Die Beobachtung des Kindes als zentrale Aufgabe der Pädagogik

Worauf wir achten sollten, damit das Beobachten eines Kindes auch zu den richtigen Schlussfolgerungen führt

Karel Capek, ein tschechischer Schriftsteller, äußerte sich einmal wie folgt: ›Es ist unfassbar, wie schlecht die Menschen beobachten‹ und Daniel Mühlemann, ein Naturfotograf, kam zu der Erkenntnis: ›Der Beobachter bedarf klarer Sicht und eines scharfen Blickes‹.

Die Beobachtung des Kindes ist – über alles andere Bedeutsame hinweg – die zentrale Aufgabe der Pädagogik, die in ihrem Stellenwert nicht hochgenug eingeschätzt werden kann. Beobachtungen führen die Beobachtenden zu einer Erkenntnis, die zum Ausdruck bringt, was ein Kind für eine förderliche Entwicklungsunterstützung braucht, welche Bedingungen einen entwicklungsförderlichen oder auch entwicklungshinderlichen Einfluss auf das Kind haben, welche Kompetenzen auf Seiten der pädagogischen Fachkraft gefragt und gefordert sind, um eine körperliche, kognitive und psychosoziale Sättigung der kindlichen Grundbedürfnisse zu erreichen, welcher pädagogische Ansatz für die Kinder am geeignetsten ist, Entwicklungsprozesse zu unterstützen, welche Themenschwerpunkte angebracht sind, um kindorientierte Projekte mit Kindern zu planen und durchzuführen, welche Schwerpunkte in Elterngesprächen einen besonderen Stellenwert besitzen und welche eigenen Sichtweisen auf das Kind prozessförderlich oder vielleicht auch entwicklungshinderlich sind.

Beobachten ist gut, solange das Hauptaugenmerk auf ‚achten’ liegt.
(Peter E. Schuhmacher, Aphorismensammler & Publizist)

Wir alle beobachten Vieles um uns herum

Doch ist es tatsächlich ein Beobachten oder eher nur ein kurzes, oberflächliches Wahrnehmen? Beobachtung ist ein zielgerichtetes, aufmerksames, von Ablenkungen befreites Hinschauen und Verweilen, um einen Erkenntnisgewinn zu bekommen. Dabei ist es notwendig, vorhandene, vorschnelle Annahmen (= Hypothesen) bei sich selbst zu entdecken, zu identifizieren und sich von diesen zu lösen, um weitestgehend wahrnehmungsoffen auf das zu schauen, was gerade passiert. Hier geht es nicht in erster Linie um ein Entdecken von so genannten Defiziten oder Schwächen, die ein kindliches Verhalten kennzeichnen, sondern vor allem um vorhandene Stärken, die jedes Kind sein Eigen nennen kann. Achtsamkeit spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle.

Beachte dich stets aufmerksam in deinem Tun und halte hier nichts deiner Bewertung unwert.
(Konfuzius)

Beobachtungen sind in erster Linie auf das Kind gerichtet

Beobachtungen sind im Feld der Pädagogikk in erster Linie auf das Kind gerichtet, auf sein Verhalten, seine Interessen, seine Sprache, sein Spiel, sein Umgang mit anderen Kindern und den Erwachsenen sowie den Materialien. Gleichzeitig erfordert eine Beobachtung auch immer eine Selbstbeobachtung – was lösen die beobachteten Merkmale in mir selbst aus, was fällt mir schwer, anzunehmen, was irritiert mich und welche direkten Zusammenhänge kann es geben, dass sich das Kind so verhält, wie es sich gerade ausdrückt. Kann es sein, dass sich das Kind zu einem anderen Tageszeitpunkt, bei einer anderen Kinderkonstellation, bei einer anderen pädagogischen Fachkraft ganz anders verhalten würde?

Das Verhalten eines Kindes hat stets mit seiner Vergangenheit, seinen Erlebnissen und Erfahrungen aber auch mit der gegenwärtigen Situation, den Rahmenbedingungen, dem derzeitigen Projekt/ Thema und seinem Bindungsverhalten zur pädagogischen Fachkraft zu tun. Damit ergibt sich ein Beobachtungsergebnis aus einer Fülle von Ereignissen und deren Vernetzungen! Kleinigkeiten, die wir in einer Beobachtungssituation vielleicht für unbedeutsam halten, können einen großen Einfluss auf das Beobachtungsergebnis haben und somit sind immer vielerlei Vernetzungen zu berücksichtigen.

Aber du weißt, wie ich im Anschau’n lebe; es sind mir tausend Lichter aufgegangen.
(Johann Wolfgang von Goethe)

Auch wenn professionell geplante und strukturierte Beobachtungen durch eine Beobachtungsabsicht und eine damit verbundene Zielsetzung ausgelöst wurden, ist es notwendig, sich schon im Vorfeld von vorhandenen Annahmen zu lösen und soweit wie möglich zu verabschieden. Ansonsten steht das Beobachtungsergebnis schon vor der durchgeführten Beobachtung unausgesprochen fest. Vorurteile, starre Vorannahmen oder gar so genannte ‚beweisführende Bestätigungsbeobachtungen’ führen immer zu einer Wahrnehmungseinschränkung, bei der abweichende Beobachtungsmöglichkeiten übersehen bzw. als unwichtig angesehen werden. Erst eine wahrnehmungsoffene, eine von starren Mustern geprägte, losgelöste Beobachtung führt zu Erkenntnissen, die im anderen Fall gar nicht entstehen können. Und das bedarf einer immer wiederkehrenden Selbstaufforderung. Dadurch entstehen ›tausend Lichter‹, die zuvor Vieles im Dunkeln gehalten hätten.

Ein Mensch passt am besten auf sich auf, wenn ihn auch andere beobachten.
(George Savile, 1.st Marques of Halifax, englischer Politiker & Schriftsteller)

Erstens ist [es] erforderlich, dass du nicht den Spiegel ansiehst, den Spiegel betrachtest, sondern dich selbst im Spiegel siehst.
(Sören Kierkegaard, dänischer Philosoph, Schriftsteller & Theologe)

Beobachtende fällen mit ihren Beobachtungsergebnissen immer auch ein ›Urteil‹ über das Kind

Sei es, dass es um eine in Aussicht gestellte Bildungs-, Betreuungs- oder Erziehungsaufgabe geht oder um eine anstehende (Nicht)Einschulung, um bestimmte förderpädagogische Maßnahmen ins Auge zu fassen und zu planen oder um Erziehungsberechtigten einen umfassenden Überblick über (nicht) vorhandene Entwicklungsschritte zu geben. Um dabei eigenen Beobachtungsfehlern auf die Spur zu kommen, ist es immer hilfreich, sich selbst von Kolleg*innen beobachten zu lassen, um mit ihnen in einen anschließenden Erfahrungsaustauch zu treten. Solche Auswertungsgespräche fordern und fördern eine Selbstexploration (= eine selbstkritische Betrachtung der eigenen Person, deren Einstellungen, Werte, deren Normverständnis, deren Beobachtungskompetenz), die zu einem professionellen Berufsverständnis unwidersprochen dazugehört.

Zur Beobachtung ist Nähe, zum Denken Ferne erforderlich.
(Elias Kalischer, deutscher Rabbiner und Schriftsteller)

Natürlich sind bei jeder Beobachtung auch Emotionen vorhanden

Wissenschaftliche Untersuchungen im Bereich der Wahrnehmungspsychologie (Schönhammer, R., 2013 & Goldstein, E. Bruce & Cacciamani, Laura, 2023) haben gezeigt, dass Wahrnehmungen stets mit folgeprovozierten Gefühlen verknüpft sind, so dass diese auch automatisch in Beobachtungen einfließen!

Sei es der Stress, der dadurch aufkommt, dass in der Beobachtungszeit die anderen Kinder ohne Begleitung sind, sei es die Freude, endlich die Zeit gefunden zu haben, eine entsprechende Beobachtung in das Alltagsgeschehen einbinden zu können, sei es der Ärger, sich auch noch dieser Aufgabe zuwenden zu müssen oder sei es die Angst, weil bestimmte Beobachtungsstrukturen vielleicht falsch geplant sein können. Vielleicht ist es aber auch die aufkommende Unruhe, wohlwissend, dass nach der Beobachtungssequenz noch ein ausführlicher Entwicklungsbericht angefertigt werden muss und in der Folge sogar ein Elterngespräch ansteht. So ist es einerseits erforderlich, dem Kind (aber nicht nur während der Beobachtung) eine wohlwollende Nähe zu schenken, andererseits aber bei der Verschriftlichung der Beobachtungen sowie der Beobachtungsergebnisse emotionale Bezüge zu minimieren, um eine fachlich-sachliche Wiedergabe zu gewährleisten.

Beobachten tut man von unten nach oben; umgekehrt heißt es Besichtigen.
(Günther Schneiderath, niederrheinischer Dichter und Aphoristiker)

Beobachter*innen schauen oftmals, nicht zuletzt durch ihre Rolle als Erwachsene/r, durch ihr Wissen und durch die Aufgabenstellung selbst, auf das Kind (herab), ohne zu erkennen und sich der Situation bewusst zu sein, dass damit eine ›Machtposition‹ besteht, die dazu verleiten kann, erkenntnisbesetzt und schon im Vorfeld ‚besserwisserisch’ an die Beobachtungsaufgabe heranzugehen.

Doch stets sind folgende Ausgangssituationen zu beachten:

  • Beide Personen, das Kind und die erwachsene Person, sind Lernende!
  • Beide Personen haben ihre individuellen, besonderen Biographien bis zum Augenblick der Beobachtung hinter sich und sind durch vielfältige Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke in einer bestimmten Denkrichtung geprägt.
  • Beide Personen besitzen bestimmte Formen, Richtungen und Ausprägungen der Sympathie sowie der Antipathie, die wiederum ihre Sicht- und Beurteilungsweisen geprägt haben. Entsprechend ist es notwendig – und hier sei eine Metapher (= ein Bildvergleich) erlaubt – ‚vom hohen Ross (eines vorhandenen Machtgefälles) herunterzusteigen’ und sich auf eine zum Kind gleichwertige Ebene zu begeben.

Zusammenfassung:

Überall, ob es sich dabei um die Institution Krippe, Kindergarten, Kindertagesstätte, Hort oder Familienzentrum handelt, sind elementarpädagogische Fachkräfte aufgefordert, Beobachtungen vorzunehmen, diese auszuwerten und für die praktische Tätigkeit zu nutzen.

Nur so ist es möglich,

  • den Bildungsrichtlinien aller 16 Bundesländer gerecht zu werden, da in allen Ausführungen der besondere Stellenwert von Beobachtungen herausgestellt wird;

  • dem Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag, wie im Kinder- und Jugendhilfegesetz in allgemeinen Formulierungen benannt (damit verbunden ist vor allem die Förderung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die Unterstützung von Eltern, der Schutz vor Gewalt, die Unterstützung der Selbstständigkeit der Kinder, ein entwicklungsförderliches Beziehungsangebot, eine individuelle Unterstützung von Bildungsprozessen) gerecht zu werden,

  • die Aussagen der in der UN-Charta ‚Rechte des Kindes‘ aufgeführten Artikel zu berücksichtigen und in die praktische Arbeit in den Einrichtungen zur Realität werden zu lassen, z.B. (a) das Wohl des Kindes in allen Vorhaben zu berücksichtigen (Artikel 3), (b) Kindern ein aktives Mitspracherecht bei allen wichtigen Entscheidungen einzuräumen und zu berücksichtigen (Artikel 12), (c) Kinder vor rechtswidrigen Beeinträchtigungen gegenüber seiner Ehre und seines Rufes zu schützen (Artikel 16), (d) Kindern das Recht auf Freizeit, Erholung und Spiel zuzugestehen (Artikel 31). Hier dienen Beobachtungen ganz konkret dazu, mögliche Widersprüche zu den geforderten – und auch durch den Bundestag ratifizierten – Rechten zu entdecken und für eine Einhaltung der Rechte konsequent und offensiv zu sorgen. [Anmerkung: Diese UN-Kinderkonvention wurde am 26.01.1990 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet und am 17.02.1992 mit Zustimmung vom Bundestag und Bundesrat durch Gesetz verabschiedet. Am 06.03.1992 wurde die Ratifizierungsurkunde beim Generalsekretär der Vereinten Nationen hinterlegt und trat am 05.04.1992 für Deutschland in Kraft.]

  • den bedeutsamen Aussagen im ‚Berufsbild der Erzieherin’ nachzukommen.
    Dort heißt es unter anderem, dass sich Erzieherinnen
    (a),in erster Linie als Partner*innen der Kinder verstehen. Hier helfen Beobachtungen, diese Forderung zu überprüfen;
    (b),als Anwält*innen für Kinder überall dort einsetzen, wo kindeigene Bedürfnisse unberücksichtigt bleiben;
    (c),in ihrem Arbeitsverständnis, ihrer Kommunikations- und Umgangskultur kritisch hinterfragen, ob sie ihre Arbeit auf der Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung sowohl mit den pädagogischen Traditionen als auch mit neuen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und bildungspolitischen Strömungen gestalten,
    (d)der Entwicklungsunterstützung der Gesamtpersönlichkeit verpflichtet fühlen, was mit einer Teilleistungsförderung (z.B. durch teilisolierte Förderprogramme) unvereinbar ist.

  • alle bedeutsamen Erkenntnisse aus den Wissenschaftszweigen der Erziehungswissenschaft, der Pädagogischen Psychologie, der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie, der Bildungs- und Bindungsforschung sowie der Neurobiologie in die praktische Arbeit einfließen zu lassen, wenn es darum geht, was Kinder für eine förderliche Entwicklung brauchen. Diese Notwendigkeit lässt sich nur durch professionelle Beobachtungen ganz konkret erfassen.
  • dass Erzieher*innen sich der alltäglichen Herausforderung stellen, die aktuellen Kindheiten – also ihre konkreten Lebenssituationen der Kinder, die ihnen in der Einrichtung anvertraut wurden – zu konstatieren (= festzustellen), um die Gegenwart der Kinder zu sehen und zu verstehen, um dann aus durchgeführten Beobachtungen professionelle Handlungsvorhaben abzuleiten.

Diesen Artikel haben wir aus folgendem Buch entmommen:

cover-krenz-beobachtung

Krenz, Armin

Beobachtung und Entwicklungsdokumentation

Grundlagen – Praxisbeispiele – Beobachtungslisten – Dokumentationsmuster

Burckhardthaus
ISBN: 978-3-96304-617-9
25,00 € (inkl. MwSt.)

Eigens für dieses Buch wurde die Website www.beobachten-und-dokumentieren.de eingerichtet, auf der sich die Formulare zum Download befinden. Das Buch richtet sich sowohl an Studierende der Sozial- und Heilpädagogik als auch an Erzieher*innen/Kindheitspädagog*innen, die schon im Beruf stehen.