Der Wohlstand hinterlässt seine Spuren im Erbgut

Kinder aus einkommensstarken Familien altern auf zellulärer Ebene langsamer: Was die Telomerlänge über soziale Ungleichheit verrät

Kinder aus finanziell benachteiligten Familien zeigen bereits im Grundschulalter biologische Unterschiede, die mit einer beschleunigten Zellalterung in Verbindung stehen. Das belegt eine europaweite Studie unter Leitung der Imperial School of Public Health, veröffentlicht im Fachjournal „The Lancet Regional Health – Europe“. Demnach hatten Kinder aus wohlhabenderen Haushalten im Schnitt etwa fünf Prozent längere Telomere – jene Schutzkappen an den Enden der Chromosomen, die als Biomarker für den Alterungsprozess gelten.

Biologische Ungleichheit beginnt im Kindesalter

Die Telomerlänge gilt in der medizinischen Forschung als Indikator für das biologische Alter einer Zelle. Kürzere Telomere sind mit einem erhöhten Risiko für chronische Erkrankungen und einer verkürzten Lebenserwartung verbunden. Die neuen Studienergebnisse legen nahe, dass sich die sozioökonomische Ausgangslage von Kindern bereits auf zellulärer Ebene widerspiegeln kann – lange bevor sich gesundheitliche Ungleichheiten im klinischen Bild zeigen.

„Unsere Daten zeigen, dass sich soziale Unterschiede auf biologischer Ebene manifestieren – und das bereits in jungen Jahren“, sagt Studienleiter Dr. Oliver Robinson. Er weist darauf hin, dass Kinder aus weniger wohlhabenden Verhältnissen durch ihre Umweltbedingungen biologisch schneller altern könnten. Diese Entwicklung entspreche auf zellulärer Ebene einem Unterschied von bis zu zehn Jahren.

Telomeres are protective caps on the end of chromosomes. Cell, chromosome and DNA vector illustration

Stresshormon Cortisol: Indikator, aber kein Vermittler

Parallel zur Telomermessung wurde auch das Stresshormon Cortisol im Urin der Kinder erfasst. Kinder aus Haushalten mit mittlerem und hohem Wohlstand wiesen im Schnitt 15 bis 23 Prozent niedrigere Cortisolwerte auf als Kinder mit geringem familiären Wohlstand. Dies deutet auf eine geringere Belastung durch psychosozialen Stress hin.

Ein direkter Zusammenhang zwischen dem Cortisolspiegel und der Telomerlänge ließ sich in den Analysen jedoch nicht nachweisen. Die Cortisolproduktion erwies sich nicht als statistisch signifikanter Vermittler des Zusammenhangs zwischen Wohlstand und Zellalterung. Kendal Marston, Erstautorin der Studie, betont: „Unsere Daten sprechen dennoch für eine stärkere psychosoziale Belastung in sozioökonomisch benachteiligten Haushalten – etwa durch geteilte Schlafräume oder begrenzten Zugang zu digitalen Lernressourcen.“

Länderübergreifende Datenerhebung aus sechs EU-Staaten

Die Datengrundlage stammt aus dem „Human Early-Life Exposome Project“ (HELIX), einer paneuropäischen Kohortenstudie. Untersucht wurden 1.160 Kinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren aus Großbritannien, Frankreich, Spanien, Norwegen, Litauen und Griechenland. Die sozioökonomische Einteilung erfolgte anhand der „Family Affluence Scale“ (FAS), die kultursensibel materielle Lebensumstände erfasst, etwa Urlaubsreisen, eigener Computerzugang oder Fahrzeugbesitz.

Die Telomerlänge wurde mittels qPCR aus weißen Blutkörperchen bestimmt. Die Cortisolproduktion wurde durch Flüssigchromatographie-Tandem-Massenspektrometrie (LC-MS/MS) aus Urinproben berechnet. Die Analyse erfolgte unter Berücksichtigung zahlreicher Einflussfaktoren – etwa Ernährung, körperlicher Aktivität, Umweltbelastung oder dem Bildungsstand der Eltern.

Keine vorschnellen Schlüsse – aber klare Hinweise

Die Forschenden betonen, dass ihre Studie keine Aussagen über genetische Qualität oder deterministische Zusammenhänge treffen kann. Vielmehr sei der biologische Zustand ein sensibler Spiegel früher Lebensbedingungen. Die beobachteten Unterschiede lassen sich weder allein durch das elterliche Bildungsniveau noch durch Sozialkapital erklären. Vielmehr legt die Studie nahe, dass der materielle Wohlstand der Familie eigenständig mit biologischen Stressmarkern in Verbindung steht.

Quellen:

Marston, K. et al. (2024): Associations between family affluence, cortisol production, and telomere length in European children. The Lancet Regional Health – Europe.
Pressemitteilung der Imperial College London School of Public Health
HELIX Project, EU Grant 308333
UK Research and Innovation (Förderkennzeichen: MR/S03532X/1)

Gernot Körner




Bildungsgerechtigkeit jetzt verwirklichen

Deutsches Kinderhilfswerk fordert umfangreiche Maßnahmen zum Tag der Bildung

Das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) vermisst an vielen Stellen den politischen Willen, sich dem drängenden, strukturellen Problem der schlechten Bildungschancen der von Armut betroffenen Kinder in Deutschland anzunehmen. Und auch bei der Integration von geflüchteten Kindern ins Bildungssystem gibt es noch viel zu tun. Zudem muss nach Ansicht des Deutschen Kinderhilfswerkes die digitale Bildung von Kindern und Jugendlichen gesichert werden. Diese soll junge Menschen dazu befähigen, ihre Rechte im Internet wahrzunehmen und im Zeitalter der Digitalisierung Angebote barrierearm in Anspruch nehmen zu können.

Das Recht gilt für alle gleich

„Das Recht auf Bildung gilt für alle Kinder, ungeachtet ihrer sozialen Lage oder ihrer Herkunft. Deshalb müssen wir es schaffen, die Vererbung von Bildungsverläufen aufzubrechen. Bildung als Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe und für den chancengerechten Zugang zu einer angemessenen beruflichen Entwicklung ist nachweislich von entscheidender Bedeutung. Deshalb müssen allen Kindern gleichwertige Chancen ermöglicht werden. Dies gilt insbesondere für die fast drei Millionen Kinder und Jugendlichen, die in Deutschland von Armut betroffen sind. Hier lassen sich auch über eine gute Personal-, Raum- und Sachausstattung von Bildungseinrichtungen, durch eine bedarfsgerechte Qualifizierung der Lehr- und pädagogischen Fachkräfte sowie ein vielfältiges, nicht nur an Lehrplänen orientiertes Bildungsangebot die unterschiedlichen finanziellen Voraussetzungen in den Elternhäusern ausgleichen“, betont Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des DKHW.

Recht auf Bildung und Beschulung

Aus dem Recht auf Bildung folgt zudem, dass alle Kinder in Deutschland Anspruch auf Bildung und Beschulung haben. Auch zu uns geflüchtete Kinder sollten schnellstmöglich eine Schule besuchen können. Dabei geht es zum einen um das Lernen generell, aber auch um den sozialen Austausch mit anderen. Das monatelange Warten und Ausharren in Gemeinschafts- oder Sammelunterkünften ohne ausreichenden Zugang zu Bildung widerspricht der UN-Kinderrechtskonvention“, so Hofmann weiter.

Recht auf digitale Bildung

„Mit dem General Comment No.25 sichern die Vereinten Nationen Kindern ein Recht auf digitale Bildung zu. Dies umfasst sowohl die technische Ausstattung, die Qualifizierung der Fachkräfte zum Umgang mit Technik und Materialien als auch die Förderung von Entwicklung und Anschaffung digitaler Bildungsmaterialien. Digitale Bildung sollte junge Menschen dazu befähigen, ihre Rechte im Internet wahrzunehmen. Digitale Bildung kann zudem das Recht auf Bildung in Situationen sichern, die eine Teilnahme am Unterricht in der Schule nicht zulassen“, sagt Holger Hofmann.




„Bildung auf einen Blick“ – OECD-Studie offenbart Mängel bei der Integration

Bei der Lesekompetenz von Kindern mit Migrationshintergrund liegt Deutschland unter dem OECD Durchschnitt

„Bildung auf einen Blick – OECD-Indikatoren“ ist die maßgebliche Quelle für Informationen zum Stand der Bildung weltweit. Die Publikation bietet Daten zu den Strukturen, der Finanzierung und der Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme der einzelnen OECD-Länder sowie einer Reihe von Partnerländern. Mehr als 100 Abbildungen und Tabellen in der Veröffentlichung selbst – sowie Links zu wesentlich mehr Daten in der OECD-Bildungsdatenbank – liefern zentrale Informationen zum Output der Bildungseinrichtungen, zu den Auswirkungen des Lernens in den einzelnen Ländern, zu Bildungszugang, Bildungsbeteiligung und Bildungs- verlauf, zu den in Bildung investierten Finanzressourcen sowie zu den Lehrkräften, dem Lernumfeld und der Organisation der Schulen.

Schwerpunkt „Gerechtigkeit“

Bildung auf einen Blick 2021 legt u. a. einen Schwerpunkt auf das Thema Gerechtigkeit. Es wird untersucht, welchen Einfluss Faktoren wie Geschlecht, sozioökonomischer Status, Geburtsland und regionale Lage auf den Fortschritt durch Bildung und die zugehörigen Lern- und Arbeitsmarktergebnisse nehmen. Ein eigenes Kapitel befasst sich mit dem Unterziel 4.5 von SDG 4 über Bildungsgerechtigkeit, in dem eine Beurteilung vorgenommen wird, an welchem Punkt die OECD- und Partnerländer bei der Bereitstellung eines gleichberechtigten Zugangs zu hochwertiger Bildung in allen Bildungsbereichen stehen. Zwei neue Indikatoren zu den Mechanismen und Formeln für die Zuweisung von öffentlichen Mitteln an Schulen und zur Fluktuationsrate von Lehrkräften runden die diesjährige Ausgabe ab

Mehr Mittel für Chancengleichheit gefordert

Mit Blick auf die Publikation der OECD macht sich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) dafür stark, mehr Geld für Bildung auszugeben. Der Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) müsse deutlich wachsen. „Mit den bisher eingesetzten Mitteln schaffen wir es in Deutschland bis heute nicht, für Chancengleichheit zu sorgen“, sagte Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied Schule. Dies werde insbesondere am Beispiel der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund deutlich. Ihre Lesekompetenz sei fast 20 Prozent geringer als bei Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Damit liege Deutschland unter dem OECD-Schnitt. „Zugewanderte Schülerinnen und Schüler brauchen mehr Förderung und Unterstützung, um ihre sprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln. Dafür müssen die Länder entsprechende Programm auflegen“, betonte Bensinger-Stolze.

Anteil der Bildungsausgaben unter OECD-Durchschnitt

„Trotz nomineller Zuwächse bei den Bildungsausgaben investiert Deutschland immer noch zu wenig Geld in Bildung. Der Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben von 4,3 Prozent des BIP liegt weiterhin deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 4,9 Prozent“, stellte Bensinger-Stolze fest.

Offensive zur Gewinnung von Lehrkräften

Sie setzte sich für eine Offensive zur Gewinnung von Lehrkräften ein. „Wir müssen den dramatischen Lehrkräftemangel an Grundschulen, der uns insbesondere während der Pandemie auf die Füße fällt, konsequenter als bisher bekämpfen“, sagte Bensinger-Stolze mit Blick auf die Altersstruktur der Lehrkräfte im Primarbereich. Dafür sei es dringend notwendig, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und alle voll ausgebildeten Lehrkräfte in allen Bundesländern nach A13 (Beamte) und E13 (Angestellte) zu bezahlen. Nur so werde der Lehrkräfteberuf für junge Menschen bei der Berufswahl wieder attraktiver.

Hier geht es zum Download der Studie