Arme Kinder starten mit Nachteilen – reiche erben Erfolg und ein langes Leben

Neue Langzeitstudie zeigt: Wohlstand schafft Vorteile durch Selbstkontrolle, Wohlbefinden, Netzwerke – und wirkt bis in Gesundheit und Lebenserwartung hinein

Bundeskanzler Friedrich Merz forderte jüngst im Bundestag einen „neuen Konsens der Gerechtigkeit“. Es gehe, so Merz, „um nichts weniger als um Gerechtigkeit“ – und darum, was dieser Begriff in unserer Zeit bedeutet. Diese politische Forderung trifft auf aktuelle Forschung, die deutlich macht, wie stark Herkunft, Wohlstand und Netzwerke das Leben von Kindern und Jugendlichen prägen – von der Karriere bis hin zur Gesundheit und Lebenserwartung.

Das Märchen von der Leistungsgesellschaft

Die Ergebnisse einer neuen Untersuchung der Concordia University in Montreal stellen die Frage neu, ob in modernen Gesellschaften tatsächlich Leistung, Fleiß und Talent über Erfolg entscheiden – oder doch eher der Geldbeutel und die Kontakte der Eltern.

Die Forschenden haben Daten der British Cohort Study ausgewertet, einer Langzeiterhebung mit knapp 6.800 Kindern. Sie alle wurden 1970 geboren und bis ins Erwachsenenalter begleitet. Ergebnis: Kinder aus wohlhabenden Familien haben wesentlich bessere Chancen, schon mit Mitte zwanzig eine Führungsposition einzunehmen.

„Wohlstand bedeutet die Möglichkeit zu haben, Hobbys nachzugehen, zu reisen und eine gute Schule zu besuchen“, erklärt Studienautor Steve Granger. „Diese Möglichkeiten helfen, soziales Kapital aufzubauen – also Ressourcen und Chancen, die wir durch unsere Netzwerke erwerben.“

Vermögen wirkt – Geld öffnet Türen

Vermögen wirkt gleich mehrfach: Es sorgt für materielle Sicherheit, ermöglicht Zugang zu guter Bildung und eröffnet Erfahrungen, die wiederum Kontakte nach sich ziehen. Auch wenn die Studie Selbstkontrolle und psychisches Wohlbefinden als Vermittler herausstellt, spielt die finanzielle Ausgangslage eine kaum zu unterschätzende Rolle.

„Frühe Widrigkeiten – sei es eine dysfunktionale Familie, berufliche Unsicherheit, ständige Umzüge oder wirtschaftliche Belastungen – können Kindern wichtige Ressourcen vorenthalten“, so Granger. „Diese Erfahrungen behindern ihre Entwicklung und wirken bis ins Erwachsenenalter hinein.“

Netzwerke als Karriere-Sprungbrett

Neben dem Geld sind es die Netzwerke der Eltern, die entscheidend sind. In den Befragungen berichteten Jugendliche schon mit 16 Jahren, ob sie jemals durch familiäre Beziehungen an einen Arbeitsplatz gekommen waren. Die Daten zeigen: Wer gut vernetzte Eltern hat, profitiert oft direkt beim Einstieg in den Arbeitsmarkt.

Das widerspricht der liberalen Erzählung, dass jede und jeder „seines Glückes Schmied“ sei. Zwar spielen Talent und Anstrengung eine Rolle – doch der Zugang zu Gelegenheiten, Praktika oder ersten Jobs ist ungleich verteilt.

Gesundheit und Lebenserwartung – ein doppelter Vorteil

Die ungleichen Startbedingungen wirken sich nicht nur auf Karrierewege aus, sondern auch auf Gesundheit und Lebenszeit. Wer in einer wohlhabenden Familie aufwächst, hat besseren Zugang zu medizinischer Versorgung, gesunder Ernährung und sicheren Wohnumfeldern. Zahlreiche Studien zeigen, dass die Lebenserwartung zwischen einkommensstarken und einkommensschwachen Gruppen in westlichen Gesellschaften oft um zehn Jahre oder mehr auseinanderliegt.

Reichtum verschafft also nicht nur bessere Chancen auf Bildung und Karriere, sondern auch höhere Chancen auf ein langes und gesundes Leben. Wenn also derzeit so viele Reiche und Prominente ihren 90. oder gar 100. Geburtstag feiern, ist das kein Zufall, sondern schlicht das Ergebnis einer besseren medizinischen Versorgung. Damit stellt sich die Frage nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit noch grundlegender: Wenn Herkunft über beruflichen Erfolg, Gesundheit und Lebensdauer entscheidet, kann von gleichen Chancen kaum die Rede sein.

Gesellschaftliche Gerechtigkeit auf dem Prüfstand

Die Befunde werfen Fragen nach Gleichheit der Chancen auf. Wenn Vermögen und soziale Netzwerke schon früh Weichen stellen, wird die Idee eines fairen Wettbewerbs fragwürdig. Kinder aus benachteiligten Familien müssen oft doppelt so hart arbeiten, ohne vergleichbare Chancen auf Förderung oder Protektion.

Gleichzeitig zeigt die Studie: Interventionen sind möglich. Selbstkontrolle und psychisches Wohlbefinden lassen sich durch stabile Umfelder, schulische Unterstützung und außerschulische Aktivitäten fördern. Die Forschenden regen an, diese Ressourcen gezielt zu stärken und zugleich Unternehmen stärker in die Verantwortung zu nehmen, Talente auch jenseits privilegierter Herkunft zu fördern.

„Sozialneid“ – ein Kampfbegriff gegen Gerechtigkeit

In gesellschaftlichen Debatten wird die Forderung nach gleichen Chancen häufig mit dem Schlagwort „Sozialneid“ abgetan. Doch diese Vokabel ist weniger eine sachliche Diagnose als eine rhetorische Abwehrstrategie: Sie verunglimpft berechtigte Anliegen nach fairen Startbedingungen als Neidreaktion.

Wer aber nüchtern auf die Daten blickt, erkennt: Es geht nicht um Neid, sondern um fundamentale Fragen der Gerechtigkeit. Kinder aus armen Familien leben kürzer, sind häufiger krank und haben geringere Chancen auf Bildung und beruflichen Aufstieg. Das zu kritisieren, bedeutet nicht Neid – sondern den Anspruch auf eine Gesellschaft, in der Herkunft nicht über Lebenschancen entscheidet.

Schlussfolgerung für die Politik

Für die Politik bedeutet dies: Ein „neuer Konsens der Gerechtigkeit“, wie ihn Bundeskanzler Merz einfordert, muss zwar auch über Steuerfragen oder Bildungspolitik geführt werden. Er muss zudem die tiefgreifenden Zusammenhänge zwischen Herkunft, Gesundheit und Lebenschancen berücksichtigen. Wenn die Bundesregierung den Anspruch auf mehr Gerechtigkeit ernst nimmt und nicht nur leere Worthülsen von sich geben will, muss sie Strukturen schaffen, die allen Kindern unabhängig vom Elternhaus faire Chancen ermöglichen – auf gute Bildung, stabile Gesundheit und eine Zukunft, in der Leistung nicht länger hinter Vermögen und Beziehungen zurückstehen muss.

Mag dies alles auch längst bekannt sein, steckt doch der Hauptgrund für die Radikalsierung vieler demokratischer Gesellschaften darin. Eine wirkliche faire soziale Gerechtigkeit böte deshalb viele Chancen auf ein friedliches Leben für alle in Wohlstand. Eine glückliche Kindheit, mehr Motivation und damit bessere Leistungen zählen dazu.

Zur Studie: Early family socioeconomic status and later leadership role occupancy (Journal of Organizational Behavior, 2023): https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/job.2730

Gernot Körner




Was Demokratiebildung im Kindesalter braucht

kinderwelten

Die Broschüre „Kinderwelten Info 10/2024“ zeigt, wie Demokratiebildung im Kita- und Grundschulalter praktisch umgesetzt werden kann

Die Broschüre „Kinderwelten Info 10/2024 – Was Demokratiebildung im Kindesalter braucht“ zeigt, wie demokratische Werte schon im Kita- und Grundschulalter vermittelt werden können. Sie betont, dass Demokratiebildung mehr ist als die Schaffung barrierefreier Zugänge. Notwendig ist auch die Förderung von Gleichheit, Solidarität und Toleranz als Fundament für ein funktionierendes Gemeinwesen. Besonders in herausfordernden Zeiten wird die Wichtigkeit von Inklusion, Vielfalt und gegen Diskriminierung gelebter Demokratie hervorgehoben.

Die Publikation richtet sich an pädagogische Fachkräfte und Träger. Sie gibt praxisnahe Impulse, um Mitbestimmung und Beteiligung von Kindern zu fördern, unabhängig von Herkunft, Sprache oder Einschränkungen. Sie fordert dazu auf, Diskriminierung und Ausschluss aktiv zu erkennen und zu handeln.

Ein wichtiges Werk für alle, die Demokratiebildung als Teil ihres pädagogischen Auftrags verstehen und Kinder früh für ein demokratisches Miteinander sensibilisieren möchten.




Kindergerechtigkeit

kinder-teilen

Wie empfinden kleine Kinder, was gerecht und was ungerecht ist und wie verhalten sie sich entsprechend?

Zwei Psychologen und eine Psychologin von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU), der niederländischen Universität Tilburg und der Veterinärärztlichen Universität Wien zeigen in der Fachzeitschrift Communications Psychology, dass es stereotypische Geschlechterunterschiede gibt, aber es doch nicht ganz so einfach ist.

Das Szenario ist bekannt:

Der siebenjährige Lukas beschwert sich lautstark, wenn sein Freund Henry eine Eiskugel mehr bekommt als er selbst. Obwohl – oder gerade weil (?) – er sich unfair behandelt fühlt, gibt er seinem Freund Leo, der gar kein Eis hat, keinen Happen ab. Lisa dagegen teilt ihr Eis mit Leo. Dann aber, am folgenden Tag, hat Lukas Schokolade dabei, von der er bereitwillig Lisa etwas abgibt.

Das erste Beispiel scheint stereotyp:

Jungen erkennen zwar sehr genau Ungerechtigkeiten, die gegen sie wirken, behandeln aber im selben Moment andere Kinder genauso unfair. Mädchen dagegen sind dazu eher bereit zu teilen. Doch im Fall der Schokolade funktioniert das Stereotyp nicht.

Wie sich der Sinn für Fairness und Unfairness bei Kindern entwickelt, untersuchten drei Forschende, die ursprünglich alle an der HHU arbeiteten, genauer: Prof. Dr. Tobias Kalenscher, Lehrstuhlinhaber für Vergleichende Psychologie in Düsseldorf, Dr. Lina Oberließen, jetzt am Wolfsforschungszentrum der Veterinärmedizinischen Universität Wien und Prof. Dr. Marijn van Wingerden vom Department of Cognitive Science and Artificial Intelligence der Universität Tilburg. In Communications Psychology beschreiben sie Verhaltensexperimente, die sie dazu mit 332 Kindern im Alter von drei bis acht Jahren gemacht haben.

Prof. van Wingerden:

„Bei uns gab es allerdings weder Eis noch Schokolade, sondern die Kinder sollten sich paarweise Smiley-Sticker zuschieben. Teilweise bauten wir auch für das Kind, dass die Verteilung vornimmt, zusätzliche Kosten ein, wenn es zum Beispiel die Sticker gleich verteilt. Und dann beobachteten wir, wie sich die Kinder in verschiedenen Geschlechterkonstellationen verhielten.“

Dr. Oberließen zu den Ergebnissen:

„Wir fanden tatsächlich geschlechtsspezifische Effekte. Mädchen zeigten sich mitfühlender als Jungen. Interessanterweise gab es aber bei beiden Geschlechtern den gleichen Unmut, wenn ein Junge der Empfänger einer größeren Portion war. Dies deutet darauf hin, dass Neid gegenüber Jungen allgemein größer ist.“ Ebenfalls scheinen Jungen ihrem eigenen Geschlecht gegenüber gehässiger zu sein: Sie wählten immer die größtmögliche Anzahl Sticker für sich selbst, auch wenn ihr Gegenüber dann leer ausging.

Die Fairnesseinstellung von Kindern ist also tatsächlich geschlechtsabhängig!

Sie hängt aber nicht nur vom eigenen Geschlecht ab, sondern auch vom Geschlecht der Kinder, mit dem sie interagieren. Van Wingerden: „Wir haben die typischen Geschlechterstereotypen gefunden – Mädchen sind mitfühlender, das Konkurrenzverhalten von Jungen ist ausgeprägter.“ Oberließen ergänzt: „Die Geschichte ist aber doch komplizierter. So wird Neid etwa bei beiden Geschlechtern eher gegen Jungen ausgedrückt als gegen Mädchen. Und Jungs sind, wenn sie ihre Ressourcen mit Mädchen teilen, wesentlich mitfühlender als mit anderen Jungen.“

Prof. Kalenscher folgert aus den Ergebnissen: „Geschlechterstereotypen sind in der heutigen Gesellschaft allgegenwärtig. Unsere Studie unterstreicht, dass geschlechtsspezifische Unterschiede im Sozialverhalten tatsächlich empirisch beobachtbar sind, selbst bei kleinen Kindern. Dies trägt möglicherweise zu kulturellen, stereotypen Geschlechterrollen im Erwachsenenalter bei. Wir sehen aber auch, dass sich geschlechtsspezifische Unterschiede, zumindest im Bereich der Fairnesspräferenzen, über einen längeren Zeitraum verfestigen. Diese Beobachtung lässt Raum, um während der kritischen Phase der Kindheit nicht-geschlechtsstereotype Fairness-Einstellungen zu fördern.“

Originalpublikation:

Marijn van Wingerden, Lina Oberließen & Tobias Kalenscher. Egalitarian preferences in young children depend on the genders of the interacting partners. Communications Psychology 2, 89 (2024). DOI: 10.1038/s44271-024-00139-9

Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V. -idw-




Kinder und Jugendliche fühlen sich machtlos und unzufrieden

Laut einer Studie glauben über 50 Prozent der Befragten nicht an den Problemlösungswillen von Politiker*innen

„Ist Deutschland gerecht?“, „Ist die Welt gerecht?“, „Was bedeutet eine gerechte Gesellschaft?“ Diese und weitere Fragen wurden im Rahmen der Sozialstudie 2023/24 zum Thema Gerechtigkeit, die im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung von der Universität Bielefeld durchgeführt wurde, von Kindern und Jugendlichen beantwortet. Die Teilnahme von insgesamt 1.230 Kindern (sechs bis elf Jahre) und Jugendlichen (zwölf bis 16 Jahre) ermöglicht ein repräsentatives Stimmungsbild.

Jugendliche fühlen sich machtlos und unbeachtet

Ein zentrales Ergebnis der Befragung ist, dass die deutliche Mehrheit der Jugendlichen (78 Prozent) erlebt – trotz des Aufkommens von Bewegungen wie „Fridays for Future“ – keinen Einfluss darauf zu haben, was die Regierung macht. 72 Prozent der Jugendlichen sind davon überzeugt, dass sich Politikerinnen und Politiker in Deutschland nicht viel darum kümmern, was Jugendliche denken. Mehr als die Hälfte (57 Prozent) spricht ihnen sogar das Bemühen ab, die wichtigsten Probleme unserer Gesellschaft lösen zu wollen.

„Besonders überraschend ist, dass die Kinder und Jugendlichen ein differenziertes Bild davon haben, wie eine gerechte Gesellschaft aussieht, diese Komponenten in ihrer Lebensrealität aber gar nicht unbedingt wahrnehmen,“ sagt Studienleiter Prof. Dr. Holger Ziegler von der Universität Bielefeld, und fügt hinzu: „Obwohl sie sich von der Gesellschaft und der Politik nicht genug gesehen fühlen, machen sie sich trotzdem auch Sorgen um andere Bevölkerungsgruppen, wie zum Beispiel Rentnerinnen und Rentner.“

Problembewusstsein vorhanden

Prof. Dr. Ziegler erklärt, dass die wichtigsten Ergebnisse mit folgenden Themen in Verbindung stehen: Förderung von Bildung, Inklusion, Herstellung von Chancengleichheit, Hilfe und Unterstützung für Alte und Arme. „Erschreckend ist, dass die Jugendlichen diese Aspekte in der Praxis wenig abgebildet sehen. In ihrer Wahrnehmung sind sie von der Politik ungesehen und ungehört,“ so Ziegler, Professor für Soziale Arbeit.

Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status (SOES) geben an, dass sie in ihrem Leben deutlich mehr Ungerechtigkeit erleben als solche mit einem höheren SOES. 37 Prozent der Jugendlichen aus Haushalten mit niedrigem SOES empfinden Ungerechtigkeit als die Norm in ihrem Leben, während sich diese Zahl bei denen mit einem hohen SOES halbiert (18 Prozent). Das zeigt sich auch schon bei den befragten Kindern von sechs bis 11 Jahren: Kommen sie aus einer Familie mit einem hohen SOES, erleben 14 Prozent Deutschland als „sehr“ oder „eher“ ungerecht, bei niedrigem SOES erhöht sich dieser Anteil auf 59 Prozent.

Jugendliche fern vom Ego – besondere Sorge um Ältere

Die vorliegende Studie zeigt, 65 Prozent der Jugendlichen empfinden, dass für Rentnerinnen und Rentner zu wenig getan wird. „Die Vorurteile gegenüber der jungen Generation, diese würde sich nur für sich selbst interessieren, können in unserer Studie keinesfalls bestätigt werden,“ so Prof. Dr. Ziegler.

Dipl.-Psych. Melanie Gräßer, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Lippstadt ergänzt: „Das scheint zunächst überraschend, aber meiner Erfahrung nach, ist das unfaire Etikett des Egoismus für diese Generation weitestgehend falsch. In meiner täglichen Praxis erlebe ich viel Mitgefühl und auch Sorgen bei den Kindern und Jugendlichen um ihre Mitmenschen.“

„Gleiche Lebensbedingungen“ und „Bildung“

Die anderen Bereiche, die für die Jugendlichen in diesem Zusammenhang besonders wichtig sind, lauten „gleiche Lebensbedingungen“ und „Bildung“ (beides 62 Prozent), sowie „Arme“ und „Gleichverteilung von Vermögen und Einkommen“ mit jeweils 61 Prozent. „Umwelt & Klima“ landen mit 50 Prozent auf dem neunten Platz. Diese Ergebnisse spiegeln sich auch bei den befragten Kindern wider. Sie haben bereits ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, wenn es um andere geht: 83 Prozent geben an, „sie werden wütend“, wenn andere ungerecht behandelt werden.

Gerechtigkeit als gesellschaftliche Aufgabe

„Die Ergebnisse der Gerechtigkeitsstudie 2024 bestätigen unsere täglichen Erfahrungen in unserer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen,“ so Bernd Siggelkow, Gründer und Leiter des Kinder- und Jugendwerks „Die Arche“. „Wir sind immer wieder ganz konkret gefragt, gegen das Gefühl der Unsichtbarkeit bei Kindern und Jugendlichen anzuarbeiten. Sei es im Kleinen in ihren familiären Strukturen oder auch größer in der Gruppe. Wir arbeiten daran, das Gefühl von Kindern und Jugendlichen für Gerechtigkeit zu stärken und an ihrem eigenen Verhalten zu spiegeln.“

Über die Bepanthen-Kinderförderung

Die Bepanthen-Kinderförderung setzt sich seit 2008 für Kinder und Jugendliche in Deutschland ein. Im zweijährlichen Rhythmus führt sie gemeinsam mit der Universität Bielefeld Sozialstudien durch, um aktuelle Problemfelder in der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen zu identifizieren – beispielsweise zu den Themen Achtsamkeit, Gewalt, Kinderarmut oder Gemeinschaftssinn. Die aus den Studien gewonnenen Erkenntnisse fließen in die praktische Kinderförderung des Kinderhilfswerks „Die Arche“ ein. Auch 2024 wird es ein neues Kinderförderungsprogramm geben, dass auf Basis der Erkenntnisse der Sozialstudie „Gerechtigkeit“ erarbeitet wird.

Weitere Informationen zu den Schwerpunkten der Bepanthen-Kinderförderung und die Zusammenarbeit mit dem Kinderhilfswerk „Die Arche“ finden Sie unter bepanthen.de/kinderfoerderung. Dort sind auch sämtliche Sozialstudien mit der Universität Bielefeld hinterlegt unter bepanthen.de/kinderfoerderung/sozialforschung

Hier geht es zur Studie

Quelle: Pressemitteilung Bayer




Gerecht verteilen: An welchen Kriterien orientieren sich Kinder und Jugendliche?

Stehen Bedürftigkeit oder Leistung im Vordergrund?

Gerechtigkeit ist ein Menschheitsthema und spielt auch in der Schule eine große Rolle. Die Psychologin Prof. Dr. Jutta Kienbaum erforscht zusammen mit ihren Studierenden an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, wie sich Verteilungsgerechtigkeit bei Kindern und Jugendlichen entwickelt. Entscheiden sie nach Bedürftigkeit oder nach Leistung?

Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema

Woran orientieren sich Kinder und Jugendliche intuitiv, wenn sie etwas gerecht verteilen sollen? Daran, wer bedürftiger ist? Daran, wer mehr geleistet hat? Oder berücksichtigen sie beide Kriterien? Und entscheiden jüngere Kinder anders als ältere? „Gerechtigkeit ist ein Menschheitsthema und spielt auch in der Schule eine große Rolle“, sagt die Entwicklungspsychologin Prof. Dr. Jutta Kienbaum, Leiterin des Instituts für Psychologie der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.

Forschungsseminar zum Thema „Verteilungsgerechtigkeit“

Ihr empirisches Forschungsseminar zur Frage, wie sich Verteilungsgerechtigkeit bei Kindern und Jugendlichen entwickelt, ist deshalb bei Lehramtsstudierenden auch im zehnten Jahr sehr gefragt. Im Rahmen dieses Seminars führen Studierende mit Schulkindern ein Experiment durch, das sich um eine Pausenhofgeschichte dreht. Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler entscheiden, welche Protagonisten – dargestellt durch Playmobilfiguren – fürs Müllsammeln symbolisch mit wie viel Süßigkeiten belohnt werden. Sollen diejenigen mehr bekommen, die sich beim Müllsammeln angestrengt haben? Oder diejenigen, die zu Hause gar keine oder nur wenig Süßigkeiten haben?

Kriterien wandeln sich mit dem Alter

Mehr als 60 Abschlussarbeiten sind bereits aus dem Seminar heraus entstanden. Außerdem sind die Ergebnisse der Studierenden in eine Längsschnittstudie eingeflossen, die in Karlsruhe durchgeführt wurde. „Unsere Studie hat gezeigt, dass Kinder in der Grundschulzeit denjenigen mehr geben, die bedürftiger sind, oder Bedürftigkeit und Anstrengung gleichzeitig berücksichtigen“, berichtet Prof. Dr. Kienbaum. Jugendliche hingegen integrieren ganz überwiegend beide Kriterien und Erwachsene geben entweder der Person mehr, die sich mehr angestrengt hat, oder berücksichtigen beide Kriterien. „Die Bedürftigkeit als alleiniges Verteilungskriterium scheint also im Laufe des Lebens zu verschwinden“, so Kienbaum. Dieses Ergebnismuster bestätigten auch ihre in der Schweiz und Südtirol erhobenen Daten.

Kinder entscheiden mit großer Sorgfalt

„In meinem Forschungsseminar zur Verteilungsgerechtigkeit lernen die Studierenden wissenschaftlich zu arbeiten, auch experimentell “, sagt die Psychologin und unterstreicht: „Es ist wichtig und schön, den Forschergeist der Studierenden zu wecken.“ Marie Sommer beispielsweise geht gerade in ihrer Bachelorarbeit der Frage nach, ob Kinder an einer Montessori-Schule genauso verteilen wie an einer staatlichen Regelschule. Dazu hat die Lehramtsstudentin, die später in einer Grundschule unterrichten möchte, im Januar und Februar Schülerinnen und Schüler in der Notbetreuung in Rheinland-Pfalz befragt. „Besonders beeindruckt hat mich, wie wichtig Gerechtigkeit für Kinder ist, und mit wie viel Sorgfalt sie entscheiden“, erzählt die 23-Jährige.

Und Alexandra Wilmsen, die Lehramt für die Sekundarstufe I studiert, sagt: „Durch das Seminar zum Thema Verteilungsgerechtigkeit habe ich mehr Verständnis für Schülerinnen und Schüler entwickelt. Gerade in der Sekundarstufe machen Kinder einen wichtigen Entwicklungsschritt. Hier sind Gelassenheit und Geduld gefragt.“ Es sei sehr spannend gewesen, die Forschungs- und Auswertungsmethoden der Psychologie kennenzulernen, so die 25-jährige Studentin. Und der Mehrwert, den das Seminar für ihren späteren Beruf als Lehrerin habe, sei „nicht von der Hand zu weisen“.

Über die Pädagogische Hochschule Karlsruhe

Als bildungswissenschaftliche Hochschule mit Promotions- und Habilitationsrecht forscht und lehrt die Pädagogische Hochschule Karlsruhe zu schulischen und außerschulischen Bildungsprozessen. Ihr unverwechselbares Profil prägen der Fokus auf MINT, mehrsprachliche Bildung und Heterogenität sowie eine aktive Lehr-Lern-Kultur. Das Studienangebot umfasst Lehramtsstudiengänge für Grundschule und Sekundarstufe I, Bachelor- und Masterstudiengänge für andere Bildungsfelder sowie professionelle Weiterbildungsangebote. Rund 220 in der Wissenschaft Tätige betreuen rund 3.600 Studierende. https://www.ph-karlsruhe.de

Regina Schneider M. A., Pressesprecherin Pädagogische Hochschule Karlsruhe