Autismus weiterdenken – vielfältiger, vielschichtiger und inklusiver

autismus-800

Eine frühere Diagnose und ein besseres Verständnis des Verlaufs können zu wirksameren Interventionen führe

Autismus ist nicht heilbar, aber eine frühere Diagnose und ein besseres Verständnis des Verlaufs können zu wirksameren Interventionen führen. Bei der 16. Wissenschaftlichen Tagung Autismus-Spektrum (WTAS) stellten Expertinnen und Experten aus Klinik und Wissenschaft in der Neuen Universität in Heidelberg neueste Erkenntnisse vor. Gastgeber war die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD). Zu einem praxis- und alltagsnahen Austausch haben auch Menschen mit Autismus und deren Angehörige sowie Autismusberatende an Schulen beigetragen.

„Die Forschung zu Autismus ist heute vielfältiger, vielschichtiger und inklusiver als noch vor wenigen Jahren. Sie berücksichtigt nicht nur die biologischen und genetischen Aspekte, sondern auch die sozialen, kulturellen und individuellen Dimensionen des Lebens mit Autismus,“ sagt Prof. Dr. Luise Poustka, Ärztliche Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des Universitätsklinikums Heidelberg und Tagungspräsidentin der Wissenschaftlichen Tagung Autismus-Spektrum (WTAS). „Autismus weiterdenken!“ lautet demnach das Tagungsmotto. Mit etwa 300 Teilnehmenden war die WTAS die größte Fachtagung zu Autismus im deutschsprachigen Raum. Sie fand zum 16. Mal und erstmals in Heidelberg statt, auf Einladung der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des Universitätsklinikums Heidelberg und der Wissenschaftlichen Gesellschaft Autismus-Spektrum.

Forschende gehen von 1 bis 1,2 Prozent Autismus-Betroffenen weltweit aus. Die genetisch bedingte tiefgreifende Entwicklungsstörung kann sich in vielen Varianten ausprägen: Jeder zweite Mensch mit der Diagnose Autismus ist geistig beeinträchtigt. Nur jeder fünfte kommt allein zurecht. Daneben gibt es aber auch Betroffene, die überwiegend selbständig leben, im sozialen und kommunikativen Bereich aber dennoch Unterstützung benötigen. Langzeituntersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass sich die Symptomatik nicht nur individuell unterscheidet, sondern sich auch im Laufe des Lebens verändern kann: Während einige Betroffene Verbesserungen ihrer Fähigkeiten erleben, bleibt der Zustand bei anderen weitgehend stabil oder verschlechtert sich in manchen Fällen sogar.

Frühere Diagnose ermöglicht bessere Unterstützung

Je früher die Diagnose Autismus gestellt werden kann, desto mehr Chancen gibt es unterstützend zu intervenieren. Eltern können mit ihren Kindern dann bereits sehr früh an speziellen Programmen zur besseren sozialen Anpassung, Kommunikation und sozialen Integration teilnehmen. Bislang ist die Diagnose erst bei Zwei- bis Dreijährigen sicher zu stellen. Forschende arbeiten deshalb international daran, eine sichere Diagnose bereits sehr viel früher zu ermöglichen. In Heidelberg baut Luise Poustka mit ihrem Team am Zentrum für psychosoziale Medizin ein neuartiges Präventions- und Früherkennungszentrum auf, in dem sie Kinder mit familiär bedingtem genetischem Risiko im frühen Kindesalter auf autistische Merkmale untersuchen und therapeutisch unterstützen möchte. Kinder, die bereits ältere Geschwister mit Autismus haben, brauchen dabei eine besonders engmaschige Überprüfung ihrer Entwicklung.

In der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des UKHD erforscht Arbeitsgruppenleiter Prof. Dr. Dr. Peter Marschik frühe Bewegungsmuster und die Sinneswahrnehmung von Kleinkindern bereits in ihren ersten Lebensmonaten, um daraus Rückschlüsse auf mögliche Autismus-Spektrum-Störungen zu ziehen. Dies passiert nicht nur im klassischen Forschungslabor. Marschik fährt auch direkt zu den Eltern. Hierzu nutzt er das „Phenomobil“, ein mobiles Labor zur Erforschung der frühkindlichen Entwicklung. Mit sieben Kameras, Mikrofonen und weiteren Sensoren kann er darin Bewegungen, Geräusche, jedes kleine Lächeln und soziale Reaktionen der Babys erfassen und mithilfe von Künstlicher Intelligenz mit den Reaktionen gesunder Kleinkinder vergleichen.

„Den typischen Autisten gibt es nicht!“

Dr. Martin Schulte-Rüther fokussiert sich in seiner Arbeit an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des UKHD darauf, über die Körpersprache und den Blick von Kindern und Jugendlichen soziales Verhalten zu messen. Menschen im Autismus-Spektrum verstehen ihre Umwelt oft in einer anderen Art und Weise als gesunde Menschen. „Sie empfinden ihre Umgebung häufig als Chaos“, schreibt der Selbsthilfeverein Autismus Nordbaden-Pfalz. „Dies kann zu Veränderungsängsten, Panikzuständen oder dem totalen Rückzug in sich selbst, zu Sprachlosigkeit oder verschiedenen anderen Verhaltensauffälligkeiten führen.“ Häufig vermeiden Menschen mit Autismus Blick- und Körperkontakt, und ihre Emotionen sind schwer aus ihrer Miene oder ihren Gesten zu lesen.

Den „typischen Autisten“ gibt es jedoch nicht, denn die Ausprägungen sind zu variantenreich. Um Schülerinnen und Schüler sowie Eltern zu beraten, und Kinder und Jugendliche mit autistischen Störungen im Unterricht zu unterstützen, hat das Staatliche Schulamt Mannheim eine mobile Autismusberatung eingerichtet, die bei Fragen etwa zum Übergang in die weiterführende Schule, zur Leistungsbewertung oder in Krisen berät. Gerald Brandt ist hier im Bereich der beruflichen Schulen tätig. „Ich versuche zu erreichen, dass autistische Schülerinnen und Schüler nicht an persönlichen oder schulorganisatorischen Barrieren scheitern, sondern mit den richtigen Hilfen ihren eigenen Weg gehen können,“ beschreibt Brandt seine Arbeit. Dabei unterstützen die Autismusberatenden auch Mitschülerinnen und Mitschüler sowie Lehrkräfte, damit in der Schule autistische Verhaltensweisen als Teil der schulischen Vielfalt wahrgenommen und akzeptiert werden können.

SAP: Menschen mit Autismus in den Berufsalltag integrieren

Um Menschen mit Autismus auch in ihrem Berufsalltag zu unterstützen, hat das Softwareunternehmen SAP das Programm „Autism at Work“ ins Leben gerufen. Programm-Managerin Stefanie Lawitzke hilft Menschen aus dem autistischen Spektrum etwa beim Bewerbungsprozess oder prüft, ob der Job oder das Team zum Bewerbenden passen. Dabei gewinnen beide Seiten: Menschen mit Autismus haben häufig ein Spezial-Interesse, beispielsweise IT-Sicherheit, in dem sie sehr gute Leistungen bringen. Und das Team profitiert von Regelungen, die Menschen aus dem autistischen Spektrum besonders wichtig sind, wie pünktlich beginnenden Meetings oder festen Protokollen.

Jens Neus Unternehmenskommunikation, Universitätsklinikum Heidelberg

Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e. V. (idw)




Kinder mit Autismus: ihre Schwächen, ihre Stärken

autismus

Die Stiftung Kindergesundheit informiert über Autismus-Spektrum-Störungen

Autismus ist eine durch genetische und umweltbedingte Faktoren verursachte Störung der Gehirnentwicklung im frühen Kindesalter. Experten registrieren weltweit übereinstimmend eine starke Zunahme der Störung in den letzten Jahren. Inzwischen wird davon ausgegangen, dass der Anteil autistischer Menschen an der Gesamtbevölkerung bei etwa einem Prozent liegt. Das betrifft in Deutschland ungefähr 800.000 Frauen und Männer, berichtet die in München beheimatete Stiftung Kindergesundheit in einer aktuellen Stellungnahme.

„Viele autistische Kinder haben große Schwierigkeiten, Kontakte zu anderen Menschen, manchmal sogar zu den eigenen Eltern aufzunehmen“, sagt die Münchner Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Priv.-Doz. Dr. med. Katharina Bühren, ärztliche Direktorin des kbo-Heckscher-Klinikums und Vorstandsmitglied der Stiftung Kindergesundheit. „Diese Kinder sind nicht wie ihre Altersgenossen in der Lage, die Stimmungen oder Absichten anderer Menschen zu erfassen und weichen selbst von liebevollen Berührungen zurück, weil sie deren Absicht nicht erkennen können“.

Schon als Babys verhalten sie sich etwas seltsam

Eine autistische Störung kündigt sich meist bereits in den ersten 24 Lebensmonaten an, berichtet die Stiftung Kindergesundheit. So sind autistische Babys oft übermäßig ruhig und Liebkosungen gegenüber gleichgültig. Sie reagieren nicht oder nur verzögert auf Ansprache und sind zum Beispiel teilnahmslos oder sogar ablehnend, wenn man sie auf den Arm nimmt. Sie suchen keinen Blickkontakt, lächeln nicht zurück und reichen den Eltern nicht die Arme entgegen. Auch die Sprachentwicklung ist zum Teil verzögert oder sogar schwer gestört.

Mit zunehmendem Alter entwickelt sich dann meistens eine mehr oder weniger starke emotionale Beziehung zu den Eltern und anderen vertrauten Personen. Freundschaften mit Gleichaltrigen sind jedoch rar, auch gemeinsames Spielen findet nur selten statt. „Den Kindern mangelt es an Einfühlungsvermögen“, erläutert die Kinder- und Jugendpsychiaterin: „Sie können sich nicht in jemand anderen hineinversetzen und leben in ihrer eigenen Gedanken- und Vorstellungswelt.“

Autismus wurde von den Fachleuten lange in „Frühkindlicher Autismus“, „Asperger-Syndrom“ und „Atypischer Autismus“ eingeteilt. Da sich die Formen überschneiden und unterschiedliche Ausprägungsgrade auftreten können, wird heute der Oberbegriff Autismus-Spektrum-Störungen verwendet (englisch: Autism spectrum disorder, ASD).

Bei impfskeptischen Menschen hält sich hartnäckig die Annahme, Autismus könne durch Impfungen verursacht werden. Diese Behauptung ist durch mehrere Studien wissenschaftlich eindeutig widerlegt worden, unterstreicht die Stiftung Kindergesundheit.

Unvermittelte Wutausbrüche wegen Lappalien

Autistische Kinder „leiden“ nicht, zumindest nicht körperlich: Sie haben kein Fieber, müssen keine Schmerzen ertragen oder krank das Bett hüten. Dennoch können auch autistische Kinder Qualen empfinden und zwar oft aus Gründen, die kaum jemand versteht – meist nicht einmal ihre Eltern: Fremde Dinge, die sie hören, sehen, fühlen, schmecken oder riechen, lösen bei autistischen Kindern oft ungewöhnliche Reaktionen oder unberechenbare Wutausbrüche aus. Manche Betroffene können glitschige oder klebrige Dinge nicht anfassen, andere lehnen Mahlzeiten schon wegen ihrer ungewohnten Konsistenz, ihres (grünen) Aussehens oder ihres neuen, noch unvertrauten Geschmacks ab.

Betroffene haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Struktur und Vorhersehbarkeit, brauchen Routinen und vertraute Abläufe, die ihnen Sicherheit geben. Sie haben Angst vor Neuem und möchten am liebsten alles immer beim Alten behalten. Schon kleinste Veränderungen, wie zum Beispiel das Umstellen eines Möbelstücks, bringen sie zur schieren Verzweiflung und unvermittelt zum Ausrasten.

Zwanghafte Wiederholung von Bewegungen

Nicht selten zeigen autistische Kinder ritualisierte Handlungen, die oft automatenhaft wiederholt werden. Dazu gehören zum Beispiel das Berühren verschiedener Gegenstände in der stets gleichen Reihenfolge, das zwangartige Wiederholen bestimmter Bewegungsabläufe wie zusammenhangloses Händeklatschen oder Haareausreißen, rhythmisches Kopfanschlagen, Schaukeln, Drehen, Hochschnellen und Zucken oder statuenhaftes Ausharren in einer bestimmten Position. Eine häufige Angewohnheit ist auch die sogenannte „Echolalie“, die Neigung, Laute und Worte anderer Personen zu wiederholen. So antwortet ein autistisches Kind auf die Frage „Hast Du Hunger?“ vielleicht mit demselben Satz „Hast Du Hunger?“, weil es weiß, dass es nach diesem Satz meist etwas zu Essen gibt.

Bei manchen Kindern bilden sich starke Beziehungen heraus zu scheinbar wertlosen Gegenständen wie zum Beispiel Gummibändern oder Bindfäden, und sie sind unter Umständen heftig erregt, wenn man ihnen diese Dinge wegnimmt.

Spezialisten mit phänomenalen Fähigkeiten

Einige autistische Kinder sind überdurchschnittlich intelligent und entwickeln sich zu wahren Expert*innen auf einem bestimmten Gebiet. Betroffene mit so einer sogenannten Inselbegabung werden Savants genannt. Sie haben oft geradezu phänomenale Fähigkeiten zu abstraktem und logischem Denken und geben sich häufig sehr speziellen Interessen hin, in denen sie auch Großes zu leisten vermögen.

Zahlreiche bekannte Persönlichkeiten leben mit Autismus, zum Beispiel die Klima-Aktivistin Greta Thunberg, die Milliardäre Bill Gates und Elon Musk oder der Hollywood-Regisseur Steven Spielberg. Auch Einstein und Mozart und der Pop-Künstler Andy Warhol sollen Autisten sein bzw. gewesen sein.

Viele bekennen sich zu ihrer Störung. Ein von Autismus Betroffener schrieb vor einigen Jahren in der „New York Times“: „Wir haben keine Krankheit, und deswegen können wir nicht geheilt werden. Wir sind einfach so“.

ADHS – eine häufige Begleitstörung

Kinder mit Autismus neigen auch noch zu einer Reihe weiterer psychischer Begleitstörungen, wie zu übergroßen Befürchtungen, Phobien, Schlaf- und Essstörungen sowie zum herausfordernden Verhalten in Form von Wutausbrüchen und fremd -­ oder selbstverletzenden Verhaltensweisen.

Fast jede*r Zweite ist auch von einer Aufmerksamkeits-Defizit-Störung ADHS betroffen, Jungen häufiger als Mädchen.

Manche ihrer Kommunikationstörungen lassen mit der Zeit etwas nach, die meisten autistischen Kinder jedoch haben auch im Erwachsenenalter noch soziale und partnerschaftliche Probleme, weiß PD Dr. Katharina Bühren zu berichten.

Die Schuld liegt nicht bei den Eltern!

Die Ursache von Autismus ist immer noch ungeklärt. Fest steht jedoch, dass die Schuld an den Verhaltensstörungen nicht an Erziehungsfehlern der Eltern liegt, betont die Stiftung Kindergesundheit.

Vermehrter Konsum digitaler Medien ab dem frühen Kleinkindalter scheint mit der Entwicklung von autistischen Zügen in Verbindung zu stehen – durch die verminderte echte soziale Interaktion können diese Kinder Gefühle und Verhaltensweisen anderer Menschen schlechter einschätzen und adäquat auf sie eingehen.

Aufgrund von deutlichen Fortschritten in der Forschung können heute immer häufiger genetische Veränderungen als Ursache identifiziert werden.

Ist eine Behandlung möglich?

Zur Behandlung von autistischen Störungen steht in Deutschland eine Reihe von therapeutischen Verfahren zur Verfügung. Für die Kernsymptomatik der Autismus-Spektrum-Störung gibt es allerdings bis heute kein Verfahren und Medikament, das einen völligen Rückgang der autistischen Symptome erreichen könnte.

Die aktuellen Leitlinien zur Therapie empfehlen grundsätzlich verhaltenstherapeutisch-übende Verfahren, da für derartige Methoden die besten Wirksamkeitsnachweise vorliegen. Durch solche Therapien, die möglichst früh beginnen sollten, können insbesondere die soziale Interaktion und die Fähigkeiten der betroffenen Kinder (und Erwachsenen) zur Kommunikation verbessert und ihre herausfordernden und seltsam anmutenden Verhaltensweisen reduziert werden.

Doch die Kapazitäten der Therapiezentren geraten derzeit zunehmend an ihr Limit, beklagen Prof. Dr. Heidrun Thaiss und Prof. Dr. Volker Mall, Präsident*innen der Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin. Der wesentliche Grund hierfür ist der personelle Engpass in fast allen medizinischen, psychosozialen und therapeutischen Berufen, der sich auch in den Autismus-Therapiezentren zeigt.

Hier gibt es weitere Informationen

Selbsthilfe-Organisationen von Autist*innn und Eltern autistischer Kinder benutzen häufig die Bezeichnungen „Auties“ (für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen) und „Aspies“ (für Menschen mit Asperger-Syndrom), um zu verdeutlichen, dass der Autismus ein Teil ihrer Persönlichkeit ist. Viele haben sich zu Selbsthilfe-Organisationen zusammengeschlossen. Hier einige Beispiele:

Bundesverband autismus Deutschland e.V.
Rothenbaumchaussee 15, 20148 Hamburg
Telefon: 040/5 11 56 04, Fax: 040/5 11 08 13 E-mail: info@autismus.de, Internet: www.autismus.de

Verein „Autismus deutsche Schweiz“
Riedhofstrasse 354,
CH-8049 Zürich
Internet: www.autismus.ch
E-mail: anfrage@autismus.ch

Österreichische Autistenhilfe
Eßlinggasse 17
1010 Wien
Telefon: +43 (1) 533 96 66 – 0
E-Mail: office@autistenhilfe.at

Weitere Internet-Adressen:
www.autisten.enthinderung.de, www.autismus.ra.unen.de,
www.aspies.de

Giulia Roggenkamp, Stiftung Kindergesundheit




Autismus: Organisation des Gehirns je nach Geschlecht anders

Neuronale Scans mithilfe von KI – Forschung hat sich bislang zu wenig mit Mädchen beschäftigt

Die Organisation des Gehirns ist bei Jungen und Mädchen mit Autismus unterschiedlich, wie Forscher der Stanford University School of Medicine http://med.stanford.edu berichten. Die Unterschiede, die durch Analyse von hunderten Gehirn-Scans mittels Techniken der Künstlichen Intelligenz (KI) festgestellt wurden, waren für Autismus spezifisch und konnten bei sich normal entwickelnden Kindern nicht festgestellt werden. Autismus wird bei vier Mal so vielen Jungen diagnostiziert als bei Mädchen. Der Großteil der Autismusforschung hat sich daher auf männliche Personen konzentriert. Details wurden im „British Journal of Psychiatry“ publiziert.

„Müssen anders denken“

Wird eine Krankheit laut Studienautor Kaustubh Supekar jedoch einseitig beschrieben, sind auch die Diagnosemethoden einseitig. „Diese Studie legt nahe, dass wir anders denken müssen.“ Laut dem Seniorautor Vinod Menon ist bekannt, dass die Tarnung der Symptome bei Mädchen eine große Herausforderung bei der Diagnose von Autismus ist. Die Folge seien Verzögerungen bei der Diagnose und Behandlung. Betroffene Mädchen haben allgemein weniger offenkundig repetitive Verhaltensweisen als Jungen. Auch das kann zu Verzögerungen bei der Diagnose beitragen. Laut Lawrence Fung, der betroffenen Kinder bei Stanford Children’s Health behandelt, ist das Vorschulalter am besten für eine Behandlung geeignet, weil sich da die motorischen und sprachlichen Fähigkeiten des Gehirns entwickeln.

Für die Studie haben die Forscher die funktionellen MRT-Scans der Gehirne von 773 Kindern mit Autismus – 637 Jungen und 136 Mädchen – analysiert. Ausreichend Daten von Mädchen zu finden, stellte sich dabei als Herausforderung dar. Die Forscher nutzten Daten aus Stanford und öffentlichen Datenbanken mit Gehirn-Scans aus der ganzen Welt. Das Übergewicht an Jungen in den Datenbanken brachte auch eine mathematische Herausforderung mit sich. Statistische Verfahren, die eingesetzt werden, um Unterschiede zwischen Gruppen festzustellen, erfordern, dass die Gruppen ungefähr gleich groß sind. Supekar hat dieses Problem mit Tengyu Ma, einen Mitautor der Studie, diskutiert. Er hat ein Verfahren entwickelt, das komplexe Datensätze wie die Gehirn-Scans von verschieden großen Gruppen zuverlässig miteinander vergleichen kann. Dieses Verfahren erwies sich als Durchbruch.

Neuer Algorithmus entwickelt

Mittels der 678 Gehirn-Scans haben die Forscher einen Algorithmus entwickelt, der mit einer Genauigkeit von 86 Prozent zwischen Jungen und Mädchen unterscheiden konnte. Als der Algorithmus bei den verbleibenden 95 Scans überprüft wurde, blieb diese Genauigkeit erhalten. Die Wissenschaftler testeten den Algorithmus an 976 Scans von sich normal entwickelnden Jungen und Mädchen. Es konnten keine Unterschiede festgestellt werden, damit war nachgewiesen, dass die gefundenen Geschlechterunterschiede für Autismus spezifisch waren.

Von den Kindern mit Autismus verfügten die Mädchen in verschiedenen Gehirnzentren wie bei der Motorik, Sprache und der visuellräumlichen Aufmerksamkeit, über unterschiedliche Muster bei der Konnektivität. Die Unterschiede in einer Gruppe von motorischen Bereichen wie dem primären Motorcortex, dem ergänzenden motorischen Bereich und seitlichem okzipitalen Kortex sowie dem Gyrus temporalis medius und superior waren am größten. Bei Mädchen mit Autismus standen die Unterschiede in den motorischen Zentren mit der Schwere ihrer motorischen Symptome in Zusammenhang. Mädchen, deren Gehirnmuster denen von betroffenen Jungen am ähnlichsten waren, neigten daher dazu, unter den am stärksten ausgeprägten motorischen Symptomen zu leiden.

Quelle: Moritz Bergmann/pressetext.redaktion