Schule der Zukunft: gerechter, inklusiver, demokratischer

Bündnis „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“ veröffentlicht Broschüre zu 100 Jahre Schulreform

Das Bündnis „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“ macht sich für einen Kurswechsel in der Politik stark und mahnt die inklusive Schule für alle Kinder an. „Die Corona-Schulpolitik ist kurzsichtig, betriebs- und geschichtsblind. Die Probleme, die den Umgang mit der Pandemie erschweren, lassen sich weit in die deutsche Vergangenheit zurückverfolgen“, sagte Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), mit Blick auf die Veröffentlichung einer Broschüre zu 100 Jahren Schulreform in Deutschland. „In der Corona-Krise haben wir die Erfahrung gemacht, dass Schulen, die das selbstständige und inklusive Lernen der Schülerinnen und Schüler fördern und Vielfalt wertschätzen, besser für die Herausforderungen der Pandemie gerüstet waren. Das zeigen auch die aktuellen Preisträger-Schulen des Deutschen Schulpreises.“

Selektive und benachteiligende Strukturen Abbauen

Die Broschüre des Bündnisses mache deutlich, dass das Schulsystem der Zukunft – vor allem angesichts der Pandemie-Erfahrungen – gerechter, inklusiver und demokratischer werden muss. „Über Fragen des Gesundheitsschutzes, der Digitalisierung oder des Aufholens von ‚Lernrückständen‘ hinaus müssen die Kultusministerien endlich auch die selektiven und benachteiligenden Strukturen und Routinen abbauen, um das Schulsystem krisenfest und gerechter zu machen“, betonte Hoffmann. 

Gründe für „steckengebliebene“ Schulreform

Die Veröffentlichung „1920 – 2020. Schulreform in Deutschland – Eine (un)endliche Geschichte?!“, die Marianne Demmer, ehemaliges langjähriges GEW-Vorstandsmitglied, im Rahmen der Schriftenreihe des Bündnisses verfasst hat, zeigt aus historischer Perspektive die Gründe für die „steckengebliebene“ Schulreform in Deutschland auf. Reichsschulkonferenz und die Schulkompromisse der Weimarer Republik jährten sich 2020 zum 100. Mal.

Endlich Konsequenzen ziehen

„100 Jahre sind Anlass genug, innezuhalten und endlich Konsequenzen zu ziehen. Die Probleme und Argumente gegen ein gerechteres Schulsystem und inklusivere Strukturen ähneln sich leider bis heute“, betonte Dieter Zielinski, Vorsitzender der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule – Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens (GGG). „Unsere Broschüre zeigt, wie tief das gegliederte Schulsystem mit dem zusätzlichen Sonderschulsystem noch im ständischen Denken des vorletzten Jahrhunderts verankert ist“, sagte Zielinski. „Die Gesamt- und Gemeinschaftsschulen sind weiterhin die Stiefkinder der deutschen Schulpolitik, obwohl sie nachweislich alle Lernenden gut fördern und es am ehesten schaffen, den Lernerfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln“, stellte er fest.

Selektion kommt viel zu früh

„Noch immer werden Kinder in Deutschland zu früh selektiert“, kommentierte Edgar Bohn, Vorsitzender des Grundschulverbands, die Veröffentlichung. Deutschland hinke in Sachen Schulstruktur und Schulorganisation weiter anderen Ländern hinterher, in denen die Kinder viel länger gemeinsam lernen, ergänzte der Grundschul-Experte. „Das setzt die Grundschule, die vergleichsweise gut mit Vielfalt umgeht, unnötig unter Druck. Es kann nicht sein, dass bereits zehnjährigen Kindern signalisiert wird, welche Berufe für sie in Frage kommen. Zu den ‚blinden Flecken‘ der Corona-Politik gehört die Vererbung von Bildungsprivilegien und Bildungsarmut. Damit muss endlich Schluss sein“, so Bohn.

Aus Sicht des Bündnisses „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“ hätten die Kultusministerinnen und -minister mit ihrer „Ländervereinbarung“ vom Oktober vergangenen Jahres und ihrem Pandemie-Fokus auf Übergänge, Abschlüsse und Leistungen ein weiteres Mal signalisiert, dass sie die selektiven und benachteiligenden Strukturen im Schulwesen nicht in Frage stellen.

Quelle: Pressemitteilung GEW




Demokratische Erziehung sollte dem Leitbild von Korczaks „Grundgesetz für das Kind“ folgen

Inklusion als gelebte Haltung, situationsorientierte Hilfe, Führung und Begleitung

Mit Janusz Korczaks „Grundgesetz für das Kind“ ist die inklusive Pädagogik neu zu vermessen. Denn das Maß liegt im Menschen und nicht in den Dingen. Gefragt ist besonders die Früh- oder auch Elementarpädagogik: Denn sie legt den Grundstein für eine menschengerechte demokratische Erziehung und Bildung. Korczaks Erziehungskunst steht als Angebot. Jedes Kind gibt der pädagogischen Fachkraft neue Rätsel auf. Darin liegt der immer wieder neue Anreiz, sich mit Kindern auf eine nie endende Entdeckungsreise zu begeben.

Im Grundgesetz für das Kind gründet Korczaks Pädagogik der Achtung

Die im Jahre 2006 verabschiedete UN-Charta der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), ist mit der großen Hoffnung verbunden, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Menschlichkeit werden kann. Nach dem Untergang der Humanität im 20. Jahrhundert, wird nun das Jahrhundert der Humanisierung ausgerufen und entschieden darauf hingewiesen, dass Menschen mit Behinderungen „einen bedeutsamen Beitrag zur Humanisierung der Menschheit leisten“ (Krenz/Klein 2012, S. 49 ff.).

Die Konvention gibt uns einen Spiegel in die Hand, jeden Menschen zu achten, sich für ihn wirklich zu interessieren und ihm bei seiner Entwicklung beizustehen, ihm soweit zu helfen, bis er das werden kann, was in ihm keimhaft angelegt ist: Aus eigener Initiative seine Entwicklung selbst in die Hand nehmen und gestalten. Danach sehnt sich in der Tiefe seines Herzens jeder Mensch. Das erkannte der feinfühlende polnische Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak, der mit seinen 200 Heimkindern am 5. August 1942 in das Vernichtungslager Treblinka ging. Er lehnte alle Versuche zu seiner Rettung ab. Denn er wollte die Kinder nicht allein lassen.

Die Kinderrechte nach Korczak

Bereits 1919 formulierte Korczak Kinderrechte: „Ich fordere die Magna Charta Libertatis (die große Charta der Freiheiten; Anm. F. K.) als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch andere – aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden:

1. „Das Recht des Kindes auf seinen Tod“ = dem Kind die Ausformung seines Lebens zutrauen.
2. „Das Recht des Kindes auf seinen heutigen Tag“ = die Gegenwart des Kindes achten, die nicht einer ungewissen Zukunft geopfert werden darf.
3. „Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist“ = dem Kind sein Kindsein erlauben und ermöglichen (Klein 2018, S. 70 f.).

Mit diesem Grundgesetz für das Kind wird erstmals in der Geschichte der Erziehung die Respektierung von Kinderrechten gefordert.

Das erste Grundrecht kann irritieren. Korczak stellt das Leben mit seinen Gefährdungen und Risiken in die Eigenverantwortung des Kindes. Doch durch Angst und Überfürsorge werden ihm die Möglichkeiten vorenthalten am eigenen Leib seine Erfahrungen zu sammeln und zu ordnen. Eine pädagogische Fachkraft, die hingegen dieses Grundrecht achtet und dem Kind auf sein eigenes Risiko hin seine Erfahrungen ermöglicht, gibt die fordernde Zukunftsorientierung auf und hat die Gegenwart des Kindes im Blick, seine Individualität hier und heute. Es kennt weder Vergangenheit noch Zukunft, es freut sich der Gegenwart.  Mit Korczak erhält die pädagogische Verantwortung gerade deswegen einen neuen Akzent, weil die pädagogische Fachkraft die Gegenwart für das Kind einfühlsam und gründlich zu gestalten hat.

Jeder Versuch eines einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.

Friedrich Dürrenmatt

Den drei Grundrechten stellt Korczak ein oberstes Prinzip voran: „Das Recht des Kindes auf Achtung. Es ist das erste und unbestreitbare Recht des Kindes, seine Gedanken auszusprechen und aktiven Anteil an unseren Überlegungen und Urteilen über seine Person zu nehmen. Wenn wir ihm Achtung und Vertrauen entgegenbringen und wenn es selbst Vertrauen hat und sich ausspricht, wozu es das Recht hat, – wird es weniger Zweifel und Fehler geben.“ (Korczak 1978, S. 40 f.).

Fazit: Korczaks Kinderrechte haben einen wesentlichen Einfluss auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Dieses Behindertengrundrecht ist für alle Beteiligten ein einfühlsamer Lernprozess – für behinderte und nichtbehinderte Kinder, für Eltern, Erzieher und alle Bürger: Inklusion ist gelebte Demokratie, ein demokratischer Begriff und eine demokratische Notwendigkeit.

Rechtskonvention, ein verbindlicher Handlungsrahmen

Die Rechtskonvention stellt Inklusion als umfassende kulturelle Herausforderung ins Zentrum der weltweiten öffentlichen und fachlichen Diskussion. Sie will für alle Bürger ein Leitbild moderner Sozialpolitik und ein verbindlicher Handlungsrahmen für die Praxis sein. Sie spricht von der Verpflichtung in allen Bereichen und bei allen Mitgliedern der Gesellschaft ein Bewusstsein für die Rechte und Würde behinderter Menschen zu schaffen, diskriminierende Praktiken und Vorurteile abzubauen.

In Artikel 26 der Konvention heißt es: „Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, […] um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren. Die deutschsprachige Übersetzung finden Sie hier.

Die Konvention wird seit März 2009 in deutsches Recht umgesetzt. Sie

  • geht davon aus, dass Behinderung ein soziales Phänomen ist, das aus einstellungs- und umweltbedingten Barrieren resultiert; dadurch wird seine volle gesellschaftliche Teilhabe verhindert oder beeinträchtigt.
  • würdigt Behinderung als Teil der Vielfalt menschlichen Lebens.
  • will Teilhabe stärken und Ausgrenzungen verhindern.
  • versteht die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern von der frühen Kindheit an als Menschenrecht – und nicht als Wohltätigkeit.

Alle Menschen haben das Recht auf gemeinsame Erziehung und Bildung

Alle Menschen mit Behinderungen haben nun von Anfang an einen Rechtsanspruch auf gemeinsame Erziehung und (Aus-)Bildung sowie gesellschaftliche Teilhabe ohne Diskriminierung und Marginalisierung. Ihre volle gesellschaftliche Teilhabe ist ein einklagbares Recht.

Diese uneingeschränkte Anerkennung und Achtung der Würde jedes Menschen und die daraus folgende Gleichheit der Verschiedenen sind im beginnenden 21. Jahrhundert ein zentrales ethisches Prinzip geworden. Das Prinzip kann als Antwort auf extrem demütigende Erfahrungen vieler Menschen in zurückliegenden Jahrhunderten, besonderes im 20. Jahrhundert und damit als Ergebnis eines Bildungsprozesses der westlichen Demokratien verstanden werden. Das Recht ist die Basis für unser Zusammenleben. Es schützt die unantastbare Würde des Menschen.

Das Bewusstsein der gleichen Würde jedes Menschen hat sich durchgesetzt. Es erfordert eine Vertiefung und Erweiterung der frühpädagogischen Professionalität. Wie kann die (Früh-)Pädagogik in Wissenschaft, Forschung und Praxis dieser Aufgabe entsprechen? (Klein 2018, S. 14 ff.)

Inklusive Erziehung von Anfang an

Das Menschenrechtsverständnis der UN-BRK achtet das Kind als Subjekt und Akteur seiner Entwicklung, ebenso seine Grundbedürfnisse und Grundbedarfe, seine Individualität und Sozialität; unterstützt (begleitet, leitet, führt) den Willen des Kindes zur Eigenaktivität, sein Selbstwirksamwerden, sein sich entwickelndes Verantwortungsbewusstsein für das eigene Recht, für das Recht des anderen Menschen und seine wachsende Selbstbestimmung in sozialer Abhängigkeit.

Die Rechtstexte machen keine Aussagen über die gesellschaftliche Wirklichkeit, enthalten aber verbindliche Normen, an denen die Wirklichkeit der inklusiven Kindertageseinrichtung gemessen werden kann. Aus dem, was ist, soll durch handelnde Menschen das werden, was sein soll. Diese Spannung zwischen Realität und Idealität ist eine bewegende Kraft des republikanischen Rechtsstaats, die Inklusion ohne moralische Überhöhung als Realvision zu sehen hat. Inwieweit die Entwicklung sich dem Ziel annähert und vor allem, ob es wirklich erreicht werden kann, bleibt eine offene Frage. Ihre Beantwortung hängt von vielen Faktoren ab, die nicht allein in der Hand der pädagogischen und therapeutischen Fachkräfte liegen. Doch durch professionelle Selbstdarstellung der Kita in der Öffentlichkeit kann vieles erreicht werden.

Kinder geben ermutigende Beispiele für eine inklusive Lernkultur

Auf dem Weg zur inklusiven Erziehung von Beginn an können Kinder heterogene Gruppen Mut machen: Im Umgang miteinander nehmen sie die Unterschiede als gegeben an, entwickeln Neugierde füreinander und wollen einander helfen. Kinder mit Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, der Bewegung, des Denkens (der kognitiven Entwicklung) oder des Verhaltens können wie selbstverständlich in der Gruppe lernen.

Neurobiologische Forschungen zeigen, dass bereits Säuglinge Urformen der Sympathie empfinden. Bald beginnen sie zwischen ‘guten‘ und ‘bösen‘ Taten zu unterscheiden. Gut ist, anderen zu helfen und böse, anderen zu schaden. Schon einjährige Kinder helfen ohne vorherige Übung fremden Erwachsenen: Sie heben beispielsweise heruntergefallene Gegenstände auf, wenn die Person, die diese aufheben will, nicht heranreicht.

Therapeutische Erziehung

Mit Prof. Gerhard Neuhäuser und Prof. Ferdinand Klein berichten ein Arzt und ein Pädagoge gemeinsam von langjährigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Anhand zahlreicher Fallbeispiele wird deutlich, wie Kinder durch therapeutische Erziehung Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit von Beginn an erleben und wie sie von der Entwicklungsunterstützung persönlich profitieren können. Das Buch enthält viele Anregungen für ein kindgemäßes pädagogisches Handeln. 

Neuhäuser/Klein: Therapeutische Erziehung, 192 Seiten, ISBN: 978-3-96304-605-6, Burckhardthaus 2019

Kleine Kinder spüren also die Gefühle und Absichten bei anderen Menschen und sind fähig, Mitgefühl und Mitleid zu erleben. Sie pflegen mit ihren veranlagten Kräften eine Willkommenskultur, bei der die Unterschiede im Wollen, Wissen und Können von herausragender Bedeutung sind: Die Unterschiede fördern ihre Kommunikation, weil sie ein angeborenes Grundverständnis für soziale Situationen haben und anderen Menschen helfen wollen (Klein 2018, S. 113 f.).

Kinder wollen miteinander selbstwirksam tätig sein

Auf diese sozio-emotionale Grundfähigkeit des Kindes baut der Perspektivwechsel auf, der für die inklusive Lernkultur bedeutsam ist: Wenn Kinder mit Behinderungen wie selbstverständlich in der Gruppe sind, dann sind die Herausforderungen und Anregungen zum Perspektivwechsel groß.

Kinder wollen miteinander selbstwirksam tätig sein, aus eigener Kraft ihre Lebenswelt erfahren und gestalten. Ihr veranlagtes Bedürfnis ist in der hochtechnisierten Welt gefragter denn je. Ihrem Ur-Bedürfnis ist in Projekten, Erlebnis- und Handlungsfeldern zu entsprechen. Kinder mit und ohne Behinderung können gemeinsam in Spiel- und Lernsituationen ihre Alltagserfahrungen machen und ordnen und auf diese Weise ihre persönliche Identität aus eigener Kraft aufbauen.

Fazit: Geboten ist Inklusion als gelebte Haltung, als situationsorientierte Hilfe, Führung und Begleitung, was ohne (selbst)kritisches Nachdenken der pädagogischen Fachkraft nicht möglich ist. Darauf macht uns der international bekannte Kindheitspädagoge Armin Krenz nachdrücklich aufmerksam. Sein „Situationsorientierter Ansatz“ (Krenz 2021) ist tief im Humanismus der Reformpädagogik von Janusz Korczak verwurzelt, er wird im heilpädagogischen Buch „Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule“ von Ferdinand Klein (2018) und im heilpädagogisch-ärztlichen Buch von Gerhard Neuhäuser und Ferdinand Klein „Therapeutische Erziehung“ (2019) näher ausgeführt.

Literatur

Gruen, A. (2003): Wie man ein Kind lieben soll. In: publik-forum, journal nr. 6

Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks. München, BurckhardtHaus

Korczak-Bulletin (2015): 24. Jg., Ausgabe September, S. 2

Korczak, J. (1973): Wenn ich wieder klein bin. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht

Korczak, J. (1978): Wie man ein Kind lieben soll. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht

Krenz, A. (2021): Der Situationsorientierte Ansatz – auf einem Blick. 2. Auflage, München, BurckhardtHaus

Krenz, A./Klein, F. (2012): Bildung durch Bindung. Frühpädagogik: inklusiv und beziehungsorientiert. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

Neuhäuser, G./Klein, F. (2019): Therapeutische Erziehung. Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule. München, BurckhardtHaus

.




Inklusion beginnt in den Köpfen und in den Herzen

down kind mit brille

Ein Interview mit Prof. Dr. Thomas Maschke über Inklusion und warum sie ein Gewinn für uns alle wäre:

Bei Spielen und Lernen geht es uns immer in erster Linie um die Kinder und die Menschen, die sich um die Kinder kümmern. Deshalb lautet unsere Kernfrage: „Was können wir dazu tun, um Kinder in ihrer Entwicklung optimal zu unterstützen?“ Diesmal geht es um Inklusion. Mit Herrn Professor Thomas Maschke konnten wir einen bekannten Wissenschaftler und Praktiker für unser Interview gewinnen. Wir hätten ihn eigentlich noch viel mehr fragen müssen, nur hätte dies den Rahmen komplett gesprengt

spielen und lernen: Herr Professor Maschke, Sie sind Professor für inklusive Pädagogik mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Sie leiten das Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität an der Alanus Hochschule in Mannheim. Sie haben Pädagogik, Sonderpädagogik und Behindertenpädagogik sowie Waldorfpädagogik studiert. Das ist ja eine ganze Menge. Sie haben dann auch noch zwei Mal promoviert. Da würde uns natürlich als allererstes interessieren, wie kommt man auf so einen Bildungsweg?

thomas maschke
Prof. Dr. Thomas Maschke, geboren 1962 in Wolfenbüttel, Vater von vier erwachsenen Kindern, lebt in Überlingen am Bodensee. Er ist Professor  für Inklusive Pädagogik mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung an der Alanus Hochschule in Mannheim. Dort leitet er auch das Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität.

Thomas Maschke: Vielen Dank für die Frage. Ich fange mal von mir ganz basal an und damit komme ich auch schon fast zu einer Kernaussage. Als junger Mann wollte ich Philosophie studieren, weil ich mich schöngeistigen Ideen hingegeben habe. Das war mein Ziel. Ich ging dann nach Würzburg, um meinen Zivildienst in einer Kinderklinik zum machen. Dort habe ich sogenannte schwerst-mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche gepflegt. Und dann wollte ich dort im Anschluss studieren. Aber das Verhältnis, das ich zu diesen Kindern entwickelt habe, hat mich dann von meinen schöngeistigen Ideen weggebracht. Ich erlebte, was Begegnung tatsächlich macht. Begegnung mit den Kindern, Verbindlichkeit, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit mit diesen Kindern zu arbeiten. Daraufhin habe ich mich entschlossen Sonderschullehrer zu werden und Sonderpädagogik zu studieren.

Ich erlebte, was Begegnung tatsächlich macht. Begegnung mit den Kindern, Verbindlichkeit, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit mit diesen Kindern zu arbeiten.

sl: Können sie uns ein einschneidendes Erlebnis aus dieser Zeit schildern?

TM: Für mich sind Elemente aus dieser Zeit sehr unmittelbar noch in Erinnerung. Ich hatte einen jungen Mann zu pflegen, der ein Jahr jünger war als ich. Er wog 27 Kilo als ich kam, bei einer Körpergröße von einem Meter fünfzig. Und als ich gegangen bin, wog er über 40 Kilo. Das heißt, die Beziehung, das zuverlässige da sein, das regelmäßige da sein, natürlich über die Zeit hinaus, all das führte dazu, dass er auch an Lebenskräften zunahm. Das ist tatsächlich etwas, was sich auch ganz real zeigte.

Ich habe Sonderpädagogik studiert und mich den Kindern gewidmet, die unter manchen Umständen aus dem System herausfallen. Das war mir wichtig. Das war in den achtziger Jahren, in denen man Menschen mit Beeinträchtigungen noch nicht unbedingt im Straßenbild sah. Und ich weiß noch genau, wie es mir ergangen ist, als ich mit einem Jungen, den ich dort nur für eine kurze Zeit betreut hatte, ins Kino gegangen bin. Man ist im Grunde dafür angefeindet worden, dass man die Öffentlichkeit jetzt mit so einem Menschen im Rollstuhl konfrontierte. Wir könnten uns fragen: „Ist das denn heute grundlegend anders? Oder ist es vielleicht nur unter dem Mäntelchen von political correctness verborgen?“ Das ist eine große Frage.

Thomas Maschke (Hg.)

Bildungsinnovation: Impulse aus Reformpädagogik und Inklusiver Pädagogik
Impulse für [schulische] Entwicklungen aus „klassischer“ Reformpädagogik und Inklusiver Pädagogik.

Die Unterzeichner-Staaten der UN-Behindertenrechtskonvention haben sich auf dem Feld der Bildung (Art. 24) zu einem umfassenden Reformprozess verpflichtet. Inklusive Pädagogik kann daher als aktuell-innovative reformpädagogische Entwicklung bewertet werden, besonders insofern sie die Möglichkeiten und Potenziale aller Schüler*innen für Aktivität und Teilhabe aufgreift. Grundlagen, Persönlichkeiten und praktische Erfahrungen aus der „klassischen“ Reformpädagogik können in vielerlei Hinsicht für diesen Prozess hilfreich sein. Sie werden in diesem Buch umfassend dargestellt und können zur Entwicklung eigener innovativer pädagogischer Praxis anregen.

Mit zahlreichen SW-Abbildungen, 288 Seiten
ISBN: 9783990530313
30 €

sl: Wie ging es dann weiter?

TM: Ich habe den Ort gewechselt, weil Würzburg doch relativ konservativ war und ging nach Bremen, an die sogenannte Reform-Universität. Dort habe ich Georg Feuser kennengelernt.Feuser hat einen interessanten Satz geprägt. Der hat nämlich den Buberschen Satz „Der Mensch wird am Du zum Ich.“, dahingehend erweitert, dass er sagte: „Er wird zu dem Ich, dessen Du wir ihm sind.“

Wir sind die personale Umgebung dafür, wie Kinder oder wie Menschen sich überhaupt entwickeln.

Also wir sind die personale Umgebung dafür, wie Kinder oder wie Menschen sich überhaupt entwickeln. Und das habe ich dann in 23 Jahren als Sonderschullehrer an einer Schule, damals hieß sie Schule für Erziehungshilfe, versucht zu leben.

sl: Das war an der Kaspar-Hauser-Schule…

TM: Das war die Kaspar Hauser Schule in Überlingen, eine Waldorf Sonderschule. Ich habe dort als Klassenlehrer gearbeitet und später auch als Schulleiter. Als Klassenlehrer in einer Schule mit Waldorf Hintergrund ist man viele Jahre für eine Klasse verantwortlich. Ich habe in meinem letzten Durchgang die Kinder von der ersten bis zur neunten Klasse durchgängig als Klassenlehrer betreut.

Kann ich mich einlassen darauf, tatsächlich in die Begegnung zu gehen?

Ich habe immer alle Kinder aufgenommen. Das war auch so ein Moment. Ich erinnere mich an eine Situation, als mich ein verzweifelter Vater am Ende der Sommerferien anrief und sagte, er habe keine Schule für seine Tochter. Und ich habe gesagt: „Tut mir leid, die Klasse ist voll. Ich kann es den anderen Kindern gegenüber auch nicht verantworten.“ Der Vater war sehr geschickt. Er kam einfach am ersten Schultag mit seiner Tochter und stellte sie mir vor. Natürlich habe ich sie genommen. Ich habe immer alle Kinder genommen, die ich gesehen habe. Aber das ist so ein Moment. Und daran sehen sie wieder, das ist Begegnung. Kann ich mich einlassen darauf, tatsächlich in die Begegnung zu gehen?

sl: Der Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist ja auch emotionale und soziale Entwicklung.

TM: Genau!

sl: Was kann man darunter gegenüber dem verstehen, was Sie uns jetzt schon gesagt haben?

TM: Wir stellen uns durch unser Verhalten ja in einer bestimmten Weise in die Welt. Und wir erleben. Also, wir nehmen auf und wir zeigen uns nach außen. Man spricht in der heilpädagogischen Psychologie davon, dass die Seele quasi eindrucks- und ausdrucksfähig ist. Ich bekomme Eindrücke. Und so wie es mir geht, drücke ich es wiederum nach außen aus. Wenn das nicht harmonisch oder belastet ist, zeigt sich das in Formen, die wir als gestört oder als schwierig im Sinne von Verhalten ausdrücken. Früher hieß diese Pädagogik Verhaltensgestörten-Pädagogik. Heute sagt man, es gibt einen Förderschwerpunkt für die emotionale und soziale Entwicklung. Das heißt: Die emotionale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen ist durch spezifische Umstände beeinträchtigt. Damit sind sie auch nicht handlungsfähig in einer vielfältigen und adäquaten Weise. Aber man merkt, wenn ich so ein bisschen stammele, dann liegt das daran, dass da ganz viel Bewertung drin ist.

Ich muss das Verhalten verstehen, unter Umständen auch aus einer Geschichte heraus. Dann kann ich auch Unterstützung geben, vielleicht andere Erlebnisformen auch zu erweitern und zu ermöglichen für Kinder, Jugendliche, aber auch für Erwachsene.

Was ist denn das richtige Verhalten? Ist mein Verhalten angemessen ihnen gegenüber? Man spricht eigentlich davon, wenn man genauer hinschaut, dass die Kinder und Jugendlichen oder eigentlich jeder Mensch sich immer positiv verhalten möchte, weil sie oder er in Beziehung sein möchte. Das heißt, mein Verhalten ist eigentlich Ausdruck meiner aktuellen Fähigkeit. Deswegen ist es auch kein Defizit, sondern es ist eigentlich die bestmögliche Art, mich zu verhalten. Und Deswegen muss ich schauen, warum sich ein Mensch so verhält. Also ich muss das Verhalten verstehen, unter Umständen auch aus einer Geschichte heraus. Dann kann ich da quasi auch Unterstützung geben, vielleicht andere Erlebnisformen auch zu erweitern und zu ermöglichen für Kinder, Jugendliche, aber auch für Erwachsene.

sl: Und das bei Kindern, jetzt Jugendlichen, mit einem besonderem Förderbedarf. Habe ich das richtig verstanden.

TM: Naja, der Förderbedarf gestaltet sich dann oder wird dann evident, wenn Kinder und Jugendliche tatsächlich in ihren Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeiten vereinseitigen. Man spricht von zwei grundlegenden Tendenzen. Die eine ist zum Beispiel: Sie kennen alle diese sogenannten „aggressiven“ Kinder oder jetzt auch „hyperaktiven“ Kinder. Hier geht man davon aus, dass diese Kinder tatsächlich in ihren Handlungsweisen vereinseitigen. Das heißt, sie sind einerseits sehr expansiv, aber die Arten des Ausdrucks, also die Bandbreite, die Möglichkeiten, sind quasi eingeschränkt. Das ist immer ähnlich. Und das mag unterschiedliche Gründe haben. Das können physiologische Gründe sein. Es können aber auch Fragen von Erziehung, von Sozialisation sein. Was sich da auch immer bis dahin getan hat.

sl: Ich wollte nur mal auf einen Punkt zurückkommen, den Sie vorhin erwähnt haben. Sie haben erwähnt, wenn Sie früher mit den Kindern irgendwo hingegangen sind, dann sind Sie auf große Ablehnung gestoßen. Hat sich heute diesbezüglich etwas verändert? Hat sich denn in der Beziehung etwas verändert?

TM: Ja, es hat sich was verändert, aber es hat sich nicht genug verändert. Es hat sich einerseits verändert, dass wir darüber reden, dass es normal ist, verschieden zu sein. Da ist dieser Satz von Richard von Weizsäcker: „Es ist normal, verschieden zu sein.“ Der ist irgendwie Allgemeingut geworden. Andererseits leben wir in einer Welt, die sehr utilitaristisch geprägt ist. Es geht um Machbarkeit; es geht um Nutzbarmachung. Und wenn Sie etwa die Diskussionen um die Pränataldiagnostik verfolgen, dann ist eine Pränataldiagnose Down-Syndrom zu 95 Prozent ein Todesurteil. Insofern stellt sich die Frage tatsächlich, ob es akzeptiert ist, verschieden zu sein. Man kann sie auf verschiedenen Ebenen beantworten. Ich denke, bewusstseinsmäßig ist da einiges passiert. Aber wir haben diesen Umschwung, tatsächlich jeden Menschen so zu nehmen, wie sie oder er ist und das als positiv zu bewerten, noch lange nicht erreicht.

Wir haben diesen Umschwung, tatsächlich jeden Menschen so zu nehmen, wie sie oder er ist und das als positiv zu bewerten, noch lange nicht erreicht.

Und gerade weil ich das Beispiel Down-Syndrom erwähne: Mir berichten Eltern, deren Kind tatsächlich mit einer Trisomie 21 geboren wurden, dass sie beim Stadtspaziergang angesprochen werden. So nach dem Motto, „da hätte man doch was machen können“ …. Da haben Sie recht, wenn Sie sich schütteln, weil es grausam ist. Aber es ist natürlich Ausdruck dessen, wie wir mit einem Normalitätsbegriff umgehen, der nach Nutzbarkeits- Gesichtspunkten die Menschen bewertet. Ich finde, das kann sich jeder Mensch auch fragen: Wo geht es mir denn so? Wo gehe ich mit meinem Kind so um, dass ich sage, jetzt muss es aber mal schnell gehen zum Beispiel. Wo habe ich bestimmte Erwartungen an meine Partnerin, dass es so und so laufen muss? Wie gehe ich mit Schülerinnen und Schülern um, wie in der Kita? Das sind ja alles wichtige Fragen. Und ich glaube, da tragen wir tief in uns etwas, das wir als Gesellschaft noch lange nicht überwunden haben; einzelne Menschen natürlich schon.

sl: Ist das die größte Herausforderung für die Inklusion, oder sehen sie diese auch noch woanders?

TM: Es wird gesagt, Inklusion beginnt in den Köpfen und in den Herzen. Das würde ich eindeutig unterschreiben. Dieser Satz wird von vielen AutorInnen immer wieder betont. Aber dennoch: Wenn wir Inklusion in Schule und Kitas umsetzen wollen, handelt es sich um ein gesamtgesellschaftliches Projekt. Wir bekommen es aber nicht zum Nulltarif. Das ist einfach so. Es kostet Geld. Nur geht es dabei nicht um die Menschen mit besonderen Bedürfnissen, sondern es geht bei der Umsetzung von Inklusion um alle Menschen.

Nur geht es dabei nicht um die Menschen mit besonderen Bedürfnissen, sondern es geht bei der Umsetzung von Inklusion um alle Menschen.

Das heißt, wir profitieren alle von besseren Bildungsangeboten. Und wenn wir in Schulen Lehrkräfte immer im Team arbeiten lassen würden, dann würden davon alle profitieren und nicht nur die Kinder mit einer Beeinträchtigung.

Götz Kaschubowski / Thomas Maschke (Hrsg.)

Anthroposophische Heilpädagogik in der Schule
Grundlagen – Methoden – Beispiele

Die Anwendung anthroposophischen Denkens auf die Heilpädagogik geht auf Rudolf Steiner zurück, der seinen heilpädagogischen Kurs als eine Vertiefung der Waldorfpädagogik betrachtete. In Deutschland gibt es heute ca. 80 anthroposophische heilpädagogische Schulen und ca. 15 integrativ arbeitende Waldorfschulen.  Das Buch erörtert die Grundlagen zur Geschichte, der Methodik, zum Curriculum und zur Lernpsychologie. Anhand von Unterrichtsbeispielen wird das an diesen Schulen praktizierte Bildungsmodell anschaulich. Entlang einzelner Schulportraits werden die Profile der Institutionen deutlich und die „Spezifika’“ im Schulalltag herausgestellt. Das Konzept des Buches ist so gestaltet, dass es in der Aus- und Fortbildung von Lehrern für diese Einrichtungen zum Einsatz kommen kann. Zugleich richtet es sich auch an interessierte Fachkollegen.

244 Seiten
ISBN: 978-3-17-022479-7
29,90 €

Der Ehrenvorsitzende des Allgemeine Behindertenverband in Deutschland, Ilja Seifert, war Bundestagsabgeordneter und lebt im Rollstuhl. Er hatte immer die Forderung nach „Sonderschulen für alle“. Er sagte, dass das, was da an Ressourcen, an Möglichkeiten und personellen und auch sachlichen Ressourcen vorhanden sei, das müssten eigentlich alle Kinder zur Verfügung haben. Wir brauchen Rahmenbedingungen, ganz klar.

sl: Nun waren sie viele Jahre lang Lehrer und dann Schulleiter an einer Schule, wo es eben um die ganz gezielte Förderung von Menschen mit Behinderungen ging. So wie ich das aber mitbekommen habe, sind Sie jemand, der auch ganz, ganz massiv für das Thema eine Schule für alle eintritt. Wie vereinbart sich das?

TM: Jetzt haben Sie meinen biografischen Widerspruch erwischt. Wobei, das ist vielleicht kein Widerspruch. Wenn wir uns die Inklusionsdebatte anschauen oder die Genese von Inklusion, dann kommt sie aus zwei Richtungen. Die eine ist tatsächlich die Sonderpädagogik. Die Menschen, die in der Sonderpädagogik gearbeitet haben, die führenden „Pioniere“ sind jetzt alle Menschen um die 80 herum, haben tatsächlich mit ihrem sonderpädagogischen Blick diesen Kindern überhaupt ein Bildungsrecht zugesprochen. Das ist die eine Richtung. Das war in der Schulpädagogik nicht vorhanden. Und da komme ich auch her. Das heißt, ich habe Kinder kennengelernt. Ich habe Familiensysteme kennengelernt. Ich habe schulische Katastrophen kennengelernt, die mich dazu bewogen haben, nicht nur diesen Kindern zu helfen, das war meine sonderpädagogische Tätigkeit, sondern tatsächlich dafür zu werben und auch dafür zu arbeiten, Schule so zu verändern, dass diese Kinder nicht mehr rausfallen.

Georg Feuser, Thomas Maschke (Hg.)

Lehrerbildung auf dem Prüfstand
Welche Qualifikationen braucht die inklusive Schule?

Bereits seit vier Jahrzehnten werden Integration und Inklusion in der Schule diskutiert und praktiziert. Dennoch wird die aktuelle LehrerInnenbildung den Ansprüchen eines inklusiven Schulwesens nicht gerecht. Diesen unbefriedigenden Zustand nehmen die FachautorInnen zum Anlass, die Voraussetzungen gelingender inklusiver Schul- und Unterrichtspraxis herauszuarbeiten. Die Rahmenbedingungen werden ebenso erörtert wie rechtsphilosophische Grundfragen und Möglichkeiten der Bewältigung alltäglicher Grenzerfahrungen von PädagogInnen durch Aus- und Weiterbildung sowie beratende Prozesse. Eine ausführliche Darstellung bestehender Ausbildungsgänge und -formen rundet den Band ab.

352 Seiten
ISBN 978-3-8379-2300-1
29,90 €

Ich habe in den vergangenen Jahren meiner schulischen Tätigkeit verstärkt den sogenannten sonderpädagogischen Dienst gemacht. Das heißt, wenn eine Schule rief und sagte: „Wir haben hier ein schwieriges Kind“, dann habe ich geantwortet: „Okay, ich komme, mal gucken, wie das Problem um das Kind ist.“ Die Leute dort nahmen dann an, ich käme und würde das Kind mitnehmen. Und da habe ich gesagt: „Nein, ich komme und versuche euch zu helfen, dass das Kind bleiben kann. Dafür ist aber eine gewisse Fachlichkeit notwendig, um zu verstehen, warum zum Beispiel Kinder sich so und so verhalten. Insofern brauchen wir tatsächlich auch eine ganz bestimmte Expertise im Sinne von Diagnose und auch von pädagogischen Fähigkeiten. Es gibt Menschen, die sagen, Inklusion braucht die Sonderpädagogik. Ich würde das ein bisschen relativieren. Ich würde sagen, wir brauchen multiprofessionelle Teams, die sich gegenseitig tatsächlich befruchten und gegenseitig offen sind für die jeweilige Expertise des oder der anderen.

Es gibt Menschen, die sagen, Inklusion braucht die Sonderpädagogik. Ich würde das ein bisschen relativieren. Ich würde sagen, wir brauchen multiprofessionelle Teams, die sich gegenseitig tatsächlich befruchten und gegenseitig offen sind für die jeweilige Expertise des oder der anderen.

sl: Sie haben auch ein Buch zum Thema Lehrerausbildung geschrieben. Was braucht die Schule der Zukunft dann? Wären das dann diese Lehrerteams, die Sie gerade beschrieben haben. Können Sie noch ein bisschen näher darauf eingehen?

TM: Mir ist es wichtig, dass es hier um multiprofessionelle Teams geht. Also wie verstehe ich mich in meiner Lehrerrolle? Bin ich quasi der König, der auch mit geschlossenen Türen in seinem Reich regiert oder bin ich offen dafür, dass ich Anregung bekomme? Das heißt, ich muss mich immer weiter bilden.

Wenn sie meinen, sie sind fertiger Lehrer, dann gehen Sie bitte in Rente.

Das ist etwas, das niemals abgeschlossen ist. Ich sage meinen Studierenden immer: „Wenn sie meinen, sie sind fertiger Lehrer, dann gehen Sie bitte in Rente.“ Wir sprechen heute von drei Phasen der Lehrerbildung: Die erste ist die universitäre Lehrerbildung, die zweite die Praxis-Ausbildung und die dritte die lebenslange Weiterbildung. Das finde ich ganz wesentlich. Das heißt, in der ersten Phase ist es natürlich wichtig, dass man auf der theoretischen Ebene sich mit den unterschiedlichen Bedingungen des Menschseins auseinandersetzt. Also auch mit Formen von Beeinträchtigung, mit Exklusionsmechanismen und vielem anderen. In der zweiten Phase kennenlernen, ausprobieren und in der dritten Phase quasi immer wieder neu Schule gestalten. Und damit ist das eine Anforderung, die sich an die an die Lehrkräfte dauerhaft und lebenslang richtet.

sl: Das war eigentlich schon ein schönes Schlusswort. Dann danke ich Ihnen für dieses Interview und wünsche Ihnen weiter viel Erfolg. Wiedersehen!

TM: Vielen Dank. Auf Wiedersehen.

sl: Danke Ihnen.




Grundschule aktuell: Kinderrechte – Der Weg zur Inklusion

Die Zeitschrift des Grundschulverbandes informiert über den aktuellen Stand:

Kinderrechte und Inklusion sind die Themen der aktuellen Ausgabe von „Grundschule aktuell“, der Zeitschrift des Grundschulverbandes. Aus verschiedenen Perspektiven beleuchten die Autoren die Umsetzung der Kinderrechte und den Zusammenhang mit Inklusion.

Kinderrecht ist Menschenrecht

In seinem einführenden Artikel nimmt Michael Töpler vor allem Eltern und Erziehungsberechtigte in den Blick. Einer seiner Kernsätze: „Die Kinderrechte sind als Menschenrechte unbedingt gültig und nicht an bestimmte Verhaltensweisen oder Aufgaben geknüpft“. Dieser Satz ist vor allem deshalb so wichtig, weil viele Erwachsene gegenüber Kinderrechten Vorbehalte haben. Entweder, weil sie fürchten, die Erziehungsberechtigten könnten dann nicht mehr ihrer Rolle als Erziehende nachkommen, oder weil sie den eigenen Vorstellungen widersprechen. Damit räumt Töpler auf. Am Ende zweifelt er zwar daran, dass Inklusion womöglich niemals ganz zu erreichen sei, aber bekräftigt ihren besonderen Wert für die Gesellschaft.

Theorie und Praxis

Die Beiträge von Prof. Hans Wocken und Prof. Andreas Hinz geben einen Einblick in über viele Jahre gewachsene Erkenntnisse zur Inklusion. Weitere Themen sind etwa „Kinderrechte in der Schule“, „Das Mentoringprogramm Balu und Du“ oder „Inklusion und Profession“. Aber auch Praxisbeispiele und Erfahrungsberichte erweitern den Horizont.

Die aktuelle Ausgabe von „Grundschule aktuell“ gibt einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Inklusion an den Grundschulen. Sie informiert und motiviert al diejenigen, die Kinderrechte und die Würde der Kinder schützen. Einen Blick in die aktuelle Ausgabe, die Möglichkeit zum Download oder zur Bestellung finden Sie hier.

In der folgenden Ausgabe von „Grundschule aktuell“ geht es dann um Chancegleichheit.




Gebärdensprache und Bildkarten – Broschüre gratis zum Download

Inklusive sprachliche Bildung in Kitas:

Die „Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte“ (WiFF) beschäftigt sich seit ihren Anfängen mit Sprachbildung. Schließlich ist Sprache das zentrale Mittel zu Teilhabe und Partizipation. Um Sprachbildung mit Gebärden und Bildkarten geht es in der Broschüre des WiFF. Sie steht kostenlos zum Download bereit.

Frühe inklusive Sprachbildung wird meistens im Zusammenhang mit Lautsprachen diskutiert. Aber auch Kinder mit Hör- und Sprechbeeinträchtigungen sowie kognitiven Einschränkungen haben Anspruch auf positive Kommunikationserfahrungen und individuelle sprachliche Unterstützung im Kita-Alltag.

Visuelle Verständigungsformen – etwa mit Hilfe von Gebärden und Bildkarten – können alternative Wege für die Sprachförderung eröffnen. Die Expertise erschließt das Potenzial dieser Kommunikationszugänge für eine inklusive Sprachförderung. Dazu skizziert die Autorin Aufbau und Struktur verschiedener visueller Verständigungssysteme und erläutert, wie Kinder mit unterschiedlichen Bedürfnissen davon profitieren. Zudem formuliert sie konzeptionelle Rahmenbedingungen und gibt am Beispiel eines Pilotprojekts Handlungsempfehlungen, die als Fortbildungsmaterialien genutzt werden können.

Quelle: Weiterbildungsinitiative Pädagogische Fachkräfte www.weiterbildungsinitiative.de

Barbara Hänel-Faulhaber
Gebärdensprache, lautsprachunterstützende Gebärden und Bildkarten
WiFF Expertisen Nr. 52

Kostenloser Download der Broschüre als PDF

Lesen Sie auch den Beitrag von Armint Krenz zu Wie Sprache gelingt.