Wie sich Kinder beim Spielen wichtige Informationen, Erfahrungen und Lerninhalte aneignen
„Du sollst erst lernen, dann kannst du spielen!“: Sicher klingt Ihnen diese Mahnung der Eltern aus Ihrer Kindheit noch in den Ohren! Spielen und Lernen wurden früher und werden heute leider oft noch als unvereinbare Gegensätze angesehen. Viele Eltern und vor allem Lehrer:innen ziehen die Grenzlinien im kindlichen Alltag rigoros und sorgen für ihre strikte Überwachung nach dem Motto: Erst kommt die Arbeit, dann das Spiel! Und gelernt wird am Schreibtisch oder im Klassenraum, gespielt wird danach oder in der Freizeit!
Welch ein Trugschluss! Denn jeder, der sein Kind aufmerksam beobachtet, wird rasch feststellen, dass es sich im freudigen Spielgeschehen wichtige Informationen, Erfahrungen und Lerninhalte aneignet. Und Lernforscher gehen davon aus, dass dieser Aneignungsprozess in der frühen Kindheit umso optimaler ist, je ganzheitlicher er erlebt wird. Es geht also um Ganzheitliches Lernen, ein Schlagwort, das Ihnen sicher schon oft in den Medien begegnet ist. Doch was hat es eigentlich damit auf sich?
Die aktuelle Intelligenz- und Hirnforschung konnte in den letzten Jahren nachweisen:
Kinder entwickeln ihre geistigen, körperlichen und psychischen Fähigkeiten optimal, wenn all ihre Sinne – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – gleichermaßen gefördert werden. Die Kinder unserer Informationsgesellschaft, die wie nie zuvor einer Reizüberflutung ausgesetzt sind, brauchen mehr denn je die Herausforderung an eigenes Denken, sinnliches Erleben, an eigen- und mitverantwortliches Handeln. Denn die künstlichen Bilder der Medien- und Computerindustrie verdrängen zunehmend die konkrete, echte Begegnung von Kind und Welt.
Immer mehr Kinder leiden heute unter einem Mangel an Entwicklungsreizen in ihrer Umwelt.
Diese bietet ihnen zu wenig eigene Erfahrungen, sinnliches Körpererleben und freien Bewegungsraum. Zugleich werden sie von einer Flut an einseitigen Sinnesreizen aus der Medienwelt überrollt, der sie hilflos ausgeliefert sind. Während ihre Fernsinne – Hören und Sehen – überstimuliert sind, drohen ihre Nahsinne – Riechen, Schmecken, Tasten – und der Gleichgewichtssinn zu verkümmern.
Diese Unausgewogenheit zieht sich wie ein roter Faden durch die neue Kindheit.
Unsere Kinder drohen aus dem für ihre gesunde Entwicklung so bedeutsamen ganzheitlichen Gleichgewicht zu geraten, denn wir bieten ihnen:
- zu viele künstliche Welten
- zu wenig reale Bewegungs- und Erfahrungsräume
- zu viel Passivität und Konsum
- zu wenig Bewegung, Eigentätigkeit und Kreativität
- zu viele Hör- und Sehreize
- zu wenig andere Sinneseindrücke
- zu viele Informationen aus zweiter Hand (Medien, Computer)
- zu wenig konkrete, selbst erlebte Primärerfahrungen.
Die Ergebnisse aus der Hirn- und Lernforschung zeigen jedoch, dass eine ausgewogene Vielfalt an Sinnesreizen ausschlaggebend ist, um ein erfolgreiches Wechselspiel aus äußeren und inneren Impulsen, d.h. eine gesunde Entwicklung des kindlichen Gehirns zu gewährleisten.
Und dabei spielen die Sinne eine wesentliche Rolle!
Sie sind die lebenswichtigen und hochsensiblen Schlüssel zur Umwelt. Das Kind begegnet den Lebewesen und Gegenständen zunächst durch seine Sinne. Es kann das Neue sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen und ertasten. Auf diesem sensorischen Weg sammelt es wichtige Eindrücke über seine Umwelt, sich selbst und seine Mitmenschen. Es begibt sich lustvoll auf eine spannende Lernreise, bei der das Begreifen mit dem Greifen beginnt.
Das Kind erwirbt also noch vor der Sprachaneignung ein sinnliches Wissen
Allmählich wächst sein sinnlicher Erfahrungsschatz, auf den es in Zukunft zurückgreifen kann. Es hat gespürt, wie sich ein Regentropfen, ein Mückenstich oder eine menschliche Berührung auf seiner Haut anfühlen, und es vermag darauf adäquat reagieren.
Diese Sinneseindrücke muss das Kind am eignen Leib erfahren, denn nur das Selbsterfahrene – erworben aus dem praktischen Handeln mitrichtigen Menschenund mit echten Dingen – setzt sich nachhaltig und ganzheitlich, d.h. mit allen Sinnen, im Gedächtnis fest. Erst dann entstehen neue Denkwerkzeuge, die dem Kind die Sicherheit für weitere Lernschritte geben. Schon der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) wusste um die existentielle Bedeutung der Sinne, als er sagte: „Nur wenn wir unsere Sinne ernst nehmen, leben wir sinnvoll.“
Sinngebende, persönliche Erfahrungen brauchen die Kinder unserer Informationsgesellschaft
Denn das Greifen, das allem Begreifen vorausgeht, vermögen weder Fernseher noch Computer zu bieten. Die neue Kindheit braucht also vor allem Lernprozesse, die sinnliches Entdecken und Erforschen in den Mittelpunkt stellen; die Bewegung, Wahrnehmung und Erkenntnis zu einer effektiven und konkreten Erfahrungseinheit miteinander verknüpfen!
Die aktuellen Forschungsergebnisse machen Mut, neue Wege des Lernens zu gehen und Lernen als einen ganzheitlichen Reifungsprozess von Geist, Körper und Psyche zu verstehen, als ein sich ständig entwickelndes Zusammenspiel von Sinneswahrnehmungen, Denkleistungen, Bewegungsabläufen und Gefühlen. Und was der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) vor langer Zeit forderte, nämlich „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ ist heute längst als ganzheitliche Entwicklungs- und optimale Lernmethode anerkannt.
Lernauffälligkeiten erfordern ein Umdenken im Erziehungs- und Lernprozes
Auch die zunehmenden Lernauffälligkeiten (z. B. Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen) erfordern ein Umdenken im Erziehungs- und Lernprozess. Und zwar ein Umdenken, dass das Kind wieder in seiner Ganzheit als spielendes und zugleich lernendes Wesen respektiert. Denn schließlich kommt es als Kleinkind voller Neugier in den Kindergarten oder in die Schule. Und es hängt seinen Spieldrang nicht mit dem Anorak an den Garderobenhaken! Bedenken Sie also: Immer kommt das ganze Kind zu Ihnen!…
Abschließend möchte ich Ihnen noch eine wichtige Information ans Herz legen: Vom ersten bis sechsten Lebensjahr spielen Kinder etwa 15.000 Stunden!
Das heißt die Natur hat Kindern in ihrer Entwicklung viel Zeit geschenkt, um ihren natürlichen Spieldrang auszuleben, um ihre Kreativität zu fördern und eigene Problemlösungen zu entwickeln. Nutzen Sie dieses wertvolle Zeitkonto, um die grundlegenden Bausteine des ganzheitlichen Lernens – Bewegung, Wahrnehmung, Konzentration, Entspannung und Rhythmus – zu fördern!
Diesen Artikel haben wir aus dem Buch von Dr. Charmaine Liebertz mit dem Titel „Spiele zum ganzheitlichen Lernen“ entnommen. Das Buch ist bei Burckhardthaus-Laetare erschienen.