Das Kind will sich im Spiel die Welt aneignen

Ein Beitrag zur inklusiven Erziehung in Krippe und Kita

Impuls

Phantasie ist wichtiger als Wissen,
denn Wissen ist begrenzt.
Phantasie umkreist die Welt.

(Albert Einstein 1929, zit. n. Zimpel 2019, S. 31)

Diese Erkenntnis des bekanntesten Physikers der Neuzeit, trifft besonders für das Kind zu: Das Kind will von Beginn an seine Phantasie und seinen Forschergeist zusammen mit anderen Menschen entwickeln.

Darauf machen auch Grundgedanken, Befunde und Beobachtungen zum Spiel aufmerksam. In Kooperation mit dem Facharzt für Kinderheilkunde sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie Gerhard Neuhäuser, erkenne ich besonders für die Früh- und Elementarpädagogik:

  • Spiel ist eine ureigene Lebensform.
  • Spiel ist der Wille zum Leben, den jeder Mensch in der tiefe seines Herzens pflegen will.
  • Durch rhythmische und musische Spiele entstehen Resonanzräume, die auch das scheinbar unerreichbare Kind zum gemeinsamen Weiterschreiten einladen.
  • Im Spiel des Kindes und des Erwachsenen tritt eine Willenskraft hervor.
  • Spiel ist Dialog. Das Ich des Einen entwickelt sich am Du des Anderen. So kann in kleinen Lebenseinheiten eine einladende Welt gestaltet werden (Klein 2018, S. 134 ff., Neuhäuser/Klein 2019, S. 152 ff.):
  • Und das Kind baut sich in Kommunikation und Kooperation mit anderen Menschen seinen inneren Bauplan auf, der nach der Reformpädagogin Maria Montessori göttlichen Ursprungs ist (Klein 2019, S. 151).

Im Spiel entwickelt das Kind von Beginn an heilende (ganz-machende) Kräfte

Im vorgeburtlichen Leben ist das Kind noch gänzlich mit seiner Umgebung verwachsen. Daher können traumatisierende Erfahrungen der Mutter während der Schwangerschaft in die Ausbildung des kindlichen Organismus eingreifen. Buchstäblich alles, was die Mutter während dieser Zeit erlebt, wie Stressbelastung, Konflikte mit Partner oder Umfeld, insbesondere auch die existentielle Angst vor möglichem Verlassenwerden, beeinflussen den mütterlichen Stoffwechsel und können im Extremfall mit nachhaltigen Beeinträchtigungen auf das sich entwickelnde Kind wirken.

Nach der Geburt beginnt ein längerer Prozess, in dem das Kind durch phantasiereiches Spiel sein Inneres mit dem Äußeren seiner Umgebung in ein ausgleichendes und harmonisches Verhältnis bringen will. Offenbar liegen im Spiel heilende Kräfte. Das erkannte der Pädagoge und Psychotherapeut Hans Zulliger schon 1952 (Zulliger 2017).

In diesem Wechselspiel entwickelt sich das Kind, sofern es eine „Feinfühligkeit von Eltern und ErzieherInnen“ erlebt (Staatsinstitut für Frühpädagogik 2019), die ihm seine Spielerfahrungen ermöglichen. Hier erlebt es: Ich bin nicht allein! Ich habe Menschen, die bleiben bei mir auch dann, wenn es (noch) keine unmittelbare Lösung des Problems gibt oder zu geben scheint.

In diesem Miteinander von Kind und Bezugsperson(en) bildet sich ein ganz-machender Resonanzraum aus, in dem panische Angst und/oder schwer nachvollziehbare herausfordernde Verhaltensweisen positiv beeinflusst werden. Durch diese wechselseitigen Resonanzerfahrungen erlebt das einst gefährdete Kind und sein(e) Begleiter, dass diese Momente gemeinsam ausgehalten und erfolgreich überstanden werden (Soldner 2019, S. 60 ff.). Ein vertiefter Einblick in die Wissenschaft ist geboten.

Spielforschung hebt den Eigencharakter des Spiels hervor

Forschendes Denken beschreibt das Spiel als „Interaktion mit Objekten und Personen auf verschiedenen Umweltebenen, in deren Verlauf personal-soziale, räumlich-materielle sowie temporale Bestandteile der Umweltebenen eine fiktive Bedeutung erhalten und so zur Spielumwelt transformiert werden“ (Heimlich 2018, S. 80). Heimlich versteht das Spiel als ganzheitliche Tätigkeit, die in die Lebensumwelt eingebettet ist und die Aneignung der Welt ermöglicht. Er weist mit Nachdruck darauf hin, dass Eingriffe in das Spiel des Kindes den Charakter dieser Lebensgrundform zerstören (Heimlich 2019, S. 21 ff.).

Durch Gestaltung der Spiel-Lernprozesse werden allen Kindern neue Teilhabechancen ermöglicht. Das aus den veranlagten Kräften sich entwickelnde Spiel wirkt wie ein „Feuerwerk für die grauen Zellen im Gehirn“ (Hüther/Quarch 2018, S. 15). Spiel ist für alle Kinder wie der Humus, wie der Nährboden für nachhaltige individuelle und inklusive Prozesse in der Krippe, KiTa und Grundschule. Darauf machen besonders der Neurobiologe Gerald Hüther und der Philosoph Christoph Quarch aufmerksam.


Therapeutische Erziehung ist gelebte Inklusion

Ein Arzt und ein Pädagoge berichten gemeinsam von langjährigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Anhand zahlreicher Fallbeispiele wird deutlich, wie Kinder durch therapeutische Erziehung Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit von Beginn an erleben und wie sie von der Entwicklungsunterstützung persönlich profitieren können. 

Prof. Dr. Gerhard Neuhäuser/Prof. Dr. Ferdinand Klein
Therapeutische Erziehung
Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule

Burckhardthaus
Broschur, 168 Seiten
ISBN: 9783963046056
19,95 Euro


Jedes Kind spielt aus seinem Frei-Sein sein Spiel

Beide Forscher, Hüther und Quarch, bestätigen aus biologischer und philosophischer Sicht das bekannte Wort des Dichters Friedrich Schiller, das wir im 15. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen finden: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Der Sinn dieser Aussage gewann an Tiefe, als die Hirnforschung entdeckte, dass kleine Kinder über viel mehr neuronale Verschaltungen im Gehirn verfügen als Erwachsene. Diese Erkenntnis zeigt auch, dass kein Kind dem anderen gleicht; nicht einmal eineiige Zwillinge.

Jedes Kind spielt aus seinem Frei-Sein sein eigenes Spiel und baut so seine ganz eigene Welt, sein individuelles Weltbild auf. Grenzt das nicht an ein Wunder, gerade dann, wenn Menschen sich untereinander verstehen, sich letztendlich – auch im Streit – auf bestimmte Tatsachen und Regeln einigen und am Ende diese Unterschiede als Bereicherung erleben und die Würde des Anderen achten lernen? Sie erleben Freiheit in mitmenschlicher Verbundenheit. Diese Weisheit des Dichters und Erkenntnisse der Forscher lehren die beiden Beispiele aus Ungarn (siehe Kapitel: Erfahrungen bei Kindern mit Kommunikationsproblemen).

Freiheit und Verbundenheit zeichnen das Spiel für die inklusive Erziehung aus

Spiel schafft Gelegenheit zum Miteinander-Tätigsein, zur Partizipation. Im Spiel erleben und achten sich die Kinder mit und ohne Behinderung als gleichwertige Partner. Sie versuchen aus der Beziehung heraus mit ihren jeweiligen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse etwas Gemeinsames zu gestalten. Sie spielen miteinander, lernen sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen und können gemeinsam neue Perspektiven entwickeln. Insofern sprechen Hüther und Quarch von „Ko-Kreativität im Spiel“, weil eben aus der sozialen Beziehung das gemeinsame Spielen-Lernen gelingt und etwas Neues entstehen kann (Hüther/Quarch 2018, S. 12).

Wir können festhalten: Das vom Erwachsenen zu verantwortende Spiel ist besonders geeignet inklusive Momente hervorzubringen, die wir als Kern der Inklusion verstehen. Die Kinder erleben, dass der andere Mensch nicht über das gleiche Können und Wissen verfügt, wie sie selbst. Und genau diese Erfahrung ist für phantasiereiche und kreativ-forschende Kinder ein wichtiges Schlüsselerlebnis, bei dem die aufmerksam beobachtende und feinfühlende pädagogische Fachkraft eine entscheidende Rolle spielt (Zimpel 2019, S. 35).

Den „Spielverderbern“ die rote Karte zeigen

Das Kind will in demokratische Spielregeln hineinwachsen

Die beiden Forscher Hüther und Quarch versäumen nicht auf „Spielverderber“, nämlich auf die Vermarktung und Kommerzialisierung des Spiels aufmerksam zu machen, die den Grundcharakter des Spiels, nämlich seine Freiheit und Gebundenheit, zunehmend beeinträchtigen und das Spiel in seinem Eigencharakter gefährden. Hier wird die Lebensgrundform Spiel als Übungsfeld für das Miteinander der vielen unterschiedlichen Menschen und damit der Grundgedanke der Inklusion zerstört, den gerade kleine Kinder überhaupt nicht wollen: Kleine Kinder wollen allein und zusammen mit anderen Kindern im Spiel kreativ und phantasievoll ihre eigene Wirklichkeit, ihr eigenen Denken und Handeln entwickeln (Zimpel 2016).

Im Spiel sieht das Kind Möglichkeitsräume seiner Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit. Es will aus eigener Initiative in demokratische Spielregeln hereinwachsen, auch wenn diese zunächst unüberwindbar erscheinen. Das Spielen als ureigene Lebensform des Kindes hat demokratischen Charakter und überwindet die Herrschaftsform, die Form des machtvollen Regierens und (Be)Herrschens (Klein 2018, S. 60).


Pädagogisches Wirken beginnt bei der pädagogischen Fachkraft

Inklusion ist eine der größten und wichtigsten Herausforderungen, vor denen Pädagoginnen und Pädagogen heute in der Praxis stehen. Pädagogisches Wirken beginnt bei der pädagogischen Fachkraft und so beginnt auch Prof. Dr. Ferdinand Klein bei seinem eigenen Werdegang als Heilpädagoge und beim Kinderarzt und Pädagogen Janusz Korczak, um sich dem Begriff und der Aufgabe des Heil- und Sonderpädagogen zu nähern. Zudem bietet das Buch vielfältige Fallbeispiele, konkrete Tipps und Hilfestellungen zum Umgang mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen, praxisgerecht, leicht verständlich und direkt umsetzbar.

Prof. Dr. Ferdinand Klein
Inklusive Erziehung in der Krippe, Kita und Grundschule
Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks

Burckhardthaus
Broschur, 168 Seiten
ISBN/EAN: 9783963046018
19,95 Euro


Das Kind will durch das Spiel Kontrolle über die äußere Wirklichkeit erlangen, die es ohne Spiel nicht erreicht. Seine Phantasie und Kreativität ermöglicht ihm das Aushandeln des „So-tun-als-Ob, das Vereinbaren des Spielcharakters einer konkreten Handlung“ (Heimlich 2019, S. 21).

Sein Spiel ist intrinsisch motiviert. Es entsteht aus sich selbst heraus, weckt Freude und Sinn, Neugierde, Wissbegierde und Achtsamkeit. Auf diesem Fundament entfalten die Kinder durch ihr freies Spiel (Freispiel) ihre Persönlichkeit im sozialen Miteinander.Das kann die Erziehung nicht vorgeben, nicht diktieren. Doch der Einzelne kann durch sein Beispiel die Kinder auf demokratische Spielregeln aufmerksam machen, ihnen Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit ermöglichen und sie so zu menschengerechten Regeln führen.

Auch Erwachsene brauchen „Zeit zum freien Spiel“

Um diese Grundtatsache des Lebens in der Lebensgrundform Spiel in seinen tieferen Zusammenhängen zu erfahren, brauchen auch Erwachsene Zeit zum Spielen. Sie können beim Begleiten viel falsch machen, wenn sie ohne Hineinversetzen in das einzelne Kind ihre feinfühlende Haltung in die Kinderseele vermissen lassen. Deshalb brauchen sie „Zeit zum freien Spiel“ (Zimpel 2019, S. 36), um sich selbst und das Kind besser zu beobachten und als hilfreiche Vorbilder (Modelle) für die Kinder da-zu-sein und „sich auf das kindliche Erleben einzulassen, die Perspektive des Kindes zu übernehmen und die Welt mit den Augen des Kindes zu betrachten“ (Staatsinstitut für Frühpädagogik 2019, S. 12).

Beispiel: Kinder sind wie ein Spiegel für die pädagogische Fachkraft

Das bringt der Bericht einer 18-jährigen Praktikantin einer inklusiven Einrichtung auf den Punkt, die nach einem Jahr Arbeit erkannte: „Das Praktikum machte mir klar, dass besonders die Kinder, mit denen ich spielte und lernte, wie ein Spiegel für einen selbst sind. Wenn ich mit schlechter Laune zur Arbeit kam, war es schon vorprogrammiert, dass es ein super anstrengender Tag würde. Das spürten die Kinder und es war viel anstrengender als wenn ich mit Spaß und Motivation zur Arbeit kam“. Diese Selbstbeobachtung bestätigte Friedrich Fröbel, Begründer des Kindergartens. Fröbel sagte schlicht und einfach: „Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts“ (Klein 2019, S. 133).

Anregungen für das Beobachten

Durch aufmerksames Beobachten das Spiel wahrnehmen

In ihrem ersten Kinderhaus (Case dei Bambini) im Elendsviertel „San Lorenzo“ in Rom, das am 6. Januar 1907 eröffnet wurde, beobachtet Maria Montessori ein etwa dreijähriges Mädchen, das in einem Zustand tiefer Konzentration die forschenden Spielübungen mit einem Zylinderblock über vierzigmal wiederholte, ohne sich auch nur im Geringsten von seiner Umgebung ablenken zu lassen.

Montessori beschreibt das Phänomen folgendermaßen: „Der Ausdruck des Mädchens zeugte von so intensiver Aufmerksamkeit, dass er für mich eine außerordentliche Offenbarung war. Die Kinder hatten bisher noch nicht eine solche auf einen Gegenstand fixierte Aufmerksamkeit gezeigt. Und da ich von der charakteristischen Unstetigkeit der Aufmerksamkeit des kleinen Kindes überzeugt war, die rastlos von einem Ding zum andern wandert, wurde ich noch empfindlicher für dieses Phänomen. Ich hatte 44 Übungen gezählt; und als es endlich aufhörte, tat es dies unabhängig von den Anreizen der Umgebung, die es hätten stören können; und das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf.“ (zit. n. Klein 2019, S. 155)

Montessoris aufmerksame und feinfühlige Beobachtung lehrt: Das Kind versenkt sich mit höchster Konzentration in sein forschendes Spiel bei gleichzeitiger Loslösung von der Umgebung. Diese „Polarisation der Aufmerksamkeit“, die als Montessoriphänomen in die Geschichte einging und der zentrale Begriff der Reformpädagogik ist, kann nicht von außen hergestellt werden, sondern ergibt sich aus der inneren Disposition des Kindes und der Anregung durch den Gegenstand, den sich das Kind durch seine veranlagte Willenskraft aneignen will (Klein 2019, S. 154 f.). Es kommt auf die Qualität des Beobachtens an.

Die Qualität des Beobachtens achten

Bei der Erziehung ist also ein aufmerksames und feinfühliges Beobachten geboten, denn Eingriffe können schnell zum Ende des schöpferischen Gestaltungsprozesses des kleinen Forschers führen. Die beobachteten Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Leistungen und Schwächen, Fehler und Misserfolge in den verschiedenen Situationen sind so einfach wie nur möglich zu beschreiben, im Team immer wieder zu besprechen und kritisch zu hinterfragen, um dadurch Verzerrungen und Einseitigkeiten beim Deuten (Interpretieren, Urteilen) von Spielsituationen zu begegnen. Hilfreich können Videoaufnahmen sein, die gemeinsam analysiert werden.

Ebenso sollten Spielthemen und Spielregeln im Spieltagebuch und in Spielprotokollen über mehrere Wochen oder gar Monate mit Datum und Ort festgehalten werden, um sich dadurch noch besser in die Kinder hineindenken zu können und sich so mit der kindlichen Spielwelt vertrauter zu machen. Auch die einbezogenen Spielmittel und Spielräume sind zu beachten, ebenso die mimischen, gestischen und sprachlichen Äußerungen des individuellen Kindes und der Kinder der Gruppe. All diese Beobachtungen sind in den Teamberatungen zu analysieren (Näheres in Krenz 2020).

Erfahrungen bei Kindern mit Kommunikationsproblemen

Wissenschaftler und Praktiker aus fünf europäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Portugal, Schweden und Ungarn) haben gemeinsam drei Jahre in einem Projekt die Bedingungen der frühen inklusiven Erziehung erforscht. Das Team, das durch Erfahrungen in verschiedenen KiTas der fünf Länder seine Erkenntnisse gewann, kommt zu folgendem Ergebnis: Gute pädagogische Arbeit in heterogenen Gruppen ist nichts anderes als allgemein gute pädagogische Arbeit, die bei der Bereitstellung von Spiel- und Lernmöglichkeiten oder bei angeleiteten Aktivitäten die Verschiedenheit der Kinder im Blick hat.

Das Team erkennt:

  • Kindern ist in pädagogisch arrangierten Situationen zu ermöglichen, dass sie individuell auf ihrem Lernniveau, in ihrem Tempo und in ihrem eigenen Stil sich mit der Welt auseinandersetzen. Damit dies gelingt, brauchen einzelne Kinder, insbesondere jene mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen, die feinfühlende Begleitung eines Erwachsenen.
  • Es ist eine wesentliche Aufgabe von Fachkräften in heterogenen Gruppen, Kinder bei der Suche nach Anknüpfungspunkten, bei ihren Beziehungen und Kooperationen zu unterstützen, damit sie eine grundlegende Akzeptanz von Verschiedenheit entwickeln können.
  • Das alles realisiert sich in den alltäglichen Tätigkeiten der Kinder

– beim gemeinsamen freien Spiel,
– beim pädagogisch angeregten Spiel,
– beim Kreisgespräch,
– beim Dialog zwischen den pädagogischen Fachkräften,
– bei Projekten ästhetischer und musischer Bildung,
– bei Festen und Feiern in der Kindergruppe (Krenz/Klein 2012, S. 152 ff.).

Gemeinsame Spielsituationen ermöglichen

Gerade bei rhythmischen Sing- und Bewegungsspielen fühlt sich das Kind mit Kommunikationsproblemen eingeladen mitzumachen. Durch diese Spiele werden Brücken zum unerreichbaren Kind gebaut (Klein 2021, S. 123 ff.)

Beispiel 1

In einem inklusiven Kindergarten in Ungarn schaukeln Kinder auf der Wippe. Sie verlassen diese, wenn Emma mitschaukeln will. Die Erzieherin ermahnt die Kinder nicht, dass sie Emma vom Spiel nicht ausschließen sollen, sondern sie zeigt sich sehr erfreut, nun Emma beim Schaukeln Gesellschaft leisten zu können. Bald sammeln sich einige Kinder um die Erzieherin. Sie wollen mit Emma schaukeln. Hier ist die Erzieherin ein nachahmenswertes Vorbild. Sie zeigt, wie man mit dem Kind zusammen etwas tut und wie sich die Kinder aufeinander einlassen können.

Beispiel 2

Sigrid (fünf Jahre), ein Kind mit Autismus, wurde vor drei Wochen in die Gruppe aufgenommen. Die Kinder warten auf das Mittagessen und versammeln sich auf dem Teppich, während Siegrid ziellos im Raum umhergeht. Die Erzieherin initiiert das Bewegungsspiel „Meine Hände klatschen. Meine Hände tanzen […].“ Sie singt (mal leise, dann laut) und bewegt im Rhythmus (mal langsam, dann schnell) ihre Hände. Die Kinder schauen und beginnen die Bewegungen zu imitieren. Sigrid schaut dem Geschehen zu, bewegt sich aber weiter im Raum und dreht sich um sich selbst. Ab und zu begibt sie sich kurz zu den Kindern und läuft dann wieder weg. Bald beobachtet sie das Bewegungs- und Singspiel der Gruppe und setzt sich auf den Teppich. Zaghaft versucht Sigrid die Bewegungen zu imitieren. Und zum Schluss kann sie die jeweils letzten Worte des Liedes leise mitsingen (Krenz/Klein 2012, S. 182). Dank der feinfühlenden Haltung der Erzieherin werden durch rhythmische Spielübungen Brücken zu dem schier unerreichbaren Kind Sigrid gebaut, auf denen sich Mensch-und-Mensch im Spiel begegnen.

Zusammenfassende Forschungsergebnisse

  • Spiel ist eine eigene ganz ursprüngliche Gestaltungsform des Lebenswillens von Anfang an.
  • Das Kind bildet durch freies Spiel sein Nervensystem, seine Hirnreifung und damit seine geistig-seelisch-körperlichen Entwicklung.
  • Das Kind kann bei diesem Entwicklungsprozess früheste traumatische Erlebnisse freispielen, wandeln und überwinden.
  • Und es lernt die Schwächen des Anderen zu akzeptieren. Darüber hinaus entwickelt es die Bereitschaft die eigenen Schwächen durch die Stärken des Anderen ausgleichen zu lassen.
  • In der frühen Kindheit formt sich jedes Gehirn auf seine ganz persönliche Art und Weise nachhaltig. So entstehen bis ins hohe Alter hinein verschiedene Gehirne, so verschieden wie Schneeflocken. Freies selbstgestaltetes Spiel ist das Gebot der Stunde, um die Volkskrankheit heute, nämlich den Stress durch Überforderung und damit das Burnout-Syndrom oder den Stress durch Unterforderung und damit das Boreout-Syndrom schon von vorherein in die Schranken zu weisen.
  • Die wohl entscheidende Wirkung des Spiels besteht darin, dass Erwachsene und Kinder lernen, andere Menschen und sich selbst besser einzuschätzen und zu verstehen. Hier „durchspielen“ sie ihre eigenen möglichen Entwicklungen.

Fazit für die Spielpraxis

  • Notwendig ist eine feinfühlende spielbegleitende pädagogische Fachkraft, die sich in das Kind soweit wie möglich hineinversetzen und mit ihm wie in einem Resonanzraum kommunizieren und kooperieren kann.
  • Diese Fachkraft ist ein gebildeter Mensch: Sie sieht sich, den anderen Menschen und den ihm umgebenden Lernraum vom Standpunkt des spielenden Kindes und gestaltet Möglichkeitsräume für seine Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit und damit für die Demokratie als Lebensform.
  • Zum Verständnis inklusiver Spielprozesse ist das einfühlende Einlassen des sich bildenden Erwachsenen auf die inklusive Spielwelt des Kindes/der Kinder eine wesentliche Voraussetzung.
  • Dadurch wird auch ein vorschnelles Be- und Verurteilen verhindert und der gebildete Spielgefährte gibt dem Kind den nötigen Halt, die nötige Sicherheit.
  • Im phantasiereichen und kreativ-forschenden Spiel sammeln die Kinder wichtige Erfahrungen. Sie lernen Emotionen wie Freude, Wut, Stolz und auch Enttäuschungen zu inszenieren und zu kontrollieren. Und sie lernen in ihrer ureigenen Lebensgrundform Spiel ihre Welt zusammen mit anderen zu gestalten, loten Grenzen ihres Könnens, ihres Denkens und Fühlens aus. Sie werden selbstbewusster. Dadurch stellen sie grundlegende Weichen für die Gestaltung ihres späteren Lebens.
  • Kinder und Erwachsene lernen ihr Leben wie ein Spiel zu gestalten und erhalten zudem ein Geschenk: Sie lernen im Spielen „viel schneller und leichter“ (Zimpel 2019, S. 35).

Literatur

Heimlich, U. (2018): Einführung in die Spielpädagogik. 3. Auflage. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn.

Heimlich, U. (2019): Spiel als Inklusion – Inklusion als Spiel. In: Zeitschrift behindete.menschen, Heft 6, S. 21-28.

Hüther, G./Quarch, Ch. (2018): Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als Funktionieren ist. Hanser, München.

Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks. München, Burckhardthaus.

Klein, F. (2019): Inklusive Erziehungs- und Bildungsarbeit in der Kita. Heilpädagogische Grundlagen und Praxishilfen. 3. Auflage. Bildungsverlag EINS, Köln.

Klein, F. (2021): Bewegung, Spiel und Rhythmik. Drei unverzichtbare Elemente in der inklusiven Kita-Praxis. Dortmund, modernes lernen.

Krenz, A. (2020): Beobachtung und Entwicklungsdokumentation im Elementarbereich. 2. Auflage. Kulmbach, Fachverlag.

Krenz, A./Klein, F. (2012): Bildung durch Bindung. Frühpädagogik: inklusiv und beziehungsorientiert. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

Neuhäuser, G./Klein, F. (2019): Therapeutische Erziehung. Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule. München, Burckhardthaus.

Soldner, G. (2019): Trauma bei Menschen mit Assistenzbedarf. In: Jahresbericht Brachenreuthe 2019 (Camphill Schulgemeinschaft Brachenreuthe, 88662 Überlingen), S. 60-62.

Staatsinstitut für Frühpädagogik (2019): Feinfühligkeit von Eltern und ErzieherInnen. Herausgeber BKK Landesverband Bayern, Züricher Str. 25, 81476 München.

Zimpel, A. F. (2016): Lasst unsere Kinder spielen! Der Schlüssel zum Erfolg. 4. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

Zimpel, A. F. (2019): Spiel und Förderung. In: Zeitschrift behindete.menschen, Heft 6, S. 31-36.

Zulliger, H. (2017): Heilende Kräfte im kindlichen Spiel. Das Spiel ist die eigentliche Sprache des Kindes. 8. Auflage. Dietmar Klotz, Magdeburg.

Der Autor

Ferdinand Klein, Prof. Dr. phil. Dr. paed. et Prof. h. c., Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik, arbeitete 20 Jahre als Erzieher, Heilpädagoge und Logotherapeut, lehrte und forschte an sechs Universitäten in Deutschland, Ungarn und der Slowakei im Geiste des polnischen Arztes und Reformpädagogen Janusz Korczak.

Wie sein Lehrer Janusz Korczak lernt der Autor bis heute von Kindern:

  • Das re-agierende Verhalten des Kindes zeigt ihm, wie Erziehung heute noch häufig ist.
  • Das schöpferische Handeln des Kindes lehrt ihn, wie Erziehung sei soll.

Arbeitsschwerpunkte: Ethische Fragen, Forschungsmethoden, Reformpädagogik, Korczakpädagogik, Waldorfpädagogik, Früh- und Elementarpädagogik. Durch Reflexion der aktuellen (heil)pädagogischen, medizinisch-therapeutischen und neurobiologischen Fachliteratur bildet er seinen integralen und transdisziplinären Standpunkt weiter.

Die Gusztáv-Bárczi-Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität Budapest würdigte sein wissenschaftliches Werk und seine Verdienste um den Ost-West-Dialog mit der Verleihung eines „Doctor et Professor honoris causa“. 2019 wurde ihm für sein sozial- und heilpädagogisches Wirken das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.




Inklusion und Integration lassen sich auch studieren

Die Hochschule in Fulda bietet den Studiengang „Frühkindliche inklusive Bildung“ an

Für den Studiengang „Frühkindliche inklusive Bildung“ sind Inklusion und Vielfalt sowohl für die Lehre als auch für das Auswahlverfahren der Studierenden die zentralen Leitideen. Während es bislang bereits sehr gut gelungen ist, innerhalb der Studiengruppen an der Hochschule Fulda eine große Vielfalt bezüglich der Kategorien Alter, Geschlecht, Ausbildung, Berufserfahrung, kulturelle und soziale Herkunft, u. a. abzubilden, muss die Akquise von Studentinnen und Studenten mit Handicap als ausbaufähig angesehen werden.

Der Studiengang

Das Gesamtkonzept und die Umsetzung des Studiengangs sind konsequent an der Leitidee der Inklusion orientiert. In 8 Semestern Regelstudienzeit befassen sich die Studierenden thematisch mit der Integrations-/Inklusionspädagogik. Mit der Erfahrung von Gemeinsamkeit in Verschiedenheit im frühen Kindesalter wird eine Basis für den respektvollen Umgang mit Heterogenität geschaffen. Ausgehend von diesem Grundgedanken, zielt der B. A. „Frühkindliche inklusive Bildung“ auf eine Gestaltung vonBildungsprozessen, die jedem Kind eine individuelle Kompetenz-Entfaltung ermöglichen. Bildungsprozesse werden von den Studierenden in ihren Praxisstellen also zum einen mit dem Ziel gestaltet, Chancengleichheit im Bildungssystem zu schaffen. Zum anderen wird einer Bildungsbenachteiligung, von der besonders Kinder mit Armutserfahrung, mit Migrationshintergrund und mit Behinderungen betroffen sind, entgegengewirkt.

Die neue Prüfungsordnung, gültig ab dem Wintersemester 14/15, können Sie hier herunterladen:

Zielgruppen:

  • ErzieherInnen (Fachschule),
  • (Fach-)AbiturientInnen,
  • QuereinsteigerInnen und
  • Zweitstudierende.

Studium:

  • 30 Studienplätze pro Jahr,
  • 8 Semester Regelstudienzeit,
  • 8 Präsenzwochenenden (2- bis 3-tägig) pro Studienjahr und
  • 5 bis 6 Online-Module pro Studienjahr (Studienstruktur).

Interessierte können sich einfach bei der Hochschule in Fulda melden. Hier die Verbindungsdaten.

Wer sich sich als Lehrkraft, SchulleiterIn für den Studiengang „Frühkindliche inklusive Bildung“ (B. A.) interessiert, sollte sich bitte an die Studiengangs- und Projektleiterin Prof. Dr. Sabine Lingenauber: s.lingenauber[at]sw.hs-fulda.de wenden.

Die Hochschule schickt auch gerne eine Postkarte und das Poster zu. Bitte schreiben Sie bei Interesse an: kathrin.schneider[at]sw.hs-fulda.de

Weitere Informationen und Kontatmöglichkeiten finden Sie hier.




Geschwister behinderter Kinder sind empathischer

Gesteigertes kognitives Mitgefühl, aber kaum Unterschiede bei emotionaler Empathie und Prosozialität

Geschwister von behinderten Kindern verfügen über eine größere kognitive Empathie. Das haben Forscher der Hebrew University of Jerusalem http://en.huji.ac.il/en , der University of Cambridge http://cam.ac.uk und der University of Toronto http://utoronto.ca herausgefunden. Sie haben untersucht, wie das Aufwachsen mit einem behinderten Kind die Empathie fördern kann. Dabei wurden Daten der „Longitudinal Israeli Study of Twins“ analysiert, eine Studie, die 1.657 Familien von Zwillingen umfasst, die 2004 bis 2005 geboren wurden. Ihre demografischen Merkmale verfügen über Ähnlichkeiten zur jüdischen Mehrheitsbevölkerung in Israel. 63 Familien wurden identifiziert, bei denen einer der Zwillinge eine Behinderung hat und der andere Zwilling sich normal entwickelte.

Elfjährige in Studie befragt

Die sich normal entwickelnden Geschwister von Kindern mit einer Behinderung wurden dann mit 404 sich normal entwickelnden Zwillingsgeschwistern des restlichen Samples verglichen. Dabei ging es um die kognitive sowie emotionale Empathie und die Prosozialität. Abgeschlossen wurde dieser Vergleich, als alle Kinder elf Jahre alt waren. Die teilnehmenden Kinder füllten einen Fragebogen zur eigenen Einschätzung der kognitiven und sozialen Empathie aus. Zusätzlich absolvierten sie eine computergestützte Aufgabe zur Beurteilung des prosozialen Verhaltens. Ergänzend füllten die Eltern einen Fragebogen zur Beurteilung des prosozialen Verhaltens ihrer Kinder aus.

Die Daten zeigen, dass sich normal entwickelnde Kinder mit einem behinderten Zwilling bei der kognitiven Empathie besser abschnitten als sich normal entwickelnde Kinder ohne diese Erfahrung. Entgegen der Prognosen konnten keine Unterschiede bei der emotionalen Empathie und der Prosozialität festgestellt werden. Laut Forscher Ariel Knafo-Noam könnten diese positiven Auswirkungen auf den spezifischen „Vorteil“ der kognitiven Empathie, um ihre behinderten Geschwister besser zu verstehen, und auf die Unterstützung dieser Beziehung zurückzuführen sein. Die Studienautoren räumen ein, dass es sich dabei um vorläufige Ergebnisse handelt und fordern, dass in diesem vernachlässigten Bereich mehr geforscht wird. Details wurden in „Child Development“ veröffentlicht.

Moritz Bergmann/Pressetext.redaktion




Index für Inklusion für Kindertageseinrichtungen

Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln

Alle Jahre wieder weisen wir auf den Index für Inklusion für Kindertageseinrichtungen hin. Er ist eine Hilfestellung und Handreichung zur inklusiven Entwicklung. Er hilft bei der Planung und Umsetzung. Für den deutschsprachigen Raum hat die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) den Index übersetzen lassen und  herausgegeben. Die ältere Fassung steht als pdf frei zugänglich im Netz.

Mittel, um Partizipation zu erhöhen

Das Centre for Studies in Inclusive Education (CSIE) in Bristol in England hat den „Index for Inclusion – developing learning, participation and play in early years and childcare“ entwickelt.  Die GEW hat ihn unter dem Titel „Index für Inklusion (Tageseinrichtungen für Kinder)“ hierzulande herausgegeben. Er ist eine Hilfestellung und Handreichung zur Unterstützung der inklusiven Entwicklung in allen institutionellen Formen von Tageseinrichtungen für Kinder einschließlich Krippen, Spielplätze, Familienzentren, Krabbelstuben, Babysitten, Tagespflege, Kinderläden und Kinderhäuser. Der Indexist ein umfassendes Werk, das allen in diesen Einrichtungen helfen kann, ihre eigenen „nächsten Schritte“ zu finden, um die Partizipation der Kinder und Jugendlichen an Spiel und Lernen zu erhöhen.

Anregung zur Entwicklung

Die Materialien sind so konzipiert, dass sie auf dem Wissen und der Erfahrung der ErzieherInnen aufbauen und die Entwicklung jeder beliebigen Einrichtung anregen und unterstützen, unabhängig davon, wie „inklusiv“ die Einrichtung auch immer im Moment eingeschätzt wird. Und er ist ein Ansatz, sich mehr mit Erziehung, Bildung und Betreuung nach inklusiven Maßstäben zu befassen.

Dank der GEW steht der ältere Index von 2005 für alle frei zugänglich im Internet. Hier der Link.

Die Neuausgabe gibt es im Shop der GEW zum Einzelpreis von 16 €. Für größere Mengen gibt es ordentliche Rabatte. Hier der Link.




Koalitionsvertrag: Klares Bekenntnis zur Inklusion, zu Kinderrechten und zur Bildung

Der Vertrag schafft Hoffnung auf eine verbesserte Familien- und Bildungspolitik

Klar ist auch schon, welche Parteien, welches Ministerium erhalten. Das Bundesfamilienministerium wird eine Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen übernehmen. Für die FDP übernimmt Bettina Stark-Watzinger das Bundesministerium für Bildung und Forschung.

DKHW und DKSB begrüßen den Koaltitionsvertrag

Das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) und der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) sehen in dem Koalitionsvertrag eine gute Grundlage für eine modernere und sozialere Kinder- und Familienpolitik. Es sind vor allem vier Ziele, die von beiden Kinderschutzorganisationen begrüßt werden:

  1. die Einführung der Kindergrundsicherung
  2. die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz
  3. die Senkung des Wahlalters
  4. die Modernisierung des Familienrechts

Kindergrundsicherung

„Die Kindergrundsicherung, die der Kinderschutzbund schon seit Jahren fordert, soll noch in dieser Legislaturperiode eingeführt werden. Damit schafft der Koalitionsvertrag gute Voraussetzungen, um die Kinderarmut in Deutschland spürbar zu senken. „Die vereinbarten Eckpunkte werden im Zusammenwirken mit dem erhöhten Mindestlohn vor allem viele ‚Aufstocker‘-Familien aus dem Hartz-IV-Bezug herausholen. Das wird zur Chancengerechtigkeit vieler Kinder beitragen“, sagt Heinz Hilgers, der Präsident des Kinderschutzbunds.

Kinderrechte ins Grundgesetz

„Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz auf der Tagesordnung der nächsten Bundesregierung steht. Dies ist ein unverzichtbarer Baustein, um kindgerechtere Lebensverhältnisse und bessere Entwicklungschancen für alle Kinder zu schaffen, ihre Rechtsposition deutlich zu stärken und Kinder an den sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen. Mit der Aufnahme der Kinderrechte im Grundgesetz im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention besteht die große Chance, langfristig eine tragfähige Grundlage für ein kinder- und familienfreundlicheres Land zu schaffen. Hier erwarten wir von der Ampel-Koalition, dass im Gesetzgebungsverfahren eine breite Beteiligung der Zivilgesellschaft stattfindet, damit in den letzten Jahren erarbeiteten fachlichen Standards angemessen Berücksichtigung finden“, erklärt Anne Lütkes, Vizepräsidentin des Deutschen Kinderhilfswerkes.

Herabsetzung des Wahlalters

Beide Organisationen begrüßen auch die Herabsetzung des Wahlalters für Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre. Dies sei ein wichtiger und notwendiger Schritt, um die Demokratie langfristig zu erhalten. Schließlich müsse die junge Generation die Demokratie gegen alle Angriffe von innen und außen verteidigen.

Weiterentwicklung der Jugendstrategie

„Auch die beabsichtige Weiterentwicklung der Jugendstrategie der Bundesregierung mit einem Nationalen Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung ist zu begrüßen. Kinder- und Jugendbeteiligung ist in Deutschland nach wie vor ein Flickenteppich. Unabhängig vom Ort des Aufwachsens muss es allen Kindern und Jugendlichen möglich sein, ihr Recht auf Beteiligung wahrzunehmen. Ein Nationaler Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung muss die Erfahrungen aus Bund, Ländern und Kommunen in den Austausch bringen und konkrete Projekte und Maßnahmen entwickeln und umsetzen. Dabei sollte nicht vergessen werden, die Verwaltung in Ländern und Kommunen fit für das Thema Kinder- und Jugendbeteiligung zu machen“, sagt Lütkes.

Kinder- und Jugendhilfe

„Wir vermissen im Koalitionsvertrag konkrete Aussagen zur Stärkung des Kinder- und Jugendhilfesystems als Ganzes. Schon vor der Corona-Pandemie war die Kinder- und Jugendhilfe vielerorts am Rande ihrer Leistungsfähigkeit. Länder und Kommunen haben es bislang nicht geschafft, die notwendigen Strukturen beispielsweise der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ausreichend zu finanzieren. In einem Koalitionsvertrag, der sich Zukunftsfähigkeit zum Ziel setzt, hätte deshalb auch die nachhaltige Stärkung des Kinder- und Jugendhilfesystems ganz nach vorne gehört.“

Bildungsförderung auf allen Ebenen

Insgesamt enthält der Koalitionsvertrag auch im Bildungsbereich viele interessante und hoffentlich auch umsetzbare Bekenntnisse. Hier einige Beispiele:

Klares Bekenntnis zur Inklusion

„Wir wollen allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft beste Bildungschancen bieten, Teilhabe und Aufstieg ermöglichen und durch inklusive Bildung sichern. Dazu stärken wir die frühkindliche Bildung, legen den Digitalpakt 2.0 auf und machen das BAföG elternunabhängiger und bauen es für die Förderung der beruflichen Weiterbildung aus. Kinder verdienen beste Bildung. Jedes Kind soll die gleichen Chancen haben. Diese. Chancengleichheit ist aber noch lange nicht Realität. Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen, werden mit der Kindergrundsicherung bessere Chancen für Kinder und Jugendliche schaffen und konzentrieren uns auf die, die am meisten Unterstützung brauchen.“

Bildungsausgaben

„Gemeinsam mit den Ländern werden wir die öffentlichen Bildungsausgaben deutlich steigern und dafür sorgen, dass die Unterstützung dauerhaft dort ankommt, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Mit einer Stärkung der frühkindlichen Bildung, besseren Startchancen in sozial benachteiligten Schulen, einem Digitalpakt 2.0 und einem grundlegend reformierten BAföG legen wir den Grundstein für ein Jahrzehnt der Bildungschancen.“

Bildungszusammenarbeit

„Wir streben eine engere, zielgenauere und verbindliche Kooperation aller Ebenen an (Kooperationsgebot). Die örtliche Umsetzungskraft der Schulträger, die Kultushoheit der Länder und das unterstützende Potenzial des Bundes wollen wir dafür zu neuer Stärke vereinen und eine neue Kultur in der Bildungszusammenarbeit begründen.“

Gleiche Chancen

„Wir wollen gemeinsam darauf hinwirken, dass jedes Kind die gleiche Chance auf Entwicklung und Verwirklichung hat.“

Zusammenarbeit mit Bundesländern

„Gemeinsam mit den Ländern wollen wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, gemeinsam gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen und Qualität, Leistungsfähigkeit und Weiterentwicklung des Bildungswesens zu stärken. Soweit erforderlich, bieten wir Gespräche über eine Grundgesetzänderung an.“

Qualitätsentwicklungsgesetz für Kitas

„Wir werden das Gute-Kita-Gesetz auf der Grundlage der Ergebnisse des Monitorings und der Evaluation fortsetzen und bis Ende der Legislaturperiode gemeinsam mit den Ländern in ein Qualitätsentwicklungsgesetz mit bundesweiten Standards überführen.“

Ganztag

„Wir werden den Ausbau der Ganztagsangebote mit einem besonderen Augenmerk auf die Qualität weiter unterstützen. Mit Ländern und Kommunen werden wir uns über die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbildung und -betreuung und der qualitativen Weiterentwicklung verständigen und unter Berücksichtigung der länderspezifischen Ausprägungen einen gemeinsamen Qualitätsrahmen entwickeln.“

Bildungschancen

„Mit dem neuen Programm ,Startchancen‘ wollen wir Kindern und Jugendlichen bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern ermöglichen.“

„Wir wollen Länder und Kommunen dauerhaft bei der Digitalisierung des Bildungswesens unterstützen. Den Mittelabruf beim Digitalpakt Schule werden wir beschleunigen und entbürokratisieren.“

Lehrerbildung

„Bund und Länder richten eine gemeinsame Koordinierungsstelle Lehrkräftefortbildung ein, die bundesweit Fort- und Weiterbildungsangebote vernetzt, die Qualifikation von Schulleitungen unterstützt, den Austausch ermöglicht sowie die arbeitsteilige Erstellung von Fortbildungsmaterialien organisiert und fördert.“

Fachkräfte

„Gemeinsam mit den Ländern und allen relevanten Akteuren entwickeln wir eine Gesamtstrategie, um den Fachkräftebedarf für Erziehungsberufe zu sichern und streben einen bundeseinheitlichen Rahmen für die Ausbildung an. Sie soll vergütet und generell schulgeldfrei sein.

Mit hochwertigen Qualitätsstandards in der Kindertagesbetreuung, sorgen wir für attraktive Arbeitsbedingungen. Wir wollen die praxisintegrierte Ausbildung ausbauen, horizontale und vertikale Karrierewege sowie hochwertige Fortbildungsmaßnahmen fördern und Quereinstieg erleichtern. Umschulungen werden wir auch im dritten Ausbildungsjahr vollständig fördern.“

Den ganzen Koalitionsvertrag finden Sie hier:




Schule der Zukunft: gerechter, inklusiver, demokratischer

Bündnis „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“ veröffentlicht Broschüre zu 100 Jahre Schulreform

Das Bündnis „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“ macht sich für einen Kurswechsel in der Politik stark und mahnt die inklusive Schule für alle Kinder an. „Die Corona-Schulpolitik ist kurzsichtig, betriebs- und geschichtsblind. Die Probleme, die den Umgang mit der Pandemie erschweren, lassen sich weit in die deutsche Vergangenheit zurückverfolgen“, sagte Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), mit Blick auf die Veröffentlichung einer Broschüre zu 100 Jahren Schulreform in Deutschland. „In der Corona-Krise haben wir die Erfahrung gemacht, dass Schulen, die das selbstständige und inklusive Lernen der Schülerinnen und Schüler fördern und Vielfalt wertschätzen, besser für die Herausforderungen der Pandemie gerüstet waren. Das zeigen auch die aktuellen Preisträger-Schulen des Deutschen Schulpreises.“

Selektive und benachteiligende Strukturen Abbauen

Die Broschüre des Bündnisses mache deutlich, dass das Schulsystem der Zukunft – vor allem angesichts der Pandemie-Erfahrungen – gerechter, inklusiver und demokratischer werden muss. „Über Fragen des Gesundheitsschutzes, der Digitalisierung oder des Aufholens von ‚Lernrückständen‘ hinaus müssen die Kultusministerien endlich auch die selektiven und benachteiligenden Strukturen und Routinen abbauen, um das Schulsystem krisenfest und gerechter zu machen“, betonte Hoffmann. 

Gründe für „steckengebliebene“ Schulreform

Die Veröffentlichung „1920 – 2020. Schulreform in Deutschland – Eine (un)endliche Geschichte?!“, die Marianne Demmer, ehemaliges langjähriges GEW-Vorstandsmitglied, im Rahmen der Schriftenreihe des Bündnisses verfasst hat, zeigt aus historischer Perspektive die Gründe für die „steckengebliebene“ Schulreform in Deutschland auf. Reichsschulkonferenz und die Schulkompromisse der Weimarer Republik jährten sich 2020 zum 100. Mal.

Endlich Konsequenzen ziehen

„100 Jahre sind Anlass genug, innezuhalten und endlich Konsequenzen zu ziehen. Die Probleme und Argumente gegen ein gerechteres Schulsystem und inklusivere Strukturen ähneln sich leider bis heute“, betonte Dieter Zielinski, Vorsitzender der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule – Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens (GGG). „Unsere Broschüre zeigt, wie tief das gegliederte Schulsystem mit dem zusätzlichen Sonderschulsystem noch im ständischen Denken des vorletzten Jahrhunderts verankert ist“, sagte Zielinski. „Die Gesamt- und Gemeinschaftsschulen sind weiterhin die Stiefkinder der deutschen Schulpolitik, obwohl sie nachweislich alle Lernenden gut fördern und es am ehesten schaffen, den Lernerfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln“, stellte er fest.

Selektion kommt viel zu früh

„Noch immer werden Kinder in Deutschland zu früh selektiert“, kommentierte Edgar Bohn, Vorsitzender des Grundschulverbands, die Veröffentlichung. Deutschland hinke in Sachen Schulstruktur und Schulorganisation weiter anderen Ländern hinterher, in denen die Kinder viel länger gemeinsam lernen, ergänzte der Grundschul-Experte. „Das setzt die Grundschule, die vergleichsweise gut mit Vielfalt umgeht, unnötig unter Druck. Es kann nicht sein, dass bereits zehnjährigen Kindern signalisiert wird, welche Berufe für sie in Frage kommen. Zu den ‚blinden Flecken‘ der Corona-Politik gehört die Vererbung von Bildungsprivilegien und Bildungsarmut. Damit muss endlich Schluss sein“, so Bohn.

Aus Sicht des Bündnisses „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“ hätten die Kultusministerinnen und -minister mit ihrer „Ländervereinbarung“ vom Oktober vergangenen Jahres und ihrem Pandemie-Fokus auf Übergänge, Abschlüsse und Leistungen ein weiteres Mal signalisiert, dass sie die selektiven und benachteiligenden Strukturen im Schulwesen nicht in Frage stellen.

Quelle: Pressemitteilung GEW




Demokratische Erziehung sollte dem Leitbild von Korczaks „Grundgesetz für das Kind“ folgen

Inklusion als gelebte Haltung, situationsorientierte Hilfe, Führung und Begleitung

Mit Janusz Korczaks „Grundgesetz für das Kind“ ist die inklusive Pädagogik neu zu vermessen. Denn das Maß liegt im Menschen und nicht in den Dingen. Gefragt ist besonders die Früh- oder auch Elementarpädagogik: Denn sie legt den Grundstein für eine menschengerechte demokratische Erziehung und Bildung. Korczaks Erziehungskunst steht als Angebot. Jedes Kind gibt der pädagogischen Fachkraft neue Rätsel auf. Darin liegt der immer wieder neue Anreiz, sich mit Kindern auf eine nie endende Entdeckungsreise zu begeben.

Im Grundgesetz für das Kind gründet Korczaks Pädagogik der Achtung

Die im Jahre 2006 verabschiedete UN-Charta der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), ist mit der großen Hoffnung verbunden, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Menschlichkeit werden kann. Nach dem Untergang der Humanität im 20. Jahrhundert, wird nun das Jahrhundert der Humanisierung ausgerufen und entschieden darauf hingewiesen, dass Menschen mit Behinderungen „einen bedeutsamen Beitrag zur Humanisierung der Menschheit leisten“ (Krenz/Klein 2012, S. 49 ff.).

Die Konvention gibt uns einen Spiegel in die Hand, jeden Menschen zu achten, sich für ihn wirklich zu interessieren und ihm bei seiner Entwicklung beizustehen, ihm soweit zu helfen, bis er das werden kann, was in ihm keimhaft angelegt ist: Aus eigener Initiative seine Entwicklung selbst in die Hand nehmen und gestalten. Danach sehnt sich in der Tiefe seines Herzens jeder Mensch. Das erkannte der feinfühlende polnische Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak, der mit seinen 200 Heimkindern am 5. August 1942 in das Vernichtungslager Treblinka ging. Er lehnte alle Versuche zu seiner Rettung ab. Denn er wollte die Kinder nicht allein lassen.

Die Kinderrechte nach Korczak

Bereits 1919 formulierte Korczak Kinderrechte: „Ich fordere die Magna Charta Libertatis (die große Charta der Freiheiten; Anm. F. K.) als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch andere – aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden:

1. „Das Recht des Kindes auf seinen Tod“ = dem Kind die Ausformung seines Lebens zutrauen.
2. „Das Recht des Kindes auf seinen heutigen Tag“ = die Gegenwart des Kindes achten, die nicht einer ungewissen Zukunft geopfert werden darf.
3. „Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist“ = dem Kind sein Kindsein erlauben und ermöglichen (Klein 2018, S. 70 f.).

Mit diesem Grundgesetz für das Kind wird erstmals in der Geschichte der Erziehung die Respektierung von Kinderrechten gefordert.

Das erste Grundrecht kann irritieren. Korczak stellt das Leben mit seinen Gefährdungen und Risiken in die Eigenverantwortung des Kindes. Doch durch Angst und Überfürsorge werden ihm die Möglichkeiten vorenthalten am eigenen Leib seine Erfahrungen zu sammeln und zu ordnen. Eine pädagogische Fachkraft, die hingegen dieses Grundrecht achtet und dem Kind auf sein eigenes Risiko hin seine Erfahrungen ermöglicht, gibt die fordernde Zukunftsorientierung auf und hat die Gegenwart des Kindes im Blick, seine Individualität hier und heute. Es kennt weder Vergangenheit noch Zukunft, es freut sich der Gegenwart.  Mit Korczak erhält die pädagogische Verantwortung gerade deswegen einen neuen Akzent, weil die pädagogische Fachkraft die Gegenwart für das Kind einfühlsam und gründlich zu gestalten hat.

Jeder Versuch eines einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.

Friedrich Dürrenmatt

Den drei Grundrechten stellt Korczak ein oberstes Prinzip voran: „Das Recht des Kindes auf Achtung. Es ist das erste und unbestreitbare Recht des Kindes, seine Gedanken auszusprechen und aktiven Anteil an unseren Überlegungen und Urteilen über seine Person zu nehmen. Wenn wir ihm Achtung und Vertrauen entgegenbringen und wenn es selbst Vertrauen hat und sich ausspricht, wozu es das Recht hat, – wird es weniger Zweifel und Fehler geben.“ (Korczak 1978, S. 40 f.).

Fazit: Korczaks Kinderrechte haben einen wesentlichen Einfluss auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Dieses Behindertengrundrecht ist für alle Beteiligten ein einfühlsamer Lernprozess – für behinderte und nichtbehinderte Kinder, für Eltern, Erzieher und alle Bürger: Inklusion ist gelebte Demokratie, ein demokratischer Begriff und eine demokratische Notwendigkeit.

Rechtskonvention, ein verbindlicher Handlungsrahmen

Die Rechtskonvention stellt Inklusion als umfassende kulturelle Herausforderung ins Zentrum der weltweiten öffentlichen und fachlichen Diskussion. Sie will für alle Bürger ein Leitbild moderner Sozialpolitik und ein verbindlicher Handlungsrahmen für die Praxis sein. Sie spricht von der Verpflichtung in allen Bereichen und bei allen Mitgliedern der Gesellschaft ein Bewusstsein für die Rechte und Würde behinderter Menschen zu schaffen, diskriminierende Praktiken und Vorurteile abzubauen.

In Artikel 26 der Konvention heißt es: „Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, […] um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren. Die deutschsprachige Übersetzung finden Sie hier.

Die Konvention wird seit März 2009 in deutsches Recht umgesetzt. Sie

  • geht davon aus, dass Behinderung ein soziales Phänomen ist, das aus einstellungs- und umweltbedingten Barrieren resultiert; dadurch wird seine volle gesellschaftliche Teilhabe verhindert oder beeinträchtigt.
  • würdigt Behinderung als Teil der Vielfalt menschlichen Lebens.
  • will Teilhabe stärken und Ausgrenzungen verhindern.
  • versteht die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern von der frühen Kindheit an als Menschenrecht – und nicht als Wohltätigkeit.

Alle Menschen haben das Recht auf gemeinsame Erziehung und Bildung

Alle Menschen mit Behinderungen haben nun von Anfang an einen Rechtsanspruch auf gemeinsame Erziehung und (Aus-)Bildung sowie gesellschaftliche Teilhabe ohne Diskriminierung und Marginalisierung. Ihre volle gesellschaftliche Teilhabe ist ein einklagbares Recht.

Diese uneingeschränkte Anerkennung und Achtung der Würde jedes Menschen und die daraus folgende Gleichheit der Verschiedenen sind im beginnenden 21. Jahrhundert ein zentrales ethisches Prinzip geworden. Das Prinzip kann als Antwort auf extrem demütigende Erfahrungen vieler Menschen in zurückliegenden Jahrhunderten, besonderes im 20. Jahrhundert und damit als Ergebnis eines Bildungsprozesses der westlichen Demokratien verstanden werden. Das Recht ist die Basis für unser Zusammenleben. Es schützt die unantastbare Würde des Menschen.

Das Bewusstsein der gleichen Würde jedes Menschen hat sich durchgesetzt. Es erfordert eine Vertiefung und Erweiterung der frühpädagogischen Professionalität. Wie kann die (Früh-)Pädagogik in Wissenschaft, Forschung und Praxis dieser Aufgabe entsprechen? (Klein 2018, S. 14 ff.)

Inklusive Erziehung von Anfang an

Das Menschenrechtsverständnis der UN-BRK achtet das Kind als Subjekt und Akteur seiner Entwicklung, ebenso seine Grundbedürfnisse und Grundbedarfe, seine Individualität und Sozialität; unterstützt (begleitet, leitet, führt) den Willen des Kindes zur Eigenaktivität, sein Selbstwirksamwerden, sein sich entwickelndes Verantwortungsbewusstsein für das eigene Recht, für das Recht des anderen Menschen und seine wachsende Selbstbestimmung in sozialer Abhängigkeit.

Die Rechtstexte machen keine Aussagen über die gesellschaftliche Wirklichkeit, enthalten aber verbindliche Normen, an denen die Wirklichkeit der inklusiven Kindertageseinrichtung gemessen werden kann. Aus dem, was ist, soll durch handelnde Menschen das werden, was sein soll. Diese Spannung zwischen Realität und Idealität ist eine bewegende Kraft des republikanischen Rechtsstaats, die Inklusion ohne moralische Überhöhung als Realvision zu sehen hat. Inwieweit die Entwicklung sich dem Ziel annähert und vor allem, ob es wirklich erreicht werden kann, bleibt eine offene Frage. Ihre Beantwortung hängt von vielen Faktoren ab, die nicht allein in der Hand der pädagogischen und therapeutischen Fachkräfte liegen. Doch durch professionelle Selbstdarstellung der Kita in der Öffentlichkeit kann vieles erreicht werden.

Kinder geben ermutigende Beispiele für eine inklusive Lernkultur

Auf dem Weg zur inklusiven Erziehung von Beginn an können Kinder heterogene Gruppen Mut machen: Im Umgang miteinander nehmen sie die Unterschiede als gegeben an, entwickeln Neugierde füreinander und wollen einander helfen. Kinder mit Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, der Bewegung, des Denkens (der kognitiven Entwicklung) oder des Verhaltens können wie selbstverständlich in der Gruppe lernen.

Neurobiologische Forschungen zeigen, dass bereits Säuglinge Urformen der Sympathie empfinden. Bald beginnen sie zwischen ‘guten‘ und ‘bösen‘ Taten zu unterscheiden. Gut ist, anderen zu helfen und böse, anderen zu schaden. Schon einjährige Kinder helfen ohne vorherige Übung fremden Erwachsenen: Sie heben beispielsweise heruntergefallene Gegenstände auf, wenn die Person, die diese aufheben will, nicht heranreicht.

Therapeutische Erziehung

Mit Prof. Gerhard Neuhäuser und Prof. Ferdinand Klein berichten ein Arzt und ein Pädagoge gemeinsam von langjährigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Anhand zahlreicher Fallbeispiele wird deutlich, wie Kinder durch therapeutische Erziehung Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit von Beginn an erleben und wie sie von der Entwicklungsunterstützung persönlich profitieren können. Das Buch enthält viele Anregungen für ein kindgemäßes pädagogisches Handeln. 

Neuhäuser/Klein: Therapeutische Erziehung, 192 Seiten, ISBN: 978-3-96304-605-6, Burckhardthaus 2019

Kleine Kinder spüren also die Gefühle und Absichten bei anderen Menschen und sind fähig, Mitgefühl und Mitleid zu erleben. Sie pflegen mit ihren veranlagten Kräften eine Willkommenskultur, bei der die Unterschiede im Wollen, Wissen und Können von herausragender Bedeutung sind: Die Unterschiede fördern ihre Kommunikation, weil sie ein angeborenes Grundverständnis für soziale Situationen haben und anderen Menschen helfen wollen (Klein 2018, S. 113 f.).

Kinder wollen miteinander selbstwirksam tätig sein

Auf diese sozio-emotionale Grundfähigkeit des Kindes baut der Perspektivwechsel auf, der für die inklusive Lernkultur bedeutsam ist: Wenn Kinder mit Behinderungen wie selbstverständlich in der Gruppe sind, dann sind die Herausforderungen und Anregungen zum Perspektivwechsel groß.

Kinder wollen miteinander selbstwirksam tätig sein, aus eigener Kraft ihre Lebenswelt erfahren und gestalten. Ihr veranlagtes Bedürfnis ist in der hochtechnisierten Welt gefragter denn je. Ihrem Ur-Bedürfnis ist in Projekten, Erlebnis- und Handlungsfeldern zu entsprechen. Kinder mit und ohne Behinderung können gemeinsam in Spiel- und Lernsituationen ihre Alltagserfahrungen machen und ordnen und auf diese Weise ihre persönliche Identität aus eigener Kraft aufbauen.

Fazit: Geboten ist Inklusion als gelebte Haltung, als situationsorientierte Hilfe, Führung und Begleitung, was ohne (selbst)kritisches Nachdenken der pädagogischen Fachkraft nicht möglich ist. Darauf macht uns der international bekannte Kindheitspädagoge Armin Krenz nachdrücklich aufmerksam. Sein „Situationsorientierter Ansatz“ (Krenz 2021) ist tief im Humanismus der Reformpädagogik von Janusz Korczak verwurzelt, er wird im heilpädagogischen Buch „Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule“ von Ferdinand Klein (2018) und im heilpädagogisch-ärztlichen Buch von Gerhard Neuhäuser und Ferdinand Klein „Therapeutische Erziehung“ (2019) näher ausgeführt.

Literatur

Gruen, A. (2003): Wie man ein Kind lieben soll. In: publik-forum, journal nr. 6

Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks. München, BurckhardtHaus

Korczak-Bulletin (2015): 24. Jg., Ausgabe September, S. 2

Korczak, J. (1973): Wenn ich wieder klein bin. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht

Korczak, J. (1978): Wie man ein Kind lieben soll. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht

Krenz, A. (2021): Der Situationsorientierte Ansatz – auf einem Blick. 2. Auflage, München, BurckhardtHaus

Krenz, A./Klein, F. (2012): Bildung durch Bindung. Frühpädagogik: inklusiv und beziehungsorientiert. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

Neuhäuser, G./Klein, F. (2019): Therapeutische Erziehung. Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule. München, BurckhardtHaus

.




Inklusion beginnt in den Köpfen und in den Herzen

down kind mit brille

Ein Interview mit Prof. Dr. Thomas Maschke über Inklusion und warum sie ein Gewinn für uns alle wäre:

Bei Spielen und Lernen geht es uns immer in erster Linie um die Kinder und die Menschen, die sich um die Kinder kümmern. Deshalb lautet unsere Kernfrage: „Was können wir dazu tun, um Kinder in ihrer Entwicklung optimal zu unterstützen?“ Diesmal geht es um Inklusion. Mit Herrn Professor Thomas Maschke konnten wir einen bekannten Wissenschaftler und Praktiker für unser Interview gewinnen. Wir hätten ihn eigentlich noch viel mehr fragen müssen, nur hätte dies den Rahmen komplett gesprengt

spielen und lernen: Herr Professor Maschke, Sie sind Professor für inklusive Pädagogik mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Sie leiten das Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität an der Alanus Hochschule in Mannheim. Sie haben Pädagogik, Sonderpädagogik und Behindertenpädagogik sowie Waldorfpädagogik studiert. Das ist ja eine ganze Menge. Sie haben dann auch noch zwei Mal promoviert. Da würde uns natürlich als allererstes interessieren, wie kommt man auf so einen Bildungsweg?

thomas maschke
Prof. Dr. Thomas Maschke, geboren 1962 in Wolfenbüttel, Vater von vier erwachsenen Kindern, lebt in Überlingen am Bodensee. Er ist Professor  für Inklusive Pädagogik mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung an der Alanus Hochschule in Mannheim. Dort leitet er auch das Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität.

Thomas Maschke: Vielen Dank für die Frage. Ich fange mal von mir ganz basal an und damit komme ich auch schon fast zu einer Kernaussage. Als junger Mann wollte ich Philosophie studieren, weil ich mich schöngeistigen Ideen hingegeben habe. Das war mein Ziel. Ich ging dann nach Würzburg, um meinen Zivildienst in einer Kinderklinik zum machen. Dort habe ich sogenannte schwerst-mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche gepflegt. Und dann wollte ich dort im Anschluss studieren. Aber das Verhältnis, das ich zu diesen Kindern entwickelt habe, hat mich dann von meinen schöngeistigen Ideen weggebracht. Ich erlebte, was Begegnung tatsächlich macht. Begegnung mit den Kindern, Verbindlichkeit, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit mit diesen Kindern zu arbeiten. Daraufhin habe ich mich entschlossen Sonderschullehrer zu werden und Sonderpädagogik zu studieren.

Ich erlebte, was Begegnung tatsächlich macht. Begegnung mit den Kindern, Verbindlichkeit, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit mit diesen Kindern zu arbeiten.

sl: Können sie uns ein einschneidendes Erlebnis aus dieser Zeit schildern?

TM: Für mich sind Elemente aus dieser Zeit sehr unmittelbar noch in Erinnerung. Ich hatte einen jungen Mann zu pflegen, der ein Jahr jünger war als ich. Er wog 27 Kilo als ich kam, bei einer Körpergröße von einem Meter fünfzig. Und als ich gegangen bin, wog er über 40 Kilo. Das heißt, die Beziehung, das zuverlässige da sein, das regelmäßige da sein, natürlich über die Zeit hinaus, all das führte dazu, dass er auch an Lebenskräften zunahm. Das ist tatsächlich etwas, was sich auch ganz real zeigte.

Ich habe Sonderpädagogik studiert und mich den Kindern gewidmet, die unter manchen Umständen aus dem System herausfallen. Das war mir wichtig. Das war in den achtziger Jahren, in denen man Menschen mit Beeinträchtigungen noch nicht unbedingt im Straßenbild sah. Und ich weiß noch genau, wie es mir ergangen ist, als ich mit einem Jungen, den ich dort nur für eine kurze Zeit betreut hatte, ins Kino gegangen bin. Man ist im Grunde dafür angefeindet worden, dass man die Öffentlichkeit jetzt mit so einem Menschen im Rollstuhl konfrontierte. Wir könnten uns fragen: „Ist das denn heute grundlegend anders? Oder ist es vielleicht nur unter dem Mäntelchen von political correctness verborgen?“ Das ist eine große Frage.

Thomas Maschke (Hg.)

Bildungsinnovation: Impulse aus Reformpädagogik und Inklusiver Pädagogik
Impulse für [schulische] Entwicklungen aus „klassischer“ Reformpädagogik und Inklusiver Pädagogik.

Die Unterzeichner-Staaten der UN-Behindertenrechtskonvention haben sich auf dem Feld der Bildung (Art. 24) zu einem umfassenden Reformprozess verpflichtet. Inklusive Pädagogik kann daher als aktuell-innovative reformpädagogische Entwicklung bewertet werden, besonders insofern sie die Möglichkeiten und Potenziale aller Schüler*innen für Aktivität und Teilhabe aufgreift. Grundlagen, Persönlichkeiten und praktische Erfahrungen aus der „klassischen“ Reformpädagogik können in vielerlei Hinsicht für diesen Prozess hilfreich sein. Sie werden in diesem Buch umfassend dargestellt und können zur Entwicklung eigener innovativer pädagogischer Praxis anregen.

Mit zahlreichen SW-Abbildungen, 288 Seiten
ISBN: 9783990530313
30 €

sl: Wie ging es dann weiter?

TM: Ich habe den Ort gewechselt, weil Würzburg doch relativ konservativ war und ging nach Bremen, an die sogenannte Reform-Universität. Dort habe ich Georg Feuser kennengelernt.Feuser hat einen interessanten Satz geprägt. Der hat nämlich den Buberschen Satz „Der Mensch wird am Du zum Ich.“, dahingehend erweitert, dass er sagte: „Er wird zu dem Ich, dessen Du wir ihm sind.“

Wir sind die personale Umgebung dafür, wie Kinder oder wie Menschen sich überhaupt entwickeln.

Also wir sind die personale Umgebung dafür, wie Kinder oder wie Menschen sich überhaupt entwickeln. Und das habe ich dann in 23 Jahren als Sonderschullehrer an einer Schule, damals hieß sie Schule für Erziehungshilfe, versucht zu leben.

sl: Das war an der Kaspar-Hauser-Schule…

TM: Das war die Kaspar Hauser Schule in Überlingen, eine Waldorf Sonderschule. Ich habe dort als Klassenlehrer gearbeitet und später auch als Schulleiter. Als Klassenlehrer in einer Schule mit Waldorf Hintergrund ist man viele Jahre für eine Klasse verantwortlich. Ich habe in meinem letzten Durchgang die Kinder von der ersten bis zur neunten Klasse durchgängig als Klassenlehrer betreut.

Kann ich mich einlassen darauf, tatsächlich in die Begegnung zu gehen?

Ich habe immer alle Kinder aufgenommen. Das war auch so ein Moment. Ich erinnere mich an eine Situation, als mich ein verzweifelter Vater am Ende der Sommerferien anrief und sagte, er habe keine Schule für seine Tochter. Und ich habe gesagt: „Tut mir leid, die Klasse ist voll. Ich kann es den anderen Kindern gegenüber auch nicht verantworten.“ Der Vater war sehr geschickt. Er kam einfach am ersten Schultag mit seiner Tochter und stellte sie mir vor. Natürlich habe ich sie genommen. Ich habe immer alle Kinder genommen, die ich gesehen habe. Aber das ist so ein Moment. Und daran sehen sie wieder, das ist Begegnung. Kann ich mich einlassen darauf, tatsächlich in die Begegnung zu gehen?

sl: Der Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist ja auch emotionale und soziale Entwicklung.

TM: Genau!

sl: Was kann man darunter gegenüber dem verstehen, was Sie uns jetzt schon gesagt haben?

TM: Wir stellen uns durch unser Verhalten ja in einer bestimmten Weise in die Welt. Und wir erleben. Also, wir nehmen auf und wir zeigen uns nach außen. Man spricht in der heilpädagogischen Psychologie davon, dass die Seele quasi eindrucks- und ausdrucksfähig ist. Ich bekomme Eindrücke. Und so wie es mir geht, drücke ich es wiederum nach außen aus. Wenn das nicht harmonisch oder belastet ist, zeigt sich das in Formen, die wir als gestört oder als schwierig im Sinne von Verhalten ausdrücken. Früher hieß diese Pädagogik Verhaltensgestörten-Pädagogik. Heute sagt man, es gibt einen Förderschwerpunkt für die emotionale und soziale Entwicklung. Das heißt: Die emotionale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen ist durch spezifische Umstände beeinträchtigt. Damit sind sie auch nicht handlungsfähig in einer vielfältigen und adäquaten Weise. Aber man merkt, wenn ich so ein bisschen stammele, dann liegt das daran, dass da ganz viel Bewertung drin ist.

Ich muss das Verhalten verstehen, unter Umständen auch aus einer Geschichte heraus. Dann kann ich auch Unterstützung geben, vielleicht andere Erlebnisformen auch zu erweitern und zu ermöglichen für Kinder, Jugendliche, aber auch für Erwachsene.

Was ist denn das richtige Verhalten? Ist mein Verhalten angemessen ihnen gegenüber? Man spricht eigentlich davon, wenn man genauer hinschaut, dass die Kinder und Jugendlichen oder eigentlich jeder Mensch sich immer positiv verhalten möchte, weil sie oder er in Beziehung sein möchte. Das heißt, mein Verhalten ist eigentlich Ausdruck meiner aktuellen Fähigkeit. Deswegen ist es auch kein Defizit, sondern es ist eigentlich die bestmögliche Art, mich zu verhalten. Und Deswegen muss ich schauen, warum sich ein Mensch so verhält. Also ich muss das Verhalten verstehen, unter Umständen auch aus einer Geschichte heraus. Dann kann ich da quasi auch Unterstützung geben, vielleicht andere Erlebnisformen auch zu erweitern und zu ermöglichen für Kinder, Jugendliche, aber auch für Erwachsene.

sl: Und das bei Kindern, jetzt Jugendlichen, mit einem besonderem Förderbedarf. Habe ich das richtig verstanden.

TM: Naja, der Förderbedarf gestaltet sich dann oder wird dann evident, wenn Kinder und Jugendliche tatsächlich in ihren Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeiten vereinseitigen. Man spricht von zwei grundlegenden Tendenzen. Die eine ist zum Beispiel: Sie kennen alle diese sogenannten „aggressiven“ Kinder oder jetzt auch „hyperaktiven“ Kinder. Hier geht man davon aus, dass diese Kinder tatsächlich in ihren Handlungsweisen vereinseitigen. Das heißt, sie sind einerseits sehr expansiv, aber die Arten des Ausdrucks, also die Bandbreite, die Möglichkeiten, sind quasi eingeschränkt. Das ist immer ähnlich. Und das mag unterschiedliche Gründe haben. Das können physiologische Gründe sein. Es können aber auch Fragen von Erziehung, von Sozialisation sein. Was sich da auch immer bis dahin getan hat.

sl: Ich wollte nur mal auf einen Punkt zurückkommen, den Sie vorhin erwähnt haben. Sie haben erwähnt, wenn Sie früher mit den Kindern irgendwo hingegangen sind, dann sind Sie auf große Ablehnung gestoßen. Hat sich heute diesbezüglich etwas verändert? Hat sich denn in der Beziehung etwas verändert?

TM: Ja, es hat sich was verändert, aber es hat sich nicht genug verändert. Es hat sich einerseits verändert, dass wir darüber reden, dass es normal ist, verschieden zu sein. Da ist dieser Satz von Richard von Weizsäcker: „Es ist normal, verschieden zu sein.“ Der ist irgendwie Allgemeingut geworden. Andererseits leben wir in einer Welt, die sehr utilitaristisch geprägt ist. Es geht um Machbarkeit; es geht um Nutzbarmachung. Und wenn Sie etwa die Diskussionen um die Pränataldiagnostik verfolgen, dann ist eine Pränataldiagnose Down-Syndrom zu 95 Prozent ein Todesurteil. Insofern stellt sich die Frage tatsächlich, ob es akzeptiert ist, verschieden zu sein. Man kann sie auf verschiedenen Ebenen beantworten. Ich denke, bewusstseinsmäßig ist da einiges passiert. Aber wir haben diesen Umschwung, tatsächlich jeden Menschen so zu nehmen, wie sie oder er ist und das als positiv zu bewerten, noch lange nicht erreicht.

Wir haben diesen Umschwung, tatsächlich jeden Menschen so zu nehmen, wie sie oder er ist und das als positiv zu bewerten, noch lange nicht erreicht.

Und gerade weil ich das Beispiel Down-Syndrom erwähne: Mir berichten Eltern, deren Kind tatsächlich mit einer Trisomie 21 geboren wurden, dass sie beim Stadtspaziergang angesprochen werden. So nach dem Motto, „da hätte man doch was machen können“ …. Da haben Sie recht, wenn Sie sich schütteln, weil es grausam ist. Aber es ist natürlich Ausdruck dessen, wie wir mit einem Normalitätsbegriff umgehen, der nach Nutzbarkeits- Gesichtspunkten die Menschen bewertet. Ich finde, das kann sich jeder Mensch auch fragen: Wo geht es mir denn so? Wo gehe ich mit meinem Kind so um, dass ich sage, jetzt muss es aber mal schnell gehen zum Beispiel. Wo habe ich bestimmte Erwartungen an meine Partnerin, dass es so und so laufen muss? Wie gehe ich mit Schülerinnen und Schülern um, wie in der Kita? Das sind ja alles wichtige Fragen. Und ich glaube, da tragen wir tief in uns etwas, das wir als Gesellschaft noch lange nicht überwunden haben; einzelne Menschen natürlich schon.

sl: Ist das die größte Herausforderung für die Inklusion, oder sehen sie diese auch noch woanders?

TM: Es wird gesagt, Inklusion beginnt in den Köpfen und in den Herzen. Das würde ich eindeutig unterschreiben. Dieser Satz wird von vielen AutorInnen immer wieder betont. Aber dennoch: Wenn wir Inklusion in Schule und Kitas umsetzen wollen, handelt es sich um ein gesamtgesellschaftliches Projekt. Wir bekommen es aber nicht zum Nulltarif. Das ist einfach so. Es kostet Geld. Nur geht es dabei nicht um die Menschen mit besonderen Bedürfnissen, sondern es geht bei der Umsetzung von Inklusion um alle Menschen.

Nur geht es dabei nicht um die Menschen mit besonderen Bedürfnissen, sondern es geht bei der Umsetzung von Inklusion um alle Menschen.

Das heißt, wir profitieren alle von besseren Bildungsangeboten. Und wenn wir in Schulen Lehrkräfte immer im Team arbeiten lassen würden, dann würden davon alle profitieren und nicht nur die Kinder mit einer Beeinträchtigung.

Götz Kaschubowski / Thomas Maschke (Hrsg.)

Anthroposophische Heilpädagogik in der Schule
Grundlagen – Methoden – Beispiele

Die Anwendung anthroposophischen Denkens auf die Heilpädagogik geht auf Rudolf Steiner zurück, der seinen heilpädagogischen Kurs als eine Vertiefung der Waldorfpädagogik betrachtete. In Deutschland gibt es heute ca. 80 anthroposophische heilpädagogische Schulen und ca. 15 integrativ arbeitende Waldorfschulen.  Das Buch erörtert die Grundlagen zur Geschichte, der Methodik, zum Curriculum und zur Lernpsychologie. Anhand von Unterrichtsbeispielen wird das an diesen Schulen praktizierte Bildungsmodell anschaulich. Entlang einzelner Schulportraits werden die Profile der Institutionen deutlich und die „Spezifika’“ im Schulalltag herausgestellt. Das Konzept des Buches ist so gestaltet, dass es in der Aus- und Fortbildung von Lehrern für diese Einrichtungen zum Einsatz kommen kann. Zugleich richtet es sich auch an interessierte Fachkollegen.

244 Seiten
ISBN: 978-3-17-022479-7
29,90 €

Der Ehrenvorsitzende des Allgemeine Behindertenverband in Deutschland, Ilja Seifert, war Bundestagsabgeordneter und lebt im Rollstuhl. Er hatte immer die Forderung nach „Sonderschulen für alle“. Er sagte, dass das, was da an Ressourcen, an Möglichkeiten und personellen und auch sachlichen Ressourcen vorhanden sei, das müssten eigentlich alle Kinder zur Verfügung haben. Wir brauchen Rahmenbedingungen, ganz klar.

sl: Nun waren sie viele Jahre lang Lehrer und dann Schulleiter an einer Schule, wo es eben um die ganz gezielte Förderung von Menschen mit Behinderungen ging. So wie ich das aber mitbekommen habe, sind Sie jemand, der auch ganz, ganz massiv für das Thema eine Schule für alle eintritt. Wie vereinbart sich das?

TM: Jetzt haben Sie meinen biografischen Widerspruch erwischt. Wobei, das ist vielleicht kein Widerspruch. Wenn wir uns die Inklusionsdebatte anschauen oder die Genese von Inklusion, dann kommt sie aus zwei Richtungen. Die eine ist tatsächlich die Sonderpädagogik. Die Menschen, die in der Sonderpädagogik gearbeitet haben, die führenden „Pioniere“ sind jetzt alle Menschen um die 80 herum, haben tatsächlich mit ihrem sonderpädagogischen Blick diesen Kindern überhaupt ein Bildungsrecht zugesprochen. Das ist die eine Richtung. Das war in der Schulpädagogik nicht vorhanden. Und da komme ich auch her. Das heißt, ich habe Kinder kennengelernt. Ich habe Familiensysteme kennengelernt. Ich habe schulische Katastrophen kennengelernt, die mich dazu bewogen haben, nicht nur diesen Kindern zu helfen, das war meine sonderpädagogische Tätigkeit, sondern tatsächlich dafür zu werben und auch dafür zu arbeiten, Schule so zu verändern, dass diese Kinder nicht mehr rausfallen.

Georg Feuser, Thomas Maschke (Hg.)

Lehrerbildung auf dem Prüfstand
Welche Qualifikationen braucht die inklusive Schule?

Bereits seit vier Jahrzehnten werden Integration und Inklusion in der Schule diskutiert und praktiziert. Dennoch wird die aktuelle LehrerInnenbildung den Ansprüchen eines inklusiven Schulwesens nicht gerecht. Diesen unbefriedigenden Zustand nehmen die FachautorInnen zum Anlass, die Voraussetzungen gelingender inklusiver Schul- und Unterrichtspraxis herauszuarbeiten. Die Rahmenbedingungen werden ebenso erörtert wie rechtsphilosophische Grundfragen und Möglichkeiten der Bewältigung alltäglicher Grenzerfahrungen von PädagogInnen durch Aus- und Weiterbildung sowie beratende Prozesse. Eine ausführliche Darstellung bestehender Ausbildungsgänge und -formen rundet den Band ab.

352 Seiten
ISBN 978-3-8379-2300-1
29,90 €

Ich habe in den vergangenen Jahren meiner schulischen Tätigkeit verstärkt den sogenannten sonderpädagogischen Dienst gemacht. Das heißt, wenn eine Schule rief und sagte: „Wir haben hier ein schwieriges Kind“, dann habe ich geantwortet: „Okay, ich komme, mal gucken, wie das Problem um das Kind ist.“ Die Leute dort nahmen dann an, ich käme und würde das Kind mitnehmen. Und da habe ich gesagt: „Nein, ich komme und versuche euch zu helfen, dass das Kind bleiben kann. Dafür ist aber eine gewisse Fachlichkeit notwendig, um zu verstehen, warum zum Beispiel Kinder sich so und so verhalten. Insofern brauchen wir tatsächlich auch eine ganz bestimmte Expertise im Sinne von Diagnose und auch von pädagogischen Fähigkeiten. Es gibt Menschen, die sagen, Inklusion braucht die Sonderpädagogik. Ich würde das ein bisschen relativieren. Ich würde sagen, wir brauchen multiprofessionelle Teams, die sich gegenseitig tatsächlich befruchten und gegenseitig offen sind für die jeweilige Expertise des oder der anderen.

Es gibt Menschen, die sagen, Inklusion braucht die Sonderpädagogik. Ich würde das ein bisschen relativieren. Ich würde sagen, wir brauchen multiprofessionelle Teams, die sich gegenseitig tatsächlich befruchten und gegenseitig offen sind für die jeweilige Expertise des oder der anderen.

sl: Sie haben auch ein Buch zum Thema Lehrerausbildung geschrieben. Was braucht die Schule der Zukunft dann? Wären das dann diese Lehrerteams, die Sie gerade beschrieben haben. Können Sie noch ein bisschen näher darauf eingehen?

TM: Mir ist es wichtig, dass es hier um multiprofessionelle Teams geht. Also wie verstehe ich mich in meiner Lehrerrolle? Bin ich quasi der König, der auch mit geschlossenen Türen in seinem Reich regiert oder bin ich offen dafür, dass ich Anregung bekomme? Das heißt, ich muss mich immer weiter bilden.

Wenn sie meinen, sie sind fertiger Lehrer, dann gehen Sie bitte in Rente.

Das ist etwas, das niemals abgeschlossen ist. Ich sage meinen Studierenden immer: „Wenn sie meinen, sie sind fertiger Lehrer, dann gehen Sie bitte in Rente.“ Wir sprechen heute von drei Phasen der Lehrerbildung: Die erste ist die universitäre Lehrerbildung, die zweite die Praxis-Ausbildung und die dritte die lebenslange Weiterbildung. Das finde ich ganz wesentlich. Das heißt, in der ersten Phase ist es natürlich wichtig, dass man auf der theoretischen Ebene sich mit den unterschiedlichen Bedingungen des Menschseins auseinandersetzt. Also auch mit Formen von Beeinträchtigung, mit Exklusionsmechanismen und vielem anderen. In der zweiten Phase kennenlernen, ausprobieren und in der dritten Phase quasi immer wieder neu Schule gestalten. Und damit ist das eine Anforderung, die sich an die an die Lehrkräfte dauerhaft und lebenslang richtet.

sl: Das war eigentlich schon ein schönes Schlusswort. Dann danke ich Ihnen für dieses Interview und wünsche Ihnen weiter viel Erfolg. Wiedersehen!

TM: Vielen Dank. Auf Wiedersehen.

sl: Danke Ihnen.