Wenn Socken neue Freunde brauchen

Pauline Oud: Mama und Papa trennen sich – und ich?

Das mit den Socken ist wirklich schwierig. Sie liegen in einem geflochtenen Korb und sind ganz schön durcheinander. Wie Kai. Weil seine Eltern sich getrennt haben und Papa ausgezogen ist. Jetzt also in einer anderen Wohnung lebt. Damit sind auch die Socken getrennt. Und manchmal ziemlich traurig. Eine rote Socke bei Papa, eine bei Mama. Manchmal jedenfalls. Da ist es gut, dass Kai einen Freund hat, Lukas. Mit ihm zusammen macht er die traurigen Socken wieder fröhlich. Denn die gelbe Socke passt prima zu der blauen. Und die orange und die rosa Socke verstehen sich auch sehr gut.

Mit solchen einfachen und eingängigen Geschichten zeigt Pauline Oud, wie sich das Leben von Kindern nach der Trennung der Eltern ändert: Alles ist anders! Die grundsätzliche Sicherheit verschwindet und die Ordnung der Welt muss neu geschaffen werden.

Bei Kai und seinen Eltern klappt das so einigermaßen. Sie streiten sich nicht sehr, haben zu einer kooperativen Elternschaft gefunden. Sie haben klar abgesprochen, wer wann für Kai zuständig ist. Und manchmal bringt Mama etwas zu Papa, was Kai vergessen hat. Also etwas ganz Wichtiges natürlich, wie das Lieblingskuscheltier.

Selbstverständlich ist Kai unsicher, was jetzt wird, welche Regeln und Gepflogenheiten in welcher Wohnung herrschen, sogar ob er Freunde einladen darf. Darf er, klar doch. Schließlich hat Papa einen großen Kuchen gebacken, den sie zu zweit gar nicht schaffen. Womit deutlich wird: Dieses Buch kann auch Eltern auf neue Ideen bringen. Zum Beispiel wie mit Humor eine Situation so entschärft werden kann, dass sie gar nicht erst aus dem Ruder läuft. Wie die mit der Einladung für den besten Freund. Das setzt allerdings voraus, dass beide Eltern ihrem Kind zugewandt sind, wissen, wie es ihm geht und darauf eingehen.

Übrigens ist es völlig selbstverständlich, dass Papa viel Zeit mit Kai verbringt. Dass er genauso bei Papa wohnt wie bei Mama. Und dass beide wirklich wissen, wie wichtig der andere Elternteil für ihr Kind ist und das akzeptieren.

Kooperative Elternschaft

Das ist nicht bei allen Trennungsfamilien so. Jonas zum Beispiel leidet sehr darunter, dass seine Mama seinen Papa immer schlecht macht, wenn sie mit ihren Freundinnen oder der Oma spricht. Dann hält er sich die Ohren zu, schließlich hat er Papa lieb und will nichts Schlechtes über ihn hören. Ein Besuchsbuch kann da helfen. Damit teilen sich Jonas’ Papa und Mama kurz mit, was jeweils beim anderen los war. Dann müssen sie sich nicht treffen und sofort auf den Teufelskreis des Streitens einsteigen, sondern können sich darüber freuen, wie viel Spaß Jonas hatte.

Auf jeweils einer Doppelseite wird in Pauline Ouds Bilderbuch anhand einer kurzen Geschichte in ein Thema eingeführt: Neues Zuhause, Streit, Vermissen, Neuer Freund, oder auch „Bei wem darfst du was?“ Die zweite Seite bringt die darin enthaltenen Konflikte auf den Punkt und zeigt Lösungsansätze. Dabei wird immer auch das Kind, dem das Buch vorgelesen wird, gefragt: Wie ist es bei dir? Wohnst du bei Mama oder bei Papa? Was macht dich fröhlich? Was findest du nicht schön? Die Illustrationen sind altersgerecht einfach gezeichnet. Manchem mag das ein wenig süß vorkommen, sie zeigen aber deutlich die Reaktion und den Gefühlszustand des Kindes.

Pauline Ouds Buch ist ein gutes Medium, um mit Kindern über die Trennung der Eltern ins Gespräch zu kommen. Auch und gerade in der Kita. Denn da sind ganz sicher andere Kinder in einer ähnlichen Situation. „Wie geht es dir damit, wie gehst du damit um, was findest du daran gut, was würdest du gern ändern?“ sind Fragen, mit denen Erwachsene Kindern zeigen, dass sie wirklich an ihnen interessiert sind. Und sie ernst nehmen.

Ralf Ruhl

Den Coppenraht Verlag finden Sie auf der Buchmesse Frankfurt 2022 in Halle 3.0 Stand E84

Bibliographie

Pauline Oud
Mama und Papa trennen sich – und ich?
Coppenrath 2022
40 Seiten, Hardcover
ab 3 Jahre
ISBN 978-3-649-64190-2
15 Euro




Eine Pilgerreise ist eine Entwicklungsreise zu sich selbst

Ein Interview mit Brigitte Falkenhain zur ihrem Buch und ihren Erfahrungen auf dem Pilgerweg

Brigitte Falkenhain schenkte sich nach ihrer Zeit als Erzieherin und Heilpädagogin eine längere Pilgerreise auf dem Jakobsweg. Daraus ist das Buch „Auf dem Jakobsweg – Ein persönlicher Erlebnisbericht und zugleich eine Reise zu sich selbst“ entstanden. Wir haben uns dafür interessiert, welche Rolle dabei ihre Erfahrungen als pädagogische Fachkraft gespielt haben.

Sie haben sich während Ihrer Zeit im Kindergarten dafür entschieden, sich eines Tages auf den Jakobsweg zu machen. Was waren ihre Motive dafür?

Brigitte Falkenhain: Meine Pilgerreise war die Erfüllung eines lang gehegten Traumes und zugleich ein persönliches Geschenk an mich.  Damit läutete ich für mich ein neues, überaus spannendes Lebenskapitel ein. Mit einem zuvor absolvierten Spanisch-Kurs an der Volkshochschule war ich bereit, neue, mir völlig unbekannte Wege zu gehen, bisher verschlossene Türen zu öffnen und in unbekannte Welten einzutauchen.

Ich wollte mich erleben: ohne einen festgelegten geregelten / geplanten Tagesablauf, wollte mich treiben lassen und von unbekannten äußeren und inneren Wegen leiten lassen. Darauf freute ich mich. Ja, und auch einmal zu erleben, wie ich alleine, in der für mich noch unbekannten Welt so ticke; das machte mich sehr neugierig auf mich selbst.

Welche Rolle hat dabei Ihre Tätigkeit als Erzieherin gespielt?

Für Kinder Bündnispartnerin, Entwicklungsbegleiterin und auch so manches Mal Anwältin zu sein, macht den pädagogischen Beruf zur Berufung, behaftet mit Pflichten, die verpflichten. Diese gilt es mit Professionalität und Emphatie jeden Tag auf’s Neue zu leisten. Der Beruf fordert, gibt aber auch unglaublich viel, doch dabei darf man sich selbst nicht aus den Augen verlieren, um nicht zu einem ‚hilflosen Helfer’ zu werden, in Routinen zu verharren oder irgendwann einmal kraft- und motivationslos im ‚Außen’ dahinzuleben. Eine Selbstbeobachtung des eigenen Gesundheits- und Seelenzustandes ist notwendig: nicht immer habe ich diese im Auge behalten. So manches Mal stand die Pflicht, also die Arbeit im Vordergrund und ich habe mich übersehen. Mein Leitsatz: „Du kannst nur jemanden lieben, wenn du dich selbst liebst“ hat mich begleitet und mich des Öfteren wieder auf den für mich richtigen und damit stimmigen Lebenspfad geführt.

Nach meinem langjährigen beruflichen Weg als Erzieherin, Heilpädagogin und Leiterin einer Kindertagesstätte schenkte ich mir eben den Weg mit mir in Form einer Pilgerreise.

Sie haben auf der Reise nicht nur viel gesehen, sondern auch viel über sich erfahren. Was waren für Sie die wesentlichen Erkenntnisse der Reise?

Als bedeutendstes Erkenntnis- und Erfahrungsbündel kann ich Folgendes beschreiben: Mit freudvoller, spannungsgeladener, ungebändigter Abenteuerlust, kaum zu bremsender Neugier und gleichzeitig tiefer Zuversicht habe ich mich auf den Jakobsweg begeben, und dies mit einem anfangs unglaublich schweren Pilgerrucksack. Recht bald schaffte ich es, mein Gepäck auf ein Minimum zu reduzieren, äußerlich anscheinend Überflüssiges loszulassen, Ballast sprichwörtlich abzuwerfen, um eine bessere Beweglichkeit zu spüren. Es war ein Gefühl der Freiheit und Freude zu erfahren, wie wenig es braucht, um gelassen und zufrieden zu leben, indem man sich selbst auf das Wesentliche konzentriert. Und ich erlebte auf meiner Pilgerreise eine ganz besondere Zeit mit mir. Sie war von unglaublicher Vielfalt mit einem kulturellen, spirituellen und legendären Zauber überzogen: Stunde für Stunde, Tag für Tag. Über die vielen gegangenen Kilometer habe ich durch äußere Wahrnehmungen und innere Auseinandersetzungen, reflexive Gedanken und innere Klärungen eine zunehmende Stimmigkeit in mir erfahren, die mich stetig ein Stück näher zu mir selbst geführt hat. Die äußere Fußreise setzte sich immer wieder aufs Neue in meinem Inneren fort und verhalf mir zu einer nach innen gerichteten Beobachtung, die im aktiven Berufsleben zu kurz gekommen ist. Unzählige Fügungen haben mir emotionalen Reichtum geschenkt. So manches Mal suchte ich Gründe, warum etwas so gelaufen ist, ob es ein Zufall oder eine Fügung war und endete damit stets bei mir, verbunden mit philosophischen und auch religiösen Gedankengängen.


Von den Pyrenäen zum Atlantik

Als Einleitung zu ihrem neuen Lebensabschnitt nach ihrer Zeit als Erzieherin und Heilpädagogin wählt Brigitte Falkenhain eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg. Aus dieser nimmt sie ihre Leser mit und lässt si an ihren Erlebnissen auch mit zahlreichen Bildern teilhaben. Startpunkt ist das am Fuße der Pyrenäen gelegene französische Städtchen Saint-Jean-Pied-de-Port. Der Weg führt sie westwärts durch Nordspanien auf dem Camino Francés zum Wallfahrtsort Santiago de Compostela und weiter bis an den Atlantik zum Fischerdorf Fisterra.

Brigitte Falkenhain
Auf dem Jakobsweg – Ein persönlicher Erlebnisbericht und zugleich eine Reise zu sich selbst
Ölsner Verlag
Hardcover, 320 Seiten, viele Fotos
ISBN 978-3-9823790-4-3
www.oelsner-verlag.de
24,90


Die Pilgerreise auf dem Jakobsweg hat mein Leben verändert, wie ich es im Vorwege nicht für möglich gehalten hätte. Für mich ist es ein Bündel einzigartiger Erlebnisse und ein einzigartiger Weg, der voller Geheimnisse und vielfältiger Überraschungen steckt. Das gewonnene Alleinsein und die Einfachheit haben mich unterstützt, den Jakobsweg besinnlich abschließen zu können und ihn zugleich feinfühlig in meinem neuen Lebensabschnitt fortzusetzen. Ich gehe ihn gefühlt mit Sorgfalt und Achtsamkeit weiter. Das chinesische Sprichwort „Auch der weiteste Weg beginnt mit einem ersten Schritt“ macht auf eine oft vergessene Selbstverständlichkeit aufmerksam und zugleich immer wieder nachdenklich. Den einen Fuß von der Erde lösen und sich trauen, neue Orte zu suchen, unbekannte Türen zu entdecken und mutig zu öffnen, in unbekannte Welten einzutauchen, loszugehen und das Neue aufmerksam und sensibel als Türöffner für „Ent-Wicklungen“ zu begrüßen: das sorgt für einen mit Nichts auf der Welt zu bezahlbaren Schatz. Jeder Schritt ist ein Abenteuer auf einem Weg, gleich wo er vollzogen wird. So kann man seine Pilgerreise auch gut etappenweise gehen. Sie als eine mögliche Auszeit von zwei oder drei Wochen wahrnehmen, vielleicht einmal jährlich. Beim Pilgern gibt es keine Regeln. Die Entscheidung, ihn zu gehen, trifft am Ende jeder für sich selbst.

Nur wenn wir uns selbst kennen, können wir Kinder in ihrer Entwicklung unterstützen. Welche Rolle spielt die Selbsterkenntnis auf einer solchen Reise?

Die Selbsterkenntnis ist für mich ein überaus wichtiger Bestandteil in meinem Leben, das eigene Sein zu verstehen, den Sinn meines Lebens zu finden und mit gleicher Intensität die gefundenen Erkenntnisse auf den Beruf zu übertragen, um aus der eigenen Entwicklungsbegleitung eine authentische und hilfreiche Entwicklungsbegleiterin für Kinder sein zu können.  Die regelmäßige Teilnahme an Seminaren zur Selbsterfahrung hat mich für diese Bereitschaft und Sichtweise geöffnet und dabei sehr unterstützt. So gaben mir die Seminare Gelegenheit, aktuelle und wiederkehrende Themen und Fragestellungen meiner eigenen Entwicklung und Lebensgestaltung zur Sprache zu bringen und in einer achtsamen, wenn auch nicht immer leichten Weise zu klären. Ein Selbsterfahrungsseminar ist für mich ebenso bedeutsam wie eine Pilgerreise; sie haben Vieles gemeinsam und sind dennoch mit sehr unterschiedlichen Merkmalen ausgestattet.

Würden Sie die Reise auch ihren Kolleginnen empfehlen?

Ich kann nicht nur allen pädagogischen Fachkräften sondern jedem empfehlen, sich auf einen solchen Entwicklungsweg zu machen.
Eine Auszeit, gleich welcher Form, würde ich heute auch schon früher für mich in Erwägung ziehen, denn Dinge aufschieben, heißt oft, man findet Ausreden, halbherzige Begründungen, lässt sich von fantasierten Ängsten leiten, von Bequemlichkeiten abholen und tut sie nie.
Folgende Impulse kann ich heute allen entwicklungsmotivierten Kolleg:innen dazu mit auf den Weg geben:
– Jeder kann den eigenen Wunsch verspüren, auf alles, was einen umgibt, neugierig zu sein. 
– Indem sich stets jeder selbst sein bester Freund ist, kann er sein persönliches Wachsen fördern, seine eigene Grenzen hinterfragen und mutig überschreiten. Dabei die eigene Lebensgeschichte einzubeziehen, bringt immer wieder auf’s Neue spannende Herausforderungen für sich selbst sowie in den Alltag, lässt Verkrustungen aufweichen und eine neue Lebendigkeit in sich selbst und in Beziehungen spüren.
– Im Konjunktiv stehende Worte wie „sollte, hätte, könnte, würde“ aus dem eigenen Wortschatz streichen. Diese „be-wegen“ nichts und lassen mögliche Entwicklungen mit der Zeit absterben. Stattdessen ein klares „Auf geht’s!“ bevorzugen.
Jeder darf sich etwas wagen. Ist das Wagnis gelungen, entwickelt es die Freude und den Wunsch auf ein nächstes Abenteuer.

Mit dieser Einstellung wirkt man selbst entwicklungsförderlich in Bezug auf Kinder. So ist dieses Verhalten ansteckend und entwickelt ein unglaubliches Band zwischen Kindern und Erzieher:innen. Ungeahnte Potenziale entfalten sich und bringen ein neugierig machendes Umfeld mit sich. Es entsteht eine lebendige und lebensfrohe Pädagogik, die Kinder brauchen. Und eine solche Pädagogik wird heutzutage in dieser funktional gestalteten, primär kognitiv ausgerichteten, lernzielgeleiteten Pädagogik immer mehr zur Ausnahme, was sehr bedauerlich ist. Es muss ein ‚innerer Ruck’ durch die Pädagog:innen gehen, um äußerlich an hinderlichen Merkmalen zu rücken: und dabei ist eine Pilgerreise mehr als hilfreich.   

Was sind ihre nächsten Ziele?

Die wunderbare Erfahrung des Gehens auf kürzeren und längeren (Pilger)Wegen werde ich so oft wie möglich beibehalten. Auch das Schreiben werde ich in mein weiteres Leben mit Begeisterung integrieren. Gern werde ich mein Buch auf Lesungen vorstellen, von meinen persönlichen Pilgererlebnissen erzählen und auf Fragen dazu antworten. Ich möchte mit meinen tief verwurzelten Erfahrungen Menschen ansprechen und anregen, selber neue Entwicklungswege zu gehen und sich als Mitgestalter:in der Welt, in der wir leben, zu erleben.

Ich hoffe, dass ich viele Menschen dazu inspirieren kann, sich selbst auf die faszinierenden Spuren des Jakobsweges zu begeben. Ich möchte die Sehnsucht wecken, sich im Allgemeinen auf den inneren Weg zu machen und im Besonderen auf den Jakobsweg im Äußeren aufzubrechen.

Dazu wünsche ich „Buen Camino“

Das Interview führte Gernot Körner




Wie lernen wirklich funktioniert

Henning Beck: Das neue Lernen heißt Verstehen

Eltern und Kinder, Auszubildende und Studenten suchen nicht erst in Zeiten der Pandemie nach dem „richtigen“ also dem effektiven Lernen.  Die Angebote sind vielfältig. Sie versprechen bessere Konzentrationsmöglichkeiten und Gedächtnisleistungen. Das soll alles fast mühelos geschehen. Gute Noten garantiert. Da kommt Henning Beck mit seinem Buch „Das neue Lernen heißt Verstehen“ scheinbar genau richtig, um Unterstützung anzubieten.

Wie das Gehirn arbeitet

Der Biochemiker und Neurowissenschaftler lässt uns in die Verarbeitung des Gehirns blicken und erklärt dessen Möglichkeiten. Dabei zeigt er die Unterschiede zwischen einem menschlichen Gehirn und der künstlichen Intelligenz. Denn so einfach lässt sich ein menschliches Gehirn nicht mit zwei Zuständen (1 und 0) imitieren. Hier holt er uns aus unseren oft sciencefictionhaft geprägten Vorstellungen und zeigt uns die Grenzen, die nicht einfach und manchmal gar nicht überschritten werden können.

Vom Lernen und Verstehen

Und das Lernen? Wie helfen all die tollen Angebote? Auch hier ist genaues Hinsehen angezeigt. Jetzt beginnt Beck uns den Unterschied zwischen Lernen und Verstehen zu erklären. Lernmethoden für das Memorieren von Vokabeln oder Formeln sind nicht das Gleiche, wie zu verstehen, was eigentlich passiert und welche Zusammenhänge vorliegen.

Daher unterscheidet er auch das Lernen auf eine Prüfung und das Lernen/Verstehen von Problemen und deren Lösungen. Dieses Wissen, das wir nicht einfach bei all den datengefütterten Internetwissenspools abfragen können, muss selbst aufgebaut werden. Und genau hierin unterscheidet sich das Lernen, das die Anbieter auf dem Nachhilfemarkt und die mittlerweile massiv im Internet beworbenen Hilfen mit eigentlich altbekannten Methoden unterstützen können, vom Verstehen. Die effektivsten Methoden zum Lernen stellt Henning Beck vor und die allermeisten von uns sollten diese sogar aus der Schule noch kennen. Wiederholungen, Zusammenfassungen, Eselsbrücken, Schaubilder und eine Selbst-Abfrage sind nun mal genau das, was schon unsere Lehrkräfte einsetzten.

Zusammenhänge verstehen, Orientierung schaffen

Aber damit begnügt sich Beck eben nicht und das aus gutem Grund. Er zeigt, wie wichtig das Verständnis von Zusammenhängen und damit ein gutes Allgemeinwissen ist. Er erklärt die Bedeutung einer guten Orientierung in dem Überangebot von Informationen. Dabei wird deutlich, wie sehr wir „Schule“ brauchen. Aber welche?

Auch da zeichnet Beck ein klares Bild. Schüler und Schülerinnen brauchen keine kleinschrittigen vorzerstückelten Unterrichtseinheiten. Denn „je passiver man ist, desto schlechter versteht man.“ (S. 200). Auch den aktuell oft angewendeten „umgedrehten Unterricht“, indem sich die Lernenden nun die Inhalte per Videoerklärung selbst erarbeiten, nachdem ihnen die Lehrenden die Seiten vorher herausgesucht haben, schickt Beck auf den Prüfstand und kommt zu dem Schluss, dass es sich dabei nicht um die Lösung handelt.

Die wahre Kunst…

Die wahre Kunst liegt darin, Problemstellungen zu offerieren, die im Setting der Gruppe erstmal herausfordern, die neues Denken aktivieren und die auch ein Scheitern mit sich bringen dürfen. Doch dann muss dieses Scheitern aufgefangen werden.

…und die Rolle des Lehrenden

Die Rolle des Lehrenden bleibt somit eine sehr entscheidende. Denn er muss die Problemstellung zunächst erstellen. Diese darf nicht banal sein. Denn Wissen sollte „nicht zu leicht konsumierbar“ (S. 216) sein. Beck gibt der Rolle des Unterrichtenden damit eine Dimension, die aktuell gelegentlich in der Diskussion zwischen „LehrerIn“ und „LernbegleiterIn“ in den Hintergrund tritt. Er bevorzugt nicht den einen oder anderen Begriff, sondern er setzt auf die Aufgaben. So sind gute Unterrichtende daran zu erkennen, dass auch Lehrkräfte voneinander lernen, ihre Lehrmethoden permanent hinterfragen und sich in ihrem Unterrichtsverhalten beurteilen lassen (S. 230). Dinge, die bei uns in den Schulen und Universitäten noch nicht zur alltäglichen Routine gehören.

Die digitalen Medien

Natürlich geht der Autor auch auf die aktuelle höchst priorisierte Frage nach den digitalen Medien im Unterricht ein. Und auch hier analysiert er klar. Einmal wissen wir, aber auch die Lehrenden und deren Verwaltungsapparat darüber viel zu wenig. Zudem sind die Effekte eher dürftig, wenn der Grundtenor des Unterrichtens nicht hinterfragt wird.

Verstehen entsteht durch Testen und Abfragen (weil Wissen benötigt wird). Das Einordnen und Pausen (damit Wissen sich festigen kann) sind nötig. Vertiefung durch aktives Erklären, Fehler nutzen und den Austausch in der Gruppe (S.222) gehört dazu. Das kann durch digitale Medien unterstützt werden. Aber sie sind dafür nicht zwingend nötig und schon gar kein Ersatz.

E-Bildung to go

An dieser Stelle führt er uns in die Zukunft mit einer sich entwickelnden analog gebildeten Elite gegenüber der E-Bildung to go, die alle „Fast Food“-artig quasi an jeder Ecke kostengünstig erhalten können. Und weil in dieser digitalen Welt viel gespielt wird, räumt er auch damit auf, dass das Spiel immer ein auf Punkte und Wettbewerb ausgerichtetes sein muss, um einen Beitrag zum Lernen leisten zu können.

Ahnungslosigkeit macht Meinungsbildung offenbar leichter

Ein sehr lesenswertes Buch nicht nur für alle mit Bildung beschäftigten. Aber noch wichtiger ist der Austausch darüber untereinander und das Nutzen der bisher gemachten Fehler. Das Problem ist längst gestellt, die Irrtümer massiv begangen. Nur leider scheint uns der Lehrende zu fehlen, den die Lernenden nach ihren Irrtümern zu Hilfe holen können. So wurschteln wir weiter, wie die befragten Lehrkräfte auf S. 219f, die zwar keine Ahnung haben, sich aber dennoch eine Meinung bilden. Upps! Wann ist uns das denn passiert, dass wir so ahnungslos agieren und es als Wissen deklarieren? Vermutlich in dem Unterricht, der uns nur vorgekautes kleinschrittig vermitteltes Wissen geliefert hat und uns nie Probleme präsentierte, an denen wir auch scheitern durften und weil wir nicht gelernt haben auch Fachfremde in unsere Lösungssuche einzubinden, sondern satt interdisziplinär zu agieren, den Fachspezialisten überhöhen. Umdenken ist also unsere wichtigste Aufgabe!

Daniela Körner

Henning Beck
Das neue Lernen heißt Verstehen
Taschenbuch, 272 Seiten
Ullstein 2021
ISBN 978-3-548-06457-4
9,99 Euro




Baby Paul ist ein kleiner Schreihals

Maja Gerke, Wiltrud Wagner: Wein doch nicht, Paul!

Die kleinformatige und äußerst kostengünstige Buchreihe hat Greta, ihren Vater und ihre Mutter bereits durch die Schwangerschaft begleitet. Und dabei gut erklärt, was da alles passiert; freundlich, altersgerecht, praktisch ausgerichtet. Was Eltern und Großeltern, die mit „Wieso-Weshalb-Warum“-Fragen konfrontiert sind, besonders freut.

Jetzt ist Paul da – und er schreit. Nicht nur oft, sondern auch laut. Greta hält sich die Ohren zu. Und fragt „habe ich auch so viel geschrien?“ Die Antwort ist ein klares „nein“, gefolgt von „jedes Kind ist anders“. Das bleibt jedoch nicht nur Phrase. Denn es wird gezeigt, was Paul aufregt: Veränderung, Lautstärke, Bewegung im Zimmer, starke Helligkeit. Das ist einer der unangenehmsten, aber wichtigsten Jobs der Eltern in der ersten Zeit nach der Geburt: Herausfinden, was das Baby braucht.

Und so ist es auch sehr unterschiedlich, was hilft. Manchmal will Paul getragen werden – oft ein Job für Papa. Manchmal hilft der Zufall: Papa kommt mit dem Staubsauger – und dem Kleinen fallen die Augen zu. Manchmal hilft ein Bad, manchmal festes Einwickeln.

Sehr schön: Es ist ganz selbstverständlich, dass Papa sich genauso mit Paul beschäftigt wie Mama. Und genauso Greta erklärt, was gerade los ist. Nicht ganz realistisch ist jedoch, dass von Oma bis Hebamme, von Schwester bis Eltern alle immer ganz gelassen und freundlich bleiben. So wird die Chance vertan, dem großen Geschwister auch Ärger und Wut zu erlauben. Denn solche Gefühle sind da, die lassen sich nicht weglächeln. Und gleichzeitig kann gezeigt werden, dass es überhaupt nicht geht, diese Gefühle nicht am Baby auszulassen.

Eine schöne, kleinformatige Buchreihe, die auch zum Mitbringen beim ersten Besuch beim neuen Erdenbewohner geeignet ist.

Ralf Ruhl

Bibliographie

Maja Gerke, Wiltrud Wagner:
Wein doch nicht, Paul!
Mabuse 2021
Minibuch, Paperback, 27 Seiten
ab 4 Jahre
www.mabuse-verlag.de
ISBN: 978-3-86321-552-1
1,40 Euro




Lässt sich der Bildungs-Unsinn noch mal zurückdrehen?

Harald Lesch, Ursula Forstner: Wie Bildung gelingt – Ein Gespräch

Zu den wichtigsten Aufgaben der Gesellschaft gehört die Ausbildung der nachfolgenden Generation. Doch da die Entwicklung eines Kindes zum gebildeten Zeitgenossen eine Weile dauert, fällt es oft schwer zu erkennen, was dafür wirklich notwendig ist.

Der bekannte Astrophysiker, Naturphilosoph und Wissenschaftsjournalist Harald Lesch und die Philosophin Ursula Forstner versuchen dem in einem Gespräch auf den Grund zu gehen. Mit dabei ist der Philosoph Wilhelm Vossenkuhl. Virtuell bringt Forstner noch den Philosophen Alfred N. Whitehead (1861-1947) mit ins Gespräch, den sie aus ihrer Studienzeit kennt. Es sind seine modern anmutenden Thesen, die Ausgangspunkt für die Diskussion sind. Dabei nehmen sie auch die Praxis an unseren Schulen und Universitäten unter die Lupe.

Und so verwundert es nicht, wenn die Gesprächsteilnehmer Noten und Prüfungen als unnötig erachten, wenn diese totes Wissen bewerten und prüfen. Und es wird uns mitgeteilt, dass Schulen und Universitäten Freiheit, Wissen und Fantasie benötigen, um dem lebendigen Lernenden gerecht zu werden und gebildete Menschen hervorzubringen.

Von Whitehead erfahren wir, wie wichtig Selbstdisziplin und der erlernte Umgang mit Wissen ist. Dem werden, so führen Lesch und Vossenkuhl aus, unsere Schulen und Universitäten durch Testwut und die Bolognareform nicht gerecht. Im Gegenteil: Diese Vorgaben töten die notwendige Freiheit und Fantasie ab.

Das Buch ist durch seinen Erzählstil in Gesprächsform kurzweilig zu lesen. Die Lektüre sei vor allem allen Lehrkräften, Dozenten und Professoren dingend an Herz gelegt. Und im Anschluss benötigt es weitgreifende Reformen. Weg von dicken Lehrplänen, weg vom Testwahnsinn, weg von Noten, unsinnigen Prüfungen und ständigem Vergleichen. Eine Schule des Lebens in Schule und Universitäten, in Ausbildungsbetrieben und einfach überall, eine Schule des Lebens für den gebildeten Menschen und seinen Verwirklichungsraum.

Das Buch ist aber auch eine Hommage an den kaum bekannten Philosophen Alfred North Whitehead und zeigt, dass das Wissen um den richtigen Weg des Umgangs mit jungen Menschen seit vielen Jahrzehnten bereits offen liegt. Die Bildungssysteme aber nicht in der Lage sind umzusetzen, was nötig wäre.

Spannend, wenn man erfährt, dass die Freiheit der deutschen Universitäten mal Vorbild war für den Wissenserwerb und das Bild des Forschers. Spannend, wenn wir erfahren, was den gebildeten Menschen ausmacht und dass die Lehrenden da sind, um Verschwendung, die durch das „Aussortieren“ vorgenommen wird, zu vermeiden.

Ein lesenswertes Buch. Kaufen Sie gleich einige Bücher mehr und schenken Sie sie den Lehrkräften, Dozenten und Bildungsverantwortlichen in Ihrem Umfeld. Vielleicht schaffen wir es dann gemeinsam, den Unsinn wieder zurückzudrehen.

Daniela Körner

Bibliographie

Harald Lesch/Ursula Forstner
Wie Bildung gelingt
Ein Gespräch
Hardcover, 144 Seiten
ISBN 978-3-8062-4083-2
20 €