Wie die Pandemie Grundschulkinder belastet

Bildungsforscher:innen der Bergischen Universität Wuppertal stellen erhöhte Aggressivität, Zukunftsängste und mangelhaftes soziales Lernen fest

Wie geht es Kindern nach zwei Jahren Corona? Dieser Frage gingen Bildungsforscher:innen der Bergischen Universität Wuppertal nach. In der ersten Jahreshälfte 2022 befragten sie deshalb in Kooperation mit einem Schulamtsbezirk in Köln zahlreiche Eltern, Lehrkräfte, Kinder und Schulleitungen über die aktuelle Situation in den Grundschulen. Das Ergebnis: Die vergangenen zwei Pandemie-Jahre haben deutliche Spuren hinterlassen.

„Ausgangslage für die Studie war die hohe Anzahl an Problemen, die viele Lehrkräfte während der Corona-Pandemie bei Kindern festgestellt haben“, erklärt Prof. Dr. Christian Huber vom Arbeitsbereich für Rehabilitationswissenschaften mit dem Förderschwerpunkt Emotional-Soziale Entwicklung an der Bergischen Universität. Gemeint sind zum einen sogenannte externalisierende Auffälligkeiten – also etwa Unterrichtsstörungen, Konflikte und Hyperaktivität – aber auch internalisierende Verhaltensprobleme, wie sozialer Rückzug und Angst. Und auch die Lehrkräfte selber fühlten sich überfordert und hätten vor allem das Problem, dass sie die inhaltlichen Rückstände nach den Lockdowns – wie etwa Lesen, Schreiben, Rechnen – nicht aufholen können.

Auffälligkeiten und Belastungen sorgen für schwierige Lernatmosphäre

Um die aktuelle Situation genauer zu analysieren, befragte das Team um Prof. Christian Huber über 1200 Grundschulkinder, rund 1150 Eltern, fast 150 Lehrkräfte und 22 Schulleitungen aus insgesamt 30 Grundschulen im Schulamtsbezirk 3 in Köln.

Dabei stellte sich heraus,

  • dass Kinder selbst eine stark erhöhte Aggressivität bei sich selbst wahrnehmen, was laut den Forscher*innen eher ungewöhnlich ist,
  • dass diese Aggressivität insbesondere bei Kindern feststellbar ist, die auch starke Zukunftsängste im Zuge der Corona-Pandemie entwickelt haben,
  • dass Kinder der dritten und vierten Klassen im Schnitt deutlich in ihrem sozialen Lernen, insbesondere bei der sozial-kognitiven Verarbeitung, zurückliegen, weil sie in der Coronazeit viele soziale Lernerfahrungen nicht machen konnten.

Neben der gesteigerten Aggressivität waren auch Ängste und depressive Symptome bei den Kindern erhöht. „Viele Grundschulkinder sitzen somit in einem Zustand in den Klassenzimmern, in dem inhaltliches Lernen nur schwer möglich sein dürfte“, so Christian Huber.

Die Studie ergab aber auch, dass etwa 30 Prozent der Lehrkräfte stark oder auch sehr stark belastet sind, etwa 10 Prozent so stark, dass man befürchten muss, dass sie perspektivisch ausfallen könnten.

„Die Ergebnisse sind insofern interessant, weil sie unter anderem zeigen, wie stark die Pandemie – und auch die Situation in der Ukraine – viele Kinder noch beschäftigt und wie stark insbesondere coronabedingte Sorgen mit extern- und internalisierenden Verhaltensproblemen zusammenhängen“, sagt Huber.

Gemeinsame Aufbereitung und soziale Kontakte jetzt besonders wichtig

Aus ihren Ergebnissen konnten die Forscher:innen einige Empfehlungen ableiten, wie die Situation für Kinder, Familien und Eltern jetzt aufbereitet werden und der Stress im System reduziert werden könnte. So sind zum Beispiel viele Kinder mit der Aufbereitung der Corona-Pandemie und der Kriegsereignisse alleine. „Die Aufbereitung dieser Erlebnisse sollte in den Familien, Schule und Ganztag Vorrang vor dem Aufholen des verpassten Lernstoffs haben – sonst werden sich die Verhaltensprobleme auch im kommenden Schuljahr nicht oder nur sehr langsam reduzieren“, schätzt der Professor.

Zum anderen vollziehe sich soziales Lernen bei Kindern meist im Umgang mit Gleichaltrigen. Dies war in der Pandemiezeit aber nicht oder nur erschwert möglich. „Alle sozialen Erfahrungen in Schule, Sport und Freizeit sind jetzt wichtig. Die Rolle von Eltern und Schulen ist dabei, Konflikte regelmäßig zu besprechen und Konfliktlösungen mit den Kindern zu erarbeiten“, weiß Christian Huber. Zusätzlich können auch Sozialtrainings und Elterncoachings ein Teil der Lösung sein. Hier müssen jetzt alle Kräfte einer Schulregion gebündelt und niederschwellige Angebote geschaffen werden.

Denise Haberger Pressestelle/Bergische Universität Wuppertal




Ukraine-Krieg: Grundschulverband fordert rasches Handeln auch im Grundschulbereich

Schulen sollten sich vorbereiten und geeignetes Personal einstellen können

Ein schnelles Handeln für die geflüchteten Kinder aus der Ukraine auch im Grundschulbereich fordert der Grundschulverband e.V. in einer Pressemitteilung. Den Kindern müsse ein besonderes Augenmerk gelten. Sie benötigten schnell und dringend geeignete Angebot der Unterbringung und Versorgung. Den traumatisierten Kindern unter ihnen müssten Angebote zur Traumabewältigung gemacht werden.

Schulverwaltung und alle Schularten müssten sich entsprechend vorbereiten, um den eintreffenden Kindern schnellstmöglich ein geeignetes Bildungsangebot unterbreiten zu können. Dafür sollte man die in 2015 gemachten Erfahrungen nutzen. Um die Anforderungen erfüllen zu können, müssten die Schulen zeitnah mit geeignetem Personal ausgestattet werden.

Aber auch die Kinder hierzulande dürften nicht vergessen werden: Da auch die Kinder bei uns mit Bildern des Krieges und dessen Folgen konfrontiert sind, gilt es darüber hinaus, diese Tatsache in den Familien und in der Schule in geeigneter Weise anzusprechen. Etliche Bundesländer haben dazu bereits Handreichungen und Vorschläge erstellt, die im Internet leicht aufzufinden sind. Wir fordern alle Grundschulen und Lehrkräfte auf, dieses Thema in geeigneter Weise aufzugreifen und mit den Kindern so zu besprechen, dass sie ihre Sorgen und Ängste ansprechen können, dass sie dabei ernst genommen werden und Unterstützung erfahren.“, heißt es in der Pressemitteilung.

Ansprechpartner: Dipl.-Päd. Edgar Bohn, Vorsitzender des Grundschulverbands 0151 67 20 28 35




GEW: „Gleiche Bezahlung auch für Grundschullehrkräfte!“

Bildungsgewerkschaft legt zum Equal Pay Day Studie zur Arbeitsbelastung der Lehrkräfte vor

Mit Blick auf mehrere wichtige Landtagswahlen mahnt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) die gleiche Bezahlung aller Lehrkräfte für gleichwertige Arbeit an. Die Bildungsgewerkschaft untermauerte ihre Forderung mit neuen arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen: „Grundschullehrkräfte leisten genauso viel wie andere Lehrkräfte. Es gibt keine Basis für ihre schlechtere Bezahlung, die immer noch in acht Bundesländern Praxis ist“, sagte Frauke Gützkow, GEW-Vorstandsmitglied für Frauenpolitik, mit Blick auf den Equal Pay Day (EPD) am Montag. Sie machte sich dafür stark, alle voll ausgebildeten verbeamteten Lehrkräfte nach der Besoldungsgruppe A13 und alle angestellten nach der Entgeltgruppe E13 zu bezahlen – unabhängig von der Schulform, an der sie arbeiten. „Die schlechtere Bezahlung trifft insbesondere Frauen. An Grundschulen sind neun von zehn Lehrkräften Frauen“, betonte Gützkow. „Doch auch an Sekundarschulen werden Lehrkräfte in zu vielen Ländern noch nach A12/E11 bezahlt. Auch an diesen Schulformen arbeiten mehr Frauen als Männer.“

Mit Kompetenz und Einfühlungsvermögen

„Im schulischen Alltag bewältigen Grundschullehrkräfte auffallend hohe Anforderungen und Belastungen, vor allem mit Blick auf ihr Wissen und Können sowie auf psychosoziale Herausforderungen. Die Arbeit der Lehrkräfte an Grundschulen wird oft unterbrochen, deshalb müssen sie hoch konzentriert arbeiten“, stellte Gützkow die Ergebnisse einer repräsentativen arbeitswissenschaftlichen Studie zur Vergleichbarkeit der Arbeitsplätze an allgemeinbildenden Schulen vor. Sie arbeiteten häufig in Teams, benötigten stets viel Einfühlungsvermögen und bewältigten in erheblichem Maße belastende psychosoziale Anforderungen. Ebenfalls stark belastet seien die Lehrkräfte an Schulen, die alle allgemeinbildenden Schulabschlüsse vergeben. „Außer hohen psychosozialen Belastungen fallen bei ihnen vor allem die Anforderungen an ihre Verantwortung für die Jugendlichen an der Schwelle zu Ausbildung und Beruf ins Gewicht“, erklärte das GEW-Vorstandsmitglied.


Soziales und kooperatives Lernen

Kinder müssen „leben lernen“. Auch dazu ist die Schule da. Insofern hat sich das Berufsbild des Lehrers in den vergangenen Jahren gewandelt. Es geht nicht mehr nur um Wissensvermittlung. Lehrer unterstützen Schüler heute auch bei der Sozialisation und vermitteln gezielt Werte. Dazu fehlen bisher meist die Materialien zur Vorbereitung auf den Unterricht. Die Reihe „Gemeinsam leben lernen“ schafft Abhilfe. Im ersten Band werden die Grundlagen erklärt und es geht darum, wie Kinder lernen, partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Sämtliche praktischen Materialien für eine ausführliche fächerübergreifende Projektreihe sind hier enthalten. 

Hennig/Feige/Peschel
So gelingt Zusammenarbeit – Die fünf Häuser partnerschaftlichen Lernens 
Broschur / 272 Seiten
ISBN: 9783963046025
25 Euro


In der Hälfte der Bundesländer ist die Gleichstellung bereits umgesetzt

Mit ihrem Engagement für eine bessere Bezahlung der Grundschullehrkräfte sowie der Lehrerinnen und Lehrer in der Sekundarstufe I habe die GEW, so Gützkow, in den vergangenen Jahren viel erreicht. „In der Hälfte der Bundesländer ist die Gleichstellung der Grundschullehrkräfte umgesetzt“, betonte sie. „Ohne den Druck der GEW und ihrer Mitglieder wäre das nicht möglich gewesen.“ Zu den Bundesländern, die hinterherhinken, gehöre Nordrhein-Westfalen (NRW). In dem Bundesland arbeiteten fast 20 Prozent aller in Deutschland beschäftigten Lehrkräfte. Mit Blick auf die Landtagswahlen im Mai kündigte die Gewerkschafterin einen heißen Wahlkampf an: „Die Politik muss sich an die Landesverfassung halten und endlich das Besoldungsrecht der Beamtinnen und Beamten ändern.“ Gützkow erinnerte daran, dass ein juristisches Gutachten bereits vor Jahren für NRW zu dem Schluss kam: „Die unterschiedliche Eingruppierung verschiedener Lehrkräftegruppen ist aus verfassungs- und beamtenrechtlicher Perspektive nicht in Ordnung.“ In Niedersachsen werde im September gewählt. „Auch hier werden wir die überfällige Gleichbehandlung an Grund- und Sekundarschulen mit den anderen Schulformen aufs Tapet heben“, kündigte das GEW-Vorstandsmitglied an.

Weitere Informationen zur arbeitswissenschaftlichen Studie

Index für gleichwertige Arbeit: Zum EPD veröffentlichte die GEW eine arbeitswissenschaftliche Studie zur Vergleichbarkeit der Arbeitsplätze an allgemeinbildenden Schulen. In der Untersuchung und mithilfe eines anerkannten Verfahrens zur Gleichwertigkeit von Tätigkeiten gaben rund 15.000 Lehrkräfte aus allen Bundesländern (ohne Mecklenburg-Vorpommern) Antworten auf Fragen zu ihren Arbeitszeiten, Anforderungen und Belastungen. Das Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES) mit Sitz in Berlin hat diese repräsentative Lehrkräftebefragung 2021 unter GEW-Mitgliedern durchgeführt.

Gleiches Geld für gleichwertige Arbeit

Für Grundschullehrkräfte gilt die Bezahlung nach Besoldungsgruppe A13 (Beamtinnen und Beamte)/ Entgeltgruppe E13 (Angestellte) in Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Sachsen und Thüringen. Niedersachen zahlt A12 plus Zulage für Lehrkräfte an Grundschulen und in der Sekundarstufe I. Für Lehrkräfte der Sekundarstufe I wird in Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nach A13/E13 gezahlt. In Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und dem Saarland ist dies teilweise umgesetzt. In NRW wird nur nach A12/E11 gezahlt. Weitere Informationen: A13: Stand der Dinge.

Hier finden Sie weitere Informationen zum Equal Pay Day.




Spiele, die alle bewegen

222spiele

222 neue Spiele für die Kinder- und Jugendarbeit

Der Philosoph Friedrich Nietzsche wusste, wie wichtig Bewegung ist: „So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern!“

Viele Kinder und auch Erwachsene bewegen sich heute zu wenig und spielen nicht genug. Dabei ist wissenschaftlich erwiesen, wie wichtig beides für den Menschen und seine Entwicklung ist.

Das Spielebuch schafft Gelegenheit für beides. Es bietet Anleitungen für 222 Gruppenspiele, zum Kennenlernen, um die Wahrnehmung zu schulen, mit und ohne digitale Medien und vieles mehr.

Nach den unterschiedlichen Gelegenheiten und Möglichkeiten aufgeteilt, für welche die Spiele geeignet sind, finden hier GruppenleiterInnen eine Fülle von neuen Spieleanleitungen. Bei jedem Spiel gibt es eine Altersangabe, die jedoch nur einen groben Anhaltspunkt geben kann. Einige der Spiele finden sicher noch bei Menschen bis 99 Anklang.

Im Kapitel „Medien – Digital-fiktive und analog-reale Spielewelten“ lautet die Devise: Gestalten, hinterfragen, kreativ werden. Es geht hier um die fantasievolle und spielerische Nutzung von Smartphones oder Tablets.

Das Buch bietet eine umfangreiche Sammlung an neuen, interessanten Spielen, die allein zu lesen schon Laune auf Aktionen machen. Es richtet sich an Lehrkräfte in der Grundschule und Sekundarstufe I und an PädagogInnen in der Ganztagsbetreuung sowie in der Kinder- und Jugendarbeit.

(Anja Lusch)

222 spiele

U. Baer, G. Knecht, M. Waschk (Hrsg.)

Spiele, die alle bewegen

222 neue Spiele für die Kinder- und Jugendarbeit

Softcover, 272 Seiten,

ISBN: 978-3-7727-1556-3

17,95 Euro

Über die HerausgeberInnen

Ulrich Baer, Dipl.-Pädagoge und Spielautor, ist Begründer einer praxisorientierten Spielpädagogik und Autor diverser Publikationen zu den Themen Kreativität und Kulturpädagogik; Dozent und Studienleiter der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW i.R.; Gründer und langjähriger Herausgeber der Zeitschrift gruppe & spiel.

Gerhard Knecht ist Dipl.-Pädagoge und seit vielen Jahren in der Spielbusarbeit tätig. Er entwickelte spiel- und kulturpädagogische Projekte bei der Pädagogischen Aktion München, war Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Spielmobile e.V. und Leiter des Fachbereichs Spielpädagogik an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift GRUPPE & SPIEL, Redakteur der Fachzeitschrift Spielmobilszene und entwickelt Projekte bei Spiellandschaft Stadt e.V..

Marietheres Waschk ist Dipl.-Sozialpädagogin und Dozentin für Spielpädagogik an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW. Sie betreut Spiel- und kulturpädagogische Projekte am Bauspielplatz Friedenspark Köln und ist Mitherausgeberin der Zeitschrift gruppe & spiel.




Rechtsanspruch auf Ganztag für Grundschulkinder kommt

Bund und Länder einigen sich im Vermittlungsausschuss

Vertreterinnen und Vertreter von Bund und Ländern haben sich am 6. September 2021 auf Änderungen am Ganztagsförderungsgesetz geeinigt. Der Bundesrat hatte das Gremium in seiner Plenarsitzung am 25. Juni 2021 angerufen. Die Länder hatten in ihrem Anrufungsbeschluss eine Reihe von Änderungen an dem vom Bundestag am 11. Juni verabschiedeten Gesetz gefordert, die die Finanzierung des einzuführenden Anspruches auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder betreffen. 

Kompromiss zur Finanzierung

Der Kompromiss sieht unter anderem vor, dass Finanzhilfen des Bundes auch für die Erhaltung bereits bestehender Betreuungsplätze und nicht nur für die Schaffung neuer Plätze gewährt werden. Außerdem beteiligt sich der Bund mit einer Quote von bis zu 70 Prozent am Finanzierungsanteil der Investitionskosten und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, nur bis zu 50 Prozent. Neu vorgesehen sind außerdem Evaluationen der Investitionskosten und Betriebskosten in den Jahren 2027 und 2030, nach denen Mehr- und Minderbelastungen der Länder angemessen ausgeglichen werden.

Anspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder

Kern des Gesetzes ist die Einführung eines bedarfsunabhängigen Anspruchs auf Förderung in einer Tageseinrichtung von mindestens 8 Stunden. Dieser soll für jedes Kind ab der ersten Klassenstufe bis zum Beginn der fünften Klassenstufe gelten. Anspruchsberechtigt sind Kinder, die ab dem Schuljahr 2026/2027 die erste Klassenstufe besuchen. Der Anspruch soll dann schrittweise auf die folgenden Klassenstufen ausgeweitet werden, so dass ab dem Schuljahr 2029/2030 allen Schulkindern der ersten bis vierten Klassenstufe mindestens acht Stunden täglich Förderung in einer Tageseinrichtung zusteht.

Weiteres Verfahren

Der Einigungsvorschlag geht nun in den Bundestag, der bereits am 7. September darüber entscheiden soll. Bestätigt er den Kompromiss, könnte der Bundesrat das geänderte Gesetz noch im September abschließend beraten.




Wann Kinder lernen, andere zu verstehen

Wissenschaftler untersuchen Entwicklung in der Grundschulzeit

Die Fähigkeit, sich auf andere einzustellen, wächst von Geburt an. Hartmut Rosa und Joachim Bauer untersuchen seit Jahren das Phänomen der Resonanz, mit deren Hilfe schon das Neugeborene in Interaktion geht. Mit der Ich-Erkenntnis im zweiten Lebensjahr wächst die Fähigkeit andere einzuschätzen. Eben ist eine Studie erschienen, die diese Entwicklung in der Grundschulzeit erforscht hat. Aus dieser sollen sich nun besondere Anforderungen an die Schulen und das Elternhaus ableiten lassen. Denn manches unterstützt diese Entwicklung, anderes hemmt sie.

Über eine lebenswichtige Fähigkeit

Als der Mensch noch nicht an der Spitze der Nahrungskette stand, war seine Fähigkeit, seine Umgebung einzuschätzen, überlebenswichtig. Gelang ihm das nicht, konnte er relativ leicht in große Not geraten. Erschlagen oder gefressen zu werden gehörte damals zum Alltag.

Die Anlagen zur Einschätzung seiner Umwelt und seiner Mitmenschen sind schon in seinen Genen angelegt. Und wenn wir ihn dabei nicht allzu sehr stören würden, könnte er diese auch gut entwickeln. Der Arzt und Psychiater Joachim Bauer beschreibt in seinem „Wie wir werden, wer wir sind“, wie es Kindern in den ersten Lebensjahren gelingt, ein Ich, Du oder Wir zu denken, zu fühlen, zu erleben? Die Resonanz, vornehmlich die Interaktion zwischen Säugling und vor allem der Mutter, bildet den Anfang. Darüber entsteht auch die Spielfähigkeit, wie sie etwa Armin Krenz beschreibt. Und über das freie Spiel und die verschiedenen Interaktionsspiele lernen Kinder sich und den anderen einzuschätzen.

Komplexere Fähigkeiten in der Grundschulzeit

Komplexere Fähigkeiten im Verständnis anderer entwickeln sich laut einer Studie von Christopher Osterhaus, Juniorprofessor für Entwicklungspsychologie im Handlungsfeld Schule in Vechta und Susanne Koerber, Professorin für Frühe Bildung der Pädagogischen Hochschule Freiburg, erst im Laufe der Grundschulzeit. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse bereits in der renommierten Forschungszeitschrift „Child Development“.

Die Studie haben Osterhaus und Koerber an 161 Kindergarten- und Grundschulkindern über einen Zeitraum von fünf Jahren durchgeführt. In dieser Zeithaben sie in relativ kurzen Intervallen eine hohe Anzahl an Test-Aufgaben durchgeführt.

„Wir haben die Kinder zum ersten Mal im Kindergarten interviewt und sie dann bis ans Ende der Grundschulzeit begleitet“, erläutert Osterhaus. „Dabei haben wir jährlich ihre Kompetenzentwicklung gemessen. Auf diese Weise lässt sich sehr genau verfolgen, wann Entwicklungsschritte auftreten und wovon diese abhängen.“

Aufgaben als Verständnistest

Die Kinder bekamen von den Wissenschaftlern dabei Test-Aufgaben. Darunter die Geschichte über ein Mädchen, das eine Überraschungsparty versehentlich ausplaudert. „Knapp 90 Prozent der Neunjährigen erkennen, dass solche Situationen nicht auf Absicht beruhen2, sagt Osterhaus. „Diese Fähigkeit scheint auf einen relativ simplen Prozess zurückzugehen, bei dem Kinder das, was in ihrem sozialen Umfeld passiert, mehr oder minder automatisch wahrnehmen und bewerten. Und je mehr Erfahrung sie hierin haben, desto besser scheint diese Bewertung zu funktionieren.“

Missverständnisse verstehen lernen

Osterhaus und Koerber schließen aufgrund ihrer Forschungsergebnisse darauf, dass Kinder rund um das erste Schuljahr verstehen, dass es zwischen Menschen zu Missverständnissen kommen kann. Darüber hinaus folgern sie, dass diese Einsicht eine wesentliche Grundlage für viele weitere Entwicklungen in der Fähigkeit, andere zu verstehen, ist. Zu den komplexen Fähigkeiten, die sich im Verlauf der Grundschule entwickeln, gehört Sarkasmus zu erkennen, die Gefühle anderer an den Augen abzulesen, sich in die Gedankenwelt eines anderen zu versetzen und einen Fauxpas auszumachen. All dies sind wichtige sozial-kognitive Fähigkeiten, die als „intuitive Psychologie“ beschrieben werden.

Intelligenz und Erfahrung entscheiden über Entwicklung

Andere Fähigkeiten scheinen sich aber nicht in erster Linie durch ein Mehr an Erfahrung zu entwickeln. So hängt das Verständnis davon, dass zwei Leute dieselbe Information anders interpretieren, nicht mit dem Alter zusammen, mit dem einzelne Kinder den grundlegenden Meilenstein im Verständnis anderer erlangen. Nur rund 60% der Neunjährigen lösten eine entsprechende Aufgabe korrekt. Stattdessen hing diese Fähigkeit mit der Intelligenz der Kinder zusammen: Zum Ende der Grundschule schnitten intelligentere Schülerinnen und Schüler bei den entsprechenden Tests besser ab. 

Das lässt vermuten, dass sich dieses Verständnis nicht allein mit der Erfahrung entwickelt, wie etwa das Erkennen einer sozialen Regelübertretung. Sondern dass Kinder sich explizit hiermit auseinandersetzen müssen. Sie müssen also lernen, die komplexe Funktionsweise unseres Denkens zu verstehen und zudem eine Theorie darüber entwickeln, nach welchen Mustern komplexe soziale Interaktionen ablaufen.

Psychologische Grundausbildung in Familie und Schule notwendig

Zu Beginn der Grundschulzeit sind laut Studienergebnissen grundlegende Fähigkeiten vorhanden, vieles aber entwickelt sich noch. Lehrkräfte und Eltern müssen also oft Geduld haben, da die Kinder längst nicht alles verstehen. Osterhaus konkretisiert: „Einige Aspekte entwickeln sich aller Wahrscheinlichkeit nach ohne großes Zutun, allein durch Erfahrung. Entscheidend ist also, dass Kinder diese Erfahrung machen können – und das ist ja auch durch Corona aktuell oft nur begrenzt der Fall. Bei anderen Aspekten sollte man hingegen explizit fördern.“ 

Für Lehrkräfte wie Eltern sei es deshalb wichtig, mit Kindern entsprechende Situationen durchzusprechen, ihnen zu erklären, warum die Beteiligten Bestimmtes denken und es an die Erfahrungswelt der Kinder rückkoppeln. „Auch sollten wir Kindern die passenden Wörter beibringen“, sagt Christopher Osterhaus. „Wenn ein Grundschulkind an der Augenpartie einer Person nicht ablesen kann, dass diese Person durchsetzungsfähig ist, liegt dies wahrscheinlich daran, dass es ‚keinen Begriff‘ von diesem Zustand hat.“

„Wir haben festgestellt, dass Kinder bis zum Ende der Grundschulzeit viel Potenzial haben zur Entwicklung von sozial-kognitiven Fähigkeiten. Die Persönlichkeitsentwicklung ist ein Lernziel von Schule. Und gerade bei Konflikten ist es wichtig, dass Kinder über die nötigen Tools verfügen, um sich in andere hineinzuversetzen und Konflikte so effektiv zu lösen. Es gibt gute Trainingsprogramme, die man leicht in der Grundschule implementieren könnte. Gerade jetzt im Verlauf der Corona-Pandemie wäre dies vielleicht ein wertvoller Ansatz.“ 

Ausblick

An der Universität Vechta laufen in Kooperation mit anderen Hochschulen weitere Studien zum tieferen Verständnis unserer „intuitiven Psychologie“. In einer Zusammenarbeit mit der Brock University (Kanada) führen die Wissenschaftlern Sandra Bosacki und Christopher Osterhaus eine systematische Reviewstudie zur optimalen Erfassung komplexer Fähigkeiten im Verständnis anderer durch. 

Auch die Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Freiburg wird fortgeführt: Die Wissenschaftlern Koerber und Osterhaus erforschen die Frage, ob es sich bei der Fähigkeit, andere zu verstehen, tatsächlich um eine einzelne Kompetenz handelt, so wie sie bisher betrachtet wird. Bisherige Ergebnisse deuten darauf hin, dass es sich dagegen um ein komplexes Zusammenspiel aus Fähigkeiten handelt. Woraus setzt sich also die Fähigkeit andere zu verstehen zusammen und wann entwickeln sich die einzelnen Bestandteile?