Kinder brauchen ein Gegenüber, das zuhört und mit ihnen spricht

Die Leiterin der Kita Dietrich-Bonhoeffer in Bremen, Kirsten Vöge, im Interview zum Thema „Sprachförderung“

Die Kita Dietrich-Bonhoeffer liegt im Bremer Stadtteil Huchting. Ein „durchmischter“ Stadtteil am Stadtrand, in dem verschiedene soziale Milieus zusammenkommen. Die Kita begleitet mit Krippe und Kindergarten derzeit 128 Kinder. Gemeinsam mit einer Kollegin leitet Kirsten Vöge die Einrichtung. Da die Kita auch inklusiv ist, arbeitet hier mit insgesamt 53 Kolleginnen und Kollegen Fach- und Hilfskräfte unterschiedlicher Profession. Von den 128 Kindern haben 28 einen besonderen Förderbedarf.

Stärkere Untersützung für mehr Kinder

Auch in Huchting ist die Zahl der Kinder, die im Spracherwerb stärker unterstützt werden müssen, gestiegen. Die Kita ist auch deshalb eine Sprachkita. Zwei Fachkräfte kümmern sich speziell um diesen Bereich. Dass die Zahl der Kinder, die sprachliche Schwierigkeiten haben, auch in Huchting gewachsen ist, hat sich laut Kirsten Vöge in den Ergebnissen des sogenannten PRIMO-Tests gezeigt. Das ist ein Sprachtest, an dem alle Bremer Kinder ein Jahr vor der Einschulung teilnehmen. Waren es in den vergangenen Jahren immer zwischen 12 bis 15 von 40 Kindern die auffällig waren, zeigte sich im jüngsten Test, dass diesmal knapp 30 Kinder einen besonderen Förderbedarf hatten.

Auf der Suche nach den Ursachen

Daraufhin hätte das Team noch einmal genauer hingesehen, wie der Hintergrund der Betroffenen sei. Wie immer gebe es keine einfachen Antworten, so Vöge. Zunächst einmal betreffe das Kinder, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen würden und die relativ spät in die Kita kämen. Deren Anteil sei in den vergangenen Jahren gewachsen. Eine besondere Gruppe sind auch die Kinder aus der Ukraine, deren Familien vor der Frage stünden, ob es sich um eine Übergangssituation handelt oder ob sie sich auf das neue Land einlassen.

Sprache und Sprachfreude verstärken

Daneben wächst auch die Zahl der Kinder, die hierzulande geboren sind und dennoch einen erhöhten Sprachförderbedarf haben. Hier kann Kirsten Vöge nur Vermutungen anstellen. „Wir nehmen verstärkt zur Kenntnis, dass Kinder früh mit Medien Kontakt haben, also mit Medien, mit Smartphones, mit Tablets und dann natürlich gut beschäftigt sind“, sagt sie. Diese Kinder hätten kein Gegenüber, mit dem sie sprechen könnten, das ihnen Feedback gebe, das sie bestätige, in dem, was sie sagten. Und wenn niemand die Sprache und die Sprachfreude verstärke, dann sei das womöglich auch ein Hemmnis. Die Kinder müssten an das Kommunizieren herangeführt werden. Und da läge der Ball schon bei den Eltern, die auf ihr Kind eingehen sollten.

Zugang zu Büchern verstärken

Auch der Zugang zu Büchern sei ein großes Thema. Vöge fragt danach, ob sich jemand in den Familien mit einem ein Buch hinsetze und vorlese. „Ich müsste ja nicht mal die Geschichte vorlesen, die in diesem Buch steht, sondern einfach ins Gespräch kommen über Bilder, die wir gemeinsam betrachten.“

Um den Familien hier mehr Anregung zu geben, habe man nun eine Ausleihbücherei vor Ort. Neben dem Besuch in der Stadteilbücherei, könnten die Kinder nun auch hier wöchentlich Bücher ausleihen, um einfach überhaupt die Möglichkeit zu haben, zu Hause gemeinsam Bücher anzuschauen.

Sprache als Querschnittaufgabe

Viele Sachen, die in der Kita getan würden, sind lauf Vöge keine besonderen Sachen. Die Haltung in der Kita sei zunächst einmal, Sprache als Querschnittaufgabe zu sehen. Überall stecke Sprache drin und Sprache sei der Schlüssel zur Welt. Vieles stamme aus dem Bundesprojekt „Sprachkita“. Das sei das Fundament. „Wir nutzen jede Möglichkeit im Alltag, um ins Gespräch zu gehen oder dem Kind ein Feedback zu geben“. Dann gebe es eine feste Struktur. So etwa die festen Essenszeiten, zu denen jederzeit Tischgespräche geführt werden könnten. Die Kinder hätten immer eine relativ homogene Gruppe um sich, in der sie ihr Gegenüber kenne und vertrauen würden. So könnten sie sich jederzeit an einem Gespräch beteiligen. Vertrauen und Bindung seien nun mal die Grundlage, um lernen und sich einlassen zu können.

Brücken schaffen mit Metacom Karten

Bedingt durch den erhöhten Förderbedarf setze man auch Metacom Karten ein. Das seien Karten, die eine Situation in einem sehr leichten Bild oder einen Gegenstand zeigten, durch deren Nutzung Kinder die Möglichkeit haben, in einen Kontakt zu kommen. Das sei nun zunächst nicht sprachlich. Aber in jedem Fall habe das Kind die Möglichkeit, etwas auszudrücken. Zudem seien sprachbegleitende Gebärden von besonderer Bedeutung, die überall im Alltag eingesetzt würden. Kinder könnten diese Gebärden mit Worten, mit Lauten und Singen in Verbindung bringen. Damit könnte eine Brücke gebaut werden kann.
Das Wichtigste ist laut Vöge, dass sich jede Fachkraft jederzeit darüber bewusst ist, dass sie das Sprachvorbild für die Kinder darstellt. Zudem sollte jedem klar sein, was für eine Kompetenz oder sogar Macht er habe, Sprache anzuregen oder auch nicht, „durch mein eigenes Sprechen, durch meine Nutzung von gewissen Worten. Das sollten wir in jedem Moment, in dem wir im Kita-Alltag unterwegs sind, wissen.“

Kinder wirklich wahrnehmen

Eltern rät sie, mit ihren Kindern direkt im Kontakt zu sein, ihr Kind wirklich wahrzunehmen, zu hören, was es sagt, was es ausdrücken möchte und es darin zu unterstützen, indem sie natürlich immer positiv darauf reagieren und es verstärken. Das wäre die Grundvoraussetzung,

„Und dann würde ich sagen, das Handy mal in der Tasche lassen und Bücher oder Geschichten nutzen, um gemeinsame Welten auch zu erschaffen.“, ergänzt sie. Dabei gehe es nicht unbedingt darum, die Bücher zu lesen, sondern einfach nur gemeinsam anzuschauen. Gemeinsam Bilder anzusehen, etwas zusammen zu machen und das, was das Kind dort anbiete, zu verstärken, sei enorm wichtig nicht nur für den Spracherwerb.

Über gemeinsame Erlebnisse zur eigenen Familiensprache finden

Gemeinsame Erlebnisse würden Anregungen zu gemeinsamen Gesprächen schaffen, um Sprache in den Alltag zu integrieren. So entstünde eine Familiensprache, die das Fundament für jede weitere Sprache sei. Dabei sollten Eltern einfach die Sprache nutzen, in der sie selbst sicher seien. Denn mit dem Kind Deutsch zu sprechen, wenn man selbst unsicher in dieser Sprache sei, helfe der sprachlichen Entwicklung des Kindes nicht. „Wenn ich allerdings eine Sprache spreche, in der ich groß geworden bin, in der ich denke und träume, dann ist das eine gute Grundlage. Da kann man natürlich sehr schnell feststellen, spricht das Kind diese Sprache wirklich gut oder gibt es auch in der Familiensprache eigentlich Punkte, bei denen man denkt, oh, das könnten Hinweise auch auf eine verzögerte, eine Entwicklungsstörung sein und da gibt es Hilfebedarf.“ Und diese Hilfen stehen in der Kita in Huchting und in der Gemeinde zur Verfügung.

Gernot Körner




Ein paar Erklärungen für das schlechte Leseverständnis vieler Grundschüler

Ein Interview mit dem Vorsitzenden des Grundschulverbandes Edgar Bohn

Nach den Ergebnissen der IQB-Studie hätte die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 2021 niemanden mehr überraschen dürfen. Das vielfältige Stimmengewirr offenbart vor allem aber zwei Dinge: Es gibt kein Konzept und niemand will verantwortlich sein. Sicher ist auch niemand und auch keine Institution alleine verantwortlich. Aber diese Erkenntnis sowie das Beschwören der immer alten Formeln, die schon in der Vergangenheit nicht funktioniert haben, helfen nicht, das Problem zu lösen. Eben genau das beklagen die Autorinnen und Autoren der IGLU-Studie, dass trotz aller Maßnahmen das Niveau konstant sinkt. Und Beispiele dafür gibt es genug.

Wir werden versuchen, das Thema in den nächsten Wochen zu durchleuchten. Wo hakt es? Wie könnte Abhilfe geschaffen werden? Denn schließlich handelt es sich hier um ein Thema, das nicht nur die Zukunft unserer Gesellschaft betrifft, sondern wofür viele Teile unserer Gesellschaft ihren Beitrag geleistet haben.

Beginnen wollen wir an dem Ort, der am meisten gescholten wurde: der Grundschule. Der Verband, der die Weiterentwicklung der Grundschule im Blick hat, ist der Grundschulverband. Sein Ziel ist es, bundesweit und in den einzelnen Bundesländern die Situation der Grundschule, der Grundschülerinnen und Grundschüler und ihrer Lehrkräfte zu verbessern. Schließlich ist die Grundschule der Ort, an dem alle Kinder einen umfassende, allseitige Grundbildung erhalten sollen. Nach dem Elternhaus und der Kindertageseinrichtung wird hier die Grundlage für erfolgreiches weiteres Lernen gelegt.

Hier geht es zum Interview:

Im Zusammenhang mit der IGLU-Studie fordert der Verband vor allem zwei Dinge:

  • Kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen zur Behebung des Lehrkräftemangels. Dabei ist eine hohe Ausbildungsqualität zu gewährleisten.
    Der Großteil der schon umgesetzten Maßnahmen zur Sicherung des Unterrichts (merke: Nicht zur Gewinnung ausreichender Lehrkräfte!) gehen zu Lasten der Qualität der Ausbildung. Es lässt sich unschwer vorstellen, wie sich diese kurzsichtige Denkweise auf kommende Studien und – wesentlich schlimmer noch – auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler auswirken wird.
  • Deutliche Anhebung der Aufwendungen für die Ausstattung der Grundschulen, orientiert am Durchschnitt vergleichbarer westlicher Industrienationen.

Auf den ersten Blick, ist das auch nicht weiter erstaunlich. Schließlich steht der Grundschulverband für die Grundschule. Bedrückender erscheint die Situation, wenn man sich vergegenwärtigt, dass seit 2006 Studien immer wieder darauf hinweisen, dass – sofern nicht intensiv gegengesteuert würde – mittel- bis langfristig mit einem Mangel an Lehr-kräften, und dies insbesondere im Grundschulbereich, zu rechnen sei. Angesichts dessen, dass seither so gut wie nichts geschehen ist, stehen wir heute in diese Situation.

In seiner Erklärung verweist der Grundschuldverband auf zwei Studien:

  • „2017 beleuchtete ein vom Grundschulverband in Auftrag gegebenes Gutachten von Prof. Dr. Klaus Klemm die Ausstattung der Grundschulen in Deutschland. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Deutschland – als einer der reichsten Staaten – allerhöchstens im OECD-Mittelfeld anzusiedeln ist.  Hier wurde erheblicher Nachholbedarf festgestellt. Daran hat sich seither kaum etwas geändert.
  • 2020 machte – ebenfalls im Auftrag des Grundschulverbands – ein Gutachten zur Arbeitssituation in den Grundschulen des Instituts für interdisziplinäre Schulforschung von Reiner Schölles, Hans-Georg Schönwälder, Gerhard Tiesler und Helmut Zachau auf die Tatsache der hohen und höchsten Arbeitsbelastung von Lehrkräften der Grundschulen aufmerksam: „Zu viele Aufgaben, zu wenig Zeit: Überlastung von Lehrkräften in Grundschulen“ wurde bereits im Titel des Gutachtens auf die prekäre Situation der Lehrkräfte der Grundschulen hingewiesen. Und dies unmittelbar vor den gravierenden Folgen für Schule und Unterricht, die die Pandemie mit sich brachte.“

Die Schlussfolgerung des Verbands lautet demzufolge relativ nüchtern: „Seit 2006 zeichnet sich also ein negativer Bildungstrend ab. Übrigens nicht nur für Grundschulen. Gerade diese aber stehen aktuell vor einer Aufgabe, die der Quadratur des Kreises gleicht: Mit immer weniger qualifiziertem und zu wenig Personal sollen sie die Leistungen ihrer Kinder deutlich verbessern. Dazu werden nun – das steht zu erwarten – hektisch neue und zusätzliche Aufgaben auf die Grundschulen zukommen. Das Kernproblem wird dabei nicht angegangen.“

Um hier mehr zu erfahren, haben wir mit dem Vorsitzenden des Grundschulverbands, dem Diplom-Pädagogen und langjährigen Schulleiter, Edgar Bohn, gesprochen. Das Interview können Sie sich hier auf der Seite anhören. Es ist nicht nur informativ und birgt einige Lösungsansätze, sondern bringt auch für viel Erstaunliches zutage.

Mehr zum Grundschulverband finden Sie unter: https://grundschulverband.de

Gernot Körner