GEW stellt Studie „Digitalisierung im Schulsystem“ vor

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Trotz Digitalisierungsschub eklatante Techniklücken, Ungleichheiten und starke Belastung der Lehrkräfte:

Die Digitalisierung in der Schule hat durch die Corona-Pandemie einen Schub bekommen. Trotzdem gibt es weiterhin eklatante Lücken bei der technischen Ausstattung. Gleichzeitig hat sich die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte verändert und ist noch einmal gewachsen. Eine der größten Herausforderung stellt zudem die Kluft zwischen digitalen Nachzügler- und digitalen Vorreiter-Schulen dar. Das Lernen mit digitalen Medien und Tools wird an deutschen Schulen extrem ungleich umgesetzt. Es gibt gewaltige Unterschiede bei der digitalen Infrastruktur. Das sind die Ergebnisse der repräsentativen Studie „Digitalisierung im Schulsystem“, die die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eben vorgestellt hat.

WLAN bisher häufig Fehlanzeige

„WLAN für alle ist bisher häufig Fehlanzeige. Nur 70 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer arbeiten an Schulen, an denen es WLAN für alle Lehrkräfte gibt. Die Hälfte der Schulen hat kein WLAN für die Schülerinnen und Schüler“, sagte Studienleiter Frank Mußmann von der Universität Göttingen. Lediglich 57 Prozent der Lehrkräfte arbeiteten an Schulen, an denen es für den Unterricht genügend digitale Geräte gibt. 58 Prozent nutzten regelmäßig Lernmanagementsysteme – vor der Pandemie waren dies lediglich 36 Prozent.

95 Prozent der Lehrkräfte nutzen private Geräte

„Eine Cloudanbindung ist jedoch noch nicht selbstverständlich: Ein Viertel der Schulen hat keine Schulcloud, nur 40 Prozent arbeiten mit einer schulübergreifenden Bildungscloud“, betonte Mußmann. Bis heute stünden nur in 18 Prozent der Fälle für alle Lehrkräfte digitale Endgeräte der Schule zur Verfügung, für weitere 30 Prozent teilweise. „Deshalb greifen 95 Prozent der Lehrkräfte zur Selbsthilfe und setzen ihre privaten elektronischen Geräte wie Handy, Computer oder Tablet häufiger als vor der Pandemie ein“, sagte der Studienleiter. „Nur in 50 Prozent der Fälle ist eine technische Unterstützung gewährleistet. Das führt zu Zusatzaufgaben, die Lehrkräfte on-top zu den pädagogischen und organisatorischen Aufgaben leisten müssen“, stellte Mußmann fest. Am Ende zeigten sich dann tatsächlich auch Unterschiede bei der pädagogischen Nutzung digitaler Techniken im Unterricht und den Chancen der Schülerinnen und Schüler, elementare digitale Kompetenzen zu erwerben. „Es ist nicht gut für eine Demokratie, wenn nur 34 Prozent der Schülerinnen und Schüler in digitalen Nachzügler-Schulen lernen, wie sie prüfen können, ob sie sich auf Informationen im Internet verlassen können“, betonte Mußmann.

Erhebliche Zusatzbelastungen für Lehrer

Die Corona-Krise habe zu erheblichen Zusatzbelastungen der Lehrkräfte geführt. „Neun von zehn Lehrkräften haben einen höheren Arbeitsaufwand durch Fernunterricht. Knapp zwei Drittel der Lehrkräfte benennen den Wechselunterricht als Grund für eine stärkere Arbeitsbelastung“, betonte Mußmann. Zudem sei die Arbeitsbelastung dadurch gestiegen, dass analoge in digitale Materialien überführt wurden, die digitalen Kompetenzen und die Ausstattung der Schülerinnen und Schülern sehr unterschiedlich sind sowie mehr Kommunikation notwendig ist.

Angespannte Situation verschärft

„Die Dynamik der Corona-Pandemie und die Digitalisierung verstärken die angespannte Arbeitssituation an den Schulen und die ohnehin schon bekannten hohen Belastungen und Entgrenzungserfahrungen der Lehrkräfte“, hob Mußmann hervor. Dennoch hätten Lehrkräfte und Schulen mit bemerkenswertem Engagement pragmatische Lösungen gefunden, um digitale Medien und Technik einzusetzen, sowie digitale Lehr- und Lernkonzepte entwickelt und umgesetzt.

Konzentration auf pädagogische Aufgaben

„Die Lehrkräfte müssen sich auf die pädagogischen Aufgaben konzentrieren können“, mahnte Ilka Hoffmann, GEW-Vorstandsmitglied Schule, an. „Wir brauchen endlich mehr IT-Fachleute für den technischen Support, die Gelder für die Einstellung etwa von Systemadministratoren stehen bereit. Diese Mittel müssen endlich abgerufen und verstetigt werden. Digitale Werkzeuge sollen die Lehrkräfte pädagogisch unterstützen – und nicht zu einer Dauerbaustelle werden.“

Bessere digitale Infrastruktur gefordert

Ansgar Klinger, GEW-Vorstandsmitglied Berufliche Bildung und Weiterbildung, unterstrich: „Die Bildungsgewerkschaft fordert schon lange eine bessere digitale Infrastruktur an den Schulen. Die eklatanten Lücken in der digitalen Ausstattung und die Mehrfachbelastung in der Pandemie führen zu einer nicht zu verantwortenden Arbeitsbelastung der Lehrkräfte an Schulen und einer zunehmenden digitalen Kluft. Diese Entwicklung müssen wir stoppen und nachhaltig umkehren, damit Schulen sowie Schülerinnen und Schüler nicht weiter abgehängt werden.“

Über die Studie

In der Studie „Digitalisierung im Schulsystem. Herausforderung für Arbeitszeit und Arbeitsbelastung von Lehrkräften“ wurden im Januar und Februar 2021 Lehrkräfte der Sekundarstufe I und II aus allen Bundesländern befragt. Die Studie erlaubt bundesweit repräsentative Befunde. Sie wurde an der Georg-August-Universität in Göttingen unter der Leitung von Frank Mußmann, Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften, in Zusammenarbeit mit dem Umfragezentrum Bonn durchgeführt. Das Konsortium hat untersucht, wie Schulen und Lehrkräfte auf die Herausforderungen der Digitalisierung in Pandemie-Zeiten reagieren, wie sich ihre Arbeit, ihre Arbeitszeit und ihre Belastungen verändert haben und welche Chancen und Risiken digitale Arbeitsformen für die Lehrkräfte bergen. Die Studie zeigt zudem zentrale Entwicklungs- und Gestaltungsbedarfe auf und gibt Empfehlungen für die Zukunft. Ein wissenschaftlicher Abschlussbericht mit weiteren Befunden und Analysen ist für September geplant.

Quelle: Pressemitteilung GEW




Immer weniger freie Spielräume sind eine Gefahr für alle

Mehr Digitalisierung, aber weiter weniger Spiel- und Erholungsräume

Wie hat sich Kindheit in den vergangenen 30 Jahren verändert? Bei der Antwort auf diese Frage, fallen vielen die digitalen Geräte und Spielzeuge in den Haushalten und im Kinderzimmer auf. Diese tragen sicher dazu bei, dass sich Kinder heute mehr zuhause aufhalten. Eine weitere Veränderung hat aber auch vor der Haustür stattgefunden.

Erst mit elf Jahren unbeaufsichtigt draußen

So haben britische Wissenschaftler festgestellt, dass Kinder heute meist erst mit elf Jahren unbeaufsichtigt auf der Straße spielen dürfen. Ihre Eltern duften das in ihrer Kindheit schon zwei Jahre früher, also mit neun Jahren. Fast 2000 Eltern von fünf- bis elfjährigen Kindern haben die Experten für die „British Children’s Play Survey“ befragt. Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler rund um die Kinderpsychologin und Studienleiterin Helen Dodd von der Universität Reading lautet: Heute erhalten Kinder deutlich seltener die Möglichkeit, sich bereits in jungen Jahren mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Die führe dazu, dass Kinder später Risiken und Gefahren nicht so gut einschätzen könnten wie frühere Generationen. Wer als Kind nur selten draußen unterwegs sei, der leide bald auch psychisch. Experten nehmen an, dass diese genauso für den deutschsprachigen Raum gilt.

Gestiegenen Unfallgefahren durch Radfahrer und Scooter

Als Grund für die Zurückhaltung, Kinder allein, unbeaufsichtigt auf die Straße zu lassen, nennen viele Eltern die zunehmenden Gefahren auf den Bürgersteigen. So hat in den vergangenen Jahren der Verkehr auf den Gehsteigen durch Fahrradfahrer und Scooter enorm zugenommen. Gerade für unbeschwerte Kinder oder schwerfälligere Senioren ist die Unfallgefahr dadurch massiv gestiegen. Selbst in Parks haben die Kinder im Gegensatz zu früheren Generationen eine erheblich höhere Unfallgefahr.

Weniger Spielräume

Zudem schwinden in den Städten durch die innerstädtische Verdichtung auch die Spielräume für Kinder. Und auch hier spielt auch das soziale Gefälle eine große Rolle. In der Studie „Eine Stadt – getrennte Welten“ haben Prof. Dr. Marcel Helbig und Katja Salomo vom Wissenschaftszentrum für Berlin (WZB) in sieben deutschen Großstädten (Berlin, Dortmund, Erfurt, Hamburg, Leipzig, Nürnberg und Saarbrücken) untersucht, wie sich Umweltbedingungen, Bebauung und infrastrukturelle Ausstattung kleinräumig verteilen.  Herausgegeben haben die Studie die Heinrich-Böll-Stiftung, das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW).

Ärmere Kinder stärker belastet

Einige Ergebnisse zitiert das DKHW wie folgt: „Kinder aus armen Familien sind in Deutschland stärker von Umweltbelastungen als Kinder aus gutsituierten Haushalten. Mit der Ballung vieler ärmerer Kinder in einem Stadtteil geht gegenüber Kindern aus privilegierten Stadtteilen zudem eine Benachteiligung bezüglich der ihnen zur Verfügung stehenden Spiel- und Erholungsflächen einher.“ Wie das im Einzelnen aussieht, lässt sich in der Studie nachlesen. Hier finden sich auch Factsheets für die einzelnen Städte.

Spielplätze in reicheren Stadtteilen größer

Neben einer erhöhten Lärm- und Schadstoffbelastung in den ärmeren Vierteln stellen die Forscher auch eine Benachteiligung bezüglich der den ärmeren Kindern zur Verfügung stehenden Spiel- und Erholungsflächen fest. „In sechs von sieben Städten (Ausnahme: Saarbrücken) steht in den sozial privilegierten Gebieten mehr Erholungsfläche pro Kind zur Verfügung als in den anderen Stadtteilen. In den privilegierteren Stadtteilen machen die Spielplatzflächen teilweise meist auch einen größeren Anteil aus als in anderen Stadtteilen. Dies ist in Saarbrücken und tendenziell in Berlin und Leipzig der Fall. In Dortmund sind zudem die Spielplatzflächen in den sozial benachteiligten Quartieren kleiner als in anderen Stadtteilen.“, heißt es in der Studie.

Eine Infrastruktur, die stärkt

„In Stadtteilen mit einem höheren Anteil von Hartz-IV-Beziehenden fallen Kita-Betreuungsquoten, die Kompetenzen bei der Schuleingangsuntersuchung oder auch die Übergangsquoten auf Gymnasien niedriger aus, und mehr Kinder werden vom Schulbesuch zurückgestellt. Kariesbefall und Übergewicht unter Kindern ist weiter verbreitet in ärmeren Stadtteilen, die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen fällt geringer aus. Kinder in ärmeren Stadtteilen spielen seltener ein Instrument, besuchen seltener ein Museum oder ein Theater, sind seltener Mitglied eines Sportvereins. Deshalb brauchen armutsbetroffene Kinder eine Infrastruktur, die sie stärkt und ihnen unter die Arme greift,“ fordert Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes.

Anmerkung der Redaktion

Mit der Steigerung des Unfallrisikos für Kinder auf den eigentlich für Fußgänger vorbehaltenen Bereichen und der Verringerung der Spiel- und Erholungsflächen für Kinder, sorgt unsere Gesellschaft geradezu dafür, dass sich heutige Kinder schlechter entwickeln können als frühere Generationen. In zahlreichen Artikeln etwa von Prof. Armin Krenz oder Prof. Ferdinand Klein weisen wir immer wieder auf die Bedeutung des freien Spiels für die Entwicklung der Kinder hin. All diese Erkenntnisse, die seit Jahrhunderten durch die Beobachtung von Pädagogen und Soziologen belegt wurden, sind mittlerweile auch durch die Biochemie bzw. die Hirnforschung belegt. Nehmen wir den Kindern die Spielräume und die Möglichkeit zum freien Spiel, ergeben sich zwangsläufig Defizite bei den emotionalen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten.