Der Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung braucht eine Reform

Das Entwurf zur Kindergrundsicherung muss als nach erstem guten Schritt nachgebessert werden

Vorrangiges Ziel der Kindergrundsicherung ist es, die seit Jahren bestehende Kinder- und Jugendarmut zu verringern. Denn in Deutschland sind 3 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren und weitere 1,5 Millionen junge Erwachsene von 18 bis 24 Jahren armutsgefährdet. An welchen Stellen der aktuelle Gesetzentwurf noch nachgebessert werden könnte, um dieses Ziel zu erreichen, zeigen die Bertelsmann Stiftung in einem Policy Brief.

Der Gesetzentwurf ist ein erster wichtiger Schritt, Leistungen für junge Menschen zusammenzufassen und Familien zu entlasten. Insbesondere werden Kinder, deren Eltern Bürgergeld beziehen, endlich aus diesem System des „Förderns und Forderns“ herausgelöst und haben wie alle anderen Kinder auch Anspruch auf eine einheitliche Leistung: die Kindergrundsicherung. Doch um Kinder- und Jugendarmut wirksam zu vermeiden, muss aus Sicht der Bertelsmann Stiftung nachgebessert werden. In ihrem Policy Brief zeigt sie, wo und wie jetzt die Weichen für die junge Generation richtiggestellt werden sollten.

Neuberechnung der Existenzsicherung

Im Gesetz solle perspektivisch eine echte Neubestimmung der existenzsichernden Leistungen für Kinder und Jugendliche angelegt werden, die auf ihren Bedarfen fuße, fordert die Stiftung. Dabei müssten sie selbst beteiligt und befragt werden.

„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sondern Expert:innen ihres eigenen Lebens. Sie können sehr gut darüber Auskunft geben, was sie brauchen – das zeigt die Forschung. Sie haben ein Recht darauf, dass die Politik ihnen zuhört und ihre Bedarfe berücksichtigt.“, sagt Anette Stein – Director Bildung und Next Generation Bertelsmann Stiftung.

Bildung und Teilhabe

Der Bildungs- und Teilhabebetrag von 15 Euro im Monat habe keine empirische Basis, sei realitätsfremd und nachweislich zu gering. Die dafür vorgesehene Nachweispflicht solle entfallen, um bürokratischen Aufwand und Verwaltungskosten zu verringern.

Kinder in alleinerziehenden und getrenntlebenden Familien ausreichend unterstützen

Kinder in alleinerziehenden Familien sind besonders häufig von Armut betroffen. Und das, obwohl drei Viertel der alleinerziehenden Mütter erwerbstätig sind, dabei sogar häufiger in Vollzeit als Mütter in Paarfamilien. Die Kindergrundsicherung müsse diese Gruppe besonders im Blick haben, so die Bertelsmann Stiftung, wenn sie wirklich Armut vermeiden wolle. Daher müssten die strengeren Anrechnungsregeln von höherem Unterhalt, die Anknüpfung des Unterhaltsvorschusses an die Erwerbstätigkeit des alleinerziehenden Elternteils und auch die Übertragung der temporären Bedarfsgemeinschaft auf die Kindergrundsicherung zurückgenommen werden.

Den Policy-Brief finden Sie hier: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/kindergrundsicherung-weichen-jetzt-richtig-stellen

„Alleinerziehende brauchen keine Erwerbsanreize und die Ungleichbehandlung von Kindern beim Unterhaltsvorschuss nach dem Alter und dem Erwerbsumfang der alleinerziehenden Elternteile ist verfassungsrechtlich höchst bedenklich.“, erklärt Prof.in Dr. Anne Lenze – Hochschule Darmstadt, Professorin für Sozialrecht.

„Die gestaffelten Anrechnungssätze bei höherem Unterhalt werden in der Realität meist gar nicht erreicht, für einige Alleinerziehende bedeuten sie jedoch eine Schlechterstellung, die durch die Kindergrundsicherung ja eigentlich vermieden werden soll. Die Sinnhaftigkeit dieser komplizierten Regelung erschließt sich nicht.“, sagt Dr. Holger Stichnoth – ZEW Mannheim, Senior Researcher und stellvertretender Leiter des Forschungsbereichs Soziale Sicherung und Verteilung

Kinder im Asylbewerberleistungsgesetz mit einbeziehen

Alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben laut UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf gutes, gesundes Aufwachsen und soziale Teilhabe. Daher müssten auch Kinder und Jugendliche, die bislang unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, Anspruch auf Kindergrundsicherung haben.

„Kinder haben ein Recht auf Bildung und Teilhabe, auch wenn sie noch keinen sicheren Aufenthaltsstatus haben. Die UN-Kinderrechtskonvention ist hier sehr klar. Kinder im Asylbewerberleistungsbezug nach ihrer Ankunft in Deutschland nicht in die Kindergrundsicherung einzubeziehen, untergräbt alle Integrationsbemühungen und beraubt sie wichtiger Bildungs- und Teilhabemöglichkeiten.“, sagt Prof.in Dr. Sabine Andresen – Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung.

Familienservicestellen als Anlaufstellen für alle Kinder, Jugendliche und ihre Familien

Im Gesetz sollte an Familienservicestellen festgehalten werden. Perspektivisch sollten sie nicht nur die Kindergrundsicherung verwalten, sondern zu niedrigschwelligen Anlaufstellen ausgebaut werden, in denen Familien Hilfen aus einer Hand erhalten. Die Jobcenter sind dafür nicht der richtige Ort. Ihr Kernanliegen ist es, die Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Zudem sind die Jobcenter für viele Menschen mit Stigmatisierungsängsten verbunden. Die Kindergrundsicherung darf daher nicht bei den Jobcentern angesiedelt werden. Auch wenn es zunächst einen Verwaltungsumbau und zusätzliche Kosten erfordert, ist dieser Weg richtig, damit die Kindergrundsicherung wirklich bei allen Kindern ankommt.

Bertelsmann Policy Brief untermauert Forderungen der eaf

Wenn Kinder- und Jugendarmut verringert und ein echter Schritt in Richtung „gutes Aufwachsen mit angemessener sozialer Teilhabe für alle Kinder“ Wirklichkeit werden solle, müsse der vorliegende Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung an entscheidenden Punkten überarbeitet werden, fordert auch die evangelische arbeitsgemeinschaft familie e. V. (eaf). Sie sieht sich in dieser Forderung durch die Einschätzung der Bertelsmann Stiftung im Policy Brief der Stiftung klar bestärkt.

„Hier wurde im letzten Jahr eine große Chance vertan!“, kritisiert eaf-Präsident Prof. Dr. Martin Bujard. „Aber wir bleiben am Ball, damit der Entwurf der Kindergrundsicherung 2024 noch entscheidend verbessert wird: Unsere Vorschläge für einfache Nachbesserungen mit großer Wirkung für Kinder und Jugendliche, insbesondere von alleinerziehenden Eltern, decken sich eins zu eins mit den Forderungen der Bertelsmann Stiftung.“

Bundesgeschäftsführerin Svenja Kraus verweist auf die Stellungnahme der eaf vom November 2023: „Leider haben unsere Forderungen nichts an Aktualität verloren. Wir hoffen, dass hinter den Kulissen genug politischer Wille übrig ist, um noch entscheidende Strippen zu ziehen! Denn immerhin hatte die Ampel zu Beginn der Legislaturperiode eine große sozialpolitische Reform angekündigt. Wenn sie wirklich zulässt, dass diese zu einer Verwaltungsreform schrumpft und weiter jeder Cent für Kinder umgedreht wird, ist dies ein Armutszeugnis für alle beteiligten Parteien.“

Die Prioritäten der eaf für das parlamentarische Verfahren zur Kindergrundsicherung umfassen folgende Punkte:

1. Zusatzbetrag pauschal um 15 Euro Teilhabebetrag und 20 Euro Sofortzuschlag erhöhen
2. Kinder von Alleinerziehenden besser erreichen: vorgesehene Änderungen im Unterhaltsvorschussgesetz streichen, Unterhaltsvorschuss neu berechnen
3. Vorläufigen Umgangsmehrbedarfszuschlag einführen

Quellen: Bertelsmann Stiftung und Pressemitteilung der eaf (evangelische arbeitsgemeinschaft familie)




Bundesrat beschließt Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes um ganze 3 Euro

Rechtsgutachten: Die geringe Erhöhung könnte verfassungswidrig sein

Nach einem aktuellen Gutachten der Rechtswissenschaftlerin Professorin Anne Lenze ist die zum 1. Januar 2022 geplante sehr geringe Erhöhung der Regelsätze verfassungswidrig. Angesichts der Entwicklung der Lebenshaltungskosten verpflichte das Grundgesetz den Gesetzgeber, die absehbare Kaufkraftminderung für Grundsicherungsbeziehende abzuwenden. Mit einem Appell fordert ein breites Bündnis die noch amtierende Bundesregierung auf, umgehend Maßnahmen zu ergreifen, um mindestens einen Inflationsausgleich für die Betroffenen sicherzustellen.

Unterschreitung des Existenzminimums

In dem Rechtsgutachten wird unter anderem auf die zurückliegenden einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bezug genommen, das 2014 feststellte, dass die Regelbedarfe bereits an der untersten Grenze dessen liegen, was verfassungsrechtlich gefordert ist. Die niedrige Anpassung der Regelbedarfe zum 1 Januar.2022 in Verbindung mit der anziehenden Inflation läute nun eine „neue Stufe der Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums“ ein, so das Ergebnis der juristischen Prüfung, die der Paritätischen Wohlfahrtsverband in Auftrag gegeben hat. Sollte der Gesetzgeber nicht aktiv werden, um die absehbaren Kaufkraftverluste abzuwenden, verstoße er damit gegen die Verfassung, so das Fazit der Rechtswissenschaftlerin.

Sozialstaatlicher Grundauftrag, die Menschenwürde zu schützen, nicht erfüllt

Der Paritätische hatte bereits im April davor gewarnt, dass durch den aktuellen Fortschreibungsmechanismus der Regelsätze für Grundsicherungsbezieher reale Kaufkraftverluste drohen könnten. Für Fachleute sei es seit Monaten absehbar gewesen, dass nach den geltenden Regeln 2022 eine Null-Runde drohe, während sich die Preise für die Lebenshaltung bereits aktuell spürbar verteuerten, betont Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. „Der Vorgang ist nicht nur für die betroffenen Menschen hart und folgenschwer – er unterläuft darüber hinaus grundsätzlich den sozialstaatlichen Grundauftrag, das menschenwürdige Existenzminimum sicherzustellen.”

Erhöhung kompensiert Imflationsrate nicht

Das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) kritisiert die viel zu geringe Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes für Kinder um zwei bis drei Euro zum 1. Januar 2022. „Mit dieser kümmerlichen Regelsatzerhöhung für Kinder im Hartz-IV-Bezug kann die Kinderarmutsquote in Deutschland nicht gesenkt werden, da sie nicht mal die Inflationsrate kompensiert. Zudem sind die Sätze für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf weiterhin viel zu gering. Auch deshalb brauchen wir bei den Hartz-IV-Regelsätzen dringend eine komplette Neuberechnung. Die geltenden Regelbedarfe halten den sozialrechtlichen Mindestbedarf von Kindern künstlich klein. Sie entsprechen insgesamt nicht dem notwendigen soziokulturellen Existenzminimum und sollten auf ein Niveau angehoben werden, das echte gesellschaftliche Teilhabe möglich macht“, betont Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des DKHW.

Arme Familien müssen gefördert werden

Aus Sicht des DKHW sind die in der letzten Legislaturperiode des Bundestages verabschiedeten Änderungen beim Unterhaltsvorschuss, beim Kinderzuschlag oder das „Starke-Familien-Gesetz“ wichtige Verbesserungen für armutsbetroffene Kinder und Jugendliche. Zugleich fehlen aber nach wie vor eine umfassende Priorisierung der Förderung armer Familien und ihrer Kinder, unbürokratische Zugänge zu den Leistungen sowie weitere umfassende Maßnahmen, um der zunehmenden Verfestigung von Armut zu begegnen und Bildungsaufstiege zu befördern.

33 % der Hartz-IV-Bezieher sind minderjährig

Nach Berechnungen des DKHW liegt der Anteil der unter 18-Jährigen in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften derzeit bei rund 33 Prozent, obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in Deutschland nur bei rund 16 Prozent liegt. Damit sind Kinder und Jugendliche mit ihren Familien in besonderem Maße von Armut betroffen. Allein das unterstreicht aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerkes die dringende Notwendigkeit, endlich entschlossen gegen die Kinderarmut in Deutschland vorzugehen.

Kindergrundsicherung

Das Deutsche Kinderhilfswerk tritt für die Einführung einer bedarfsgerechten Kindergrundsicherung nach dem Modell des Bündnisses KINDERGRUNDSICHERUNG ein, die den bestehenden Familienlastenausgleich ablöst, bestehende kindbezogene Leistungen bündelt und das soziokulturelle Existenzminimum von Kindern unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Familie, der Familienform und dem bisherigen Unterstützungssystem bedarfsgerecht gewährleistet. Die Kindergrundsicherung ist eine nachhaltige Lösung, die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen eigenständig und unabhängig von der Hartz-IV-Gesetzgebung absichert.