen Todestag sich 2022 zum 80. Mal jährt, vertrat sein pädagogisches Grundverständnis mit der Aussage: „Du kannst den anderen nur soweit bringen, wie Du selbst gekommen bist.“ In diesen beiden Zitaten liegt meine Antwort auf Ihre Frage: es gilt,

  • (a) immer wieder selbst in ein aktives, lebendiges und innerlich motiviertes Spielverhalten einzutauchen und damit ein Spielvorbild zu sein;
  • (b) für sich selbst regelmäßige Zeiträume zum Spiel einzuplanen, um mit den eigenen Kindern und auch mit befreundeten Personen zu spielen;
  • (c) einen möglichst ausreichenden Spielplatz für Kinder zu schaffen und dabei weder die Spielform vorzugeben noch Spielzeiten unnötig zu unterbrechen;
  • (d) dem Spiel seinen hohen Bedeutungswert im Hinblick auf seine „Lernauswirkungen“ zuzugestehen, denn das ‚Spiel ist keine Spielerei’;
  • (e) dafür zu sorgen, dass das Kinderzimmer keinem Spielwarengeschäft ähnelt – auch beim Spielzeug muss es Begrenzungen geben, zumal Spielmittelüberflutungen entwicklungshinderliche Auswirkungen auf Kinder haben und eine so genannte ‚Konsumverwahrlosung’ die Folge ist;
  • (f) dem Spiel der Kinder Aufmerksamkeit und Interesse zu widmen;
  • (g) sich von der Spielfreude der Kinder anstecken zu lassen, ihre Spielmotivation aufzunehmen und in sich wirken zu lassen. Die beste Anregung zum Spielen liegt immer noch in der spielerischen Vorbildfunktion, und wenn die Bindung zwischen Kindern und dem/ den Erwachsenen stimmig sind, dauert es nicht lang, bis Kinder sich als Mitspieler/ zur Mitspielerin ins Spielgeschehen einbringen.

Wichtig: es muss echt und authentisch sein!

Wie unterscheidet sich das Kinderspiel von dem des Erwachsenen?

Kinder bevorzugen – je nach Alter – ganz unterschiedliche Spielformen. Bei Kleinkindern sind es zunächst die Fingerspiele, das Bauspiel, Entdeckungs- und Wahrnehmungsspiele sowie das Konstruktionsspiel. Es folgen die vielfältigen Produktionsspiele zum Gestalten, Bewegungs- und Musik-/Tanzspiele bis hin zu Sozialregelspielen, Aggressionsspiele zum Austoben, Rollenspiele und das freie Spiel, Theater- und Märchenspiele. Die Fülle innerhalb dieser Spielformen ist unerschöpflich und so gehört auch die Literaturgattung mit dem Schwerpunkt „Spiel“ mit zu den umfangreichsten Themenfeldern.

Erwachsene bevorzugen in den meisten Fällen entweder Spiele in digitaler Form, wo auch das Spieleangebot unfassbar umfangreich ist oder sie lassen sich auf Tisch-, Karten- und Brettspiele, Outdoorspiele, Strategiespiele oder gruppendynamische Interaktionsspiele ein, deren Angebote jedes Jahr in die Höhe schießen. Hier lohnt es sich, einmal Gast auf der jährlichen Spielwarenmesse zu sein! Manche Spielformen entsprechen aber auch denen der Kinder: Hier denke ich beispielsweise an das Theaterspiel, an so genannte Entdeckungsspiele (dazu zählt auch das Geocaching) oder an Konstruktionsspiele.

Was sollten denn Erwachsene spielen?

Zunächst: Erwachsene sollten (!) gar nicht spielen – vielmehr entspringt der Spielgedanke einem eigenen Spielwunsch, sich auf ein Spielgeschehen einlassen zu wollen: als Einzelspieler, als Mitspieler in einer Gruppe, als Spielpartner des Kindes und das in einer jeweils bevorzugten Spielform. So gilt es zunächst, vielfältige Spielformen kennenzulernen und dabei das Gespür für die Spielform zu entdecken, zu der man sich in besonderem Maße hingezogen fühlt. Empfehlenswert ist auch der Besuch von Spielwarengeschäften, um sich durch fachkundiges Personal ausgiebig beraten zu lassen. Egal, für welches Spiel sich die erwachsene Person entscheidet: Entscheidend ist,  d a s s  spielunerfahrene Personen die Faszination des Spiels für sich entdecken und sich in den Sog einer erlebten Spielfreude hineinziehen lassen.

Egal, für welches Spiel sich die erwachsene Person entscheidet: Entscheidend ist, dass spielunerfahrene Personen die Faszination des Spiels für sich entdecken und sich in den Sog einer erlebten Spielfreude hineinziehen lassen.

Innovation und Zukunft: wie wichtig ist hier das Spiel? Wie wichtig ist die Fähigkeit, sich spielerisch an etwas annähern zu können?

Wenn durch eine auf- und ausgebaute Spielfähigkeit, verbunden mit basalen und lebensbestimmenden Kompetenzen, angeeignet durch die frühen Kindheitsjahre und die Pflege dieser vielschichtigen Merkmale außergewöhnliche Fertigkeiten entstehen, so kann und muss das Spiel als ein hochbedeutsamer Innovationsfaktor eingestuft werden, der durch nichts zu ersetzen ist. Gerade in einer Zeit, in der wir alle vor sehr schwierigen, vielleicht sogar auf den ersten Blick kaum lösbaren Aufgaben stehen, ist es von großer Bedeutung, mit den im Spiel erworbenen Basiskompetenzen kreative Problemlösungsmöglichkeiten zu entdecken. Ob im Kleinen oder in großen, übergeordneten Aufgabenfeldern.

Es sind gerade die Fantasie, die Kreativität und innovative Visionen, die viele Spiele provozieren und deren Einsatz uns Menschen zwingt, Neues zu entdecken, auszuprobieren und auszuwerten, um sich selbst und für andere sowie die nachfolgende Generation ein zukünftiges Leben zu ermöglichen

Einseitige Problembetrachtungen, die Fortsetzung gewohnter/gewöhnlicher und gleichzeitig nicht nachhaltiger Lösungswege führen in der Regel nur zu einer Problemverschiebung. Es sind gerade die Fantasie, die Kreativität und innovative Visionen, die viele Spiele provozieren und deren Einsatz uns Menschen zwingt, Neues zu entdecken, auszuprobieren und auszuwerten, um sich selbst und für andere sowie die nachfolgende Generation ein zukünftiges Leben zu ermöglichen. Hier passt ein Zitat, das vielen Autorinnen und Autoren zugeordnet wird: Marie von Ebner-Eschenbach bzw. Oliver Cromwell bzw. Philip Rosenthal: „Wer aufhört, besser sein zu wollen als er ist, hört auf, gut zu sein.“ Und da bieten die vielfältige Spielformen und Spielarten unüberschaubare Möglichkeiten, ins „Spiel des Lebens“ einzutauchen, um durch Selbsterfahrung und Selbstentwicklung Potenziale zu entdecken, die bisher als eine ‚unbekannte Variante’ leblos in uns schlummerten.  

Was lässt sich beim Blick auf das Spiel über den Charakter oder die Eigenschaften eines Spielers ableiten? Spieltypen?

Laut Richard Bartle, der sich Ende des letzten Jahrhunderts mit der Klassifizierung möglicher ‚Spielertypen’ beschäftigt hat und dazu das Verhalten von Spielerinnen und Spielern untersuchte, kam zu dem Schluss, dass es vier klassische Spielertypen gibt:

A) Killers (Mörder/ Kämpfer) – ihr Bedürfnis ist es, immer zu gewinnen und gleichzeitig sind sie auch motiviert, Mitspielerinnen und Mitspieler am Gewinnen zu hindern. Sie versprechen sich dadurch Macht und Anerkennung, durch die sie sich stark fühlen (fühlen möchten!).
B) Der Archiever (Macher/ Erfolgssammler) möchte möglichst viele Ziele erreichen, möglichst viele Punkte sammeln, um ein aktuelles Ziel erfolgreich abschließen und um sich dann auf die nächste Aufgabe kümmern zu können. Er freut sich über seine erreichten Leistungen, die ihn wiederum anspornen, weiterzumachen und neue Herausforderungen anzunehmen.
C) Dem Socializer (Geselliger) ist die Gesellschaft der Mitspielerinnen und -spielern besonders wichtig und so genießt er eine gute Umgangskultur, den Austausch mit den anderen und hilft auch anderen, wenn diese einer Hilfe bedürfen. Ihm kommt es im primären Sinne nicht aufs Gewinnen an. Ihm bedeutet die Gemeinschaft und das Gemeinschaftserlebnis mehr als ein Gewinner aus dem Spiel aufzutreten.
D) Und schließlich gibt es den Explorer (Erkunder), der mit einer ausgeprägten Neugierde viel Neues im Spiel entdecken will, die ganze Palette der Spielmöglichkeiten erfassen möchte, der auch versucht, unattraktive Spielideen in attraktive Spielhandlungen zu wandeln und dem es nicht im Spiel um einen Zuwachs an Macht und Anerkennung geht, sondern für ihn vor allem der Forschergedanke (was ist wie möglich?) im Vordergrund steht.

So ist das Verhalten aller Spielerinnen und Spieler ein Spiegelbild ihrer Persönlichkeit. Dabei ist es spannend, sich selbst einem Spielertypen zuzuordnen und sich gleichzeitig durch andere zuordnen zu lassen.

Spielen Frauen anders als Männer? Wenn ja, wie äußert sich das?

Diese Frage kann nicht mit einem klaren ‚ja oder nein’ beantwortet werden. So gibt es auf der einen Seite Evolutionsforscher, die die These vertreten, dass es aufgrund der Evolution in der Form deutliche Unterschiede gibt, dass Frauen ein Spiel eher als ein „soziales Ereignis“ betrachten/wertschätzen und Männer lieber als „winner“ denn als „looser“ erleben wollen und das Interesse der Männer auch entsprechend darauf ausgerichtet ist, beim Spiel als „Gewinner“ herauszugehen.

Sozialpsychologen vertreten die Ansicht, dass mögliche Unterschiede im Spielverhalten einen biographischen Hintergrund haben und durch frühkindliche Rollenklischees geprägt werden. Bislang vorliegende Studien zeigen, dass Frauen eher (gleichwohl nicht ausschließlich!) dem Sozialgeschehen im Spiel einen höheren Bedeutungswert beimessen als Männer und diese wiederum in einem signifikant stärkeren Maße eine Spielhandlung als Gewinner beenden wollen.

Doch vielfältige, jahrelange, persönliche Erfahrungen haben auch das Gegenteil hervorgebracht. So ist es an der Zeit, durch Selbststeuerungsvorhaben dafür zu sorgen, dass das Spiel für alle – Jungen und Mädchen, Frauen und Männer – immer wieder zu einem wunderbaren Sozialereignis werden kann, in dem Gewinnerinnen und Verliererinnen jederzeit fair miteinander umgehen, Gewinnertypen auch das Verlieren ertragen können und Verliererinnen alle Kräfte mobilisieren können, durch neu entwickelte Strategien gleichhäufig ins Gewinnerinnenfeld zu gelangen. Und das selbstverständlich unabhängig vom Geschlecht! 

So ist es an der Zeit, durch Selbststeuerungsvorhaben dafür zu sorgen, dass das Spiel für alle – Jungen und Mädchen, Frauen und Männer – immer wieder zu einem wunderbaren Sozialereignis werden kann, in dem Gewinnerinnen und Verliererinnen jederzeit fair miteinander umgehen, Gewinnertypen auch das Verlieren ertragen können und Verliererinnen alle Kräfte mobilisieren können, durch neu entwickelte Strategien gleichhäufig ins Gewinnerinnenfeld zu gelangen. Und das selbstverständlich unabhängig vom Geschlecht!            

Gilt Leistungssport, etwa ‚Profi-Fußball’, noch als Spiel?

Der Leistungssport kann aus wissenschaftlicher Sicht und den zugrundeliegenden Kriterien für ein „Spiel“ sicherlich nicht als Spiel bezeichnet werden – ob im Profi-Fußball noch bei anderen, sportlichen Events, Meisterschaften oder Wettkämpfen, zumal einerseits das Gewinnen, ein Bessersein als alle anderen im Vordergrund steht und andererseits Prämien unterschiedlicher Art einen zusätzlichen Gewinnanreiz bieten sowie Erwartungen von außen einen Druck auf Spielerinnen und Spieler ausüben. Hier wurde und wird das Spiel „funktionalisiert“ – mit vielerlei Zwecken angereichert und dabei bleibt selbst bei einer gewissen, großzügigen Betrachtung oftmals noch nicht einmal ein ‚spielerischer Restansatz’ übrig.

Das beginnt nicht selten schon beim Kinder-/Jugendfußball, wo viele Eltern ihre eigenen Kinder anfeuern, eine gute oder noch bessere Leistung als gerade gezeigt zu erbringen oder gegnerische Spielerinnen durch Beschimpfungen diskreditieren. Schon die „Spiele in Rom“ waren öffentliche Veranstaltungen in Form von Wagenrennen, Theater- und Schauwettkämpfen, Gladiatorenkämpfen, Tierhetzen bis zu Hinrichtungen, die „das Volk amüsieren sollten“ und als „Spiele“ bezeichnet wurden. Auch wenn sich Inhalte bzw. Schwerpunkte mit der Zeit verändert haben, bleiben Ausgangsstrukturen gleich. Mit einem „Spiel“ im originären Sinne gibt es hierbei keine Deckungsgleichheiten.

Wir finden unsere größten Chancen und Gelegenheiten zu wachsen jenseits unserer Bequemlichkeitsbremse.

Neale Donald Walsch

Der Kulturhistoriker Johan Huizinga hat einmal gesagt: „Um wirklich zu spielen, muss der Mensch, solange er spielt, wieder Kind sein.“ Dieser Rollentausch fällt vielen Erwachsenen, leider auch zunehmend pädagogischen Fachkräften, immer schwerer. Doch gleichzeitig ist dies der einzige zielführende Weg, der zu Innovationen und kreativen Problemlösungen führt. Greifen wir daher am besten auf ein Zitat von Neale Donald Walsch zurück. Er vertritt folgende Ansicht, die im Übrigen auch durch persönlichkeitspsychologische Erkenntnisse unterstützt wird: „Wir finden unsere größten Chancen und Gelegenheiten zu wachsen jenseits unserer Bequemlichkeitsbremse.“ Und an anderer Stelle sagt Walsch: „Hingehen in das, was Unbehagen bereitet, veranlasst letztlich Wachstum und die Erfahrung, wer und was ich bin.“ Dabei gibt es nichts Einfacheres, als in unterschiedliche Spielgeschehnisse einzutauchen, um sich zu entdecken und zu reflektieren, aus den Erkenntnissen Konsequenzen zu ziehen und sich dann auf Entwicklungsprozesse einzulassen, die jeden Menschen immer wieder in ein Staunen versetzen.   

Prof. h.c. Dr. h.c. Armin Krenz, Honorarprofessor/Wissenschaftsdozent
für Entwicklungspsychologie & Elementarpädagogik mit (inter)nationalen
Lehr-, Forschungs- und Vortragsaufträgen – im (Un)Ruhestand – Fachbuchautor