Warum emotionale Intelligenz für Kinder heute so wichtig ist

Die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Charmaine Liebertz erklärt im Interview, wie Eltern und Pädagog*innen Kinder emotional stärken können – mit Mitgefühl, Empathie und einem geschulten Herzen

Emotionale Intelligenz zählt zu den Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts. Dabei geht es um Mitgefühl, Empathie und ein tiefes Verständnis für sich selbst und andere. Die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Charmaine Liebertz (Foto) erläutert, warum Herzensbildung nicht nur ein schönes Ideal, sondern eine zentrale Aufgabe für Eltern und pädagogische Fachkräfte ist.

Was bedeutet Herzensbildung im 21. Jahrhundert?

Heute sprechen wir von emotionaler Intelligenz. Beides besagt: Wissen allein genügt nicht. Menschen brauchen auch Herzqualitäten – Eigenschaften, die auf emotionalem Erleben und Menschenkenntnis basieren. Diese Qualitäten zu vermitteln, ist eine der wichtigsten Aufgaben von Eltern und Pädagog*innen in der heutigen Erziehungsarbeit.

Warum ist Herzensbildung so wichtig?

Weil sie grundlegend für die Persönlichkeitsentwicklung und den zwischenmenschlichen Umgang ist. Herzensbildung erlebt in unserer schnelllebigen Welt eine echte Renaissance. Um zukunftsfähig zu sein, brauchen Kinder Teamfähigkeit, Konfliktlösungskompetenz, Frustrationstoleranz und soziale Intelligenz. Pädagog\*innen müssen sich auf ihre ursprüngliche Aufgabe besinnen: eine ganzheitliche Erziehung mit Kopf, Herz und Hand.

Welche Fähigkeiten erwerben Kinder durch Herzensbildung?

Der amerikanische Psychologe Daniel Goleman beschreibt in seiner Theorie der emotionalen Intelligenz zentrale Fähigkeiten: eigene Emotionen erkennen und steuern, Empathie entwickeln und soziale Kompetenzen ausbilden. Diese Fähigkeiten bilden das Fundament für gelingende Beziehungen und ein stabiles Selbstwertgefühl.

Wozu befähigt emotionale Intelligenz Kinder konkret?

Kinder mit hoher emotionaler Intelligenz verfügen über ein starkes Selbstwertgefühl und kreative Problemlösungsstrategien. Sie wissen etwa, wie sie mit innerem Stress oder Gruppendruck umgehen können – ohne auf Gewalt oder Suchtmittel zurückzugreifen. Sie lernen, ihre Gefühle zu reflektieren und sich selbst besser zu verstehen. Eine entscheidende Entwicklungsstufe dabei ist die Ich-Entwicklung: Wenn ein Kind gegen Ende des zweiten Lebensjahres beginnt, zwischen „ich“ und „du“ zu unterscheiden.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Nehmen wir zwei Kleinkinder im Sandkasten, die beide mit demselben Bagger spielen wollen. Sagt eines „meins!“, helfen Eltern oder pädagogische Fachkräfte dabei, einen Tausch oder ein gemeinsames Spiel zu ermöglichen. Solche Situationen fördern die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen – eine essenzielle Voraussetzung für soziale Interaktion und Kommunikation.

Geht es bei Herzensbildung auch darum, sich selbst zurückzunehmen?

Unbedingt. Kinder müssen im Laufe ihres emotionalen Reifungsprozesses lernen, eigene Bedürfnisse auch mal zurückzustellen und die Perspektive anderer zu berücksichtigen. Diese Impulskontrolle ist ein wichtiger Indikator für ein erfolgreiches Leben und hilft beim Aufbau eines stabilen Wertesystems. Denn Werte bedeuten: etwas lassen zu können, um etwas anderes zu tun. Eltern und Fachkräfte sollten nicht jeden Konflikt vermeiden oder jeden Wunsch sofort erfüllen.

Wie sollten Erwachsene mit unangenehmen Gefühlen von Kindern umgehen?

Zuhören und einfühlsam reagieren ist entscheidend – besonders, wenn etwas schiefläuft. Kinder brauchen Raum, um ihre Gefühle auszudrücken, und Rückhalt bei emotionalen Ausbrüchen wie Weinkrämpfen oder Wutanfällen. Hilfreich ist auch, wenn Erwachsene klare Orientierung bieten, z. B.: „Ich möchte dir helfen. Wenn du weißt, was du willst, bin ich in der Küche.“ So lernen Kinder, ihre Emotionen sozialverträglich auszudrücken.

Wie können Eltern und Fachkräfte emotionale Intelligenz gezielt fördern?

Indem sie selbst einfühlsames Verhalten vorleben – gegenüber Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen. Kinder sollten keine „kaputt-und-weg“-Mentalität entwickeln. Wertschätzung beginnt mit Achtsamkeit gegenüber kleinen Dingen. Wichtig ist auch, dass jeder Streit vor dem Schlafengehen oder beim Abschied im Kindergarten beigelegt wird. Etwa so: „Über den Ärger heute Morgen sprechen wir später in Ruhe. Jetzt wünsche ich dir einen schönen Tag. Ich hab dich lieb.“

Ist es wichtig, mit Kindern über Gefühle zu sprechen?

Ja. Erwachsene sollten Kinder nicht nur begleiten, sondern ihnen auch ihre eigene Gefühlswelt zeigen. Wenn ein Kind Angst hat, sollte es darüber sprechen dürfen – im Vertrauen darauf, Unterstützung zu bekommen. Ein liebevolles Gespräch wirkt oft Wunder: „Wovor hast du Angst? Was können wir gemeinsam tun?“ Auch Rollenspiele oder Geschichten über Gefühle fördern die Empathiefähigkeit. Dabei gilt: Erwachsene sind immer Vorbilder. Wer Kinder in emotionaler Intelligenz stärken will, muss auch selbst einen bewussten Umgang mit Gefühlen pflegen.

Weiterführende Literatur von Dr. Charmaine Liebertz




Wie gemeinsames Musizieren die Empathie von Kindern stärkt

Eine Studie der Universitäten Sheffield und Durham zeigt: Wenn Kinder im Rhythmus zusammenfinden, entsteht mehr als nur Musik

Wenn Kinder miteinander musizieren, stimmen sie sich nicht nur klanglich aufeinander ein – auch ihr inneres Erleben kann sich dabei angleichen. Was intuitiv vertraut klingt, wurde nun in einer wissenschaftlichen Studie fundiert belegt: Musikalische Synchronität und kindliche Empathie hängen eng zusammen.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Department of Music der University of Sheffield und der Durham University haben in einer umfangreichen Untersuchung mit Grundschulkindern erforscht, wie gemeinsames rhythmisches Musizieren das soziale Miteinander beeinflusst – und wie Empathie die Fähigkeit zur Synchronisation fördert. Veröffentlicht wurde die Studie im Fachjournal Frontiers in Psychology (April 2025).

Empathie hilft beim musikalischen Miteinander

Im ersten Experiment wurden 72 Kinderpaare gebeten, sich rhythmisch aufeinander einzustellen – durch einfaches gemeinsames Klopfen. Dabei zeigte sich: Kinder mit einem hohen Maß an Empathie – also der Fähigkeit, Gedanken und Gefühle anderer nachzuempfinden – waren deutlich besser darin, sich auf den Takt ihrer Partner einzulassen.

Besonders dann, wenn der Rhythmus des Gegenübers unregelmäßig war, half das Einfühlungsvermögen: Die empathischeren Kinder konnten sich schneller anpassen und fanden gemeinsam in den Takt zurück.

„Gerade wenn das Klopfen des Partners ungenau ist, scheint Empathie zu helfen, die Absichten hinter dem Verhalten zu erkennen und sich flexibel anzupassen“, erklären die Studienautor:innen.

Gemeinsam Musik machen fördert soziale Bindung

Doch nicht nur Empathie wirkt sich auf die musikalische Koordination aus – auch umgekehrt zeigte sich ein Effekt: Schon eine kurze Phase des gemeinsamen Musizierens reichte aus, um das Mitgefühl der Kinder füreinander zu steigern.

Besonders wenn die Kinder synchron im Takt waren, gaben sie hinterher an, sich einander näher zu fühlen. Dieses Ergebnis war unabhängig davon, ob sie sich zuvor kannten oder nicht. Musikalische Synchronität kann also Nähe erzeugen – ganz ohne Worte.

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Synchronität nicht nur von Empathie profitiert, sondern selbst Empathie erzeugen kann – eine Art positiver Rückkopplung“, so Studienleiterin Persefoni Tzanaki.

Freundschaft, Vertrautheit und Geschlecht spielen eine Rolle

Die Studie zeigte auch: Kinder, die mit vertrauten Freundinnen oder Freunden zusammen musizierten, fühlten sich nach der Aufgabe besonders stark mit ihrem Partner verbunden. Und: Mädchenpaare waren besser synchronisiert und berichteten häufiger von einer engen sozialen Verbindung als Jungen oder gemischte Paare.

Solche geschlechtsspezifischen Unterschiede sind auch aus früheren Studien bekannt und deuten darauf hin, dass Mädchen im Grundschulalter oft sensibler auf soziale Signale reagieren. Vertrautheit scheint außerdem ein wichtiger Verstärker für die Wirkung musikalischer Aktivitäten auf das soziale Erleben zu sein.

Warum Musik in Kita und Schule mehr als „nur“ Bildung ist

Diese Ergebnisse lassen sich zwar nicht direkt in konkrete Handlungsanweisungen übersetzen – aber sie liefern wichtige Impulse für die pädagogische Praxis. Hier einige Anregungen für Eltern, Erzieherinnen und Lehrkräfte:

  • Musik einfach und regelmäßig im Alltag nutzen: Schon einfache Aktivitäten wie gemeinsames Klatschen, Trommeln oder Singen können Kinder einander näherbringen – es braucht keine aufwendigen Programme.
  • Vielfalt der Begegnung fördern: Unterschiedliche Partner beim Musizieren helfen Kindern, sich auf verschiedene Persönlichkeiten einzustellen und empathisches Verhalten zu üben.
  • Bekannte Freundschaften bewusst einbinden: Vertraute Beziehungen wirken als soziale Verstärker – gerade bei zurückhaltenden Kindern kann das gemeinsame Musizieren mit einem Freund oder einer Freundin neue Räume öffnen.
  • Nicht nur auf Genauigkeit achten: Auch wenn der Takt mal holpert – genau dann entstehen oft die wertvollsten sozialen Erfahrungen.

Die Forschenden betonen, dass Musik eine ganz eigene Form der nonverbalen Kommunikation eröffnet – eine, die gerade für Kinder intuitiv zugänglich ist. Wenn zwei Kinder im gleichen Takt klopfen oder singen, geschieht oft mehr, als das Ohr hören kann: Es entsteht Verbindung, gegenseitiges Verständnis – und vielleicht ein erstes echtes Mitfühlen.

Die vollständige Studie ist frei zugänglich unter:
👉 https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2025.1467767/full
Originaltitel: “Actions and Feelings in Sync: Exploring the Reciprocal Relationship Between Synchrony and Empathy in Children’s Dyadic Musical Interactions”
Autoren: Persefoni Tzanaki, Tuomas Eerola und Renee Timmers (2025)