Rund 430.000 Kita-Plätze fehlen und jede Menge Qualität dazu

Derzeit kann der Rechtsanspruch auf eine Kindertagesbetreuung für Hunderttausende nicht erfüllt werden

In den westdeutschen Bundesländern fehlen rund 385.900 Kita-Plätze, um den Betreuungsbedarf der Eltern zu erfüllen. In Ostdeutschland gibt es rund 44.700 Plätze zu wenig. Das geht aus neuen Berechnungen der Bertelsmann Stiftung für das aktuelle „Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme“ hervor. Zwar gab es in den zurückliegenden Jahren erkennbare Fortschritte beim Ausbau von Kita-Angeboten. Doch zugleich ist der Bedarf kontinuierlich gestiegen, denn immer mehr Eltern wünschen sich – insbesondere für ihre jüngeren Kinder – eine Betreuung. Derzeit kann aber der Rechtsanspruch auf eine Kindertagesbetreuung, der seit 2013 auch für Kinder unter drei Jahren gilt, für hunderttausende Kinder nicht erfüllt werden.

Deutlich ungünstigere Personalschlüssel im Osten

In Ostdeutschland ist der Anteil an Kindern, die eine Kita besuchen, wesentlich höher als im Westen. Allerdings sind die Personalschlüssel hier deutlich ungünstiger. Während eine vollzeitbeschäftigte Fachkraft in Westdeutschland rechnerisch für 3,4 Kinder in Krippengruppen und für 7,7 Kinder in Kindergartengruppen verantwortlich ist, kommen im Osten 5,4 bzw. 10,5 Kinder auf eine Fachkraft. Den wissenschaftlichen Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung zufolge, müssten die Personalschlüssel bei 1 zu 3 sowie bei 1 zu 7,5 liegen. Gemessen daran, werden fast 90 Prozent der Kita-Kinder in Ostdeutschland in Gruppen betreut, deren Personalschlüssel nicht kindgerecht sind. Allerdings sind es auch im Westen noch rund 62 Prozent.

„Der Fachkräftemangel erschwert es zunehmend, die Rechtsansprüche zu erfüllen und in den Kitas den Bildungsauftrag umzusetzen. Die Situation ist für Kinder und Eltern wie auch für das vorhandene Personal untragbar geworden“, sagt Anette Stein, Expertin der Bertelsmann Stiftung für frühkindliche Bildung.

Fachkräfte-Radar zeigt mögliche Entwicklungen bis 2030 auf

Im aktuellen „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule“ hat die Bertelsmann Stiftung untersucht, wie sich das Angebot und der Bedarf an Fachkräften in den Bundesländern in den kommenden Jahren entwickeln und wie sich das auf die Kita-Situation auswirken könnte. Bis 2030 besteht für die ostdeutschen Bundesländer aufgrund der zurückgehenden Kinderzahlen die Chance, die Personalschlüssel an das Westniveau anzugleichen und die Elternbedarfe zu erfüllen. Brandenburg und Sachsen sowie – mit etwas mehr Anstrengung – Sachsen-Anhalt und Thüringen können bis 2030 sogar kindgerechte Personalschlüssel erreichen. Für alle Ost-Bundesländer gilt, dass das aktuell beschäftigte Kita-Personal nicht entlassen werden darf und sogar zusätzlich neue Fachkräfte gewonnen werden müssen.

Hamburg kann wohl bis 2030 die Elternbedarfe erfüllen

Für die westdeutschen Bundesländer ist insbesondere der hohe Bedarf an Kita-Plätzen eine enorme Herausforderung. Lediglich Hamburg kann laut Prognose bis 2030 sowohl die aktuellen Elternbedarfe als auch kindgerechte Personalschlüssel erfüllen. Auch für Niedersachsen wären beide Ziele realistisch, mit etwas mehr Anstrengungen ebenso für Schleswig-Holstein. Die meisten West-Bundesländer könnten bis 2030 die aktuellen Elternbedarfe decken und bei der Personalausstattung zumindest den West-Durchschnitt erreichen. Allerdings müssten dazu noch mehr Fachkräfte gewonnen werden, als der Prognose zufolge zur Verfügung stehen.

Ein Mix aus langfristig und kurzfristig wirkenden Maßnahmen

 Um die Ziele bis 2030 zu erreichen, müssen die Bundesländer jetzt die jeweils nötigen Schritte einleiten: Die ostdeutschen Länder müssen die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Kitas mehr Personal beschäftigen können. Solange die Personalausstattung ungünstiger ist als im Westen, gibt es keine bundesweite Chancengerechtigkeit in der frühkindlichen Bildung. Für die westdeutschen Länder gilt es, den Platzausbau voranzutreiben. Gleichzeitig braucht es in allen Bundesländern langfristige Strategien für die Gewinnung und Qualifizierung von neuen Fachkräften sowie attraktive Beschäftigungsbedingungen, damit das Personal im Berufsfeld bleibt. Dafür ist eine abgestimmte und verbindliche Kooperation von Bund, Ländern, Kommunen und Trägern nötig. Zudem sollte sich der Bund über die Leistungen des Kita-Qualitätsgesetzes hinaus an der Finanzierung der frühkindlichen Bildung verlässlich beteiligen. 

Kurzfristige Lösungen kaum möglich

An der aktuellen Notsituation – den fehlenden Plätzen sowie den nicht kindgerechten Personalschlüsseln – werden diese langfristig angelegten Maßnahmen allerdings kaum etwas ändern. Das zeigen die Prognosen des Fachkräfte-Radars für das Jahr 2025. Daher sind Sofortmaßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen gefragt. So könnte das pädagogische Personal von Verwaltungs- und Hauswirtschaftsaufgaben entlastet werden. Auch Quereinsteiger:innen können die Lage entspannen. Aber: „Auf keiner Ebene darf es Abstriche an der pädagogischen Qualifizierung geben. Sonst leidet die Bildungsqualität darunter“, mahnt Anette Stein. Wie die Berechnungen ebenfalls zeigen, würde in einigen Bundesländern eine Reduzierung der Kita-Öffnungszeiten bis 2025 dazu beitragen, die Ziele schneller zu erreichen. „Das ist zweifellos eine einschneidende Maßnahme, die nur individuell und in enger Abstimmung zwischen Kommune, Träger und Eltern getroffen werden sollte“, betont Stein. „Aber die Kita-Krise ist so weit fortgeschritten, dass neue Antworten gefragt sind.“

Zusatzinformationen:

Für das „Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme“ und den „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule“ wurden Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder aus der Kinder- und Jugendhilfestatistik (Stichtag 1. März 2022), des BMFSFJ („Kindertagesbetreuung Kompakt“, 2023), des DJI („Kinderbetreuungsreport 2022“, 2023) und weiteren amtlichen Statistiken ausgewertet. Die Berechnungen haben das LG Empirische Bildungsforschung der FernUniversität in Hagen, Economics & Data ED23 GmbH und die Bertelsmann Stiftung durchgeführt.

Alle Informationen zur Veröffentlichung finden Sie hier. Eine kompakte Darstellung der Ergebnisse bietet der Online-Artikel “KiTa-Personal braucht Priorität! Auch 2023”.  

Auf www.laendermonitor.de finden Sie zudem weitere aktuelle Daten und Fakten zur frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in Deutschland. Dazu gibt es unter www.laendermonitor.de/laenderprofile Daten und Analysen zum Status quo des frühkindlichen Bildungssystems für jedes Bundesland. Darüber hinaus erscheint zu Beginn des nächsten Jahres die neunte Ausgabe des Länderreports Frühkindliche Bildungssysteme.  

Die Ergebnisse des Fachkräfte-Radars für KiTa und Grundschule finden Sie unter www.fachkraefte-radar-kita-grundschule-2023.de. Die gesamte Publikation steht hier zum Download bereit.  

Quelle: Bertelsmann Stiftung




Jedes fünfte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet

Damit sich an der Kinder- und Jugendarmut etwas ändert, ist die Kindergrundsicherung nötig

Kinder- und Jugendarmut bleibt ein ungelöstes Problem in Deutschland. Mehr als jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene ist von Armut bedroht. In absoluten Zahlen bedeutet das: Knapp 2,9 Millionen Kinder und Jugendliche sowie 1,55 Millionen junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren galten 2021 als armutsgefährdet. Das geht aus dem neuen Factsheet „Kinder- und Jugendarmut in Deutschland“ der Bertelsmann Stiftung hervor. „Wer als junger Mensch in Armut aufwächst, leidet täglich unter Mangel, Verzicht und Scham und hat zugleich deutlich schlechtere Zukunftsaussichten. Das ist sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die Gesellschaft als Ganzes untragbar. Die derzeitigen Krisen und Preissteigerungen verschärfen das Problem. Daher muss die Bundesregierung die im Koalitionsvertrag vereinbarte Kindergrundsicherung jetzt schnellstmöglich und im benötigten Umfang beschließen“, sagt Anette Stein, Director Bildung und Next Generation bei der Bertelsmann Stiftung.

Alleinerziehende und Familien mit drei und mehr Kindern besonders betroffen

Vertiefende Erkenntnisse zur Armutsgefährdung liefern die amtlichen Daten zu Kindern und Jugendlichen, die Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II erhalten. Demnach lebten im Sommer 2022 rund 1,9 Millionen junge Menschen unter 18 Jahren in Haushalten, die Sozialleistungen beziehen. Die Quote von Kindern und Jugendlichen im SGB II-Bezug betrug in Westdeutschland 13,4 Prozent und in Ostdeutschland 16 Prozent. Ein Blick auf die kommunale Ebene zeigt gravierende Unterschiede: Die Spannbreite lag zwischen drei Prozent im bayerischen Roth und 42 Prozent in Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen. Sowohl die Anzahl als auch der Anteil von Kindern in SGB II-Haushalten sind erstmals seit fünf Jahren deutlich gestiegen. Die Zunahme ist vor allem auf die aus der Ukraine geflüchteten Kinder und Jugendlichen zurückzuführen. Diese haben gemäß der UN-Kinderrechtskonvention allerdings einen ebenso großen Anspruch auf gutes Aufwachsen und Teilhabe an der Gesellschaft. Überdurchschnittlich von Armut betroffen sind junge Menschen in alleinerziehenden Familien sowie in Familien mit drei und mehr Kindern. Die in diesen Fällen sehr aufwändige Sorge- und Betreuungsverantwortung macht es den Eltern oftmals unmöglich, einer umfänglichen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zudem wirken sich hier fehlende Angebote zur Kinderbetreuung besonders negativ aus. Das größte Armutsrisiko haben Kinder in Mehrkindfamilien mit einem alleinerziehenden Elternteil (86 Prozent).

Junge Erwachsene weisen höchstes Armutsrisiko aller Altersgruppen auf

Auch viele junge Erwachsene sind mit Armut konfrontiert. Laut Factsheet weisen 18- bis 25-Jährige mit 25,5 Prozent sogar das höchste Armutsrisiko aller Altersgruppen auf. Frauen sind dabei stärker betroffen als Männer, junge Menschen in Ostdeutschland häufiger als die in Westdeutschland. SGB II-Leistungen beziehen allerdings nur 7 Prozent dieser Altersgruppe, was auf den ersten Blick überrascht. Das liegt hauptsächlich daran, dass junge Erwachsene für gewöhnlich eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren und viele zum ersten Mal in eine eigene Wohnung ziehen. Hier greifen andere sozialstaatliche Maßnahmen, wie BAföG oder Wohngeld. „Die hohe Armutsbetroffenheit junger Erwachsener weist jedoch darauf hin, dass die verschiedenen Systeme nicht gut zusammenwirken. Ohne Unterstützung durch ihre Eltern wäre es vielen nicht möglich, ihre Existenz zu sichern. Damit hängen die Chancen junger Menschen weiterhin zu stark vom Elternhaus ab“, mahnt Stein.

Kindergrundsicherung wirksam gestalten

Aus Sicht der Bertelsmann Stiftung unterstreichen die Daten die Notwendigkeit, die Bekämpfung der Kinder- und Jugendarmut zur politischen Priorität zu machen. Die angekündigte Kindergrundsicherung wäre dafür ein zentrales Instrument. Doch diese müsse laut Stein so gestaltet sein, dass sie Armut wirksam vermeidet und sich an den tatsächlichen Bedarfen junger Menschen für gutes Aufwachsen, Bildung und Teilhabe orientiert. Die Kindergrundsicherung sollte ihnen eine weitgehend normale Kindheit und Jugend ermöglichen. Dazu ist es erforderlich, junge Menschen zu beteiligen und sie regelmäßig zu ihren Bedarfen zu befragen.

An der Stellschraube Kindergeld zu drehen, helfe laut Stein hingegen nicht weiter, im Gegenteil: „Eine Erhöhung des Kindergeldes ist teuer, vermeidet aber keine Armut, denn es kommt bei Familien im SGBII-Bezug nicht an. Die Kindergrundsicherung muss die Verteilung mit der Gießkanne beenden und gezielt denjenigen helfen, die besonders darauf angewiesen sind.“ Um die Lage speziell der jungen Erwachsenen zu verbessern, sind eine – auch von der Bertelsmann Stiftung empfohlene – Ausbildungsgarantie sowie eine BAföG-Reform unerlässlich. Beide Vorhaben sind ebenfalls im Koalitionsvertrag angekündigt. Zudem ist es wichtig, diese ergänzenden Instrumente mit der Kindergrundsicherung zu einem Leistungspaket zu verzahnen, das Kinder- und Jugendarmut wirksam bekämpft.

 Zusatzinformationen

Den Berechnungen im Factsheet „Kinder- und Jugendarmut“ liegen die beiden gängigen Definitionen im Bereich der Armutsforschung zugrunde: Erstens die Armutsgefährdungsquote, der zufolge Familien als arm gelten, die über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens verfügen. Zweitens die SGBII-Hilfequote, die Aufschlüsse über das Armutsrisiko zum Beispiel nach Wohnort oder Familienform gibt. Zu dieser sozialstaatlichen Armutsdefinition ist anzumerken, dass die Anteile der von Armut betroffenen Personen hier niedriger ausfallen. Denn viele Menschen beziehen zwar ein Einkommen unterhalb der Schwelle zur Armutsgefährdung, beantragen aber aus Unkenntnis oder auch aus Scham keine SGBII-Leistungen. Die Daten für Kinder und Jugendliche im SGBII-Bezug stammen aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit aus dem Juni 2022.

Quelle: Pressemitteilung Bertelsmann Stiftung




Hauptproblem „Fachkräftemangel“ – In 2023 fehlen 384.000 Kita-Plätze

Neue Bertelsmann Studie offenbart enorme Lücken bei der Kinderbetreuung auch im kommenden Jahr

In Deutschland gibt es noch immer zu wenig Kita-Plätze, um die Nachfrage zu decken. Gemessen an den Betreuungswünschen fehlen im kommenden Jahr voraussichtlich bis zu 383.600 Plätze bundesweit: 362.400 im Westen und 21.200 im Osten. Das geht aus neuen Berechnungen der Bertelsmann Stiftung für das aktuelle Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme hervor.

Knapp 100.000 neue Fachkräfte benötigt

Um den Betreuungsbedarf der Eltern zu erfüllen, müssten zusätzlich zum vorhandenen Personal weitere 93.700 Fachkräfte im Westen und 4.900 im Osten eingestellt werden. Für diese insgesamt 98.600 Personen würden zusätzliche Personalkosten von 4,3 Milliarden Euro pro Jahr entstehen, von denen der Großteil (4,1 Milliarden Euro) auf die westdeutschen Bundesländer entfiele. Hinzu kämen Betriebs- und mögliche Baukosten für Kitas. Noch herausfordernder als die Finanzierung wird es jedoch sein, die benötigten Fachkräfte für die Kitas zu gewinnen.

Die meisten Plätze fehlen in NRW

Um die Zahl der fehlenden Kita-Plätze in allen Bundesländern zu ermitteln, hat die Bertelsmann Stiftung die Betreuungsquoten der Kita-Kinder im Jahr 2021 mit dem Anteil der Eltern abgeglichen, die im gleichen Jahr in der Kinderbetreuungsstudie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) einen Betreuungsbedarf äußerten. Ein genauerer Blick zeigt, dass in fast allen Bundesländern, vor allem in den westdeutschen, die Nachfrage der Eltern nach Kita-Plätzen höher ist als der Anteil an Kindern, die 2021 betreut wurden.

Der größte Mangel besteht im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen mit 101.600 fehlenden Kita-Plätzen, während in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen kein Platzausbau erforderlich ist.

Auch in den Stadtstaaten ist der Platzmangel unterschiedlich ausgeprägt. In Berlin gibt es 17.000 Kita-Plätze zu wenig, was einer Unterversorgung von rund sieben Prozent entspricht. In Bremen fehlen 5.400 (rund dreizehn Prozent) und in Hamburg 3.700 Plätze (drei Prozent).

Über doppelt so viele Krippen- wie Kindergarten-Plätze benötigt

Der Ausbaubedarf unterscheidet sich darüber hinaus nach Altersgruppe. Den Berechnungen zufolge fehlen für unter dreijährige Kinder in Westdeutschland rund 250.300 Kita-Plätze, in Ostdeutschland (inklusive Berlin) sind es rund 20.700. Für die Kinder ab drei Jahren gibt es in den westdeutschen Bundesländern 112.100 Plätze zu wenig, gegenüber 500 im Osten.

„Rechtsanspruch auf Betreuungsplatz endlich erfüllen“

„Trotz des massiven Kita-Ausbaus in den vergangenen Jahren finden noch immer zu viele Eltern keinen Platz für ihre Kinder. Das ist in doppelter Hinsicht untragbar: Die Eltern müssen die Betreuung selbst organisieren, während den Kindern ihr Recht auf professionelle Begleitung in der frühen Bildung vorenthalten wird. Schon jetzt ist abzusehen, dass sich der gesetzlich verankerte Rechtsanspruch auf einen Platz in der Kindertagesbetreuung auch 2023 vielerorts nicht einlösen lässt“, sagt Anette Stein, Expertin für frühkindliche Bildung der Bertelsmann Stiftung. Seit 2013 gilt der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr, für Kinder ab drei Jahren besteht er schon seit 1996.

Und wo bleibt die Qualität?

Die Problemlage tritt noch deutlicher zutage, wenn auch die Qualität der frühkindlichen Bildung verbessert werden soll. Denn noch immer werden bundesweit 68 Prozent aller Kita- Kinder in Gruppen betreut, deren Personalschlüssel nicht den wissenschaftlichen Empfehlungen entsprechen. In Ostdeutschland trifft dies auf rund 90 Prozent der Kita-Kinder zu, doch auch im Westen ist der Anteil mit 63 Prozent zu hoch.

Damit 2023 nicht nur ausreichend Kita-Plätze zur Deckung der Betreuungsbedarfe bereitstehen, sondern auch alle Plätze kindgerechte Personalschlüssel aufweisen, müssten 308.800 Fachkräfte zusätzlich beschäftigt werden. Das entspräche Personalkosten von rund 13,8 Milliarden Euro jährlich.

Wunsch und Realität

„Die Länder und Kommunen müssen den Platzausbau jetzt mit Nachdruck vorantreiben“, sagt Anette Stein. Zwar sieht das neue Kita-Qualitätsgesetz vor, dass der Bund 2023 und 2024 jeweils bis zu zwei Milliarden Euro für die frühkindliche Bildung bereitstellt. Doch weil diese Mittel nicht reichen werden, sei es laut Stein unausweichlich, dass der Bund in größerem Umfang in die dauerhafte Finanzierung des Kita-Systems einsteigt. Die Bundesmittel sollten dazu eingesetzt werden, den Qualitätsausbau in Form kindgerechter Personalschlüssel voranzutreiben. Dieses Vorhaben hat die Ampelregierung im Koalitionsvertrag vereinbart.

Arbeitsbedingungen spürbar verbessern – auch durch bessere Personalausstattung

Allerdings sind die Kosten nicht das Kernproblem. „Die größte Hürde auf dem Weg zu genügend Plätzen und mehr Qualität in der frühkindlichen Bildung ist und bleibt der enorme Fachkräftemangel. Es muss jetzt sehr schnell gelingen, viel mehr Personen für das Berufsfeld zu gewinnen“, betont Stein, und verweist auf die Wechselwirkung: „Mit mehr Personal verbessern sich die Arbeitsbedingungen für alle. Damit steigen die Chancen, dass sich mehr Menschen für die Arbeit in einer Kita entscheiden, und zugleich die vorhandenen Fachkräfte im Beruf verbleiben.“ Damit mittelfristig eine bessere Personalausstattung möglich ist, braucht es eine verbindliche Strategie, wie zukünftig mehr und qualifiziertes Personal hinzukommen wird. Hierfür können gesetzlich verankerte Stufenpläne hilfreich sein. Ansonsten verlieren die Kitas ihre Attraktivität als Arbeitsplatz und können ihren Bildungsauftrag nicht mehr erfüllen.

Kein Ende des Mangels in Sicht

Es wird Zeit beanspruchen, die benötigten Fachkräfte zu gewinnen und vor allem zu qualifizieren. Dennoch muss es bereits jetzt gelingen, das vorhandene Kita-Personal zu entlasten. Dazu kann die zusätzliche Beschäftigung von Hauswirtschaftskräften gehören. Vor allem aber sollte das jetzige Aufgabenspektrum von Kitas konsequent überprüft und priorisiert werden. Denn die Anforderungen an das Kita-Personal sind sehr vielfältig und lassen sich mit der aktuellen Personalbemessung nicht mehr umsetzen. „Die Politik muss gemeinsam mit der Praxis und mit Beteiligung der Eltern die Frage beantworten: Worauf kann verzichtet werden, ohne das Recht der Kinder auf Bildung und gutes Aufwachsen zu verletzen?“, so Stein.

Zusatzinformationen

Für das Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme wurden Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder aus der Kinder- und Jugendhilfestatistik (Stichtag 1. März 2021), des BMFSFJ („Kindertagesbetreuung Kompakt“, 2021) und weiteren amtlichen Statistiken ausgewertet. Die Berechnungen haben das LG Empirische Bildungsforschung der FernUniversität in Hagen, Economix Research & Consulting und die Bertelsmann Stiftung durchgeführt. Die Daten und Quellen sind auf der Seite www.laendermonitor.de sowie in den Länderprofilen unter www.laendermonitor.de/laenderprofile zu finden. Eine kompakte Darstellung der Ergebnisse bietet dazu die Online-Broschüre www.bertelsmann-stiftung.de/kita-personal-braucht-prioritaet.

Quelle: Mitteilung Bertelsmann Stiftung




Über 100.000 Fachkräfte fehlen bei der Ganztagsförderung an Grundschulen bis 2030

Qualitätsverbesserungen im Osten und Quantitätsverbesserungen im Westen dringend nötig

Die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsförderung in der Grundschule und im Hort erfordert deutlich mehr Fachkräfte, als bis 2030 zur Verfügung stehen. Im Westen sind 76.000 Fachkräfte zusätzlich erforderlich, wenn bis Ende des Jahrzehnts für jedes Kind ein Platz mit einer Förderung von 40 Wochenstunden vorhanden sein soll. In den ostdeutschen Bundesländern steht zwar genügend Personal zur Verfügung, damit jedes Kind einen Platz erhalten kann. Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt allerdings – über den Rechtsanspruch hin-aus – die ostdeutschen Schulen und Horte mit so viel Personal auszustatten, dass sie die bessere Personalausstattung im Westen erreichen. Dafür wären zusätzlich 26.000 Fachkräfte erforderlich. Für eine flächendeckende und personell gut ausgestattete Ganztagsförderung würden also bis 2030 insgesamt über 100.000 pädagogische Mitarbeiter:innen mehr benötigt werden, als voraussichtlich zur Verfügung stehen. Das zeigt der neue „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2022“ der Bertelsmann Stiftung.

Die westdeutschen Bundesländer müssen sich auf den Platzausbau konzentrieren

Die ostdeutschen Bundesländer erfüllen für die Mehrheit der Grundschulkinder bereits den Rechtsanspruch auf eine ganztägige Betreuung – durchschnittlich 83 Prozent nutzen ein Ganztagsangebot sowie 3,5 Prozent ein Übermittagsangebot, das bis ca.  14:30 Uhr zur Ver-fügung steht. In den westdeutschen Bundesländern liegt die Teilhabequote im Schnitt nur bei 47 Prozent. Zudem besuchen hier 18 Prozent der Kinder im Grundschulalter ein Übermittagsangebot. Wenn im Westen jedes Grundschulkind bis 2030 ein Ganztagsangebot erhalten soll, müssen über eine Million Plätze zusätzlich zu den bestehenden geschaffen werden. Dafür sind rund 76.000 Fachkräfte mehr erforderlich, als bis dahin zur Verfügung stehen.

Im Osten ist eine bessere Personalausstattung nötig

Die ostdeutschen Bundesländer können zwar bis Ende des Jahrzehnts jedem Kind einen Platz anbieten, ohne dass ein Personalmangel zu erwarten ist. Allerdings plädiert die Bertelsmann Stiftung dafür, die personelle Situation an den ostdeutschen Grundschulen und Horten zu verbessern. Für die Personalausstattung legt der Rechtsanspruch keine bundeseinheitlichen Standards fest, doch die Unterschiede sind gravierend: Während die Horte in West-deutschland einen Personalschlüssel von 1 zu 6 aufweisen, liegt dieser im Osten bei 1 zu 14. Eine Vollzeit-Fachkraft in Ostdeutschland muss also – rechnerisch – mehr als doppelt so viele Kinder betreuen, wie in einem westdeutschen Hort. Daten zur Personalausstattung in schulischen Ganztagsangeboten werden bislang nicht erhoben. Orientierung bietet hier die landesspezifische Relation einer Lehrkraft zu Schüler:innen, die in Westdeutschland bei 1 zu 14,7 und in Ostdeutschland bei 1 zu 16,2 liegt. Damit in den ostdeutschen Bundesländern für alle Grundschulkinder ein ganztägiges Angebot mit einer, gemessen an der Personalausstattung, vergleichbaren Qualität wie im Westen bereitsteht, werden laut Prognose des Radars 26.000 zusätzliche Fachkräfte bis 2030 benötigt. Lediglich in Berlin und Thüringen werden nach derzeitigem Stand genügend Fachkräfte zur Verfügung stehen, um die Personalausstattung bis Ende des Jahrzehnts an den Westen anzugleichen.

Der zusätzliche Fachkräftebedarf fällt in Ost und West niedriger aus, wenn 2030 nicht alle Kinder ein Ganztagsangebot nutzen, sondern die Teilhabequoten bis dahin den Stand der ostdeutschen Teilhabequote erreichen (im Durchschnitt 86 Prozent). Doch selbst dann fehlen in Ost statt 26.000 noch 18.000 Personen, in West statt 76.000 noch 55.000 Personen. Nähme ein Teil der Kinder in Westdeutschland weiterhin die kürzere Übermittagsbetreuung in Anspruch, wäre der Personalmangel niedriger, läge aber noch bei fast 34.000 Personen. Insgesamt stünden damit in Deutschland noch immer zwischen 52.000 und 73.000 Fachkräfte weniger zur Verfügung, als benötigt. Das sind rund anderthalbmal beziehungsweise doppelt so viele Personen, wie die fast 37.000 Fachkräfte, die laut Prognose bis 2030 als neue Mitarbeiter:innen hinzukommen werden.

Die Bundesländer sollten schon jetzt Maßnahmen ergreifen

Die im „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2022“ beschriebenen Szenarien stellen verschiedene Handlungsoptionen für die Politik dar. Eine lückenhafte und zudem uneinheitliche Datengrundlage erschwert eine umfassende Bestandsaufnahme. Für Anette Stein, Direktorin im Programm „Bildung und Next Generation“ der Bertelsmann Stiftung, zeigen die Szenarien allerdings deutlich: „Die Umsetzung des Rechtsanspruchs lässt sich nur mit einem deutlich erhöhten Angebot an Fachkräften bewältigen. Daher müssen die Bundesländer gemein-sam mit allen Verantwortlichen schon jetzt differenzierte Maßnahmen ergreifen, um dem steigenden Personalmangel in Grundschulen und Horten vorzubeugen.“

Die westdeutschen Bundesländer sollten bis 2030 alle Anstrengungen darauf konzentrieren, das Platz- und damit das Personalangebot so auszubauen, dass der Rechtsanspruch auf Ganztagsförderung flächendeckend erfüllt werden kann. Die ostdeutschen Länder wiederum könnten einen Teil der Bundesmittel aus dem Ganztagsförderungsgesetz dazu einsetzen, eine Personalausstattung wie im Westen zu erreichen. Nach Einschätzung der Bertelsmann Stiftung sind weniger die finanziellen Mittel, sondern die fehlenden Mitarbeiter:innen die zentrale Herausforderung. Die Dimensionen des Personalmangels werden mit Blick auf die Ergebnisse der ersten Ausgabe des Fachkräfte-Radars aus dem August 2021 noch größer: Dieser ermittelte, dass im Kita-Bereich bis 2030 rund 230.000 pädagogische Beschäftigte fehlen werden.

„Damit der Rechtanspruch auf ganztägige Förderung für alle Grundschulkinder die besten Bildungschancen ermöglicht, brauchen wir ausreichend und gut qualifiziertes pädagogisches Personal. Der Hebel dafür ist eine langfristig angelegte Fachkräfteoffensive von Bund und Ländern. Für eine bessere sowie bundeseinheitliche Personalausstattung in Horten und Grundschulen muss die Politik jetzt die gesetzlichen Rahmenbedingungen, genügend Ausbildungskapazitäten sowie Anreize für den Einstieg in das Berufsfeld schaffen“, betont Stein.

Zusatzinformationen

Für den „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2022“ wurden Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder aus der Kinder- und Jugendhilfe-Statistik (Stichtag 1. März 2021), der Kultusministerkonferenz, der KiBS Studie aus 2020 und weiteren amtlichen Statistiken genutzt. Die Berechnungen führte Economix Research & Consulting durch. Die Publikation ist hier zu finden. Der Rechtsanspruch auf ganztägige Förderung für Grundschulkinder ist im Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) von Oktober 2021 geregelt und umfasst 40 Wochenstunden inklusiven Unterricht. Er gilt für Kinder von der 1. bis zur 4. Schulklasse und wird gestaffelt nach der Klassenstufe eingeführt. Ab dem Schuljahr 2026/2027 greift er bei Schüler:innen der 1. Klasse, ab 2029/2030 bei allen Grundschulklassen.

Quelle: Bertelsmann-Stiftung




Alleinerziehende haben das Nachsehen

Studie der Bertelsmann-Stiftung „Wer gewinnt? Wer verliert?“ gratis zum Download

Frauen können sich, auf das gesamte Erwerbsleben gerechnet, nur etwas mehr als halb so viel Bruttoeinkommen erarbeiten wie Männer. Dieser sogenannte Gender Lifetime Earnings Gap ist für Mütter noch größer. Eine von der Bertelsmann Stiftung geförderte Studie des ForscherInnenteams um Timm Bönke von der FU Berlin zeigt, dass sich diese Lücke mit Blick auf die verfügbaren Einkommen und damit den tatsächlichen Lebensstandard vor allem dann schließt, wenn Frauen sich innerhalb des traditionellen Familienbilds bewegen. Werden beide Einkommen im Haushalt zwischen den Eheleuten gleichmäßig aufgeteilt, fängt das Partnereinkommen Einkommensausfälle von Müttern infolge von Erwerbsunterbrechungen, beispielsweise durch Kindererziehungszeiten, auf. 

Alleinerziehende haben höhere Einbußen

Fällt diese Absicherung im Haushalt jedoch weg, kann der Staat Einkommensausfälle in der Lebensperspektive nur unzureichend kompensieren: Heute Mitte-30-jährige verheiratete Mütter und Väter haben in ihrem Haupterwerbsalter, das heißt zwischen 20 und 55 Jahren, nach Steuern und Abgaben zuzüglich Transfers und Familienleistungen jeweils rund 700.000 Euro zur Verfügung. Frauen, die überwiegend alleinerziehend sind (mehr als die Hälfte der Erziehungszeit) kommen lediglich auf rund 520.000 Euro und müssen im Vergleich zu verheirateten Müttern damit durchschnittlich Einbußen von rund 25 Prozent hinnehmen. Der tatsächliche Lebensstandard hängt also stark von der Familienkonstellation und den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen ab. „Für verheiratete Mütter schließt sich die geschlechtsspezifische Lücke in den Lebenseinkommen – die Partnerschaft sichert sie finanziell ab“, sagt Manuela Barišić, Arbeitsmarktexpertin der Bertelsmann Stiftung. „Alleinerziehende haben dagegen das Nachsehen, da sie von Partnereinkommen kaum oder gar nicht profitieren können.“

Der Sozialstaat gleicht Lebenseinkommensverlust von Alleinerziehenden nicht aus

Bei (überwiegend) alleinerziehenden Müttern kann das im Zuge der Familiengründung wegfallende Einkommen kaum oder gar nicht durch einen Partner kompensiert werden. Sie sind daher stärker auf staatliche Sozialleistungen angewiesen und hinken dennoch hinterher. Das gilt auch für Mütter, die über einen längeren Zeitraum verheiratet waren und sich nach der Trennung um die Kinder kümmern. Das verfügbare Lebenseinkommen von heute Mitte-30-jährigen teilweise alleinerziehenden Müttern (weniger als die Hälfte der Erziehungszeit) liegt bei 625.000 Euro und ist damit rund 10 Prozent niedriger als das der verheirateten Mütter. Die Zahlen zeigen auch, dass Alleinerziehende zunehmend auf Transferleistungen angewiesen sind. Im Vergleich zu älteren Alleinerziehenden (Jahrgang 1964), ist der Anteil der Transfers am gesamten Lebenseinkommen für jüngere teilweise alleinerziehende Mütter (Jahrgang 1985) von fünf auf neun Prozent und für überwiegend Alleinerziehende von zehn auf 17 Prozent stark angestiegen. Gleichzeitig ist der Anteil des Einkommens aus Erwerbstätigkeit gesunken, weil sich beispielsweise Phasen der Ausbildung oder der Arbeitslosigkeit verlängert haben. Sie sind nur bedingt in der Lage, zu den verheirateten Müttern aufzuschließen. „Viele der familienbezogenen Leistungen sind noch immer auf die eheliche Lebensgemeinschaft ausgerichtet, so wie das Ehegattensplitting oder die beitragsfreie Mitversicherung. Für Alleinerziehende oder nicht verheiratete Paare sind diese Leistungen nicht zugänglich“, sagt Bönke, Juniorprofessor für Öffentliche Finanzen und Autor der Studie. 



Fehlanreize abbauen, Kinderbetreuung ausbauen und finanzielle Absicherung stärken

Insbesondere die Kombination aus Ehegattensplitting, steuer- und abgabenfreien Minijobs und fehlenden Betreuungsmöglichkeiten setzt starke Anreize für eine traditionelle Rollenaufteilung, in der die Frau weniger Erwerbsarbeit und dafür mehr Sorgearbeit übernimmt als der Mann. Dabei sind die Vorteile einer solchen Spezialisierung im Haushalt über das Leben gering, der Preis langfristig aber hoch: „Viele Frauen stecken in der Zweitverdienerinnenfalle fest. Dadurch sind es bei Trennungen und im Alter vor allem Frauen, die gravierende finanzielle Einbußen in Kauf nehmen müssen“, mahnt Barišić. „Wohlfahrtstaatliche Leistungen, die einen spezifischen Lebensentwurf fördern, sollten der Vergangenheit angehören, zumal Familie heute deutlich vielfältiger ist als früher.“ 

Stattdessen müsse es um eine universellere Absicherung unterschiedlicher Lebenswirklichkeiten gehen – durch verlässliche und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung und größeren finanziellen Spielraum. Dies seien wichtige Rahmenbedingungen für eine gleichmäßigere Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern und eine bessere Absicherung von Alleinerziehenden.

Zusatzinformationen:

Der von der Bertelsmann Stiftung geförderten Studie „Wer gewinnt? Wer verliert? Die Absicherung von Lebenseinkommen durch Familie und Staat“ liegt ein dynamisches Mikrosimulationsmodell zugrunde, das vollständige Erwerbsbiografien im Längsschnitt auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) nachzeichnet. Basierend auf den jährlichen Haushaltsbruttoerwerbseinkommen, der Haushaltszusammensetzung und der Einkommens- und Erwerbshistorie werden Transferansprüche, staatliche Familienleistungen (inklusive Ehegattensplitting), Steuern und Abgaben im Alter zwischen 20 und 55 Jahren für die Geburtskohorten 1964 bis 1985 modelliert. Dabei wird ein vollständiges Einkommenspooling unterstellt, sodass Erwerbseinkommen zwischen Eheleuten gleichmäßig aufgeteilt werden. So kommt man vom individuellen Bruttolebenserwerbseinkommen zum äquivalenten verfügbaren Lebenseinkommen. Diese Publikation bildet die dritte und letzte Studie der Reihe „Wer gewinnt? Wer verliert?“ zu langfristigen Arbeitsmarkt- und (Lebens-)Einkommensentwicklungen von Frauen und Männern in Deutschland.

Quelle: Pressemitteilung Bertelsmann Stiftung




Trotz Arbeit auf Sozialleistungen angewiesen

Alleinerziehende und große Familien besonders betroffen

Viele Menschen in Deutschland sind trotz Arbeit auf Sozialleistungen angewiesen: Mehr als jeder fünfte Leistungsbeziehende nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II geht im Jahr 2021 einer Erwerbstätigkeit nach (22 Prozent). Insgesamt belief sich die Zahl dieser sogenannten Aufstocker in Deutschland im Juni dieses Jahres auf rund 860.000 Menschen. Das zeigt eine aktuelle Auswertung, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung vorgenommen hat.

Alleinerziehende besonders betroffen

Wie aus einer Langzeitanalyse für die Jahre 2010 bis 2018 hervorgeht, waren fast ein Drittel aller Leistungsbeziehenden, die in einer Familie mit Kindern leben, in diesem Zeitraum erwerbstätig. Und das, obwohl sie aufgrund der Anrechnungsregeln im SGB II nur einen kleinen Teil ihres Einkommens behalten und kein Vermögen ansparen können.

Besonders betroffen sind alleinerziehende Familien. Unter allen Haushaltsformen weisen sie das höchste Risiko auf, ihr Arbeitseinkommen aufstocken zu müssen: Mehr als jeder sechste erwerbstätige Alleinerziehende bezieht zusätzlich SGB II-Leistungen.

„Alleinerziehende haben eine hohe Motivation, erwerbstätig zu sein. Doch für sie ist es besonders schwer, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Es ist erschreckend, dass ein so hoher Anteil der Alleinerziehenden trotz Arbeit auf Transferleistungen angewiesen ist, um das Existenzminimum für sich und ihre Kinder zu sichern“, sagt Anette Stein, Director Bildung bei der Bertelsmann Stiftung.

Über drei Viertel erhalten Niedriglohn

Ob aufgestockt wird oder nicht, hängt maßgeblich von der Erwerbssituation ab: Je geringer die Arbeitszeit und je niedriger der Stundenlohn ausfallen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, zusätzlich SGB II-Leistungen beziehen zu müssen. Von allen Aufstockern üben fast die Hälfte (46 Prozent) eine geringfügige Beschäftigung aus und über drei Viertel erhalten einen Niedriglohn.

Bei Alleinerziehenden wirkt sich das besonders stark aus. Das Aufstocker-Risiko steigt bei ihnen erheblich, wenn sie einer Beschäftigung mit geringem Verdienst oder nur in Teilzeit nachgehen. Aufgrund der oftmals alleinigen Fürsorgeverantwortung für ihre Kinder bleibt ihnen aber häufig keine andere Wahl.

Kinder erhöhen das Aufstocker-Risiko

Die Analyse belegt: Haushalte mit Kindern, egal ob alleinerziehend oder als Paar, haben gegenüber kinderlosen Paaren und Alleinstehenden eine höhere Wahrscheinlichkeit, trotz Arbeit SGB II-Leistungen beziehen zu müssen. Dazu kommt es insbesondere dann, wenn Kinder unter zwölf Jahren im Haushalt leben. „Jüngere Kinder benötigen zumeist mehr Zeit und Fürsorge. Doch vielfach fehlen Betreuungsstrukturen oder -angebote, die es Eltern und ins- besondere Alleinerziehenden ermöglichen würden, einen Beruf in Vollzeit oder auch, wie in der Schichtarbeit, zu bestimmten Zeiten auszuüben“, erläutert Anette Stein.

Erst im Juli wies die Bertelsmann Stiftung in einer Studie nach, dass Alleinerziehende trotz häufiger Erwerbstätigkeit sehr stark von Einkommensarmut bedroht sind.

Weniger Aufstocker während der Pandemie

Im Zuge der Corona-Pandemie ist der Anteil der Aufstocker zurückgegangen, 2019 lag er noch bei über 26 Prozent. Als zentralen Grund dafür sehen die Expertinnen von IAB und Bertelsmann Stiftung den Wegfall Tausender Jobs in bestimmten Dienstleistungsbereichen, wie etwa dem Gastgewerbe, in denen viele Aufstocker beschäftigt sind. Dies betrifft auch die aufstockenden Alleinerziehenden, deren Zahl sich ebenfalls verringert hat. „Zudem ist die Vereinbarkeit von Arbeit und Kinderbetreuung infolge der Corona-Auswirkungen zu einem noch größeren Problem für Alleinerziehende geworden. Daher ist davon auszugehen, dass viele von ihnen zugunsten der Care-Arbeit den Job aufgeben und komplett in den SGB II-Bezug wechseln mussten“, erklärt Anette Stein.

Teilhabegeld einführen, Minijobs reformieren, Kinderbetreuung aufwerten

Für alle Familien ließe sich die Situation durch eine Kindergrundsicherung verbessern, wie sie von der neuen Bundesregierung im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. Für die konkrete Ausgestaltung empfiehlt die Bertelsmann Stiftung die Einführung eines Teilhabegeldes, das finanzielle Leistungen für Kinder bündelt, einfach zu beantragen ist und mit dem Einkommen der Eltern abgeschmolzen wird. Dadurch ließe sich Kinderarmut wirksam vermeiden. Aufgrund des hohen Aufstocker-Risikos für geringfügig Beschäftigte stellt eine Reform der Minijobs einen weiteren Ansatzpunkt dar. Deren Vorteile hatte die Bertelsmann Stiftung in einer Mitte des Jahres veröffentlichten Modellrechnung aufgezeigt. Die nun von der Ampel-Koalition anvisierte Anhebung der Minijob-Grenze auf 520 Euro hingegen wird die Minijob-Falle für Frauen und Mütter und damit das Aufstocker-Risiko eher verschärfen.

„Armutsfalle“ Familie

Dass gerade bei Alleinerziehenden, aber auch bei Paarfamilien mit Kindern, geringere Arbeitszeiten häufig mit einem höheren Aufstocker-Risiko einhergehen, wirft zudem die Frage nach der Wertschätzung von Kinderbetreuung auf. „Es darf nicht sein, dass Eltern noch immer vor dem Dilemma stehen, entweder zu wenig Zeit für ihre Kinder zu haben oder finanziell in Armut abzurutschen. Die Bedeutung und Notwendigkeit von Care-Arbeit sollten gesellschaftlich endlich stärker anerkannt werden. Das muss sich auch in Leistungen für Kinder niederschlagen, wie etwa dem von uns vorgeschlagenen Teilhabegeld“, sagt Anette Stein.

Zusatzinformationen

Die Auswertungen stützen sich hauptsächlich auf das Panel „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS), in dessen Rahmen seit 2006/07 jährlich ca. 12.000 Personen ab 15 Jahren in 8.000 Haushalten zu ihrer materiellen und sozialen Lage befragt werden. Neben seinem Längsschnittcharakter zeichnet sich das Haushaltspanel dadurch aus, dass es sowohl eine hohe Fallzahl von ca. 5.000 SGB II-Haushalten umfasst als auch repräsentativ für die Wohnbevölkerung in Deutschland ist. Für die Längsschnittanalyse wurden die Wellen 2010 bis 2019 (aktuell auswertbare Welle) verwendet. Weitere Datenquelle ist die Statistik der Bundesagentur für Arbeit (aktuell verfügbare Daten von 2020 bzw. Juni 2021).

Quelle: Bertelsmann Stiftung




Zu wenige Plätze im Westen, zu wenige Fachkräfte im Osten

kindergarten

Bessere Kita-Bedingungen sind möglich – neues Ländermonitoring der Bertelsmann Stiftung

Von gleichwertigen Lebensverhältnissen in der frühkindlichen Bildung ist Deutschland noch weit entfernt. Während im Osten 53 Prozent der Kinder unter drei Jahren (U3) eine Kita oder Kindertagespflege besuchen, sind es im Westen lediglich 31 Prozent. Die höhere Qualität hingegen bieten, gemessen am Personalschlüssel, die Kitas im Westen. Dort betreut rechnerisch eine vollzeitbeschäftigte Kita-Fachkraft 3,5 ganztagsbetreute Krippenkinder, in Ostdeutschland hingegen 5,5. Das zeigt die neue Ausgabe des Ländermonitorings Frühkindliche Bildungssysteme der Bertelsmann Stiftung. Kindgerecht wäre nach wissenschaftlichen Empfehlungen ein Personalschlüssel von eins zu drei zwischen Fachkraft und U3-Kindern.

Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule

In ihrem erstmals erstellten „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule“ zeigt die Bertelsmann Stiftung: Eine kindgerechte Personalausstattung und zugleich ausreichend Plätze in allen Kitas sind in diesem Jahrzehnt nicht mehr zu realisieren. Dafür gibt es nicht genügend Erzieherinnen. Auf dem bundesweiten Arbeitsmarkt besteht zwischen dem prognostizierten Bedarf und dem voraussichtlichen Angebot an Fachkräften eine Lücke von insgesamt mehr als 230.000 Erzieherinnen. Weder ist diese Lücke durch Aufstockung der Ausbildungskapazitäten zu schließen, weil dafür Berufsschullehrkräfte fehlen; noch sind bis 2030 genügend Quereinsteigerinnen zu gewinnen, die außerdem erst pädagogisch qualifiziert werden müssen. Verschärfen wird den Personalmangel ab 2026 der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder.

Etappenziel gleichwertige Lebensverhältnisse

Trotzdem kann die frühkindliche Bildung in Deutschland bis 2030 einen großen Schritt auf dem Weg zu gleichwertigen Lebensverhältnissen machen. Laut dem „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule“ besteht die realistische Chance, noch in diesem Jahrzehnt im Osten die Personalschlüssel an das Westniveau und im Westen die U3-Teilhabe an das Ostniveau anzugleichen. Sofern im Osten keine Fachkräfte entlassen und die prognostizierten Berufseinsteigerinnen und -einsteiger eingestellt werden, lassen sich die Personalschlüssel auf das heutige Westniveau verbessern. Begünstigt wird dieses Etappenziel durch rückläufige Geburtenraten. Auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt verbliebe insgesamt sogar ein Potenzial von etwas mehr als 4.000 Fachkräften, die für den weiteren Ausbau der Personalschlüssel oder Leitungskapazitäten zur Verfügung stünden.

Rund 33.000 Fachkräfte könnten fehlen

Im Westen stehen die Bundesländer vor unterschiedlichen Herausforderungen, um die Teilhabequoten auf das heutige Niveau der ostdeutschen Bundesländer zu heben. In Hamburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ist laut Prognose das Personal vorhanden, um genügend Kita-Plätze anzubieten. Hingegen ließe sich in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und im Saarland der Bedarf an Kita-Plätzen nicht decken, ohne über die bis 2030 prognostizierten Ausbildungskapazitäten hinaus zusätzliche Fachkräfte auszubilden und anzustellen. Sofern die derzeitigen Personalschlüssel beibehalten werden, fehlen hier laut Fachkräfte-Radar auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt insgesamt rund 33.000 Erzieherinnen.

Bund und Länder müssen sich besser koordinieren

Für Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, ist die Angleichung von Teilhabe und Qualität in Ost und West zwar nur ein „Etappenziel“. Das langfristige Ziel für die frühkindliche Bildung in Deutschland müsse weiterhin lauten: kindgerechte Qualität nach wissenschaftlichen Empfehlungen für alle Kinder unabhängig vom Wohnort. Aber auch das Etappenziel sei bereits als bedeutende Verbesserung der Situation in der frühkindlichen Bildung zu werten: „Das Gefälle zwischen Ost und West bei Teilhabe und Qualität aufzulösen, wäre ein echter Durchbruch in der frühkindlichen Bildung. Der Mangel an Fachkräften ist überwindbar. Darauf sollten sich ab sofort alle politischen Anstrengungen konzentrieren“, sagt Dräger.

Zentrale Aufgabe: landesrechtliche Voraussetzungen schaffen

Zentrale Aufgabe der ostdeutschen Bundesländer ist es, die landesrechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit die verfügbaren Fachkräfte tatsächlich zur Verbesserung der Personalschlüssel eingesetzt werden können. Für die sechs Westländer, in denen zu wenig Fachkräfte zur Verfügung stehen, sollte der zügige Ausbau der Ausbildungskapazitäten Priorität haben. Darum kommen auch alle anderen Bundesländer nicht herum, wenn ab 2030 kindgerechte Personalschlüssel in allen Betreuungsformen umgesetzt werden sollen. Insgesamt ist es unerlässlich, neues Personal zu gewinnen und zu binden. Dabei helfen würden attraktivere Arbeitsbedingungen und Verdienstmöglichkeiten.

Bund muss finanzielles Engagement fortsetzen

Vom Bund wünscht sich Dräger, dass er sein finanzielles Engagement für den Qualitätsausbau über 2022 hinaus fortsetzt und im Kita-Qualitäts- und Teilhabeverbesserungsgesetz („Gute-KiTa-Gesetz“) verlässlich verankert. Die Mittel sollten in erster Linie dafür verwendet werden, neue Fachkräfte zu gewinnen und zu qualifizieren sowie die Personal- und Leitungsausstattung der Kitas zu verbessern. Um den Fachkräftebedarf in allen Bundesländern zu decken, sei, so Dräger, ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen von Bund und Ländern notwendig.

Zusatzinformationen

Grundlage des jährlich aktualisierten Ländermonitorings Frühkindliche Bildungssysteme sind Auswertungen von Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder aus der Kinder- und Jugendhilfestatistik und weiteren amtlichen Statistiken. Stichtag für die Datenerhebung war der 1. März 2020. Die Berechnungen wurden von dem LG Empirische Bildungsforschung der FernUniversität in Hagen durchgeführt. Die aktuellen Daten finden Sie unter www.laendermonitor.de sowie in den Länderprofilen unter www.laendermonitor.de/laenderprofile.

Die Berechnungen des erstmals veröffentlichten Fachkräfte-Radars für KiTa und Grundschule hat Economix Research & Consulting durchgeführt. Die Publikation finden Sie unter www.fachkraefte-radar-kita-grundschule.de. Zur genaueren Abschätzung der benötigten Fachkräfte für die Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder wird die Bertelsmann Stiftung gegen Ende dieses Jahres eine Folgestudie veröffentlichen.

Die Expertinnen

Anette Stein, Telefon: 0 52 41 81 81 274, E-Mail: anette.stein@bertelsmann-stiftung.de

Kathrin Bock-Famulla, Telefon: 0 52 41 81 81 173, E-Mail: kathrin.bock-famulla@bertelsmann-stiftung.de

Anne Münchow, Telefon: 0 52 41 81 81 254 E-Mail: anne.muenchow@bertelsmann-stiftung.de




Trotz Arbeit von Armut bedroht

Das Armutsrisiko von Alleinerziehenden verharrt auf hohem Niveau 

Das Risiko, in Armut zu leben, ist für alleinerziehende Familien in Deutschland von allen Familienformen am höchsten: 43 Prozent der Ein-Eltern-Familien gelten als einkommensarm, während es bei den Paarfamilien mit einem Kind neun Prozent, mit zwei Kindern elf Prozent und mit drei Kindern 31 Prozent sind. Frauen sind in besonderer Weise davon betroffen. Denn 88 Prozent der Alleinerziehenden sind Mütter.

Der Anteil der Alleinerziehenden, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II beziehen, ist seit 2015 zurückgegangen: in den westdeutschen Bundesländern von 36 auf 34 Prozent, im Osten sogar von 43 auf 33 Prozent. Das deutet darauf hin, dass politische Anstrengungen – wie die Reformen von Unterhaltsvorschuss und Kinderzuschlag – dazu beigetragen haben, alleinerziehende Familien aus dem SGB II-Bezug zu lösen.

Trotzdem ist ihr Anteil unter den SGB II-Haushalten mit 34 Prozent fast fünfmal höher als bei Paarfamilien mit Kindern (sieben Prozent). Wie die neue Studie „Alleinerziehende weiter unter Druck“ von Anne Lenze (Hochschule Darmstadt) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zeigt, ist das Risiko der Einkommensarmut für alleinerziehende Familien nicht gesunken, sondern verharrt auf hohem Niveau.

Meist erwerbstätig

Das höhere Armutsrisiko alleinerziehender Familien ist dabei nicht auf mangelnde Erwerbstätigkeit zurückzuführen. So gehen alleinerziehende Mütter häufiger einer Beschäftigung nach als andere Mütter und arbeiten öfter in Vollzeit. Zudem üben auch 40 Prozent der Alleinerziehenden im SGB II-Bezug eine Erwerbstätigkeit aus – häufiger als der Durchschnitt der Leistungsempfängerinnen und -empfänger.

 „Alleinerziehende leisten im Alltag enorm viel und erfahren dafür zu wenig Anerkennung. Oftmals sorgen sie allein für ihre Kinder und gehen zusätzlich einer Erwerbstätigkeit nach. Trotzdem reicht das Einkommen häufig nicht aus. Arm trotz Arbeit – damit darf sich unsere Gesellschaft nicht abfinden“, sagt Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung. Dräger zufolge ist das Armutsrisiko alleinerziehender Eltern die größte Belastung für die Zukunftsperspektiven ihrer Kinder: 45 Prozent aller Kinder im SGB II-Bezug leben in einer alleinerziehenden Familie. 

Nochmals höhere Belastungen durch Corona

Nach Drägers Einschätzung haben alleinerziehende Familien die Folgen der Covid-19-Pandemie in besonderer Weise zu spüren bekommen. Denn häufig arbeiten Alleinerziehende im Niedriglohnbereich und in systemrelevanten Berufen, und leben in beengten Wohnungen. Durch geschlossene Schulen, Kitas und Vereine fehlten den Eltern Entlastungsangebote in der Betreuung und den Kindern die wichtigen sozialen Kontakte. „Die Corona-Auswirkungen setzen Alleinerziehende nochmals höheren Belastungen aus und bringen sie an die Grenzen ihrer Gesundheit. Es muss mehr getan werden, um alleinerziehende Familien zu entlasten, finanziell zu unterstützen und damit auch den Kindern zu helfen“, so Dräger.

Zur Vermeidung von Kinderarmut empfiehlt die Bertelsmann Stiftung die Einführung eines Teilhabegeldes, das finanzielle Leistungen für Kinder bündelt, einfach zu beantragen ist und gerade Alleinerziehende erreicht. Die Politik sollte außerdem die Mehrbedarfe von getrennten Familien empirisch erfassen und absichern. Das betrifft zum Beispiel zusätzliche Anschaffungs- oder Wohnkosten, wenn Kinder in zwei Haushalten leben.

Weiterer Handlungsbedarf entsteht aus dem häufigen Ausfall von Unterhaltszahlungen, die nur in etwa einem Viertel der Fälle in Höhe des Mindestunterhalts ankommen. Um alleinerziehende Mütter und Väter zu entlasten, schlägt die Bertelsmann Stiftung vor, die Unterhaltsansprüche auf den Staat zu übertragen, damit dieser sie einfordern kann. Außerdem sollte das Unterhaltsrecht stärker die innerfamiliäre Aufgabenteilung vor der Trennung berücksichtigen. Denn es sind überwiegend die Mütter, die ihre Arbeitszeit zugunsten der Kinderbetreuung reduzieren. Im Falle einer Trennung drohen ihnen somit empfindliche Einbußen beim Lebenserwerbseinkommen.

„Leidtragende sind vor allem die Kinder“

In diesem Zusammenhang meldet sich auch das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) zu Wort. Dieses plädiert für eine verstärkte Förderung von Alleinerziehenden und ihren Kindern, um die Kinderarmut in Deutschland zu bekämpfen. „Die heute von der Bertelsmann Stiftung vorgelegte Studie zeigt, dass Alleinerziehende und ihre Kinder weiterhin besonders stark von Armut betroffen sind. Die Leidtragenden sind vor allem die Kinder. Um hier Abhilfe zu schaffen, muss in erster Linie gewährleistet sein, dass Alleinerziehende ihren Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder durch eigene Erwerbstätigkeit sicherstellen können. Hierzu braucht es armutsfeste Löhne und bezahlbaren Wohnraum ebenso wie ausreichende und flexible Kinderbetreuungsmöglichkeiten sowie eine stärkere Unterstützung von Alleinerziehenden bei Weiterbildungen oder dem Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt. Und da, wo der Staat finanziell einspringen muss, um den Lebensunterhalt zu gewährleisten, braucht es kurzfristig höhere Hartz-IV-Regelsätze“, betont Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des DKHW.

Infrastruktur für Alleinerziehende

Um den Armutskreislauf zu durchbrechen, braucht es neben der materiellen Absicherung, aber auch die entsprechende Infrastruktur für Alleinerziehende und ihre Kinder. Hier ist Bildung ein wesentlicher Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe und für den chancengerechten Zugang zu einer angemessenen beruflichen Entwicklung. In Deutschland hängt der Bildungserfolg von Kindern jedoch nach wie vor sehr stark von den Eltern und ihren Möglichkeiten ab. Bildung beginnt dabei nicht erst in der Schule. Nach Ansicht des Deutschen Kinderhilfswerkes muss bereits im Bereich der frühkindlichen Bildung ein wesentlicher Fokus liegen. Neben einem Ganztagsangebot und flexiblen Öffnungszeiten, die insbesondere für Alleinerziehende von zentraler Bedeutung sind, brauchen wir für die Sicherung der Rechte von allen Kindern, gleich welcher Herkunft, eine qualitativ hochwertige Bildung, Erziehung und Betreuung sowie ein Qualitätsmanagement in der Kindertagesbetreuung, das auch den gestiegenen Anforderungen und Erwartungen an das Fachpersonal Rechnung trägt.

Neuauflage der Social-Media-Kampagne #StopptKinderarmut

Die schwierige Lage alleinerziehender Familien nimmt die Bertelsmann Stiftung zum Anlass, um an die Social-Media-Initiative #StopptKinderarmut anzuknüpfen, die bislang 1,1 Millionen Abrufe auf Youtube erzielt hat. Parallel zur Veröffentlichung der aktuellen Studie machen bekannte Persönlichkeiten aus Medien, Kultur und Sport – darunter Hatice Schmidt, Leeroy Matata und Henry Maske – mit Beiträgen in den sozialen Netzwerken auf die fatalen Auswirkungen von Kinderarmut für die Betroffenen aufmerksam. 

Zusatzinformationen

2019 lebten in Deutschland 1,52 Millionen alleinerziehende Familien mit Kindern unter 18 Jahren. Das sind 19 Prozent aller Familien. Alleinerziehende sind der amtlichen Statistik zufolge Mütter und Väter, die ohne Ehe- oder Lebenspartner:in mit minder- oder volljährigen Kindern in einem Haushalt zusammenleben. Die Zahlen zur Einkommensarmut stammen vom Statistischen Bundesamt und beziehen sich auf das Jahr 2019. Die Daten zum SGB II-Bezug aus dem Jahr 2020 sind bei der Bundesagentur für Arbeit abrufbar. 

Quellen: Pressemitteilung Berstelsmann Stiftung und Deutsches Kinderhilfswerk