Runter vom Gas 4 – richtig am Schulklima arbeiten

Wenn es gelingt, ein förderliches soziales Klima zu schaffen, wird auch besser gelernt

Erlittene Beschämungen führen zu Angst vor neuen Beschämungen. Angst aber ermöglicht nur ein Lernen, das das rasche Ausführen von einfachen Handlungen zum Ziele hat: Schnell nach links laufen, wenn der Löwe von rechts kommt. […] Denn verhindert wird durch Angst das lockere Assoziieren, das für die Lösung komplexer Probleme unbedingt erforderlich ist. […] Emotion und Kognition, Gefühl und Denken, sind eng miteinander verbunden […]. Sorgen wir dafür, dass dieses Lernen in einer positiven emotionalen Umgebung stattfindet, denn nur dann – so die Gehirnforschung – werden unsere Kinder in 30 Jahren in der Lage sein, das Gelernte nicht nur herzubeten, sondern es zur Lebensgestaltung und Problemlösung aktiv zu nutzen.

(Eckhard Schiffer, Heidrun Schiffer, Lerngesundheit, Weinheim und Basel, 2004, S.92 f.)

Klimaarbeit in der Schule – der Zeitaufwand lohnt sich für alle Beteiligten

Wenn wir mit einer Klasse zu arbeiten versuchen, in der es unterirdisch brodelt, in der einige Kinder Opfer sind und andere die Rädelsführer, dann werden wir sehr viel über die Köpfe hinweg agieren, ohne dass das Wesentliche ankommt.
Aber auch wenn es etwas harmloser und ohne „mafiose“ Strukturen zugeht: In einer Klasse, in der sich manche Kinder dumm vorkommen und in der Angst leben, sich durch falsche Antworten zu „outen“ und ausgelacht zu werden, ist mit Konzentration und Lernfreude wenig los.

Auch Klassen, in denen der Wettbewerb das Klima bestimmt und jede gute Note, die ein anderer bekommt, neidvoll registriert wird, sind nicht unbedingt das Umfeld, in dem ich unterrichten wollte.

Es ist also eigentlich ganz einfach: Wenn es uns gelingt, ein förderliches soziales Klima zu schaffen, wird auch besser gelernt. Ich investiere und bekomme dafür Zinsen. Eine kluge Entscheidung!

In der Theorie ist das sehr einleuchtend, doch wie soll das in der Praxis funktionieren? Gewiss nicht dadurch, dass wir Arbeitsblätter ausfüllen, in denen die Merkmale eines gedeihlichen Miteinanders benannt werden sollen. Gutes Zusammenleben und -arbeiten lernt man, indem man es täglich übt, ausdauernd und konsequent, wobei das natürlich nicht so explizit geschieht wie das Einüben des Einmaleins, sondern allmählich, in vielen Mikrosituationen.

Du als Lehrkraft bist dabei in der Klasse ein mächtiger Meinungsführer und kannst alleine durch das, was du vorlebst, einiges bewirken.

Dein positives Verhaltensvorbild wird dann besonders wirksam und wahrnehmbar sein, wenn du es bewusst und betont einsetzt. Das soll nicht heißen, dass du wie ein Schauspieler agierst, indem du etwas darstellst, was nicht authentisch zu dir passt.

Beschämungen – ein unbedingt zu vermeidendes Übel

Nehmen wir das große Thema Beschämungen. In diese Schublade gehört auch der Umgang mit Fehlern. Du wirst sicher – davon gehe ich aus – die pädagogische Haltung vertreten, Kinder sollten nicht beschämt werden, wenn sie etwas Falsches sagen. Aber wird diese deine Haltung auch allen Schülern in der Klasse so deutlich, dass sie das wahrnehmen? Hier kannst du zum Beispiel ganz bewusst als Vorbild auftreten.

Es macht für ein betroffenes Kind, das eine falsche Antwort gibt, einen großen Unterschied, ob du – da diese eine Antwort falsch war – einfach das nächste Kind aufrufst, vielleicht gar noch aus Unüberlegtheit mit der Hand eine abwertende Geste machst, zum Beispiel abwinkst, oder ob du den Mut und die gedankliche Anstrengung dieses einen Kindes explizit würdigst.

Das kostet weder besonders viel Zeit noch Mühe, erspart aber dem Delinquenten das ungute Gefühl, sich blamiert zu haben.

Du könntest zum Beispiel sagen: „Super, Franzi, dass du mitgedacht hast und dass du dich gemeldet hast. Ganz stimmt’s noch nicht. Aber das kriegen wir hin. Wer kann denn jetzt da weiterhelfen?“

In meinen Matheklassen gab es einen Slogan, der von mir gerne eingesetzt wurde und der sicher das Denken der Kinder beeinflusst hat. Ich sagte in den passenden Situationen oft und oft: „Falsch denken ist überhaupt nicht schlimm. Das einzige, was wirklich echt richtig schlimm ist…“
und die Kinder antworteten im Chor: „… gar nicht denken!“

Alleine das häufig wiederholte Erleben eines positiv-wohlwollenden Umgangs mit jedem Schülerbeitrag, oft noch verstärkt durch die „chorische Rezitation“, färbt das Klima in einer Klasse ein wenig hin zum Positiven. Aber das genügt natürlich bei weitem nicht. Gerade das Thema „Beschämung“ hat viele Facetten und muss aus einigen Richtungen angegangen werden. 

Dazu möchte ich erst noch einen gedanklichen Schwenk von den Kindern zu uns Lehrern machen.

Sich beschämt zu fühlen, sich hilflos einer demütigenden Situation ausgesetzt zu sehen, das können durchaus auch Lehrer erleben und auch für sie kann das traumatisierend sein.

Ich hatte eine Kollegin, die sich wirklich Mühe mit ihrer vierten Klasse gab. Aber sie war einfach für den Beruf der Lehrerin nicht geeignet. So etwas gibt es gar nicht so selten und es ist das maximale Unglück für alle Beteiligten. Mit dieser Lehrerin gab es zwei Tage vor den Weihnachtsferien einen Eklat, der die Kinder verstörte, aber nicht weniger auch die bedauernswerte Kollegin. Was war geschehen?

Diese Kollegin war – in bester pädagogischer Absicht – mit ihrer Klasse zum Schlittenfahren gegangen, an einen eher bescheidenen Hügel mitten im Dorf, der den Namen „Schlittenberg“ gar nicht richtig verdiente. Aber die Kinder waren fröhlich, es war der vorletzte Schultag vor den Ferien und alle rutschten lachend und voller Freude auf ihren verschiedenen Schlitten den Hang hinunter.
Dann geschah das, was bei allgemein aufgekratzter Stimmung schon einmal vorkommen kann: Einer kam auf eine dumme Idee und begann, Schneebälle auf die Kollegin zu werfen. Diese war mit der Situation überfordert, befahl dem Schüler, damit aufzuhören. Aber inzwischen hatten auch einige andere Kinder sich dem Spaß angeschlossen und „bombardierten“ ihre Lehrerin. Irgendwann gelang es dieser, das Treiben zu beenden und in schlechter Stimmung kehrten alle ins Schulhaus zurück.

Dort gab es im Klassenzimmer eine ordentliche Abreibung für die Kinder: Die Lehrerin erklärte, die für den letzten Schultag angesetzte Weihnachtsfeier würde nun ausfallen und sie würde auch keinerlei Geschenke von den Kindern annehmen. Und nach den Ferien – ja, da sollten die Kinder nur sehen! Da würde ein anderer Wind wehen.

Das war natürlich pädagogisch denkbar unselig, aber aus Sicht der Lehrerin zu verstehen. Sie fühlte sich durch ihre Hilflosigkeit bei der einseitigen Schneeballschlacht total beschämt und gedemütigt und saß, als sie mir all das erzählte, weinend bei mir im Büro.

Andererseits waren auch die Kinder völlig verstört und die Weihnachtsferien begannen in sehr gedrückter Stimmung. Besonders schlimm war es, dass sie – und vor allem auch die Eltern der Kinder – auch nach den Weihnachtsferien auf Kriegsfuß mit der Lehrerin standen und sich das zerstörte Verhältnis auch nicht mehr reparieren ließ.

Die Lehrerin meldete sich kurz darauf krank, kam in diesem Schuljahr auch nicht mehr zurück und wurde im Jahr darauf versetzt. Über ihren weiteren beruflichen Werdegang weiß ich nichts, aber mit Sicherheit wird sie im Lehrerberuf nicht glücklich geworden sein.

Natürlich hätte die Kollegin mit der vertrackten Situation wesentlich geschickter umgehen können. Aber das soll hier gar nicht thematisiert werden.
Ich möchte vielmehr deine Empathie für ein derartiges Beschämungserlebnis wecken.

Doch so schlimm auch das Erlebnis für diese Lehrerin war: Sie war eine erwachsene Frau und sie konnte eine Möglichkeit finden, der aktuellen Situation zu entfliehen.

Wie aber steht es mit Kindern, die in der Schule beschämt werden? Und das müssen nicht nur wir Lehrer sein, die wir vielleicht aus Unbedachtheit manchmal pädagogisch ungeschickt agieren. Viel häufiger kommt es vor, dass Kinder ganz gezielt und keineswegs „aus Versehen“ von Mitschülern gehänselt, geärgert, ausgegrenzt, kurz: auf schlimme Art beschämt und gedemütigt werden.

Wie sollen solche Kinder sich auf das Lernen konzentrieren, wenn jeder Gang zur Schule mit Angst verbunden ist? Da sind wir Lehrer gefordert, nicht wegzusehen, sondern zu handeln.

Die Maslow’sche Bedürfnispyramide

Der Psychologe Abraham Maslow hat in seiner Bedürfnispyramide die hierarchische Ordnung dargestellt, die für die Entfaltung unserer Aktivitäten von grundlegender Bedeutung ist. Er suchte die Antwort auf die Frage, was Menschen zu ihren Handlungen motiviert. Nach seinem Modell sind unsere Bedürfnisse in fünf aufeinander bezogenen Stufen hierarchisch angeordnet. Bevor wir darangehen, uns denkend und lernend zu entfalten, müssen erst vitale Bedürfnisse befriedigt sein, Maslow nennt sie Defizitbedürfnisse. Werden diese Bedürfnisse nicht befriedigt, kann das zu körperlichen oder seelischen Krankheiten führen. Erst wenn dieser „vitale Sockel“ gefestigt ist, kann unsere Motivation sich auf höhere Bedürfnisse – nach Maslow „Wachstumsbedürfnisse“ – richten (Abraham A. Maslow, Psychologie des Seins, Frankfurt am Main, 1985, S.198 f.).

Maslow erntete für seine Arbeit viel Anerkennung, aber auch Kritik, die sich vor allem daran entzündete, dass er zu seinem Hierarchie-Modell keine umfassenden Studien durchführte, mithin also für manche Fachkollegen nicht „wissenschaftlich“ genug vorzugehen schien, sondern durch Beobachtung, Selbsterforschung, theoretische Ableitung und Überlegung zu seinen Ergebnissen kam.

Er selbst äußert sich im Vorwort zur ersten Auflage von „Psychologie des Seins“ sehr differenziert über das Thema Wissenschaft:

Die Wissenschaft, so wie sie von den Orthodoxen gewöhnlich konzipiert wird, ist für diese Aufgaben (der neuen, persönlichen, erfahrungsgemäßen Psychologien, Anm.d.Verf.) ganz unzureichend. Doch ich bin mir sicher, dass man sich auf diese orthodoxen Wege und Mittel nicht zu beschränken braucht. Man muss nicht vor den Problemen der Liebe, der Kreativität, der Werte, der Schönheit, Imagination, Ethik und Freude abdanken und sie ganz den „Nichtwissenschaftlern“ überlassen, den Dichtern, Propheten, Priestern, Dramatikern, Künstlern oder Diplomaten. […]
Nur Wissenschaft kann die charakterologischen Unterschiede im Sehen und Glauben überwinden. Nur Wissenschaft kann fortschreiten.
Es verbleibt jedoch die Tatsache, dass sie in eine Sackgasse geraten ist und in einigen ihrer Formen als Bedrohung und Gefahr für die Menschheit angesehen werden kann, zumindest für die höchsten und vornehmsten Eigenschaften und Ambitionen der Menschheit.

(Abraham A. Maslow, a.a.O., S.16)

Ganz gleichgültig, wie wir uns in diesem Fall zum Thema „Wissenschaftlichkeit“ stellen: Ich finde die Beschäftigung mit der Maslowschen Bedürfnispyramide für die tägliche Arbeit in der Schule sehr hilfreich, denn sie hilft uns zu verstehen, wie wichtig es ist, erst einmal den Boden für gelingendes Lernen zu bereiten.

Wir können die schönsten Unterrichtsstunden vorbereiten und die modernste Technik verwenden und dennoch didaktisch erfolglos bleiben, denn:

Ein Schüler,

  • der auf dem Schulweg regelmäßig traktiert und gehänselt wird,
  • der jeden Tag in seinem Hausschuh einen Reißnagel findet,
  • der im Klassenzimmer hinter dem Rücken der Lehrkraft durch aggressive Gestik und Mimik verhöhnt wird,
  • der im Pausenhof bei Spielen ausgegrenzt oder getriezt wird, z.B.  durch das Wegnehmen seiner Mütze,

so ein Schüler hat ganz andere Dinge im Kopf als die Rechtschreibregeln für Dehnungen und Schärfungen oder das korrekte Anwenden eines Algorithmus beim Rechnen.

Kinder, die Derartiges erleben, haben existentielle Ängste, wenn sie in die Schule gehen müssen.

Die angeführten Gemeinheiten sind nur ein Bruchteil dessen, was es an Schikanemöglichkeiten gibt und dass die sozialen Netzwerke diese Palette noch aufs Unseligste erweitert haben, macht alles nur noch schlimmer.

Deshalb ist es für uns Lehrer von oberster pädagogischer Priorität, uns mit aller Macht darum zu bemühen, dass Kinder sich in der Schule, die sie ja nolens volens besuchen müssen, sicher fühlen und eine Chance haben, sich in die Peergroup – in diesem Fall die Klasse – zu integrieren.

Niemand von uns kann zaubern und es werden immer wieder Dinge geschehen, die nicht gut sind. Aber wir können uns auftretenden Problemen stellen, mutig hinschauen statt feige wegzusehen und uns mit allen Kräften darum bemühen, das Richtige zu tun.

Kinder wollen gesehen werden – das ist gelebte Akzeptanz 

Wenn wir in unserer Klasse sozialklimabewusst agieren wollen, dann heißt das nicht unbedingt, dass es nur um die wirklich schlimmen Dinge geht, sondern das Ganze beginnt sehr niedrigschwellig.

Wie ich zum Thema „Beschämung vermeiden“ bereits gesagt habe: Wir als Lehrer können eine bestimmte Haltung demonstrativ vorleben.

Das ist eine Facette des Prismas. Eine weitere, wichtige Facette ist das Ernstnehmen kindlicher Befindlichkeiten.
Das kann allein schon dadurch geschehen, dass wir von Zeit zu Zeit abfragen, wie es den Kindern mit bestimmten Themen oder Inhalten geht, z.B. mit den Hausaufgaben, mit dem täglichen Kopfrechnen, mit der Freiarbeit, mit dem Spielangebot in der Pause, mit den Portfolioproben, mit den Aktivitäten bei einem Projekt usw.

Und natürlich gehört zu diesem Ernstnehmen auch der individuelle Umgang mit einzelnen Kindern. Ob es um Angst vor Proben, um Zornschübe bei wiederholten Misserfolgen, um Frustrationserlebnisse, z.B. bei Über- oder Unterforderung oder um kleine Streitereien unter den Kindern geht: Es macht einen riesigen Unterschied, ob wir sagen: “Stell dich nicht so an“ oder „Das ist doch nicht schlimm“ oder „Du bist doch schon groß“ und was es sonst noch an pädagogischen Floskeln gibt oder ob wir zunächst einmal einfach einem Kind zuhören und ihm seine Emotionen zugestehen, was nichts anderes heißt als das Kind in seinem So-Sein zu akzeptieren. Dieses Akzeptieren ist im Grunde keine große Sache: Es genügt oft, einem Kind Verständnis dafür zu signalisieren, dass es jetzt traurig, enttäuscht oder was auch immer ist und vielleicht – je nach Lage – zu fragen, ob und wie man helfen kann.

Ich erinnere mich an eine Szene auf dem Pausenhof unserer Schule: Eine meiner Erstklässlerinnen hatte wohl Streit mit anderen Kindern und kam weinend zu mir, fasste mich um den Bauch und schluchzte ganz erbärmlich. Ich sagte zu ihr: “Ja, wein dich erst einmal richtig aus, das tut dir gut!“ Neben mir stand eine Kollegin, die meine Reaktion wohl überhaupt nicht verstand und sagte: „Also, weinen lass ich sie nicht! Die hören ja nicht mehr auf, wenn sie einmal anfangen!“

Ich vermag mir nicht vorzustellen, wie das geht, „sie“ nicht weinen zu lassen.

Die Wandzeitung – ein Vermächtnis von Celestin Freinet

Andere Ansätze zu sozialer Klimaarbeit

Es gibt einige Ansätze, Streit und Negativverhalten in Klassen zu verringern: Das sind zum einen die Streitschlichter, also Grundschüler, die ein entsprechendes Training absolviert haben, um bei Streitigkeiten vermitteln zu können. Dann gibt es die von der Polizei angebotenen Projekte „aufgschaut“ und „zammgrauft“ für Grundschulkinder und Jugendliche.

Dass diese Ansätze überhaupt existieren bedeutet die Anerkennung der Wichtigkeit von Prävention, und das ist sicher sehr positiv. Inwieweit dadurch das tägliche Miteinander langfristig und nachhaltig für alle Mitglieder einer Gruppe – hier: einer Klasse – zum Guten verändert wird, kann ich nicht fundiert beurteilen.

Ich kann nur aus eigener Anschauung berichten, dass etwa beim Programm „aufgschaut“ auch dann, wenn alle Gruppenaktivitäten und Sozialspiele der Projektmappe absolviert wurden, die daraus kognitiv gewonnen Einsichten beileibe nicht in den schulischen Alltag übertragen wurden.

Die Wandzeitung Celestin Freinets: Der Königsweg für soziale Klimaarbeit

Das kommt dir wahrscheinlich jetzt ziemlich vollmundig vor, wenn ich von einem Königsweg spreche, denn umfangreiche Studien zur Wandzeitung kann ich nicht zitieren, wohl aber über meine jahrzehntelange Erfahrung damit berichten.

Ein unschlagbarer Vorteil der Regelschule ist es, dass wir Lehrer die pädagogische Freiheit haben, unsere Lehrmethoden und unsere pädagogischen Schwerpunkte selbst zu wählen, ohne einem bestimmten System verpflichtet zu sein. Seit einigen Jahren ist der Klassenrat in Mode gekommen, der sich ableitet von der Wandzeitung des Reformpädagogen Celestin Freinet. Dieser Klassenrat hat – außer, dass er wöchentlich abgehalten wird – nicht unbedingt noch sehr viel mit dem ursprünglichen Vorgehen Freinets gemein.

Bei Freinet ging es ganz vorrangig um das gute Miteinander, um die Förderung einer positiven Gemeinschaft, mithin um das Erzeugen eines förderlichen Sozial- und Lernklimas und die Themen ergaben sich aus dem Klassenleben der vergangenen Woche:

Die Wandzeitung, die in der Sitzung der Klassenversammlung am Ende der Woche vorgelesen wird, veranlasst immer eine Gewissenserforschung, die für die Gemeinschaft vorteilhaft ist. […]
Dies alles vollzieht sich in einem mehr und mehr hilfreichen Milieu, das für das Gemeinschaftsleben eine unablässige Kraftquelle darstellt.

(Elise Freinet, Erziehung ohne Zwang, München, 1986, S.110)                             

Freinet hatte in seiner Wandzeitung vier Spalten: „Ich kritisiere, ich beglückwünsche, ich möchte gerne, ich habe verwirklicht.“
Diese Einträge wurden – für alle sichtbar! – im Laufe einer Woche gesammelt.

 Ein Mittel, die Schüler zu einem ehrlichen und guten mitmenschlichen Verhalten zu führen, sieht Freinet in der Wandzeitung oder dem Wandtagebuch. […] Sie (die Wandzeitung, Anm.d.Verf.) ist in vier Felder eingeteilt, in die die Schüler im Laufe der Woche ihre kritischen Bemerkungen, ihre Vorschläge und ihre Erfolge eintragen. […] Mit Hilfe dieser Wandzeitung, die Freinet schon von den Schülern der ersten Klasse anfertigen lässt, will man die Kinder zur Ehrlichkeit gegen sich und andere und zur Selbstkritik erziehen.
Macht der Schüler eine Eintragung, so muss er seinen Namen dazusetzen; eine anonyme Eintragung gibt es nicht.

(Hans Jörg (Hrsg.), Praxis der Freinet-Pädagogik. Paderborn, München, Wien, Zürich, 1981, S.156)

Das  Original von Freinet ist für die Klassengemeinschaft so wertvoll, dass wir keine grundsätzlichen Veränderungen vornehmen sollten. Über die verschiedenen Einträge bekommst du auch mit, wenn sich unter der Oberfläche in deiner Klasse Animositäten zusammenbrauen oder sich Unlust breitmacht.

Wenn die Spalte der kritischen Eintragungen länger wird, während gleichzeitig die der Glückwünsche kürzer wird, wenn die Vorhaben selten werden und die Verwirklichungen an Geschwindigkeit verlieren, ist eine Wiederbelebung nötig. Wenn immer die gleichen Namen wegen Verfehlungen in den Kritiken erscheinen, muss man den vom rechten Weg Abgewichenen helfen, den richtigen Weg wiederzufinden.

(Elise Freinet, a.a.O., S.109)

Diese Idee, durch eine Mitteilung in der Wandzeitung den Kindern Gelegenheit zu geben, sich auf der Stelle zu äußern, wenn sie etwas loswerden wollen, war für mich absolut überzeugend. Deshalb führte ich vor vielen Jahren, lange bevor der Klassenrat in Mode kam, die Freinetsche Wandzeitung ein.

Die Vorteile lagen für mich auf der Hand:

  • Kinder haben ein Sofort-Ventil für das, was sie der Welt mitteilen wollen.
  • Jedes Kind muss seinen Eintrag unterzeichnen.
  • Es gibt keine Heimlichkeiten.
  • Jeder weiß, was beim Klassengespräch verhandelt werden wird.

Nach einigen Experimenten sah die konkrete Durchführung bei mir so aus: An der rückwärtigen Pinnwand war ein Platz als Wandzeitung definiert. Es gab zwei Abteilungen: Das gefällt mir und Das freut mich auf der einen Steite und Das gefällt mir nicht und Das ärgert mich auf der anderen Seite.

Auf einem halbhohen Regal unter der Wandzeitung lag ein Stoß Zettel im Format DIN A6 sowie eine Schachtel mit Stiften. In der Pinnwand steckten Nadeln. Wer nun etwas mitzuteilen hatte, konnte jederzeit zur Wandzeitung gehen, einen Zettel beschriften und diesen in der passenden Abteilung an die Wand pinnen.

Die Regeln für die Wandzeitung waren:

  • Jeder Zettel ist unterschrieben, anonyme Zettel werden abgenommen.
  • Es gibt eine einzige Unterschrift pro Zettel, keine „Massenmeldungen“
  • Wenn man sich über einen Mitschüler beschwert, muss das sachlich formuliert werden und nicht auf herabsetzende Weise.

Am Donnerstag nach der Schule nahm ich die Zettel ab und am Freitag wurden dann in einer sozialen Stunde die Zettel gemeinsam gelesen. Wie im Freinet-Zitat beschrieben, galt auch bei uns das besondere Augenmerk einer Häufung von negativen Äußerungen zu einem bestimmten Sachverhalt oder zu einem bestimmten Kind.

Entscheidend für den Erfolg: Es gibt bei Konflikten nicht Sieger und Besiegte! Jeder muss sein Gesicht wahren können!

Ob ein Kind in der Pause ein anderes attackiert, ein Schüler beim Sportunterricht dauernd stört, jemand das Material von einem Mitschüler kaputt macht oder Sonstiges:
Niemals kann es die Lösung sein, dass ein Kind sich für sein Fehlverhalten entschuldigt und der „Geschädigte“ diese Entschuldigung annimmt.

Was würde das bedeuten? Der „Übeltäter“ müsste nicht nur einsehen, dass er falsch gehandelt hat, sondern er müsste auch in einer „Unterwerfungsgeste“ das öffentlich gestehen und um Verzeihung bitten.

Wenn aber – aus welchen Gründen auch immer – die ganze Wahrheit überhaupt nicht ans Licht gekommen wäre? Wenn der Täter vom Opfer so oft gereizt und attackiert worden wäre, dass ihm irgendwann der Kragen platzte und er dann ungeschickterweise dem anderen eins verpasste und so plötzlich als der Böse dastand? Natürlich ist es nicht die richtige Art und Weise, seine Emotionen – seien sie auch noch so berechtigt – durch Gewalt abzureagieren. Aber sich dann auch noch öffentlich beschämen lassen? Das erzeugt sicher aufs Neue negative Gefühle, die dann auch wieder irgendwann abreagiert werden müssen.

Oder ein Schüler ist wirklich ein „Rambo“, der sofort zuschlägt, auch ohne besonderen Grund. Wird der nach einer öffentlichen Entschuldigung einsehen, dass das falsch war und sich hinfort besser benehmen? Sicher nicht!

Was wir durch ein derartiges oberflächliches „Entschuldigungswesen“ allenfalls erreichen, ist Unehrlichkeit im Umgang mit Konflikten.

Blicken wir noch einmal auf das oben angeführte Zitat:

Mit Hilfe dieser Wandzeitung, die Freinet schon von den Schülern der ersten Klasse anfertigen lässt, will man die Kinder zur Ehrlichkeit gegen sich und andere und zur Selbstkritik erziehen. (Hans Jörg, a.a.O., S.156)


cover buchner

So wird Unterricht entspannt

Stress, Druck und Hetze bestimmen oft bereits in der Grundschule den Alltag von Lehrern, Schülern und Eltern. Doch es ist möglich, trotz starrer Rahmenbedingungen und zahlreicher Anforderungen den schulischen Alltag für alle Beteiligten angenehm zu gestalten – ohne Hektik und Stress.
Der Fokus liegt auf der Autonomie der einzelnen Lehrer. Du findest erprobtes Handwerkszeug für eine alternative Umsetzung des Lehrplans. Methodenfreiheit neu gedacht, fächerübergreifendes Unterrichten und Projektarbeit ermöglichen einen entschleunigten Unterricht. Zusätzlich gibt es noch Online-Materialien.

Buch, broschiert, 260 Seiten 
ISBN:978-3-407-25762-8
24,95 €

Mehr zum Buch


Selbstreflexion und Empathiefähigkeit sind zwei wichtige Eigenschaften, damit Menschen in einer Gruppe konstruktiv agieren können. Viele Erwachsene – auch Lehrer – können das nicht. Besonders Selbstreflexion, also das Besinnen auf eigenes Handeln, auch auf eigene Fehler, fällt wahrscheinlich niemandem leicht, ist aber für viele Menschen gar nicht möglich.

Wenn wir nun unsere Schüler an ein sozial gedeihliches Verhalten in der Gruppe heranführen wollen, so ist dazu natürlich nötig, dass auch Fehlverhalten angesprochen wird.
Aber eben auf eine Weise, bei der es nicht am Ende einen Bösen und einen Guten gibt.

Ein einfaches Beispiel soll das verdeutlichen. Genauere Informationen zum Umgang auch mit schwierigeren Fällen findest du in meinem Buch „Unterricht entschleunigen“. (Christina Buchner, Unterricht entschleunigen, Weinheim Basel, 2017, S. 125-133)

Konfliktlösung im Guten

An der Wandzeitung hängt folgende Anklage auf der Ärger-Seite:

Das ist natürlich nicht einfach hinzunehmen, sondern bedarf der Klärung.

Diese erfolgt nach meinem bewährten Lösungs-Schema:

  1. Schilderung 1
    Der Kläger darf sein Anliegen vorbringen, ohne unterbrochen zu werden. Der Beklagte muss still abwarten, bis er an der Reihe ist.
  2. Schilderung 2
    Der Beklagte darf nun seine Sicht der Dinge darlegen, ebenfalls, ohne unterbrochen zu werden.
  3. Nähere Klärung des Sachverhalts
    Ich stelle Fragen, um den Ablauf so genau wie möglich vor Augen zu haben. Wenn es um „tätliche Übergriffe“ geht, lasse ich mir in einem kurzen Rollenspiel genau zeigen, was vorgefallen ist. Dabei stelle ich mich als Zielperson für den Übergriff zur Verfügung, damit der Täter genau herzeigen kann, wie er seinen Kameraden geschubst, gezwickt oder was auch immer hat und ich lasse mir auch vom Opfer noch einmal zeigen, wie das in seiner Wahrnehmung aussieht.
    Bei Michael und Sebastian stellt sich heraus, dass Michael Sebastians Mütze genommen und auf einen Baum geworfen hat.
    Achtung: Was ich in dieser Phase unter keinen Umständen mache, ist die Befragung von Zeugen. Es geht hier nicht um eine Gerichtsverhandlung, sondern darum, einen Konflikt einvernehmlich zu klären. Das wird schiefgehen, wenn es hinterher einen „Bösen“ und einen „Guten“ gibt. Da ich selbst wahrscheinlich den Vorfall nicht gesehen habe, hüte ich mich, eine „objektive“ Variante als richtig darzustellen. Werden die Vorgänge von den beiden Parteien unterschiedlich geschildert, so sage ich höchstens: „Ich war nicht dabei und kann deshalb gar nicht sagen, wie es war. Ich kann mir schon vorstellen, dass jeder von euch beiden alles genau so erzählt hat, wie er es erlebt hat.“ Manchmal biete ich dann noch Varianten an und sage: „Könnte es vielleicht auch so oder so gewesen sein?“
  4. Empathiephase
    Wenn nun hinreichend geklärt ist, was genau passierte, ist es wichtig, eine Deutungsmöglichkeit zu finden, die den „Übeltäter“ nicht bloßstellt, aber trotzdem zu dem Ergebnis kommt, ein anderes Verhalten wäre in dieser Situation besser gewesen. Wenn es um zwei Streithähne, wie z.B. Michael und Sebastian, geht, biete ich jedem der beiden sozusagen „zur Wahl“ Motive an, die es ihm ermöglichen, ehrenhaft und ohne Gesichtsverlust abzuschneiden.
    Zum Beispiel könnte ich zu Sebastian sagen: „Ich kann gut verstehen, dass du dich geärgert hast, als Michael einfach mit deiner Mütze weggerannt ist. Das würde mich auch ärgern. Michael, ich glaube, das würde dir auch nicht passen. Du hast wahrscheinlich gedacht, das ist lustig, stimmt’s? Aber denk mal nach, ob du das gernhättest. Ja, Sebastian, und dann hast du dem Michael richtig ins Gesicht gespuckt. Das war sicher eklig, stimmt’s Michael? Hätte dir das gefallen, Sebastian? Jetzt habt ihr beide eigentlich einerseits einen Grund für euer Verhalten, andererseits hätte man das schon anders machen können, was meint ihr? Du, Michael, wolltest was Lustiges machen und du, Sebastian, hast dich dann recht geärgert.“
    In diesem Stil äußere ich Verständnis, baue Brücken, indem ich mögliche Motive liefere und wecke in jedem der Kontrahenten Verständnis für die jeweils andere Position.
  5. Abschluss
    Grundsätzlich werden in der Abschlussphase eines Konfliktgespräches gemeinsam Alternativmöglichkeiten gesammelt, was jeder der beiden hätte tun können, damit es nicht zum Streit kommt.

Beim „Spuck-Gespräch“ kamen dann Vorschläge wie: „Der Sebastian hätte dem Michael doch sagen können, dass er das mit der Mütze nicht mag.“
Und auf den Einwand, dass Michael sich davon vielleicht nicht hätte abhalten lassen, kam: Der Sebastian hätte das an die Wandzeitung schreiben können.“

In den Phasen 4 und 5 sind alle Schüler am Gespräch beteiligt. Zur Förderung der Empathie kann man die Mitschüler fragen, wem es schon einmal ähnlich ergangen ist wie in dem aktuellen Vorfall, sei es als „Täter“ mit etwas vermeintlich Lustigem oder als „Opfer“.

Was ich an diesen Gesprächen immer sehr ermutigend fand, war die Bereitschaft der Kinder, sich an eigene Verhaltensausrutscher zu erinnern und diese den anderen mitzuteilen.

Dieses „sharing“ entlastet den Protagonisten, nimmt ihm das unbehagliche Gefühl, mit seinem Verhalten im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden zu haben und stärkt den Gruppenzusammenhalt.
Das Resultat heißt also nicht: „Der da hat was gemacht und wir haben darüber geredet, sondern: Da wurde etwas thematisiert, was viele von uns kennen.“ (Christian Stadler, Sabine Kern, Psychodrama, Wiesbaden, 2010, S.86)

Abschließende Gedanken zu Wandzeitung

Die Themen für das wöchentliche Klassengespräch ergeben sich bei der Wandzeitung aus der aktuellen Befindlichkeit der Schüler. Gerade das macht die besondere Wirksamkeit für die Gruppenkohäsion aus:

Es geht um unsere Themen und Probleme, die uns alle angehen und die wir gemeinsam lösen. Weil es echte Themen aus dem echten Leben sind, die aus sich heraus Bedeutsamkeit haben, sind die Energien der Klasse darauf gebündelt.

Da werden nicht synthetische Gespräche geführt, weil man halt was zum Bereden braucht. Und wie bei den Wattekugeln gilt auch hier: Die angesprochenen Probleme sind evident, für alle Kinder sichtbar, und betreffen uns auch alle, das Thema „Diskretion“ ist also obsolet.

Ein weiterer Vorteil der Wandzeitung ist, dass Lehrer durch sie sehr viel mitbekommen, was sonst ihrer Aufmerksamkeit entgehen würde.

Gerade dadurch, dass die an der Wandzeitung veröffentlichten Vorfälle niemals zu Bestrafungen, sondern immer nur zu Lösungen und Hilfestellungen für den „Übeltäter“ führen, kommt auch der Makel des „Verpetzens“ den Meldungen nicht zu.

So können Lehrer erfahren, was in der Klasse vorgeht und haben die Möglichkeit, regulierend einzugreifen.

In einer Klasse, in der es einen geschützten Raum gibt, haben destruktive Tendenzen wenig Chancen. Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, das bei Grundschulkindern noch sehr stark ausgeprägt ist, führt im Gegenteil dazu, dass solche Tendenzen offengelegt werden.

So sind zum Beispiel durchaus auch Wandzeitungsbeiträge dieser Art möglich:

Wenn wir uns vorstellen, wie viel Leid es für ein Kind bedeutet, zum Opfer kollektiver Ablehnung zu werden, dann können wir uns doch nicht hinter dem Mäntelchen des Nicht-gewusst-Habens verstecken, sondern müssen alles daran setzen, in den eigenen Klassen Derartiges zu verhindern und Schule zu einem Schutzraum werden zu lassen, „der vor jeglicher Art Demütigungserfahrung schützt“ (Hartmut Rosa, Wolfgang Endres, Resonanzpädagogik, Weinheim und Basel, 2016, S.83).

Die Wandzeitung leistet hierzu einen wichtigen Beitrag.

Die Autorin:

Christina Buchner arbeitete viele Jahre als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen. Und sie war 16 Jahre Rektorin an Grundschulen im Landkreis München.
Sie ist in Oberbayern auf dem Land aufgewachsen. Ihre Kindheit war geprägt durch große Freiheit, Nähe zur Natur, Freude an Büchern und die Möglichkeit, kreative Einfälle in die Tat umzusetzen.
Vor diesem Hintergrund war es ihr von Anfang an ein zentrales Anliegen, für ihre Schüler eine bunte und anregende Lernwelt zu schaffen.

Sie ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass in der Schule ohne Freude, Begeisterung und ohne Erfolgserlebnisse sehr wenig läuft. Die Mischung aus Pflicht und Freude, aus Begeisterung und konsequenter Übung, aus Disziplin und individueller Freiheit beim Lernen ist ihr Markenzeichen. Für diese Mischung wirbt sie in ihren Büchern und in Vorträgen und Lehrerfortbildungen in Deutschland, Österreich, Italien, der Schweiz und Luxemburg.
Christina Buchner entwickelte eigene Methoden für das Lesenlernen, für Rechtschreiben und Schreiberziehung, für den elementaren Mathematikunterricht und für das Theaterspielen mit einer Klasse.
Ihr MatheBlog: www.die-rechentante.de
Ihre Website: www.christina-buchner.de

Weitere Beiträge:

Runter vom Gas 1 – Impulse für entspannten Unterricht in der Grundschule

Runter vom Gas 2 – Disziplin und Classroom Management

Runter vom Gas 3 – Abstrakte Zeichen und Symbole entdecken




Runter vom Gas 3 – Abstrakte Zeichen und Symbole entdecken

Die echte, bunte, dreidimensionale Welt muss neben der Papierwelt der abstrakten Zeichen einen festen Platz im Unterrichtsvormittag haben

Im Verstand ist aber nichts, wenn es nicht vorher im Sinn gewesen ist. […] Da es nun gewöhnlich in den Schulen vernachlässigt wird und die Schüler einen Lernstoff vorgesetzt bekommen, der weder verstanden noch den Sinnen richtig präsentiert wird, kommt es dazu, dass die Arbeit des Lehrens und Lernens mühsam vorangeht und geringe Frucht trägt.

(Johann Amos Comenius, Orbis sensualium pictus, aus dem Vorwort der ersten Auflage 1658, aus dem Lateinischen übersetzt und neu herausgegeben von Uvius Fonticola, Frankfurt am Main 2012)

Die dreidimensionale Welt der Vorschulkinder

Im Kindergarten haben die Kinder – zumindest bisher noch – die Möglichkeit, sich mit echten Sachen zu beschäftigen. Es gibt eine Puppenecke, eine Bauecke, einen Sandkasten und viele echte, bunte Dinge, die man anfassen und bewegen kann, mit denen sich etwas machen lässt. Was diese Sachen bedeuten, ist intuitiv und ohne Unterricht zu verstehen: Ob es sich um eine Holzeisenbahn, Bauklötze, waren im Einkaufsladen, Puppen, Töpfe in der Puppenküche oder Stofftiere handelt: niemand muss den Kindern erklären, was sie da gerade vor sich haben. Zwar sind auch hier in den letzten Jahren vermehrt Bemühungen zu beobachten, den Kindern so früh wie möglich eine verschulte „Förderung“ zu verpassen, aber es gibt dort auch immer noch Gelegenheiten zum echten Spielen und damit auch zum echten Lernen durch Spielen.

Der Wechsel in die zweidimensionale Papierwelt der Schule

Dann treten die Kinder durch die Tür des Schulhauses in eine neue Welt, aufgeregt und voller großer Erwartungen. Für uns Lehrer bedeutet das die Herausforderung, diese großen Erwartungen nicht zu enttäuschen und die kleinen „Lern-Anwärter“ behutsam in die Welt der abstrakten Zeichen und Symbole einzuführen. Das gelingt am besten, wenn die echte, bunte, dreidimensionale Welt neben der Papierwelt der abstrakten Zeichen ebenfalls einen festen Platz im Unterrichtsvormittag hat. Das zu bewerkstelligen, gibt es sowohl im Deutsch- als auch im Rechenunterricht viele Möglichkeiten (Siehe hierzu auch: Christina Buchner, So lernen alle Kinder rechnen, 2012, Weinheim und Basel; Christina Buchner, Lesen lernen mit links, 2022, Norderstedt).

Die Schulwirklichkeit sieht allerdings häufig so aus, dass bereits nach kurzer Zeit Ernüchterung einsetzt und die Kinder sich zwischen Langeweile einerseits und Überforderung andererseits bewegen.

Langeweile deshalb, weil etwa im Rechnen der behandelte Zahlenraum zunächst sehr klein ist, bis zehn, manchmal sogar nur bis 5, und in diesem kleinen Zahlenraum die immer gleichen Rechnungen geboten werden. Oder im Lesen deshalb, weil die Fibeltexte auf den ersten 30, 40 oder noch mehr Seiten jegliche Spannung vermissen lassen. Dazu kommen wir noch ausführlicher.

Überforderung aber deshalb, weil von Anfang an vorausgesetzt wird, dass die hochkomplexe Zeichensprache der Mathematik mit Plus, Minus, Ist-gleich, Größer und Kleiner (+ – = > <) auf Anhieb ebenso verstanden wird wie das abstrakte System unserer Buchstabenschrift.

Wir haben es hier mit einer klassischen Doppelbotschaft zu tun, also mit etwas, was nach allen Regeln der pädagogischen Kunst tunlichst vermieden werden sollte: Lernen ist langweilig und trotzdem verstehe ich es nicht richtig.

Lesen lernen – spannend von Anfang an

Fragst du ABC-Schützen, was sie in der Schule denn lernen wollen, dann steht bei den meisten an erster Stelle der Wunsch, lesen zu lernen. Dabei denken die Kinder sicher nicht an derart banale Pseudo-Geschichten wie:

Wenn der Leseunterricht so langweilig beginnt, dann bietet das für die meisten Kinder – davon bin ich überzeugt – nicht genügend Anreiz, um sich dafür besonders anzustrengen. Kinder leben in der Gegenwart. Das Argument, dass sie „später“ einmal ganz, ganz tolle Geschichten lesen können, wenn sie nur jetzt genügend Arbeit investieren, zieht nicht.

Kinder wollen es „jetzt“ schön haben. Und unsere pädagogische Kunst besteht darin, dieses „Jetzt“ attraktiv und kindgemäß zu gestalten und dennoch nicht auf konsequente, langfristige Arbeit zu verzichten.

Das Lagerfeuer-Gen – ein Erbe aus der Steinzeit

Das Erzählen von und die Freude an Geschichten sind uns Menschen eingeschrieben. Die großen Mythen der Menschheit wurden mündlich weitergegeben, lange bevor sie aufgeschrieben werden konnten. Aber das war sicher nicht alles, was am Lagerfeuer erzählt wurde. Die Anthropologin Polly Wiessner hat ein halbes Jahr lang das Leben von Buschmännern in der Kalahari erforscht und berichtet, dass am Abend auch spannende oder lustige Geschichten aus dem gemeinsamen Leben und aus der Vergangenheit erzählt werden. (https://www.tagesspiegel.de/wissen/lagerfeuer-trieb-kulturelle-evolution-voran-4391089.html)

Der Neurowissenschaftler Uri Hasson (https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Uri+Hasson+Princeton#fpstate=ive&vld=cid:42c84031,vid:CTsStZqxPwY,st:0) von der Universität Princeton hat Gehirnscans mit Magnetresonanztomografie (fMRT) gemacht, während Geschichten erzählt wurden und hat dabei festgestellt, dass beim Erzählen einer Geschichte, die bei den Zuhörern ankommt, die verschiedenen Gehirne die gleichen Muster zeigen, sozusagen im Gleichklang schwingen.

Wenn wir uns nun vorstellen, dass wir mit dem Geschichtenerzählen in der Schule sowohl die seit der Steinzeit vorhandene Lust an Geschichten als auch die wissenschaftlich belegte Stärkung der Gruppenkohäsion – etwas anderes ist der „Gleichklang der Gehirne“ ja nicht – nutzen können, so spricht doch überwältigend viel dafür, das auch zu tun.

Steinzeit meets Neuroscience

Damit sind wir wieder beim Lesen. Um es nochmal festzuhalten: Texte wie oben zitiert (Lisa! O Leo! … usw.) eignen sich hier ganz und gar nicht. Über die Banalität gängiger Fibeltexte urteilte Bruno Bettelheim schon vor vielen Jahren negativ, wobei er sich dabei auf amerikanische Fibeltexte bezog:

Inzwischen hat man mehrere Generationen amerikanischer Grundschulkinder um die Entdeckung betrogen, daß das Lesen die anregendste, lohnendste und sinnvollste Erfahrung ist, die die Schule zu bieten hat. Aber um den Schulanfängern dieses Erlebnis zu ermöglichen, müssen die Texte, aus denen das Kind lesen lernt, anregend, lohnend und vor allem sinnvoll sein. […] Es ist nicht nur so, daß die Geschichten, aus denen das Kind lesen lernen soll, nichts taugen – durch ihre belanglosen Sätze und ihre entsetzlich langweiligen Wiederholungen der gleichen wenigen Wörter regen sie das Kind nicht nur nicht an, sie verdummen es geradezu.

(Bruno Bettelheim, Kinder brauchen Bücher, München, 1985, S.251)

Neben den Forschungsergebnissen von Uri Hasson ist bereits seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die Gehirnforschung noch etwas anderes und für das Lernen überaus Nützliches belegt: Die funktionelle Hemisphärenasymmetrie, für deren Nachweis Roger Sperry 1981 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin erhielt. (Richard F. Thompson, Das Gehirn, Heidelberg, Berlin, Oxford, 1994, S. 32) Diese funktionelle Hemisphärenasymmetrie lässt die beiden Großhirnhälften zwar baugleich aussehen, aber ganz unterschiedlich funktionieren. Es lohnt sich für alle Lehrer, sich damit intensiv auseinanderzusetzen, denn diese Forschungsergebnisse können „wissenschaftlich“ erklären, warum manches so gut funktioniert, obwohl es weder besonders neu noch besonders fortschrittlich erscheinen mag.
Die Schlussfolgerung aus den Forschungsergebnissen Sperrys im Hinblick auf gutes und wirkungsvolles Unterrichten besagt nämlich nichts anderes als das, was Comenius bereits wusste und was jeder gute Lehrer in seiner pädagogischen Werkzeugkiste seit jeher als selbstverständliches Tool zur Verfügung haben sollte: Die Dinge landen dann gut und sicher im Gehirn unserer Schüler, wenn sie verknüpft sind mit Bildern, Geschichten, Reimen oder Liedern.

Wie aber kannst du vorgehen, wenn doch die Fibeln diese bunte Geschichtenwelt nicht hergeben? So schwierig ist das gar nicht. Du brauchst konkrete Vorschläge – die bekommst du – und die Bereitschaft, deine pädagogische Freiheit auch wirklich zu nutzen.

Der Leselehrgang, den ich dir jetzt vorstelle, verpflichtet dich didaktisch zu nichts: Du kannst völlig frei zwischen Fibel und den Möglichkeiten mit den Geschichten pendeln, du kannst dir eigene Geschichten ausdenken, wenn du eine Idee hast. Es geht eben gerade gar nicht darum, einen einzigen Weg einzuschlagen und dann unbedingt nur noch diesen Schritt für Schritt zu gehen, sondern du kannst alles, was hier vorgeschlagen wird, dazu benutzen, den Schulalltag bunter und anregender zu gestalten und zwar genauso, wie es dir richtig erscheint.

Eine bunte Geschichtenwelt

  • Kinder sollen für das Lesenlernen gewonnen werden. Ob das nun mit einzelnen Buchstaben oder mit Ganzwörtern geschieht, ist nachrangig, wenn es gelingt, zu erreichen, dass die Kinder wirklich wollen.
  • Das grundsätzliche Sich-Einlassen auf den Leselehrgang wird durch Geschichten gefördert, die den Kindern etwas bedeuten. Davon wirst du gleich einige Kostproben bekommen.
  • Wichtig ist, dass die Kinder sich Buchstaben merken und schnell benennen können. Die Benenngeschwindigkeit ist ein bedeutsamer Prädiktor für spätere Leseleistungen. 
    Damit Kinder vor allem in der ersten Phase des Leselernprozesses sich schnell an Buchstaben erinnern und sie somit auch schnell benennen können, gibt es zu den Geschichten ganz spezielle Bilder, die nicht einfach die Geschichte illustrieren, sondern den Helden der Geschichte so mit dem Bild verbinden, dass damit zwingend die Form des Buchstaben verbunden ist.
  • Die Übungsarbeit, die jeweils im Anschluss an das Kennenlernen eines Buchstaben erfolgt, geschieht mit Hilfe von Wortkarten, Buchstabengedichten, Lautgesten, Knetebuchstaben und einigem mehr. (Christina Buchner, Lesenlernen mit links … und rechts, gehirnfreundlich und ohne Stress, Norderstedt, 2023)
  • Wichtig ist, dass dafür genügend Zeit zur Verfügung steht. Pro Buchstabe eine ganze Woche gibt den Raum für viele Aktivitäten.
  • Zu den erzählten Geschichten gibt es dann die Texte der Buchstabengedichte, aber auch kurze Texte, die einen Bezug zur Geschichte haben. Diese Texte müssen am Anfang auch noch nicht gelesen werden können, aber mit ihnen kann – wenn die Lehrerin sie zunächst vorliest – trotzdem gearbeitet werden: Es können bereits bekannte Buchstaben und Kärtchenwörter gesucht werden.
    Bald können diese einfachen Texte dann auch „echt“ gelesen werden. Dass sie sehr einfach sind, stört nicht, nehmen sie doch Bezug auf eine Geschichte, die die Kinder anspricht.

Doch nun ist Schluss mit der Theorie, es geht konkret zur Sache.

Anton mit dem langen Arm

Zur Antongeschichte wurde ich angeregt durch Erich Kästners Gedicht von Arthur mit dem langen Arm. Dabei geht es um einen Jungen, der seine Schwester zum Zug bringt, ihr zum Abschied die Hand ans Abteilfenster reicht und dann nicht loslässt, als der Zug anrollt. Als die Notbremse gezogen wird, ist Arthurs Arm bereits 30 Meter lang.

Mit der Idee zu Anton wurden auch die Weichen für künftige Geschichten gestellt: Sie haben fast alle etwas Phantastisches, behandeln aber gleichwohl echte Kinderprobleme. Diese Mischung muss es wohl sein, warum die Geschichten seit vielen Jahren und in vielen verschiedenen Klassen – in Bayern, Südtirol, Österreich – bei den Kindern ankommen, wie mir Kolleginnen immer wieder bestätigen.

Das Problem, das Anton in meiner Geschichte hat, ist, dass er gerne schon richtig groß wäre, aber immer wieder von seiner Mama gesagt bekommt, für dies oder jenes sei er noch zu klein. Darüber muss er sich maßlos ärgern. Und an einem solchen Ärgertag wünscht er sich beim Einschlafen einen Arm, der so lang ist, dass er damit alles erreichen kann. Im Traum erscheint ihm ein Zauberer, der ihn fragt, ob denn dieser Wunsch wirklich ernst gemeint sei. Und Anton bejaht das und wacht am nächsten Tag wirklich mit einem riesenlangen Arm auf, der aus dem Bett über den Fußboden bis zu seiner Zimmertür reicht du sie blockiert, sodass die Mama zum Wecken gar nicht herein kann.

Nun verlebt Anton mit seinem monsterlangen Arm einen sehr traurigen Tag: Er kann gar nichts machen, nicht in den Kindergarten gehen und auch nicht richtig spielen.

Am Abend weint er sich ziemlich verzweifelt in den Schlaf. Doch zum Glück erscheint ihm wieder der Zauberer und fragt, ob er den Arm behalten wolle. „Nein, nein, bloß nicht!“, sagt Anton. Und wirklich, am nächsten Tag wacht er mit zwei ganz normalen Armen auf und ist überglücklich. Anton und seine Mama haben aber etwas gelernt aus der Geschichte: Die Mama sagt nicht immer gleich, er sei noch zu klein für dies oder jenes und Anton sieht ein, dass er eben manchmal wirklich noch zu klein für etwas ist.

Mit dieser Geschichte wird der Buchstabe A thematisiert. Es gibt dazu ein Bild von Anton:

Du siehst, dass im Anton das A steckt, das nun von den Kindern auf ihrem Arbeitsblatt kräftig eingezeichnet wird.

Die Buchstabenwoche – vielfältig und abwechslungsreich

Es gibt viele Möglichkeiten, sich mit dem aktuellen Buchstaben zu beschäftigen. Einige zähle ich hier kurz auf.

Das Buchstabengedicht

Es gibt zu jedem Buchstaben ein Lied oder ein Gedicht, hier ein Anton-Lied:

Mit Wortkarten können wir Wörter sammeln: Es wird von Anfang an das Abbauen geübt.

Zu jedem Buchstaben wird etwas gegessen:

Beim „A“ gibt es Ananas mit Sahne. Jeweils nach ca. 6 Wochen werden die verschiedenen Speisen für die Lesemappe in einer Speisekarte aufgelistet, die Kinder malen dazu, jedes hat seinen individuell gestalteten Speiseplan.

Großräumige Lautgesten zu jedem Buchstaben

So werden viele zusätzliche Neuronen aktiviert.

Wenn mehrere Buchstaben durchgenommen und die entsprechenden Lautgesten bekannt sind, können Wörter „geturnt“ werden.

Hier ein Beispiel:

Der aktuelle Buchstabe klebt mit Tesakrepp groß am Boden

Was riecht gut mit A?

Anis, Anisöl

Ein Wattebausch mit dem Duft getränkt kommt in ein kleines Schraubglas.

Übungstext

Der kleine Text steht an der Tafel und auf einem Arbeitsblatt. Die Lehrerin liest ihn vor. Es spielt keine Rolle, wenn die Kinder noch nicht mitlesen können.

Kärtchenwörter und der Buchstabe A a werden gesucht und markiert.

Arbeiten mit Knete

Die Knete hierfür mache ich selbst.

Hier ist das ultimative Kneterezept, geht gut in der Küchenmaschine:

Diese Knete ist weich und deshalb zum Buchstabenformen ideal geeignet. Zum Aufbewahren musst du sie in eine Plastiktüte oder eine Tupperdose geben, sonst wird sie hart.

Tipp: Jedes Kind kann seine eigene Knetedose mit Namen beschriftet haben, das erspart Stress.

Schreibübungen

Auf individuell erstellten Blättern:

Im Schwungheft:

Im unlinierten Heft:

Es gibt noch eine Reihe weiterer Möglichkeiten, aber einen Überblick konnte ich dir sicher verschaffen.
Du siehst, dass du sehr viel machen kannst, ohne auf fertige Übungshefte angewiesen zu sein.
Das verschafft dir Flexibilität und Freiheit und auch die Gelegenheit, den Kindern individuelle Übungsmöglichkeiten zu bieten.

Einige weitere Buchstabenfiguren

Diese möchte ich noch kurz vorstellen, damit du siehst, wie abwechslungsreich der Leselehrgang sein kann.

Roland

Hier siehst du Roland, den rasenden Rennfahrer. Er flitzt mit seinem Gokart so wild herum, dass ihn eines Tages ein Hinterrad überholt und dann aber glücklicherweise wieder an seinen Platz zurückrollt. Doch das mäßigt Roland in Zukunft beim Fahren.
Das R ist leicht zu erkennen.

Roland rennt wie wild umher, 
rennen freut ihn gar so sehr.
Es macht peng! Es macht krach!
Rollt das Rad dem Roland nach.

Dora Dussel

Dora Dussel ist eine total schusselige Ente, die so gar nicht zu den anderen Enten passt und immer abseits steht. Eines Tages findet sie ein Märchenbuch und der schlaue Rabe Korax bringt ihr das Lesen bei. Nun wollen alle Enten von Dora vorgelesen bekommen, sie gründet sogar eine Entenschule und ist nun der Star.

Das D steckt im Flügel der gerade gründelnden Dora.

Dora Dussel ist ein Schussel, schaut gern in die Luft,
Dora Dussel ist ein Schussel, hört nicht, wenn man ruft.
Aber eines schönen Tages wird die Dora schlau,
lernt das Lesen, lernt das Schreiben, alles ganz genau.
Ja, die Dussel-Schussel-Dora ist kein Dussel mehr!
Alle geh'n bei ihr zur Schule und das freut sie sehr!

Leo, das lustige Lama

Leo Lama lebt ganz alleine in einem Tiergehege. Immer, wenn jemand in seine Nähe kommt, spuckt Leo. Das findet sein Besitzer, der reiche Fabrikant Habersack, ziemlich unartig. Doch der kleine Benni findet heraus, warum Leo immer spuckt. Nun bekommt er einen Spielgefährten in sein Gehege und ist von da an ein richtig braves Lama.

Das L wird von Leos Hals und einem Teil des Rückens gebildet.

Seht nur, wie das Lama spuckt,
wenn es um die Ecke guckt.
Lieber Leo, spuck nicht mehr,
trau mich sonst ja gar nicht her!

Vom Entziffern zum echten Lesen

Je mehr Buchstaben die Kinder gelernt haben, desto wichtiger werden Übungen zum echten Lesen und zum Zusammenlesen. Dazu findest du in meinem Buch viele Anregungen (Christina Buchner, Norderstedt, 2023).

Doch dann, wenn die Kinder kurze Geschichten sinnerfassend lesen können, muss der letzte Teil des Leselehrgangs in Angriff genommen werden. Diesem letzten Teil wird an unseren Schulen so gut wie keine Aufmerksamkeit gewidmet. Wenn die Kinder „im Prinzip“ lesen können, gilt der Prozess in den meisten Klassen als abgeschlossen. Diejenigen Schüler, die aus einem bildungsorientierten Elternhaus kommen, werden dann in vielen Fällen die Lesepraxis, die nötig ist, um ein wirklich versierter Leser zu werden, sozusagen auf eigene Faust erwerben. Was aber ist mit den anderen Kindern, die dringend Anleitung und Kontrolle bräuchten?

Es hat ja einen Grund, dass bei uns von so vielen Seiten über die mangelnden Lesefähigkeiten der Schulabgänger – übrigens auch der Abiturienten! – geklagt wird. Die Schule könnte hier sehr segensreich wirken, wenn sie sich auf die nachhaltige und langfristige Arbeit einlassen würde, den Schülern das nötige Lesetraining zu verschaffen.

Ausdauer und Anstrengungsbereitschaft sind gefragt, um ein echter Leser zu werden.

Es ist eine wichtige und wunderbare Sache, den Kindern zu zeigen, dass es sich lohnt, das Lesen zu lernen und sich dafür auch anzustrengen. Die vielen schönen Übungsmöglichkeiten, von denen ich einige vorgestellt habe, bieten reichlich Gelegenheit, mit anderen Kindern zusammen aktiv zu sein. Das erzeugt gute Stimmung in der Klasse.

Doch es ist noch viel Arbeit nötig, bis der schulische Leselernprozess als abgeschlossen bezeichnet werden kann.

Für uns Lehrer ist es eine herausfordernde, aber auch beglückende Aufgabe, unsere Schüler gut durch das „Tal der Mühsal“ zu begleiten, sie zu ermutigen und ihre Erfolge sichtbar zu machen.

Ein nachhaltiger und langfristig angelegter Übungslehrgang ist für die Schule machbar. Ich habe reichlich Praxiserfahrung und kann das deshalb beurteilen. Wie du genau vorgehen kannst, findest du auf meiner Homepage (www.christina-buchner.de) und in meinem Buch (Christina Buchner, Norderstedt, 2023).

Das vorgeschlagene Verfahren kann natürlich genauso wie der vorgestellte Leselehrgang von dir abgewandelt werden. Auch hier geht es um ein Prinzip, nicht um eine genau einzuhaltende Eins-zu-Eins-Vorschrift. Ich wünsche vielen Kolleginnen und Kollegen, dass sie sich auf einen Versuch einlassen. Es würde vielen Schülern eine Chance geben.

Zum Schluss möchte ich Stanislas Dehaene zitieren, der sich intensiv mit dem Lesen beschäftigt hat:

Man erweist dem Kind keinen Gefallen, wenn man ihm die Freuden des Lesens vorgaukelt, ohne ihm den entsprechenden Schlüssel an die Hand zu geben. (Stanislas Dehaene, Lesen, München, 2012, S. 250)

Die Autorin:

Christina Buchner arbeitete viele Jahre als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen. Und sie war 16 Jahre Rektorin an Grundschulen im Landkreis München.
Sie ist in Oberbayern auf dem Land aufgewachsen. Ihre Kindheit war geprägt durch große Freiheit, Nähe zur Natur, Freude an Büchern und die Möglichkeit, kreative Einfälle in die Tat umzusetzen.
Vor diesem Hintergrund war es ihr von Anfang an ein zentrales Anliegen, für ihre Schüler eine bunte und anregende Lernwelt zu schaffen.

Sie ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass in der Schule ohne Freude, Begeisterung und ohne Erfolgserlebnisse sehr wenig läuft. Die Mischung aus Pflicht und Freude, aus Begeisterung und konsequenter Übung, aus Disziplin und individueller Freiheit beim Lernen ist ihr Markenzeichen. Für diese Mischung wirbt sie in ihren Büchern und in Vorträgen und Lehrerfortbildungen in Deutschland, Österreich, Italien, der Schweiz und Luxemburg.
Christina Buchner entwickelte eigene Methoden für das Lesenlernen, für Rechtschreiben und Schreiberziehung, für den elementaren Mathematikunterricht und für das Theaterspielen mit einer Klasse.
Ihr MatheBlog: www.die-rechentante.de
Ihre Website: www.christina-buchner.de

Weitere Beiträge:

Runter vom Gas 1 – Impulse für entspannten Unterricht in der Grundschule

Runter vom Gas 2 – Disziplin und Classroom Management




Runter vom Gas 1 – Impulse für entspannten Unterricht in der Grundschule

Wie Sie Ihren Unterricht entschleunigen, um stressfrei und entspannt zu unterrichten

Die Volksschule langweilte mich vier Jahre. Während meines neunjährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern. (Bertolt Brecht)

Diese Äußerung Bertolt Brechts ist zwar vordergründig zum Schmunzeln. Doch eigentlich ist sie bitter ernst, denn im Grunde spricht sie etwas an, was auch heute noch für die Institution „Schule“ in weiten Teilen symptomatisch ist:

Der Sinn der ganzen Veranstaltung kann unseren Schülern nur bedingt vermittelt werden und das umso weniger, je länger sie dem schulischen Zugriff ausgesetzt sind.

Liebe Kollegin, lieber Kollege, vielleicht bist du jetzt entsetzt von dieser Einschätzung, empfindest das womöglich sogar als Nestbeschmutzung. Dann frage doch einmal in deinem Bekanntenkreis bei Schulabgängern, wie sie auf ihre Schulzeit zurückschauen.

ABER das soll nun kein Aufruf zur Pädagogikverdrossenheit sein, sondern es soll vielmehr eine Chance markieren, nämlich die Chance, es anders – und zwar besser – zu machen.

Viele Kolleginnen haben sich bereits auf den Weg gemacht, alte verkrustete Strukturen aufzubrechen und ich hatte in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von positiven Begegnungen mit solchen Vertretern unserer Zunft und kann auf geglückte Kooperationen zurückblicken. In der Summe allerdings sind diese innovativen und begeisterten Lehrer, die mit Kreativität, Mut und Entschlossenheit das Leben und Lernen in einer Klasse gestalten, noch stark in der Minderzahl.

Um diesen Kolleginnen den Rücken zu stärken und um weitere Kolleginnen mit dem Virus der Innovation, des Selber-Denkens und der Eigenverantwortung anzustecken, möchte ich von den Erfahrungen berichten, die möglich sind, wenn wir Lehrer das Heft selbst in die Hand nehmen und uns auf das besinnen, was uns dank unserer Lehrpläne und der Lehrerdienstordnung alles möglich ist: nämlich ein Maß an Selbstbestimmtheit, von dem viele andere Beamte nur träumen können.

Der autonome Lehrer

Hast du tagtäglich das Gefühl, mit „dem Stoff“ nicht fertig zu werden und fühlst du dich von „dem Lehrplan“ gehetzt und gegängelt? Dann sitzt du, wie viele deiner Kolleginnen und Kollegen, einem gewaltigen Irrtum auf. In diesem Fall empfehle ich dir, dem Lehrplan einmal genau „aufs Maul zu schauen“ und zuallererst die Präambel aufmerksam zu lesen. Da findet sich nämlich eine so unglaublich sinnvolle Bestimmung wie jene:

Um der Schule ausreichend Gestaltungsmöglichkeiten für das Lernen auch über einzelne Fächer hinaus zu ermöglichen, sind die Fachlehrpläne auf 26 Wochen ausgelegt. Bei insgesamt 38 Schulwochen steht damit ein pädagogischer Freiraum zur Verfügung, der von der Schule in Einklang mit ihrem pädagogischen Profil gestaltet wird. Hierdurch können in der Klasse Lehrplanthemen entsprechend den Interessen der Kinder weiter vertieft und weiterführende Schülerinteressen und –bedürfnisse aufgegriffen werden. Dazu gehören z.B. das Aufgreifen aktueller Tagesereignisse sowie die Gestaltung des Schullebens einschließlich Klassenfahrten, Wanderungen, Schulfesten und Gottesdiensten. (Lehrplan PLUS 2014, S. 19)

Nun kann mit der in unserem Beruf leider häufig vorhandenen Ja-aber-Mentalität gleich ein Haar in der Suppe gefunden werden, nämlich: Da werde ich ja mit „dem Stoff“ erst recht nicht fertig.

Dann schau dir doch einmal den Lehrplan vor allem in den drei Kernbereichen Lesen, Schreiben und Rechnen genau an. Da wird alles Mögliche verbal aufgebläht, aber letztendlich kannst du die dort aufgeführten Kompetenzen ganz leicht auf das Wesentliche eindampfen.

Am Beispiel Texte verfassen möchte ich das exemplarisch genauer ausführen:

Das, was im Folgenden über die Spracharbeit gesagt wird, lässt sich aber auch auf die anderen Kernfächer anwenden. Es ist nicht „der Lehrplan“, der uns hetzt. Es ist das Bestreben, alle in Büchern und Arbeitsheften angebotenen Möglichkeiten lückenlos abzuarbeiten.

Für den Bereich „Texte verfassen“ bleibt, wenn wir nur das Wesentliche herausfiltern, in der 3. und 4. Klasse lediglich Folgendes übrig:

Die Kinder sollen Texte verschiedener Art verfassen, ordentlich und passend zum Inhalt gestalten, ihre Rechtschrift überprüfen und gegebenenfalls den Text überarbeiten und verbessern.

Und wie lernen sie das am besten? Natürlich, indem sie es tun und nicht indem sie darüber reden oder in einem Arbeitsheft Lückentexte ausfüllen, Satzanfänge verändern, Textteile nummerieren, Pronomina einsetzen und Multiple-choice-Kreuzchen machen, so wie ich es zum Thema Texte verfassen 24 Seiten lang in einem Arbeitsheft für die 3. Klasse gefunden habe. 24 Seiten, jede mit einem eigenen Schwerpunkt, das sind womöglich 24 Schulstunden! Du hast die Entscheidungsgewalt, solche Seiten einfach nicht anzubieten und stattdessen die Kinder selber schreiben zu lassen.

Vor der Korrekturarbeit musst du keine Angst haben. Denn wenn du die Kinder häufig Texte verfassen lässt und in diesen Texten wirklich nur falsche Rechtschrift und fehlerhafte Grammatik anstreichst, dann hast du auch nur einen Bruchteil an Korrekturarbeit und die Kinder werden wesentlich motivierter arbeiten, weil du damit zeigst, dass du vor ihrem sprachlichen Konstrukt Respekt hast und nicht einfach die Ausdrücke der Kinder durch solche ersetzt, die dir geeigneter erscheinen.

Wie schreibt Goethe so wunderbar:

Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht.

Johann Wolfgang von Goethe, Willkommen und Abschied

Kannst du dir vorstellen, hier als Korrektur anzumerken: Die Nacht hängt nicht?

Eigene Sprache ist etwas sehr Persönliches. Und wenn wir hier wirklich nur das objektiv Falsche anstreichen und die ureigene Sprache der Kinder – oder manchmal auch die Sprachschöpfungen – akzeptieren, dann wird das von den Kindern auch verstanden und gebilligt.

Meine Tochter hatte in der 3. und 4. Klasse einen Lehrer, der es genau anders machte, in den Aufsätzen der Kinder herumstrich und regelmäßig deren Ausdrücke durch das ersetzte, was er für besser hielt. Das machte meine Tochter so wütend, dass sie zu Hause schimpfte wie ein Rohrspatz, wenn wieder einer ihrer Aufsätze von Herrn M. „verunstaltet“ worden war, denn so empfand sie das. Als ich einmal versuchte, sie mit dem Argument zu beruhigen: „Wenn der Herr M. dir etwas beim Rechnen anstreicht, dann ärgerst du dich doch auch nicht!“, da gab sie mir eine Antwort, die genau den Kern der Sache trifft: „Ja, schon, Mami, aber weißt du, da kränkt es mich nicht so!“

Damit ist eigentlich alles gesagt. Nun kann man sich natürlich fragen, wie denn dann an Verbesserungen gearbeitet werden soll, wenn man einfach alles lässt,  wie es ist. Diese Frage ist berechtigt und dafür gibt es eine ganz einfache Lösung. Du kannst den Kindern einen von dir verfassten Text zu dem bearbeiteten Thema vorlegen, in den du Fehler oder Sprachschwächen einbaust, die entweder wirklich vorkamen oder die du auch erfindest und diesen Text dürfen die Kinder dann verbessern. Das kann in Gemeinschaftsarbeit an der Tafel, in Gruppenarbeit, Partnerarbeit oder auch einzeln gemacht werden. Ich ließ bei diesen Arbeiten die Kinder immer einen Rotstift verwenden, das hatten sie gern, sie erlebten dadurch so etwas wie einen Rollentausch – vom Schüler zum Lehrer.

In meinen zweiten Klassen betitelte ich diese Texte auch oft mit: Kasperl hat geschrieben.

Nun zurück zu unserem Thema: Stress und Hetze in der Schule verhindern.

Wenn du so wie beschrieben vorgehst, dann ermöglichst du den Kindern ein In-die-Tiefe-Lernen, das heißt, ihr verzettelt euch nicht mit allen möglichen Einzelthemen, sondern ihr bleibt an der Sache, um die es geht: am Verfassen von Texten.
Die Kinder verbessern unweigerlich ihr Schreiben, wenn sie dazu oft Gelegenheit haben und das angstfrei und ohne Sorge tun können, weil sie wissen, dass du achtsam und respektvoll mit ihrer Arbeit umgehst.
Du musst dich nicht mit den langweiligen Arbeitsblättern herumplagen und das Korrigieren ist schnell erledigt. Die Kinder sind motivierter bei der Sache und die Möglichkeit des Verbesserns und Reflektierens ist auch vorhanden.

Das Ganze hat nur Vorteile. Und die Entscheidung, wie du vorgehen möchtest, liegt allein bei dir. Dass du das wirklich „darfst“, ist dir ganz explizit im Lehrplan gestattet. Da heißt es:

Die Lehrkraft initiiert und beeinflusst das Lernen, indem sie Lernanlässe schafft und gezielt Lernformen, Materialien und Methoden auswählt. (Lehrplan PLUS, 2014, S.17)

Da steht nicht, dass du ein Schulbuch von vorne bis hinten durcharbeiten musst.

Du bestimmst, mit welchem Material und mit welcher Methode du deine Schüler sprachlich fördern möchtest.

Dass einzelne isolierte Sprachschnipsel, bei denen zum Beispiel die Vorsilbe ver- oder vor- oder um-, passend zu vorgegebenen Sätzen, in eine Lücke eingesetzt werden soll, die Sprachkompetenz der Kinder mit einer Effektstärke gegen Null fördern, müsste eigentlich jedem einleuchten. Die Zeit für solche Übungen – die noch dazu sterbenslangweilig für Kinder und Lehrerin sind – kannst du dir getrost sparen.

Sprachbetrachtung kann stattdessen, wenn du sie für nötig hältst, wunderbar beim Reflektieren über den von dir verfassten Korrektur-Aufsatz untergebracht werden, und zwar so, wie es für das Schülergehirn am besten geeignet ist: Kontextspezifisch und in kleinen Häppchen.

Was für den Bereich „Texte verfassen“ gilt, ist überhaupt bei jeder Spracharbeit das Entscheidende: Kinder lernen Sprache, indem sie mit echter Sprache aktiv umgehen, sie also aktiv gestalten, oder passiv erleben.

Wenn du alleine für die Bereiche Texte verfassen und Sprachbetrachtung so vorgehst, dass du das Überflüssige und Demotivierende weglässt und dich auf das konzentrierst, was effektiv und wesentlich ist, gewinnst du Zeit und die kannst du extrem gewinnbringend einsetzen: zum Beispiel für das Vorlesen schöner Bücher.

Das ist kein bloßer Zeitvertreib, sondern Sprachförderung in Höchstform. Wo haben denn unsere Schulanfänger ihren Wortschatz her? Von Wörtern, die sie von Erwachsenen gehört haben. Nun wird in der Alltagssprache der Reichtum unserer Ausdrucksmöglichkeiten nicht annähernd ausgeschöpft. Deshalb ist das Vorlesen schöner Geschichten so wichtig. Wir wissen aus zahlreichen Untersuchungen, dass entscheidende Determinanten für Lern- und Leseerfolg Wortarmut oder Wortreichtum sind. Wir wissen auch, dass viele Kinder in der Vorschulzeit sehr wenig, andere hinwiederum sehr viel vorgelesen bekommen. Das betrifft eine Spannweite von 30 bis 1700 Stunden! Was soll es denn so spracharmen „30-Stunden-Kindern“ nützen, wenn sie irgendwelche Sprachschnipsel in Lücken einsetzen sollen? Wenn sie hingegen in der Schule schöne Geschichten hören, von der Lehrerin ausdrucksvoll und – je nach persönlicher Neigung – dramatisch ausgestaltet vorgetragen, dann haben sie auch eine Chance, allmählich ihre Defizite zu verringern.

Vorlesen ist für die sprachverwöhnten 1700-Stunden-Kinder schön, für die spracharmen 30-Stunden-Kinder aber sprachlich lebensnotwendig.

Ich habe in jeder meiner Klassen – von der ersten bis zur neunten – jeden Tag 15 bis 20 Minuten vorgelesen. Das lässt sich gut mit der Brotzeitpause verbinden, in der zuerst 10 Minuten „freie Konversation“ stattfinden kann und danach die Lesezeit beginnt. Einige meiner Kolleginnen haben das tägliche Vorlesen ebenfalls in ihr festes Programm aufgenommen und ebenso wie ich die allerbesten Erfahrungen damit gemacht.

Keine starren Stundengrenzen

Was hier exemplarisch für die Deutschbereiche Sprachbetrachtung und Texte verfassen gesagt wurde, lässt sich natürlich in abgezirkelten 45-Minuten-Einheiten nur schwer unterbringen. Aber das muss auch gar nicht sein, denn auch hier haben wir die explizite „Erlaubnis“, das starre Stundengerüst aufzubrechen:

Die zeitliche Strukturierung des Unterrichtsvormittags orientiert sich an kindgerechten Phasen für konzentriertes Lernen und berücksichtigt das Bedürfnis nach Bewegung und Pausen. […] Rituale strukturieren den schulischen Alltag und schaffen eine Atmosphäre der Sicherheit und des Vertrauens […] (Lehrplan PLUS, 2014, S.17)

Du hast nicht nur die Freiheit, deinen Schultag so zu gestalten, wie es zur Situation in deiner Klasse passt, du wirst sogar ausdrücklich dazu aufgefordert. Es ist gar nicht sinnvoll, eine Stunde nach der anderen zu halten, jede mit dem Glockenschlag zu beenden, womöglich gar noch mit dem Bestreben, nach jeder einzelnen Unterrichtsstunde ein Ergebnis zu erzielen. Schlimm genug, dass so etwas in den Lehramtsprüfungen immer noch verlangt wird.

Aber du kannst selbst entscheiden. Was spricht denn gegen eine Unterrichtspraxis, in der nicht jedes Thema künstlich auf 45 Minuten gedehnt wird? Ganze Rechtschreibstunden sind zum Beispiel völlig sinnlos. Es profitieren bestenfalls die Verleger von Arbeitsheften davon, dass Schüler seitenweise in Lücken „z“ oder „tz“ einsetzen oder aus Silben Tiernamen bilden und dann bei „Tiger, Biber, Nilpferd und Krokodil“ die lang gesprochenen, aber kurz geschriebenen „i“ farbig markieren. Weit wirkungsvoller ist es, kontextspezifisch immer wieder – oft und kurz – Rechtschreibprobleme und echte – von Schülern wirklich gemachte – Fehler zu besprechen und so aus vielen Reflexionen allmählich Strukturen und Regeln zu entwickeln.


So wird Unterricht entspannt

Stress, Druck und Hetze bestimmen oft bereits in der Grundschule den Alltag von Lehrern, Schülern und Eltern. Doch es ist möglich, trotz starrer Rahmenbedingungen und zahlreicher Anforderungen den schulischen Alltag für alle Beteiligten angenehm zu gestalten – ohne Hektik und Stress.
Der Fokus liegt auf der Autonomie der einzelnen Lehrer. Du findest erprobtes Handwerkszeug für eine alternative Umsetzung des Lehrplans. Methodenfreiheit neu gedacht, fächerübergreifendes Unterrichten und Projektarbeit ermöglichen einen entschleunigten Unterricht. Zusätzlich gibt es noch Online-Materialien.

Buch, broschiert, 260 Seiten
ISBN:978-3-407-25762-8
24,95 €

Mehr zum Buch


Andererseits brauchen manche Themen Zeit. Und es wäre kontraproduktiv, Schüler, die gerade dabei sind, konzentriert etwas zu üben oder auszuprobieren, aus dieser Arbeit zu reißen, nur, weil „die Zeit“ um ist.

Ein Schultag braucht ein Design: Phasen des selbstbestimmten Lernens, der Selbsttätigkeit, Partner- oder Gruppenarbeit wechseln ab mit Phasen konzentrierten Zuhörens und Mitmachens. Dann muss es noch gemeinsame Aktivitäten geben wie Singen, Tanzen, Musizieren, Rhythmik, aber auch Zeit für Entspannung.

Das geht nur, wenn du über die Zeit bestimmst und nicht die Zeit über dich!

Du bestimmst und du trägst die Verantwortung

Doch bereits an den wenigen hier aufgeführten Beispielen wird klar: Wenn du dich auf den Weg hin zu einer entspannten, stressfreien Schule machst, in der du die gemeinsame Zeit mit sinnvollem Lernen und gemeinschaftsfördernden Aktivitäten verbringen willst, dann bist du die Person, die bestimmt, die aber  auch selbst die Verantwortung trägt. Das Verschanzen hinter dem Lehrplan, den Vorschriften oder dem „So-machen’s-doch-alle“ greift dann nicht.

In den weiteren Artikeln werde ich noch einige wesentliche Themen ansprechen wie zum Beispiel das Classroom Management, die Klimaarbeit im sozialen Bereich, die Kommunikation mit den Eltern, einen sinnvollen Leselehrgang und die Bereiche Authentizität, Sinnerfüllung und Anerkennung.

Zum Abschluss möchte ich Immanuel Kant zitieren, der in seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784 alles Wesentliche zum Selber-Denken und der damit verbundenen Verantwortung gesagt hat. Niemand könnte das heute treffender formulieren:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selber zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.

(Immanuel Kant, 1999, 1784, Was ist Aufklärung? Philosophische Bibliothek Hamburg, Nachdruck aus der Berlinischen Monatsschrift)

Wage es also, mit Kant, selber zu entscheiden, was für das Erreichen der angestrebten Ziele wichtig ist, verwende Schulbücher so, dass du das Nützliche herausgreifst und das Überflüssige weglässt und werde zum Herrn oder zur Herrin über die Zeit in deiner Klasse. Dann hast du einen wichtigen Schritt hin zu deiner eigenen Autonomie getan und damit auch ganz entscheidend zu mehr Entspannung und weniger Stress im Schulalltag beigetragen.

Christina Buchner

Die Autorin:

Christina Buchner arbeitete viele Jahre als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen und war 16 Jahre Rektorin an Grundschulen im Landkreis München.
Sie ist in Oberbayern auf dem Land aufgewachsen. Ihre Kindheit war geprägt durch große Freiheit, Nähe zur Natur, Freude an Büchern und die Möglichkeit, kreative Einfälle in die Tat umzusetzen.
Vor diesem Hintergrund war es ihr von Anfang an ein zentrales Anliegen, für ihre Schüler eine bunte und anregende Lernwelt zu schaffen.

Sie ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass in der Schule ohne Freude, Begeisterung und ohne Erfolgserlebnisse sehr wenig läuft. Die Mischung aus Pflicht und Freude, aus Begeisterung und konsequenter Übung, aus Disziplin und individueller Freiheit beim Lernen ist ihr Markenzeichen. Für diese Mischung wirbt sie in ihren Büchern und in Vorträgen und Lehrerfortbildungen in Deutschland, Österreich, Italien, der Schweiz und Luxemburg.
Christina Buchner entwickelte eigene Methoden für das Lesenlernen, für Rechtschreiben und Schreiberziehung, für den elementaren Mathematikunterricht und für das Theaterspielen mit einer Klasse.
Ihr MatheBlog: www.die-rechentante.de
Ihre Website: www.christina-buchner.de

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