Ideal und Realität liegen bei Erwerbs- und Sorgearbeit meist weit auseinander

Viele Eltern wünschen Gleichberechtigung bei Kinderbetreuung, Hausarbeit und Berufstätigkeit

Mütter und Väter teilen sich die Erwerbs- und Sorgearbeit in Deutschland nach wie vor sehr ungleich auf. Mit den Einstellungen in der Bevölkerung deckt sich das jedoch kaum: Nach den aus ihrer Sicht idealen Erwerbskonstellationen gefragt, sprechen sich viel mehr Personen für eine gleichberechtigte Aufteilung von Kinderbetreuung, Hausarbeit und Berufstätigkeit aus, als Eltern dies in der Realität umsetzen. Zu diesem Schluss kommt eine gemeinsame Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) auf Basis des familiendemografischen Panels FReDA.

Wechsel in der Rollenaufteilung bevorzugt

So würden deutlich mehr Personen das Erwerbs- und Sorgemodell bevorzugen, in dem beide Elternteile etwa 30 Stunden pro Woche erwerbstätig sind. Auch das universale Erwerbstätigenmodell, in dem beide in Vollzeit einen Beruf ausüben, wird häufiger als ideal erachtet, als es gelebt wird. Beim sogenannten Familienernährermodell, in dem der Vater in Vollzeit erwerbstätig ist und die Mutter gar nicht, sowie beim Zuverdienermodell, in dem die Mutter maximal in Teilzeit erwerbstätig ist, verhält es sich umgekehrt: „Diese beiden Erwerbskonstellationen werden deutlich seltener als ideal angesehen, als sie in der Realität vorkommen,“ berichtet Elena Ziege, Mitautorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des BiB.

Einstellungen zur Arbeitsteilung haben sich geändert

Laut der Studie klaffen Ideale und die Realität bei der Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit in Deutschland teils deutlich auseinander: „Die Einstellungen zur Arbeitsteilung bei Paaren mit Kindern weichen immer noch stark von der gelebten Wirklichkeit ab,“ sagt C. Katharina Spieß, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Die Studie hat Spieß gemeinsam mit Ludovica Gambaro und Elena Ziege vom BiB sowie Katharina Wrohlich und Annica Gehlen vom DIW erstellt.

Erwerbskonstellationen in Ostdeutschland egalitärer

Dabei haben die Studienautorinnen die Daten getrennt für West- und Ostdeutschland ausgewertet. Demnach gibt es im Osten mehr Zustimmung für egalitäre Erwerbskonstellationen als im Westen. Vor allem eine Vollzeiterwerbstätigkeit beider Elternteile wird in Ostdeutschland mit – je nach Alter des Kindes – bis zu 62 Prozent deutlich häufiger befürwortet als in Westdeutschland mit bis zu 38 Prozent. Zwar setzen erheblich weniger Eltern dieses Modell letztlich um, mit bis zu 43 Prozent im Osten aber weiterhin mehr als im Westen mit maximal 16 Prozent.

Das Erwerbs- und Sorgemodell, in dem Vater und Mutter jeweils 30 Stunden ihrem Beruf nachgehen, sehen im Osten bis zu 30 Prozent als ideal an und im Westen bis zu 27 Prozent. In der Realität spielt es in beiden Landesteilen mit einem Anteil von höchstens sechs Prozent an allen Erwerbskonstellationen aber kaum eine Rolle. „Die Mehrheit der befragten Personen sieht eine gleichberechtigte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern als optimal an – aber die Eltern schaffen es nicht, mit diesem Ideal Schritt zu halten“, fasst Ludovica Gambaro vom BiB die Ergebnisse zusammen.

Steuer- und Transfersystem macht Zuverdienermodell finanziell besonders attraktiv

„Ein wichtiger Grund für die Diskrepanzen ist das deutsche Steuer- und Transfersystem, insbesondere das Zusammenspiel von Ehegattensplitting und Minijobs sowie der beitragsfreien Mitversicherung von Ehepartnerinnen und -partnern in der gesetzlichen Krankversicherung“, erklärt Katharina Wrohlich vom DIW. Hinzu kommt der Gender Pay Gap, also der Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern. All dies macht ein Zuverdienermodell, in dem der Mann in Vollzeit erwerbstätig ist und die Frau einen Minijob hat, mit Blick auf das Nettoeinkommen pro geleisteter Arbeitsstunde finanziell am attraktivsten:

Unter der Annahme durchschnittlicher Löhne bleiben in diesem Modell netto pro Stunde 17,26 Euro hängen. Wenn beide Elternteile in Vollzeit arbeiten oder beide gleich viel in Teilzeit, sind es mit 14,02 Euro beziehungsweise 14,74 Euro deutlich weniger. Auch die Relation von gemeinsamer Arbeitszeit und dem Nettoeinkommen eines Paares ist im Zuverdienermodell mit Minijob am attraktivsten: Im Vergleich zur Konstellation „Beide Elternteile in Vollzeit erwerbstätig“ gibt es 71 Prozent des Nettoeinkommens für nur 57 Prozent der Arbeitszeit.

Vielfältige Reformen nötig, damit Erwerbs- und Sorgearbeit egalitärer aufgeteilt wird

Wenn die Politik eine gleichere Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit fördern will, müsste den Studienautorinnen zufolge gleich auf mehreren Feldern gehandelt werden. Neben einer Reform des Ehegattensplittings und einer weitgehenden Abschaffung von Minijobs ginge es vor allem auch um eine „bedarfsgerechte Kinderbetreuungsinfrastruktur für Kinder ab dem zweiten Lebensjahr bis zum Alter von zwölf Jahren“, betont Spieß. „Fehlende Kita-Plätze halten trotz Rechtsanspruch bis heute viele Mütter davon ab, in größerem Umfang erwerbstätig zu sein. Zudem muss der Ausbau von Ganztagsgrundschulen deutlich beschleunigt werden – sonst wird der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz für Grundschulkinder ab August 2026 kaum einzulösen sein“, so Spieß.

Dr. Christian Fiedler, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB)




Wer bei den Kindern spart, zahlt später drauf

Diakonie Deutschland stellt Gutachten zur Kindergrundsicherung vor

Die Kindergrundsicherung ist nach eigener Auffassung der Bundesregierung eines der zentralen familien- und sozialpolitischen Vorhaben in dieser Legislaturperiode, um bessere Chancen für Kinder und Jugendliche zu schaffen: Zum einen durch die Bündelung sozial- und familienpolitischer Leistungen und zum anderen durch eine Erhöhung des Grundbedarfs. Doch statt einer sachlichen Debatte darüber, wie beide Ziele am besten erreicht werden können, streitet die Ampelkoalition seit Monaten.

Die Diakonie Deutschland stellt eine Kurzexpertise vor, die zur Versachlichung der Debatte beitragen soll. Die Kurzexpertise, die DIW Econ, eine Beratungstochter des DIW Berlin, im Auftrag der Diakonie Deutschland erstellt hat, stellt umfassend das Ausmaß der Kinderarmut in Deutschland dar und erörtert die gesellschaftlichen Folgekosten in den Bereichen Gesundheit, Bildung und soziale Teilhabe. Darüber hinaus zeigt die Kurzexpertise auf, welche Effekte eine Erhöhung der monetären Hilfen für Kinder in armen Haushalten auf das Armutsrisiko der Betroffenen hätte.

Frühzeitige Investitionen sichern soziale und ökonomische Chancen

„In der Diskussion über die Kindergrundsicherung dürfen nicht nur die kurzfristigen Sparzwänge im Bundeshaushalt eine Rolle spielen. Wir müssen auch über die mittel- und langfristigen Belastungen für Staat und Steuerzahler sprechen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn wir nicht frühzeitig in alle Kinder investieren“, sagte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie bei der Präsentation des Gutachtens. Denn gesunde und gut ausgebildete Kinder hätten deutlich bessere Chancen, sich ein selbstständiges Leben mit höheren Einkommen und einer geringen Abhängigkeit von staatlichen Hilfen aufzubauen. Lilie: „Frühzeitige Investitionen sichern soziale und ökonomische Chancen und ersparen dem Sozialstaat weitaus höhere Folgekosten.“ Die Diakonie fordert seit vielen Jahren im breiten Bündnis Kindergrundsicherung eine existenzsichernde Kindergrundsicherung.

„Gefragt ist jetzt eine kluge Sozialpolitik mit ökonomischem Weitblick, die investiert und nicht nur die Folgeschäden von Armut ausbessert“, sagte Lilie: „Wer bei den Kindern spart, zahlt später drauf.“

Mindestens 20 Milliarden Euro wären nötig

Die von Familienministerin Lisa Paus anfangs genannten zwölf Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung hält die Diakonie Deutschland für nicht ausreichend. Notwendig wären mindestens 20 Milliarden Euro. „Das ist ein Bruchteil der Summe, die Staat und Steuerzahler heute schon schultern müssen, wenn Kinderarmut nicht energischer bekämpft, sondern stattdessen lieber die enormen Folgekosten in Kauf genommen werden“, sagte Lilie. Die gesamtgesellschaftlichen Kosten vergangener und aktueller Kinderarmut in Deutschland schätzt eine aktuelle OECD-Studie (Clarke et al 2022) auf jährlich etwa 3,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). „Wir sprechen hier also von einem zehnfachen Betrag von 110 bis 120 Milliarden Euro“, so Lilie.
Lilie zufolge wäre es sinnvoller, zumindest einen Teil dieser Milliarden in besser erreichbare und gezielt höhere Leistungen für Kinder in armutsgefährdeten Familien zu investieren. Zudem müsse der Staat für eine bessere soziale Infrastruktur für Kinder und Jugendliche sorgen. Lilie: „Wir brauchen eine Politik des Sowohl-als-Auch: Mehr direkte Unterstützung für die Bedürftigen und bessere Bildungs-Strukturen für alle. Wer an einem davon oder gar an beidem spart, der spart an der falschen Stelle und wird am Ende die x-fache Summe draufzahlen.“

Chancenorientierte Politik mit ökonomischen Weitblick

Eine chancenorientierte und faire Politik mit ökonomischem Weitblick investiert zielgenau und wirksam, statt im Nachhinein mit einem Vielfachen der Folgekosten nur Symptome zu kurieren. „Täglich erleben unsere Mitarbeitenden in den Sozial-, Migrations- oder Familienberatungsstellen, Kitas und anderen Einrichtungen die Folgen von Kinder- und Familienarmut. Sie erleben auch die Überforderung, die mit der Beantragung von Leistungen einhergeht, auf die ein Rechtsanspruch besteht“, so Lilie weiter. Der Bundestag habe es in den anstehenden Haushaltsberatungen in der Hand, die Kindergrundsicherung zu einem Erfolgsmodell zu machen – für Kinder und ihre Familien, aber auch für einen zielgenauen Sozialstaat, der sich von Klugheit und nicht von Populismus leiten lässt. „Dies stärkt das Vertrauen in Demokratie und Sozialstaat, stärkt den Arbeitsmarkt – und zuallererst: Dies sollten uns alle Kinder wert sein“, so der Diakonie-Präsident.

Fratzscher, dringt auf rasche Einführung der Kindergrundsicherung

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Marcel Fratzscher, dringt ebenfalls auf eine rasche Einführung der Kindergrundsicherung. „Studien zeigen, dass Armut oft von Generation zu Generation weitergegeben wird, diese Entwicklung gilt es zu durchbrechen“, so Fratzscher. „Ein Schlüssel dazu liegt in der Kindergrundsicherung. Ein automatisiertes und digitales Verfahren bei der Auszahlung macht die Familien nicht länger zu Bittstellern und sorgt dafür, dass die Berechtigten alle Leistungen erhalten, die Ihnen zustehen. Sinnvoll ist auch ein höherer Garantiebetrag zur Kindergrundsicherung (möglichst höher als das Kindergeld in Höhe von 250 Euro), so dass jedes Kind unabhängig vom Einkommen der Eltern abgesichert ist.“ Hinzu komme ein einkommensabhängiger Betrag und andere Leistungen für Bildung und Teilhabe, etwa für Klassenfahrten, Sportverein und Musikschule.

„Große Sorge bereitet mir, dass die Kindergrundsicherung aus Kostengründen scheitern könnte“, ergänzt Fratzscher. „Es wäre ein Fehler, die Ausgaben für die Kindergrundsicherung auf zwei Milliarden Euro zu drücken, wie es derzeit im Bundeshaushalt vorgesehen ist“, sagt Fratzscher. „Die Kindergrundsicherung ist eine der wichtigsten Zukunftsinvestitionen. Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer Strukturkrise, die Bundesregierung muss nun alle Anstrengungen auf die überfällige Transformation lenken. Wirtschaft und Gesellschaft würden stark durch die besseren Bildungschancen einer Kindergrundsicherung profitieren, auch da dies die Grundlage für mehr Fachkräfte ist.“ Die Schwerpunkte der Transformation seien Investitionen, Entbürokratisierung sowie die Stärkung der Sozialsysteme und damit auch eine gut durchdachte Kindergrundsicherung.

Kernbotschaften der Studie

  • Zwischen 2010 und 2021 stieg der Anteil von Kindern, die von Einkommensarmut betroffen sind, von 18,2% auf 20,8 %. Der Bevölkerungsdurchschnitt lag 2021 bei 16,6 %.Schon vor dem sprunghaften Anstieg der Inflation war mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland gefährdet, aktuell ist nach den Daten des Statistischen Bundesamtes knapp jedes vierte Kind von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht1.
  • In zwei Dritteln der EU-Staaten ist der Anteil der armutsgefährdeten Kinder geringer als in Deutschland.2
  • Knapp 2 Mio. (1,9 Mio.) Kinder unter 18 Jahren leben nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit in Bedarfsgemeinschaften mit Bürgergeld-Bezug, davon mehr als die Hälfte in Haushalten von Alleinerziehenden (zu 95 Prozent Frauen).
  • Bei der Diskussion um die Kindergrundsicherung dürfen nicht nur die Kosten für den Bundeshaushalt Maßstab sein. Vielmehr müssen auch die insgesamt mit Kinderarmut verbundenen gesamtgesellschaftlichen Kosten und die finanzielle Belastung für den Staat durch die entsprechende Inanspruchnahme staatlicher Unterstützung berücksichtigt werden.
  • Insbesondere lassen sich zwei Folgekosten von Kinderarmut feststellen: Erstens erhöhte öffentliche Ausgaben für Gesundheitsversorgung sowie höhere Auszahlungen in den Sozialversicherungssystemen; zweitens ist der Wert der entgangenen wirtschaftlichen Aktivität und der geringeren Produktivität ein wichtiger Faktor.
  • Die in der DIW-Studie herausgestellten Zusammenhänge zwischen Kinderarmut und ihren Auswirkungen auf Gesundheit, Bildung und soziale Teilhabe lassen darauf schließen, dass die Kosten für den Staat in den sozialen Sicherungssystemen erheblich sind.
  • Eine aktuelle OECD-Studie schätzt die gesellschaftlichen Gesamtkosten durch vergangene und aktuelle Kinderarmut in Deutschland auf jährlich etwa 3,4 Prozent des BIP, dies sind über 100 Milliarden Euro.4
  • Investitionen in Kinder zahlen sich langfristig aus und führen zu erheblichen Einsparungen bei den sonst entstehenden gesellschaftlichen Folgekosten.
  • Durch gezielte Investitionen in die Gesundheitsversorgung, Bildung und soziale Unterstützung von Kindern können langfristige Vorteile erzielt werden. Gesunde und gut ausgebildete Kinder haben deutlich bessere Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben mit höherem Einkommen und einer geringeren Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung.
  • Die DIW-Kurzexpertise zeigt, dass die geltenden familien- und sozialpolitischen Regelungen ein massives soziales Ungleichgewicht haben. Kinderarmut kann nur dann wirksam bekämpft und verhindert werden, wenn die Kindergrundsicherung entsprechend ausgestattet wird und existenzsichernd ist.
  • In der DIW-Studie werden verschiedene Szenarien der Kindergrundsicherung auf ihre Einkommenseffekte untersucht. Von der Einführung einer Kindergrundsicherung profitieren die besonders von Armut betroffenen Alleinerziehendenhaushalte und Paare mit mindestens drei Kindern am stärksten – dabei umso mehr, je stärker der Fokus auf einer Erhöhung des Existenzminimums liegt und nicht nur auf einer reinen Verwaltungsvereinfachung.

Quelle: Pressemitteilung Diakonie Deutschland