Inklusion: kaum Engagement seitens der Politik

Bildungsgewerkschaft GEW zum Europäischen Protesttag zur Gleichstellung der Menschen mit Behinderung

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mahnt den Bund, mehr Verantwortung für die Inklusion in der Bildung zu übernehmen. „Statt immer nur auf die Verantwortung der Bundesländer zu verweisen und diesen Flickenteppich zu dulden, schlagen wir vor, eine Enquete-Kommission des Bundestags einzurichten. Diese soll Ziele und Wege für eine menschenrechtskonforme Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) erarbeiten“, sagte Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied Schule, mit Blick auf den heutigen Europäischen Protesttag zur Gleichstellung der Menschen mit Behinderung. „Die schulische Inklusion ist ins Stocken geraten, in einigen Bundesländern sogar rückläufig. 14 Jahre nach der Ratifizierung der UN-BRK durch die Bundesregierung kann man das nur als skandalös bezeichnen.“

Mangel an Zielsetzungen, Maßnahmen, politischer Steuerung, politischem Willen, konkreten Erkenntnissen und Ressourcen

„Wir brauchen einen Pakt für Inklusion!“ appellierte Bensinger-Stolze an die Politik. Sie griff damit einen Vorschlag des Deutschen Instituts für Menschenrechte von Ende 2022 auf. In seinem jüngsten Menschenrechtsbericht zu Deutschland hatte das Institut eine länderübergreifende Gesamtstrategie angemahnt und entsprechende Grundgesetzänderungen sowie einen Bildungsstaatsvertrag zwischen Bund und Ländern gefordert. „Es mangelt an Zielsetzungen, überprüfbaren Maßnahmen, politischer Steuerung, politischem Willen, konkreten Erkenntnissen und vor allem an Ressourcen für Inklusion. Das muss ein Ende haben, wenn wir uns international nicht weiterhin blamieren wollen“, betonte das GEW-Vorstandsmitglied.

Deutschland verstößt gegen Artikel 24 der UN-Konvention

„Deutschland verstößt als Vertragsstaat gegen Artikel 24 der UN-Konvention, mit dem sich die Staaten auf ein Monitoring und eine entsprechende Datenerhebung verpflichtet haben. Aber auch insgesamt kommt eine Reihe von Bundesländern der völkerrechtlichen Verpflichtung, das Schulwesen inklusiver zu gestalten, nicht oder nur unzureichend nach. Dabei gibt es positive Beispiele wie die Stadtstaaten oder Schleswig-Holstein, die zeigen, in welche Richtung es gehen kann – auch wenn es selbst hier noch Luft nach oben gibt“, unterstrich Bensinger-Stolze. Die Exklusionsquote, also der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die weiterhin auf Sonderschulen gehen müssen, sei im Bundesdurchschnitt kaum gesunken, in manchen steige er sogar. Auch das Elternwahlrecht der Schulform für die Kinder führe nicht dazu, Inklusion zu fördern, sondern zementiere das Sonderschulwesen eher. „Ein echtes Wahlrecht setzt die gleichwertige Ausstattung von allgemeiner Schule und Sonderschule voraus. Gleichwertige Lebensverhältnisse und Bildungschancen zu erreichen, setzt bundesweite Kriterien und eine Gesamtstrategie voraus“, sagte Bensinger-Stolze.

Das allgemeine Schulsystem muss transformiert werden

„Die Zahl der Sonderschulen zu reduzieren, ist das eine. Andererseits muss aber auch das allgemeine Schulsystem so transformiert werden, dass sich inklusive Bildung barrierefrei und diskriminierungsfrei entwickeln kann. Denn eins ist klar: Das gegliederte Schulsystem mit der frühen Selektion der Kinder auf verschiedenwertige Schulformen ist eine der hartnäckigsten Barrieren für die Inklusion“, hob die Gewerkschafterin hervor. Alle Schulen müssten sich zu Lernorten weiterentwickeln, in denen alle Kinder und Jugendlichen in ihrer Unterschiedlichkeit willkommen sind und individuell gefördert werden. Positive bundespolitische Akzente wie das Startchancenprogramm der Bundesregierung für benachteiligte Schulen müssten konzeptionell und steuerungspolitisch viel stärker mit diesen Dimensionen der Schulentwicklung verknüpft werden, um nicht als „sozialer Notnagel“ zu enden.

Quelle: Pressemitteilung GEW




Schulbox „Nummer gegen Kummer“ für junge Leute mit Behinderung

Jetzt von Lehrkräften an Förderschulen und Schulen des Gemeinsamen Lernens bestellbar

Die Beratungsangebote von „Nummer gegen Kummer“ bieten hilfesuchenden Kindern und Jugendlichen Unterstützung in allen Lebenslagen. Um die Angebote auch bei jungen Menschen mit Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel Blindheit oder Sehbehinderungen, bekannter zu machen und ihnen zu vermitteln, dass es gut ist, sich bei Sorgen und Problemen Hilfe zu suchen, hat Nummer gegen Kummer e.V. zusammen mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen sowie Verbänden, Kompetenzzentren und Selbsthilfevereinigungen für blinde und sehbehinderte Menschen die Materialien der aktuellen Schulbox weiterentwickelt.

Neben Infokarten und Flyern zu den Beratungsangeboten sind in jeder Box auch Stickerbögen und Armbänder mit Blindenschrift enthalten. Das beiliegende Kartenset mit Sorgenbeispielen ist Teil einer Unterrichtskonzeption zum Thema „Sorgen und Probleme“. Unter http://www.nummergegenkummer.de/materialien stehen die dazugehörige Handreichung mit zwei Unterrichtseinheiten sowie Arbeitsblätter für Lehrkräfte an Förderschulen und Schulen des Gemeinsamen Lernens zum kostenlosen Download zur Verfügung. Hier findet sich auch das Bestellformular für (Nach-)Bestellungen.

Die Schulbox wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.




Behindertenbeauftragte: „Kein weiterer Ausbau der Förderschulstrukturen“

Forderungspapier der Behindertenbeauftragten des Bundes und der Länder zur inklusiven schulischen Bildung

Die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern haben vor Kurzem in einem Forderungspapier dazu aufgefordert, die inklusive schulische Bildung zu stärken. Sie verweisen auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die seit 2009 in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes gilt. Daraus folgt, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf diskriminierungsfreie inklusive Beschulung haben.

Aktuelle Zahlen der Kultusministerkonferenz zeigen jedoch, dass das Menschenrecht auf inklusive Bildung in Deutschland noch immer nicht flächendeckend gewährt wird: Zwar besuchten von den 582.400 Schüler*innen, die im Jahr 2020 sonderpädagogisch gefördert wurden, rd. 56 Prozent eine Förderschule und rd. 44 Prozent eine allgemeine Schule. Der Anteil der Schüler*innen mit sonderpädagogischer Förderung bezogen auf alle Schüler*innen ist in den letzten Jahren jedoch insgesamt gestiegen. Das führt dazu, dass der Anteil der Schüler*innen, die eine Förderschule besuchen, seit Ratifizierung der UN-BRK kaum abgenommen hat: Sie lag im Jahr 2020 bei 4,3 Prozent.

Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung: „Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht, das Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen Teilhabe, Bildungs- und Aufstiegschancen ermöglicht. Im Jahr 2020 verließen mehr als 70 Prozent der Jugendlichen, die eine Förderschule besuchten, die Schule ohne Hauptschulabschluss. Mit ihrem Zögern beim Abbau der Förderschulen vergeuden viele Bundesländer Talente und Fachkräftepotenzial. In Zeiten akuten Fachkräftemangels können wir uns das auch volkswirtschaftlich nicht mehr leisten.“

Christian Walbrach, Behindertenbeauftragter des Landes Sachsen-Anhalt: „Artikel 24 der UN-BRK verpflichtet Deutschland dazu, ein inklusives Schulsystem sicherzustellen. Von der Erfüllung dieser Pflicht sind wir in mehreren Bundesländern jedoch weit entfernt. Leider müssen wir im Gegenteil eine nahezu ungezügelte Ausweitung von Sondersystemen und sonderpädagogischen Förderbedarfen beobachten. Das ist aus meiner Sicht eine Sackgasse, die Ohnmacht, Ignoranz, Unkenntnis oder auch Überforderung offenbart. Ich befürchte, ein Grund dafür ist auch der fehlende, krisenfeste bildungspolitische Wille. Wir müssen gemeinsam aufpassen, dass das Schulsystem auch angesichts der schwierigen Personalversorgung nicht vor Überlastung zusammenbricht. Die allgemeinen Schulen müssen wieder stärker in die Lage versetzt werden, ihrem Förderauftrag entsprechen zu können. Neben bedarfsgerechten materiell-technischen Ressourcen benötigen wir unter anderem eine stabile sonderpädagogische Grundversorgung der allgemeinen Schulen. Darüber hinaus muss man auch über gezielte Veränderungen des Schulsystems sprechen.“

Einige Bundesländer seien bei der Transformation zu einem inklusiven Schulsystem bereits auf einem guten Weg. Dass eine Reihe von Bundesländern ihrer gesetzlichen Verpflichtung, ein inklusives Regelschulsystem und die bildungspolitischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, nicht nachkomme, entspreche aus Sicht der Beauftragten jedoch einer grenzwertigen Fehlinterpretation föderalismusintendierter Gestaltungs- und Freiheitsrechte. Es bedürfe einer Ursachenforschung, warum es bundesweit zu einem Anstieg der Förderschüler*innen, insbesondere in den Bereichen der geistigen und der emotional-sozialen Entwicklung gekommen sei. Parallelstrukturen zwischen Förderschulbesuch und inklusiver Beschulung seien zugunsten letzterer konsequent abzubauen und weitestgehend aufzulösen. Ein Ausbau der Förderschulstrukturen und neuer Förderschulstandorte dürfe nicht erfolgen.

Im Einzelnen sind aus Sicht der Beauftragten folgende Schritte für eine erfolgreiche Transformation erforderlich:

  1. Hochwertige inklusive Bildung gewährleisten
  2. Transformation zügig und strukturiert voranbringen
  3. Unabhängige Förderdiagnostik, individuelle Förderplanung, erforderliche Nachteilsausgleiche und Hilfsmittel gewähren
  4. Inklusive Schulen mit qualifiziertem Personal bedarfsgerecht ausstatten
  5. Bauliche, technische und digitale Barrierefreiheit gewährleisten

Die komplette Erklärung finden Sie hier.




„Schluss mit der Einfalt – Es lebe die Vielfalt!“

Das Motto des Weltspieltages 2023 weist auf das Recht auf Inklusion hin

Das Motto des Weltspieltages am 28. Mai 2023 „Schluss mit der Einfalt – es lebe die Vielfalt!” weist auch auf das Recht auf „Inklusion“ hin. Es ist das Recht auf Teilhabe aller Menschen und insbesondere aller Kinder unabhängig von körperlichen und geistigen Fähigkeiten sowie kulturellen oder sozioökonomischen Hintergründen. Kommunen, Vereine, Initiativen und Bildungseinrichtungen sind aufgerufen, mit einer Aktion am Weltspieltag 2023 teilzunehmen und darüber hinaus für eine grundsätzliche Verbesserung der Rahmenbedingungen insbesondere für die gesellschaftliche Inklusion von Kindern einzutreten. 15 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention ist dies aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerkes mehr als überfällig.

Kinder haben ein Recht auf gemeinsames Spiel

„Für Kinder ist gemeinsames Spielen die natürlichste Sache der Welt – und sie haben nach den Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention auch ein Recht darauf. Inklusion zu gestalten, bedeutet für uns, Räume und Spielgelegenheiten zu schaffen, in denen die Teilhabe aller Kinder unabhängig von sozioökonomischen Hintergründen, Nationalität, Kultur, Alter, Geschlecht und persönlichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten stattfindet. Wir müssen also auch beim Spielen die Voraussetzungen dafür schaffen, jedem Kind gerecht zu werden. Barrieren können räumlicher, sprachlicher, informativer und finanzieller Natur sein. Um inklusives Spiel zu ermöglichen, sollten Spielräume so gestaltet sein, dass sie auf vielfältige Art und Weise von möglichst allen Kindern entsprechend ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse erreicht und genutzt werden können. Insbesondere für Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen sind klassische Spielplätze häufig nicht oder nur sehr eingeschränkt nutzbar – hier bedarf es eines generellen Umdenkens in der Planung und deutlich mehr Investitionen als bisher, sowohl bei Neubau als auch im Bestand“, betont Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes.

Teilhabe aller Betroffenen eingefordert

„Darüber hinaus dürfen ältere Kinder und Jugendliche bei der Planung von Spielräumen nicht länger ausgegrenzt werden – Kommunen müssen sich mehr Gedanken um jugendgerechte Aufenthaltsorte machen. Und auch die Konzentration vieler ärmerer Kinder in einem Stadtteil ist für die Kommunen eine Herausforderung und muss beachtet werden. Wichtig ist zudem, dass Kinder Aspekte ihrer Identität und die Vielfalt der Menschen im Spielzeug wiederfinden, wie zum Beispiel bei verschiedenen Hautfarbentönen zum Malen, Puppen mit Hilfsmitteln wie Brillen, Hör- und Gehhilfen oder der Darstellung von Personen, die nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuzuordnen sind“, so Hofmann weiter.

16. Weltspieltag

Der Weltspieltag 2023 wird deutschlandweit zum 16. Mal ausgerichtet. Zum Weltspieltag sind Schulen und Kindergärten, öffentliche Einrichtungen, Vereine und Nachbarschaftsinitiativen aufgerufen, in ihrer Stadt oder Gemeinde eine beispielgebende oder öffentlichkeitswirksame Aktion durchzuführen – egal ob Spiel-, Beteiligungs- oder Protestaktion. Denn der Aktionstag dient ebenso der Lobbyarbeit für das Recht auf Spiel gemäß UN-Kinderrechtskonvention. Die Partner sind vor Ort für die Durchführung ihrer Aktion selbst verantwortlich. Das Deutsche Kinderhilfswerk stellt umfangreiche Aktionsmaterialien zum Bewerben des Weltspieltages zur Verfügung. Weitere Informationen unter www.weltspieltag.de.

Quelle: Pressemitteilung Deutsches Kinderhilfswerk




Studie „Inklusive Bildung in Deutschland“ jetzt kostenlos herunterladen

Umfangreicher Bericht von Rackles über den Stand der Inklusion im Bildungssystem von Juli 2021

Vor 16 Jahren begründete die internationale Staatengemeinschaft mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention einen entsprechenden Veränderungsbedarf und löste damit einen Veränderungsprozess in Richtung eines inklusiven Schulsystems aus. 2009 erfolgte die Ratifizierung in Deutschland, und in allen 16 Schulgesetzen wurde der Wille zur inklusiven Bildung manifestiert.

Selbstverständlich hatte das alles einen guten Grund: Zum einen sollten nun endlich jene Strukturen ihr Ende finden, die darauf abzielen, Menschen mit Behinderung auszuschließen. Zum anderen stand hier aber auch der Wunsch nach einer inklusiven Gesellschaft als einer Gesellschaft, die alle Menschen gleich schätzt und ihnen einen offenen Zugang bietet.

Beharrungskräfte überwinden

„Deutschland gehört zu den Ländern, in denen sich historisch ein selektives Bildungssystem entwickelt hat. Es ist daher plausibel, dass die Hürden für die Transformation zu einem inklusiven Bildungssystem in Deutschland besonders hoch sind.“, beschreibt Mark Rackles die in seiner Studie „Inklusive Bildung in Deutschland“ die mangelnde Transformationsbereitschaft des Bildungssystems.

Auf 106 Seiten vergleicht er die Situation zwischen den verschiedenen Bundesländern auf Grundlage eines Kriterienkatalogs. Sein besonderes Augenmerk gilt jenen Kräften, die auf Exklusion beharren, und Transformation verhindern. Gleichzeitig verweist er auf notwendige Transformationsimpulse. Die Studie schließt mit acht Handlungsempfehlungen. Die letzte davon lautet: „Inklusionsbefürworter*innen müssen auf Exklusion gerichteten Abwehrstrategien offensiver als bisher entgegentreten und insbesondere an den organisatorischen Abwehrstrategien der Förderzentren, des Lehramts Sonderpädagogik und der Mindestgrößen politisch ansetzen.“

Für eine offene Gesellschaft

Rackles Studie ist eine detaillierte Analyse der aktuellen Situation des Transformationsprozesses zu einem inklusiven Bildungssystem. Darin findet sich Licht und noch mehr Schatten. Neben einem guten Überblick bietet sie auch ausgezeichnete Handlungsempfehlungen zu einem Bildungssystem, das allen Menschen den gleichen Zugang bietet. Seit Mai steht die Studie nun kostenlos zum Download bereit. All jene, denen eine offene Gesellschaft wichtig ist, sollten sie deshalb lesen. Hier geht es zur Studie:  https://rackles.com/wp-content/uploads/2022/05/Inklusionsstudie-Rackles-Consulting-2021.pdf




Das Kind will sich im Spiel die Welt aneignen

Ein Beitrag zur inklusiven Erziehung in Krippe und Kita

Impuls

Phantasie ist wichtiger als Wissen,
denn Wissen ist begrenzt.
Phantasie umkreist die Welt.

(Albert Einstein 1929, zit. n. Zimpel 2019, S. 31)

Diese Erkenntnis des bekanntesten Physikers der Neuzeit, trifft besonders für das Kind zu: Das Kind will von Beginn an seine Phantasie und seinen Forschergeist zusammen mit anderen Menschen entwickeln.

Darauf machen auch Grundgedanken, Befunde und Beobachtungen zum Spiel aufmerksam. In Kooperation mit dem Facharzt für Kinderheilkunde sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie Gerhard Neuhäuser, erkenne ich besonders für die Früh- und Elementarpädagogik:

  • Spiel ist eine ureigene Lebensform.
  • Spiel ist der Wille zum Leben, den jeder Mensch in der tiefe seines Herzens pflegen will.
  • Durch rhythmische und musische Spiele entstehen Resonanzräume, die auch das scheinbar unerreichbare Kind zum gemeinsamen Weiterschreiten einladen.
  • Im Spiel des Kindes und des Erwachsenen tritt eine Willenskraft hervor.
  • Spiel ist Dialog. Das Ich des Einen entwickelt sich am Du des Anderen. So kann in kleinen Lebenseinheiten eine einladende Welt gestaltet werden (Klein 2018, S. 134 ff., Neuhäuser/Klein 2019, S. 152 ff.):
  • Und das Kind baut sich in Kommunikation und Kooperation mit anderen Menschen seinen inneren Bauplan auf, der nach der Reformpädagogin Maria Montessori göttlichen Ursprungs ist (Klein 2019, S. 151).

Im Spiel entwickelt das Kind von Beginn an heilende (ganz-machende) Kräfte

Im vorgeburtlichen Leben ist das Kind noch gänzlich mit seiner Umgebung verwachsen. Daher können traumatisierende Erfahrungen der Mutter während der Schwangerschaft in die Ausbildung des kindlichen Organismus eingreifen. Buchstäblich alles, was die Mutter während dieser Zeit erlebt, wie Stressbelastung, Konflikte mit Partner oder Umfeld, insbesondere auch die existentielle Angst vor möglichem Verlassenwerden, beeinflussen den mütterlichen Stoffwechsel und können im Extremfall mit nachhaltigen Beeinträchtigungen auf das sich entwickelnde Kind wirken.

Nach der Geburt beginnt ein längerer Prozess, in dem das Kind durch phantasiereiches Spiel sein Inneres mit dem Äußeren seiner Umgebung in ein ausgleichendes und harmonisches Verhältnis bringen will. Offenbar liegen im Spiel heilende Kräfte. Das erkannte der Pädagoge und Psychotherapeut Hans Zulliger schon 1952 (Zulliger 2017).

In diesem Wechselspiel entwickelt sich das Kind, sofern es eine „Feinfühligkeit von Eltern und ErzieherInnen“ erlebt (Staatsinstitut für Frühpädagogik 2019), die ihm seine Spielerfahrungen ermöglichen. Hier erlebt es: Ich bin nicht allein! Ich habe Menschen, die bleiben bei mir auch dann, wenn es (noch) keine unmittelbare Lösung des Problems gibt oder zu geben scheint.

In diesem Miteinander von Kind und Bezugsperson(en) bildet sich ein ganz-machender Resonanzraum aus, in dem panische Angst und/oder schwer nachvollziehbare herausfordernde Verhaltensweisen positiv beeinflusst werden. Durch diese wechselseitigen Resonanzerfahrungen erlebt das einst gefährdete Kind und sein(e) Begleiter, dass diese Momente gemeinsam ausgehalten und erfolgreich überstanden werden (Soldner 2019, S. 60 ff.). Ein vertiefter Einblick in die Wissenschaft ist geboten.

Spielforschung hebt den Eigencharakter des Spiels hervor

Forschendes Denken beschreibt das Spiel als „Interaktion mit Objekten und Personen auf verschiedenen Umweltebenen, in deren Verlauf personal-soziale, räumlich-materielle sowie temporale Bestandteile der Umweltebenen eine fiktive Bedeutung erhalten und so zur Spielumwelt transformiert werden“ (Heimlich 2018, S. 80). Heimlich versteht das Spiel als ganzheitliche Tätigkeit, die in die Lebensumwelt eingebettet ist und die Aneignung der Welt ermöglicht. Er weist mit Nachdruck darauf hin, dass Eingriffe in das Spiel des Kindes den Charakter dieser Lebensgrundform zerstören (Heimlich 2019, S. 21 ff.).

Durch Gestaltung der Spiel-Lernprozesse werden allen Kindern neue Teilhabechancen ermöglicht. Das aus den veranlagten Kräften sich entwickelnde Spiel wirkt wie ein „Feuerwerk für die grauen Zellen im Gehirn“ (Hüther/Quarch 2018, S. 15). Spiel ist für alle Kinder wie der Humus, wie der Nährboden für nachhaltige individuelle und inklusive Prozesse in der Krippe, KiTa und Grundschule. Darauf machen besonders der Neurobiologe Gerald Hüther und der Philosoph Christoph Quarch aufmerksam.


Therapeutische Erziehung ist gelebte Inklusion

Ein Arzt und ein Pädagoge berichten gemeinsam von langjährigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Anhand zahlreicher Fallbeispiele wird deutlich, wie Kinder durch therapeutische Erziehung Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit von Beginn an erleben und wie sie von der Entwicklungsunterstützung persönlich profitieren können. 

Prof. Dr. Gerhard Neuhäuser/Prof. Dr. Ferdinand Klein
Therapeutische Erziehung
Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule

Burckhardthaus
Broschur, 168 Seiten
ISBN: 9783963046056
19,95 Euro


Jedes Kind spielt aus seinem Frei-Sein sein Spiel

Beide Forscher, Hüther und Quarch, bestätigen aus biologischer und philosophischer Sicht das bekannte Wort des Dichters Friedrich Schiller, das wir im 15. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen finden: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Der Sinn dieser Aussage gewann an Tiefe, als die Hirnforschung entdeckte, dass kleine Kinder über viel mehr neuronale Verschaltungen im Gehirn verfügen als Erwachsene. Diese Erkenntnis zeigt auch, dass kein Kind dem anderen gleicht; nicht einmal eineiige Zwillinge.

Jedes Kind spielt aus seinem Frei-Sein sein eigenes Spiel und baut so seine ganz eigene Welt, sein individuelles Weltbild auf. Grenzt das nicht an ein Wunder, gerade dann, wenn Menschen sich untereinander verstehen, sich letztendlich – auch im Streit – auf bestimmte Tatsachen und Regeln einigen und am Ende diese Unterschiede als Bereicherung erleben und die Würde des Anderen achten lernen? Sie erleben Freiheit in mitmenschlicher Verbundenheit. Diese Weisheit des Dichters und Erkenntnisse der Forscher lehren die beiden Beispiele aus Ungarn (siehe Kapitel: Erfahrungen bei Kindern mit Kommunikationsproblemen).

Freiheit und Verbundenheit zeichnen das Spiel für die inklusive Erziehung aus

Spiel schafft Gelegenheit zum Miteinander-Tätigsein, zur Partizipation. Im Spiel erleben und achten sich die Kinder mit und ohne Behinderung als gleichwertige Partner. Sie versuchen aus der Beziehung heraus mit ihren jeweiligen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse etwas Gemeinsames zu gestalten. Sie spielen miteinander, lernen sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen und können gemeinsam neue Perspektiven entwickeln. Insofern sprechen Hüther und Quarch von „Ko-Kreativität im Spiel“, weil eben aus der sozialen Beziehung das gemeinsame Spielen-Lernen gelingt und etwas Neues entstehen kann (Hüther/Quarch 2018, S. 12).

Wir können festhalten: Das vom Erwachsenen zu verantwortende Spiel ist besonders geeignet inklusive Momente hervorzubringen, die wir als Kern der Inklusion verstehen. Die Kinder erleben, dass der andere Mensch nicht über das gleiche Können und Wissen verfügt, wie sie selbst. Und genau diese Erfahrung ist für phantasiereiche und kreativ-forschende Kinder ein wichtiges Schlüsselerlebnis, bei dem die aufmerksam beobachtende und feinfühlende pädagogische Fachkraft eine entscheidende Rolle spielt (Zimpel 2019, S. 35).

Den „Spielverderbern“ die rote Karte zeigen

Das Kind will in demokratische Spielregeln hineinwachsen

Die beiden Forscher Hüther und Quarch versäumen nicht auf „Spielverderber“, nämlich auf die Vermarktung und Kommerzialisierung des Spiels aufmerksam zu machen, die den Grundcharakter des Spiels, nämlich seine Freiheit und Gebundenheit, zunehmend beeinträchtigen und das Spiel in seinem Eigencharakter gefährden. Hier wird die Lebensgrundform Spiel als Übungsfeld für das Miteinander der vielen unterschiedlichen Menschen und damit der Grundgedanke der Inklusion zerstört, den gerade kleine Kinder überhaupt nicht wollen: Kleine Kinder wollen allein und zusammen mit anderen Kindern im Spiel kreativ und phantasievoll ihre eigene Wirklichkeit, ihr eigenen Denken und Handeln entwickeln (Zimpel 2016).

Im Spiel sieht das Kind Möglichkeitsräume seiner Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit. Es will aus eigener Initiative in demokratische Spielregeln hereinwachsen, auch wenn diese zunächst unüberwindbar erscheinen. Das Spielen als ureigene Lebensform des Kindes hat demokratischen Charakter und überwindet die Herrschaftsform, die Form des machtvollen Regierens und (Be)Herrschens (Klein 2018, S. 60).


Pädagogisches Wirken beginnt bei der pädagogischen Fachkraft

Inklusion ist eine der größten und wichtigsten Herausforderungen, vor denen Pädagoginnen und Pädagogen heute in der Praxis stehen. Pädagogisches Wirken beginnt bei der pädagogischen Fachkraft und so beginnt auch Prof. Dr. Ferdinand Klein bei seinem eigenen Werdegang als Heilpädagoge und beim Kinderarzt und Pädagogen Janusz Korczak, um sich dem Begriff und der Aufgabe des Heil- und Sonderpädagogen zu nähern. Zudem bietet das Buch vielfältige Fallbeispiele, konkrete Tipps und Hilfestellungen zum Umgang mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen, praxisgerecht, leicht verständlich und direkt umsetzbar.

Prof. Dr. Ferdinand Klein
Inklusive Erziehung in der Krippe, Kita und Grundschule
Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks

Burckhardthaus
Broschur, 168 Seiten
ISBN/EAN: 9783963046018
19,95 Euro


Das Kind will durch das Spiel Kontrolle über die äußere Wirklichkeit erlangen, die es ohne Spiel nicht erreicht. Seine Phantasie und Kreativität ermöglicht ihm das Aushandeln des „So-tun-als-Ob, das Vereinbaren des Spielcharakters einer konkreten Handlung“ (Heimlich 2019, S. 21).

Sein Spiel ist intrinsisch motiviert. Es entsteht aus sich selbst heraus, weckt Freude und Sinn, Neugierde, Wissbegierde und Achtsamkeit. Auf diesem Fundament entfalten die Kinder durch ihr freies Spiel (Freispiel) ihre Persönlichkeit im sozialen Miteinander.Das kann die Erziehung nicht vorgeben, nicht diktieren. Doch der Einzelne kann durch sein Beispiel die Kinder auf demokratische Spielregeln aufmerksam machen, ihnen Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit ermöglichen und sie so zu menschengerechten Regeln führen.

Auch Erwachsene brauchen „Zeit zum freien Spiel“

Um diese Grundtatsache des Lebens in der Lebensgrundform Spiel in seinen tieferen Zusammenhängen zu erfahren, brauchen auch Erwachsene Zeit zum Spielen. Sie können beim Begleiten viel falsch machen, wenn sie ohne Hineinversetzen in das einzelne Kind ihre feinfühlende Haltung in die Kinderseele vermissen lassen. Deshalb brauchen sie „Zeit zum freien Spiel“ (Zimpel 2019, S. 36), um sich selbst und das Kind besser zu beobachten und als hilfreiche Vorbilder (Modelle) für die Kinder da-zu-sein und „sich auf das kindliche Erleben einzulassen, die Perspektive des Kindes zu übernehmen und die Welt mit den Augen des Kindes zu betrachten“ (Staatsinstitut für Frühpädagogik 2019, S. 12).

Beispiel: Kinder sind wie ein Spiegel für die pädagogische Fachkraft

Das bringt der Bericht einer 18-jährigen Praktikantin einer inklusiven Einrichtung auf den Punkt, die nach einem Jahr Arbeit erkannte: „Das Praktikum machte mir klar, dass besonders die Kinder, mit denen ich spielte und lernte, wie ein Spiegel für einen selbst sind. Wenn ich mit schlechter Laune zur Arbeit kam, war es schon vorprogrammiert, dass es ein super anstrengender Tag würde. Das spürten die Kinder und es war viel anstrengender als wenn ich mit Spaß und Motivation zur Arbeit kam“. Diese Selbstbeobachtung bestätigte Friedrich Fröbel, Begründer des Kindergartens. Fröbel sagte schlicht und einfach: „Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts“ (Klein 2019, S. 133).

Anregungen für das Beobachten

Durch aufmerksames Beobachten das Spiel wahrnehmen

In ihrem ersten Kinderhaus (Case dei Bambini) im Elendsviertel „San Lorenzo“ in Rom, das am 6. Januar 1907 eröffnet wurde, beobachtet Maria Montessori ein etwa dreijähriges Mädchen, das in einem Zustand tiefer Konzentration die forschenden Spielübungen mit einem Zylinderblock über vierzigmal wiederholte, ohne sich auch nur im Geringsten von seiner Umgebung ablenken zu lassen.

Montessori beschreibt das Phänomen folgendermaßen: „Der Ausdruck des Mädchens zeugte von so intensiver Aufmerksamkeit, dass er für mich eine außerordentliche Offenbarung war. Die Kinder hatten bisher noch nicht eine solche auf einen Gegenstand fixierte Aufmerksamkeit gezeigt. Und da ich von der charakteristischen Unstetigkeit der Aufmerksamkeit des kleinen Kindes überzeugt war, die rastlos von einem Ding zum andern wandert, wurde ich noch empfindlicher für dieses Phänomen. Ich hatte 44 Übungen gezählt; und als es endlich aufhörte, tat es dies unabhängig von den Anreizen der Umgebung, die es hätten stören können; und das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf.“ (zit. n. Klein 2019, S. 155)

Montessoris aufmerksame und feinfühlige Beobachtung lehrt: Das Kind versenkt sich mit höchster Konzentration in sein forschendes Spiel bei gleichzeitiger Loslösung von der Umgebung. Diese „Polarisation der Aufmerksamkeit“, die als Montessoriphänomen in die Geschichte einging und der zentrale Begriff der Reformpädagogik ist, kann nicht von außen hergestellt werden, sondern ergibt sich aus der inneren Disposition des Kindes und der Anregung durch den Gegenstand, den sich das Kind durch seine veranlagte Willenskraft aneignen will (Klein 2019, S. 154 f.). Es kommt auf die Qualität des Beobachtens an.

Die Qualität des Beobachtens achten

Bei der Erziehung ist also ein aufmerksames und feinfühliges Beobachten geboten, denn Eingriffe können schnell zum Ende des schöpferischen Gestaltungsprozesses des kleinen Forschers führen. Die beobachteten Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Leistungen und Schwächen, Fehler und Misserfolge in den verschiedenen Situationen sind so einfach wie nur möglich zu beschreiben, im Team immer wieder zu besprechen und kritisch zu hinterfragen, um dadurch Verzerrungen und Einseitigkeiten beim Deuten (Interpretieren, Urteilen) von Spielsituationen zu begegnen. Hilfreich können Videoaufnahmen sein, die gemeinsam analysiert werden.

Ebenso sollten Spielthemen und Spielregeln im Spieltagebuch und in Spielprotokollen über mehrere Wochen oder gar Monate mit Datum und Ort festgehalten werden, um sich dadurch noch besser in die Kinder hineindenken zu können und sich so mit der kindlichen Spielwelt vertrauter zu machen. Auch die einbezogenen Spielmittel und Spielräume sind zu beachten, ebenso die mimischen, gestischen und sprachlichen Äußerungen des individuellen Kindes und der Kinder der Gruppe. All diese Beobachtungen sind in den Teamberatungen zu analysieren (Näheres in Krenz 2020).

Erfahrungen bei Kindern mit Kommunikationsproblemen

Wissenschaftler und Praktiker aus fünf europäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Portugal, Schweden und Ungarn) haben gemeinsam drei Jahre in einem Projekt die Bedingungen der frühen inklusiven Erziehung erforscht. Das Team, das durch Erfahrungen in verschiedenen KiTas der fünf Länder seine Erkenntnisse gewann, kommt zu folgendem Ergebnis: Gute pädagogische Arbeit in heterogenen Gruppen ist nichts anderes als allgemein gute pädagogische Arbeit, die bei der Bereitstellung von Spiel- und Lernmöglichkeiten oder bei angeleiteten Aktivitäten die Verschiedenheit der Kinder im Blick hat.

Das Team erkennt:

  • Kindern ist in pädagogisch arrangierten Situationen zu ermöglichen, dass sie individuell auf ihrem Lernniveau, in ihrem Tempo und in ihrem eigenen Stil sich mit der Welt auseinandersetzen. Damit dies gelingt, brauchen einzelne Kinder, insbesondere jene mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen, die feinfühlende Begleitung eines Erwachsenen.
  • Es ist eine wesentliche Aufgabe von Fachkräften in heterogenen Gruppen, Kinder bei der Suche nach Anknüpfungspunkten, bei ihren Beziehungen und Kooperationen zu unterstützen, damit sie eine grundlegende Akzeptanz von Verschiedenheit entwickeln können.
  • Das alles realisiert sich in den alltäglichen Tätigkeiten der Kinder

– beim gemeinsamen freien Spiel,
– beim pädagogisch angeregten Spiel,
– beim Kreisgespräch,
– beim Dialog zwischen den pädagogischen Fachkräften,
– bei Projekten ästhetischer und musischer Bildung,
– bei Festen und Feiern in der Kindergruppe (Krenz/Klein 2012, S. 152 ff.).

Gemeinsame Spielsituationen ermöglichen

Gerade bei rhythmischen Sing- und Bewegungsspielen fühlt sich das Kind mit Kommunikationsproblemen eingeladen mitzumachen. Durch diese Spiele werden Brücken zum unerreichbaren Kind gebaut (Klein 2021, S. 123 ff.)

Beispiel 1

In einem inklusiven Kindergarten in Ungarn schaukeln Kinder auf der Wippe. Sie verlassen diese, wenn Emma mitschaukeln will. Die Erzieherin ermahnt die Kinder nicht, dass sie Emma vom Spiel nicht ausschließen sollen, sondern sie zeigt sich sehr erfreut, nun Emma beim Schaukeln Gesellschaft leisten zu können. Bald sammeln sich einige Kinder um die Erzieherin. Sie wollen mit Emma schaukeln. Hier ist die Erzieherin ein nachahmenswertes Vorbild. Sie zeigt, wie man mit dem Kind zusammen etwas tut und wie sich die Kinder aufeinander einlassen können.

Beispiel 2

Sigrid (fünf Jahre), ein Kind mit Autismus, wurde vor drei Wochen in die Gruppe aufgenommen. Die Kinder warten auf das Mittagessen und versammeln sich auf dem Teppich, während Siegrid ziellos im Raum umhergeht. Die Erzieherin initiiert das Bewegungsspiel „Meine Hände klatschen. Meine Hände tanzen […].“ Sie singt (mal leise, dann laut) und bewegt im Rhythmus (mal langsam, dann schnell) ihre Hände. Die Kinder schauen und beginnen die Bewegungen zu imitieren. Sigrid schaut dem Geschehen zu, bewegt sich aber weiter im Raum und dreht sich um sich selbst. Ab und zu begibt sie sich kurz zu den Kindern und läuft dann wieder weg. Bald beobachtet sie das Bewegungs- und Singspiel der Gruppe und setzt sich auf den Teppich. Zaghaft versucht Sigrid die Bewegungen zu imitieren. Und zum Schluss kann sie die jeweils letzten Worte des Liedes leise mitsingen (Krenz/Klein 2012, S. 182). Dank der feinfühlenden Haltung der Erzieherin werden durch rhythmische Spielübungen Brücken zu dem schier unerreichbaren Kind Sigrid gebaut, auf denen sich Mensch-und-Mensch im Spiel begegnen.

Zusammenfassende Forschungsergebnisse

  • Spiel ist eine eigene ganz ursprüngliche Gestaltungsform des Lebenswillens von Anfang an.
  • Das Kind bildet durch freies Spiel sein Nervensystem, seine Hirnreifung und damit seine geistig-seelisch-körperlichen Entwicklung.
  • Das Kind kann bei diesem Entwicklungsprozess früheste traumatische Erlebnisse freispielen, wandeln und überwinden.
  • Und es lernt die Schwächen des Anderen zu akzeptieren. Darüber hinaus entwickelt es die Bereitschaft die eigenen Schwächen durch die Stärken des Anderen ausgleichen zu lassen.
  • In der frühen Kindheit formt sich jedes Gehirn auf seine ganz persönliche Art und Weise nachhaltig. So entstehen bis ins hohe Alter hinein verschiedene Gehirne, so verschieden wie Schneeflocken. Freies selbstgestaltetes Spiel ist das Gebot der Stunde, um die Volkskrankheit heute, nämlich den Stress durch Überforderung und damit das Burnout-Syndrom oder den Stress durch Unterforderung und damit das Boreout-Syndrom schon von vorherein in die Schranken zu weisen.
  • Die wohl entscheidende Wirkung des Spiels besteht darin, dass Erwachsene und Kinder lernen, andere Menschen und sich selbst besser einzuschätzen und zu verstehen. Hier „durchspielen“ sie ihre eigenen möglichen Entwicklungen.

Fazit für die Spielpraxis

  • Notwendig ist eine feinfühlende spielbegleitende pädagogische Fachkraft, die sich in das Kind soweit wie möglich hineinversetzen und mit ihm wie in einem Resonanzraum kommunizieren und kooperieren kann.
  • Diese Fachkraft ist ein gebildeter Mensch: Sie sieht sich, den anderen Menschen und den ihm umgebenden Lernraum vom Standpunkt des spielenden Kindes und gestaltet Möglichkeitsräume für seine Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit und damit für die Demokratie als Lebensform.
  • Zum Verständnis inklusiver Spielprozesse ist das einfühlende Einlassen des sich bildenden Erwachsenen auf die inklusive Spielwelt des Kindes/der Kinder eine wesentliche Voraussetzung.
  • Dadurch wird auch ein vorschnelles Be- und Verurteilen verhindert und der gebildete Spielgefährte gibt dem Kind den nötigen Halt, die nötige Sicherheit.
  • Im phantasiereichen und kreativ-forschenden Spiel sammeln die Kinder wichtige Erfahrungen. Sie lernen Emotionen wie Freude, Wut, Stolz und auch Enttäuschungen zu inszenieren und zu kontrollieren. Und sie lernen in ihrer ureigenen Lebensgrundform Spiel ihre Welt zusammen mit anderen zu gestalten, loten Grenzen ihres Könnens, ihres Denkens und Fühlens aus. Sie werden selbstbewusster. Dadurch stellen sie grundlegende Weichen für die Gestaltung ihres späteren Lebens.
  • Kinder und Erwachsene lernen ihr Leben wie ein Spiel zu gestalten und erhalten zudem ein Geschenk: Sie lernen im Spielen „viel schneller und leichter“ (Zimpel 2019, S. 35).

Literatur

Heimlich, U. (2018): Einführung in die Spielpädagogik. 3. Auflage. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn.

Heimlich, U. (2019): Spiel als Inklusion – Inklusion als Spiel. In: Zeitschrift behindete.menschen, Heft 6, S. 21-28.

Hüther, G./Quarch, Ch. (2018): Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als Funktionieren ist. Hanser, München.

Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks. München, Burckhardthaus.

Klein, F. (2019): Inklusive Erziehungs- und Bildungsarbeit in der Kita. Heilpädagogische Grundlagen und Praxishilfen. 3. Auflage. Bildungsverlag EINS, Köln.

Klein, F. (2021): Bewegung, Spiel und Rhythmik. Drei unverzichtbare Elemente in der inklusiven Kita-Praxis. Dortmund, modernes lernen.

Krenz, A. (2020): Beobachtung und Entwicklungsdokumentation im Elementarbereich. 2. Auflage. Kulmbach, Fachverlag.

Krenz, A./Klein, F. (2012): Bildung durch Bindung. Frühpädagogik: inklusiv und beziehungsorientiert. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

Neuhäuser, G./Klein, F. (2019): Therapeutische Erziehung. Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule. München, Burckhardthaus.

Soldner, G. (2019): Trauma bei Menschen mit Assistenzbedarf. In: Jahresbericht Brachenreuthe 2019 (Camphill Schulgemeinschaft Brachenreuthe, 88662 Überlingen), S. 60-62.

Staatsinstitut für Frühpädagogik (2019): Feinfühligkeit von Eltern und ErzieherInnen. Herausgeber BKK Landesverband Bayern, Züricher Str. 25, 81476 München.

Zimpel, A. F. (2016): Lasst unsere Kinder spielen! Der Schlüssel zum Erfolg. 4. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

Zimpel, A. F. (2019): Spiel und Förderung. In: Zeitschrift behindete.menschen, Heft 6, S. 31-36.

Zulliger, H. (2017): Heilende Kräfte im kindlichen Spiel. Das Spiel ist die eigentliche Sprache des Kindes. 8. Auflage. Dietmar Klotz, Magdeburg.

Der Autor

Ferdinand Klein, Prof. Dr. phil. Dr. paed. et Prof. h. c., Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik, arbeitete 20 Jahre als Erzieher, Heilpädagoge und Logotherapeut, lehrte und forschte an sechs Universitäten in Deutschland, Ungarn und der Slowakei im Geiste des polnischen Arztes und Reformpädagogen Janusz Korczak.

Wie sein Lehrer Janusz Korczak lernt der Autor bis heute von Kindern:

  • Das re-agierende Verhalten des Kindes zeigt ihm, wie Erziehung heute noch häufig ist.
  • Das schöpferische Handeln des Kindes lehrt ihn, wie Erziehung sei soll.

Arbeitsschwerpunkte: Ethische Fragen, Forschungsmethoden, Reformpädagogik, Korczakpädagogik, Waldorfpädagogik, Früh- und Elementarpädagogik. Durch Reflexion der aktuellen (heil)pädagogischen, medizinisch-therapeutischen und neurobiologischen Fachliteratur bildet er seinen integralen und transdisziplinären Standpunkt weiter.

Die Gusztáv-Bárczi-Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität Budapest würdigte sein wissenschaftliches Werk und seine Verdienste um den Ost-West-Dialog mit der Verleihung eines „Doctor et Professor honoris causa“. 2019 wurde ihm für sein sozial- und heilpädagogisches Wirken das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.




Inklusion und Integration lassen sich auch studieren

Die Hochschule in Fulda bietet den Studiengang „Frühkindliche inklusive Bildung“ an

Für den Studiengang „Frühkindliche inklusive Bildung“ sind Inklusion und Vielfalt sowohl für die Lehre als auch für das Auswahlverfahren der Studierenden die zentralen Leitideen. Während es bislang bereits sehr gut gelungen ist, innerhalb der Studiengruppen an der Hochschule Fulda eine große Vielfalt bezüglich der Kategorien Alter, Geschlecht, Ausbildung, Berufserfahrung, kulturelle und soziale Herkunft, u. a. abzubilden, muss die Akquise von Studentinnen und Studenten mit Handicap als ausbaufähig angesehen werden.

Der Studiengang

Das Gesamtkonzept und die Umsetzung des Studiengangs sind konsequent an der Leitidee der Inklusion orientiert. In 8 Semestern Regelstudienzeit befassen sich die Studierenden thematisch mit der Integrations-/Inklusionspädagogik. Mit der Erfahrung von Gemeinsamkeit in Verschiedenheit im frühen Kindesalter wird eine Basis für den respektvollen Umgang mit Heterogenität geschaffen. Ausgehend von diesem Grundgedanken, zielt der B. A. „Frühkindliche inklusive Bildung“ auf eine Gestaltung vonBildungsprozessen, die jedem Kind eine individuelle Kompetenz-Entfaltung ermöglichen. Bildungsprozesse werden von den Studierenden in ihren Praxisstellen also zum einen mit dem Ziel gestaltet, Chancengleichheit im Bildungssystem zu schaffen. Zum anderen wird einer Bildungsbenachteiligung, von der besonders Kinder mit Armutserfahrung, mit Migrationshintergrund und mit Behinderungen betroffen sind, entgegengewirkt.

Die neue Prüfungsordnung, gültig ab dem Wintersemester 14/15, können Sie hier herunterladen:

Zielgruppen:

  • ErzieherInnen (Fachschule),
  • (Fach-)AbiturientInnen,
  • QuereinsteigerInnen und
  • Zweitstudierende.

Studium:

  • 30 Studienplätze pro Jahr,
  • 8 Semester Regelstudienzeit,
  • 8 Präsenzwochenenden (2- bis 3-tägig) pro Studienjahr und
  • 5 bis 6 Online-Module pro Studienjahr (Studienstruktur).

Interessierte können sich einfach bei der Hochschule in Fulda melden. Hier die Verbindungsdaten.

Wer sich sich als Lehrkraft, SchulleiterIn für den Studiengang „Frühkindliche inklusive Bildung“ (B. A.) interessiert, sollte sich bitte an die Studiengangs- und Projektleiterin Prof. Dr. Sabine Lingenauber: s.lingenauber[at]sw.hs-fulda.de wenden.

Die Hochschule schickt auch gerne eine Postkarte und das Poster zu. Bitte schreiben Sie bei Interesse an: kathrin.schneider[at]sw.hs-fulda.de

Weitere Informationen und Kontatmöglichkeiten finden Sie hier.




Geschwister behinderter Kinder sind empathischer

Gesteigertes kognitives Mitgefühl, aber kaum Unterschiede bei emotionaler Empathie und Prosozialität

Geschwister von behinderten Kindern verfügen über eine größere kognitive Empathie. Das haben Forscher der Hebrew University of Jerusalem http://en.huji.ac.il/en , der University of Cambridge http://cam.ac.uk und der University of Toronto http://utoronto.ca herausgefunden. Sie haben untersucht, wie das Aufwachsen mit einem behinderten Kind die Empathie fördern kann. Dabei wurden Daten der „Longitudinal Israeli Study of Twins“ analysiert, eine Studie, die 1.657 Familien von Zwillingen umfasst, die 2004 bis 2005 geboren wurden. Ihre demografischen Merkmale verfügen über Ähnlichkeiten zur jüdischen Mehrheitsbevölkerung in Israel. 63 Familien wurden identifiziert, bei denen einer der Zwillinge eine Behinderung hat und der andere Zwilling sich normal entwickelte.

Elfjährige in Studie befragt

Die sich normal entwickelnden Geschwister von Kindern mit einer Behinderung wurden dann mit 404 sich normal entwickelnden Zwillingsgeschwistern des restlichen Samples verglichen. Dabei ging es um die kognitive sowie emotionale Empathie und die Prosozialität. Abgeschlossen wurde dieser Vergleich, als alle Kinder elf Jahre alt waren. Die teilnehmenden Kinder füllten einen Fragebogen zur eigenen Einschätzung der kognitiven und sozialen Empathie aus. Zusätzlich absolvierten sie eine computergestützte Aufgabe zur Beurteilung des prosozialen Verhaltens. Ergänzend füllten die Eltern einen Fragebogen zur Beurteilung des prosozialen Verhaltens ihrer Kinder aus.

Die Daten zeigen, dass sich normal entwickelnde Kinder mit einem behinderten Zwilling bei der kognitiven Empathie besser abschnitten als sich normal entwickelnde Kinder ohne diese Erfahrung. Entgegen der Prognosen konnten keine Unterschiede bei der emotionalen Empathie und der Prosozialität festgestellt werden. Laut Forscher Ariel Knafo-Noam könnten diese positiven Auswirkungen auf den spezifischen „Vorteil“ der kognitiven Empathie, um ihre behinderten Geschwister besser zu verstehen, und auf die Unterstützung dieser Beziehung zurückzuführen sein. Die Studienautoren räumen ein, dass es sich dabei um vorläufige Ergebnisse handelt und fordern, dass in diesem vernachlässigten Bereich mehr geforscht wird. Details wurden in „Child Development“ veröffentlicht.

Moritz Bergmann/Pressetext.redaktion