Kindeswohl in Gefahr: Warum Kitas jetzt stärker unterstützt werden müssen

Neue Zahlen zeigen einen Höchststand bei Kindeswohlgefährdungen – präventive Teamarbeit in Kitas wird zum Schlüsselfaktor

Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in Deutschland steigt weiter – und erreicht erneut einen Höchststand. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stellten die Jugendämter im Jahr 2024 bei rund 72.800 Kindern und Jugendlichen eine akute oder latente Gefährdung ihres Wohls fest. Damit hat sich die Zahl innerhalb von fünf Jahren um fast ein Drittel erhöht. Auch im Vergleich zum Vorjahr zeigt sich ein deutlicher Anstieg.

Besonders aussagekräftig ist der Blick auf die Vorstufe: Rund 239.400 Verdachtsmeldungen wurden 2024 geprüft. In vielen dieser Fälle lag zwar keine akute Kindeswohlgefährdung vor, sehr wohl aber ein erheblicher Unterstützungsbedarf. Die Statistik macht deutlich: Belastungen in Familien nehmen zu, und die Schwelle, ab der Kinder in kritische Situationen geraten, wird offenbar schneller erreicht.

Junge Kinder besonders häufig betroffen

Auffällig ist das Alter der betroffenen Kinder. Mehr als jedes zweite war jünger als neun Jahre, jedes dritte sogar unter sechs Jahre alt. Das durchschnittliche Alter lag bei 8,3 Jahren. Damit betrifft ein großer Teil der Gefährdungen Kinder im Kita-Alter oder in der frühen Grundschulzeit.

Die häufigste Form der Gefährdung war Vernachlässigung, gefolgt von psychischer Misshandlung. Körperliche Gewalt spielte ebenfalls eine relevante Rolle, sexuelle Gewalt trat seltener auf, betraf dann jedoch überwiegend Mädchen. In drei von vier Fällen ging die Gefährdung ausschließlich oder hauptsächlich von einem Elternteil aus.

Diese Zahlen verdeutlichen, dass Kindeswohlgefährdung in den meisten Fällen kein Randphänomen ist, sondern im familiären Alltag entsteht – oft schleichend und über längere Zeit.

Kitas als frühe Beobachtungs- und Schutzorte

Kitas sind für viele Kinder der wichtigste außerfamiliäre Lebensraum. Erzieherinnen und Erzieher erleben Kinder täglich über viele Stunden hinweg, beobachten ihr Verhalten, ihre Entwicklung, ihre Sprache, ihre Emotionen. Sie sind häufig die ersten, denen Veränderungen auffallen.

Entsprechend bedeutsam ist die Rolle der Kitas im Kinderschutz. Hinweise auf mögliche Gefährdungen stammen zwar häufig von Polizei und Justiz, aber auch aus dem sozialen Umfeld der Kinder und aus dem System der Kinder- und Jugendhilfe. Kitas sind dabei ein sensibler Schnittpunkt zwischen Familie, Hilfesystem und öffentlicher Verantwortung.

Hohe Belastung für pädagogische Fachkräfte

Diese Verantwortung bleibt für die Fachkräfte nicht folgenlos. Eine bundesweite Befragung von rund 21.000 Kita-Fach- und Leitungskräften zeigt, wie stark sie belastet sind, wenn sie Situationen erleben, in denen Kinder möglicherweise nicht ausreichend geschützt sind. Fast 70 Prozent gaben an, sich dadurch stark oder eher stark belastet zu fühlen.

Während ein Teil der Befragten angibt, solche Situationen selten zu erleben, berichten andere von einer nahezu täglichen Konfrontation mit problematischen Situationen. Das macht deutlich: Kinderschutz ist für viele Erzieherinnen kein Ausnahmefall, sondern Teil ihres Berufsalltags – oft ohne ausreichende strukturelle Unterstützung.

Gute Teamarbeit als wirksamer Schutzfaktor

Genau hier setzt die Analyse der Bertelsmann Stiftung an. Ihre Befunde zeigen: Entscheidend für kindgerechtes Handeln ist nicht allein die Personalausstattung, sondern vor allem die Qualität der Zusammenarbeit im Team. Wo Kommunikation funktioniert, Zuständigkeiten klar sind und eine offene Feedback-Kultur besteht, gelingt es deutlich besser, sensibel und professionell mit schwierigen Situationen umzugehen.

Umgekehrt steigt das Risiko für unangemessenes Verhalten gegenüber Kindern dort, wo Teams unter dauerhaftem Stress stehen, Abläufe unklar sind und Probleme nicht offen angesprochen werden können. Unterbesetzung, Überlastung und fehlende Reflexionsräume verstärken sich gegenseitig – mit Folgen für Kinder und Fachkräfte.

Reflexionskompetenz braucht Zeit und Strukturen

Ein zentrales Ergebnis der Befragung ist die Bedeutung der Reflexionskompetenz. Gemeint ist die Fähigkeit, das eigene pädagogische Handeln kritisch zu hinterfragen und im Austausch mit Kolleginnen, Kollegen und Leitung weiterzuentwickeln. Diese Kompetenz ist Grundlage professionellen Handelns – gerade im sensiblen Feld des Kinderschutzes.

Gleichzeitig zeigen sich strukturelle Defizite: Der Anteil einschlägig ausgebildeter Fachkräfte geht seit Jahren zurück, Fortbildungsangebote sind ungleich verteilt, und vielen Kita-Leitungen fehlt schlicht die Zeit, Teamprozesse aktiv zu gestalten.

Mehr Fachberatung, mehr Leitungszeit, bessere Qualifizierung

Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt daher ein Bündel an Maßnahmen, das über reine Personalzahlen hinausgeht. Fachberatung für Kitas sollte personell und zeitlich ausgeweitet werden, um Teams gezielt bei Reflexion, Konfliktklärung und Qualitätsentwicklung zu unterstützen. Leitungen benötigen ausreichend Leitungszeit – mindestens 20 Stunden pro Woche –, um Teamarbeit, Kommunikation und Schutzkonzepte wirksam zu gestalten.

Zugleich ist es notwendig, die Fachkraft-Quote langfristig wieder zu erhöhen und berufsbegleitende Qualifizierungen systematisch zu fördern. Kinderschutz gelingt dort am besten, wo Fachlichkeit, Teamkultur und strukturelle Rahmenbedingungen zusammenwirken.

Prävention beginnt im Alltag der Kitas

Angesichts steigender Zahlen von Kindeswohlgefährdungen wird deutlich: Prävention darf nicht erst einsetzen, wenn Jugendämter tätig werden. Sie beginnt im pädagogischen Alltag – in stabilen Teams, in reflektierter Praxis und in einer Kultur, die Belastungen ernst nimmt und Unterstützung ermöglicht.

Mit ihrer Initiative „Es geht um jedes Kind“ macht die Bertelsmann Stiftung genau darauf aufmerksam. Für Erzieherinnen und Erzieher bedeutet das eine klare Botschaft: Sie tragen eine zentrale Verantwortung für den Schutz von Kindern – und brauchen dafür verlässliche Bedingungen, fachliche Begleitung und politische Unterstützung.

Weitere Informationen

Detaillierte Ergebnisse der Statistik zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung,  einschließlich Angaben nach Bundesländern, stehen in der Datenbank GENESIS-Online (Tabellen 22518) und auf der Themenseite „Kinderschutz und Kindeswohl“ im Internetangebot des Statistischen Bundesamtes bereit. Weiterführende Daten bietet der neue Statistische Bericht „Statistik zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“.

Gernot Körner




Kinderschutz in Deutschland: Zahl der gefährdeten Kinder wächst weiter

Eine neue Albert-Schweitzer-Kinderdörfer und Familienwerke-Studie offenbart alarmierende Wahrnehmungen und konkrete Zahlen – Zeit für mehr gesellschaftliches Engagement – wachsende Sorge um Kinderschutz in Deutschland

Kinderschutz in Deutschland ist für viele Menschen zu einem zentralen Sorgen-Thema geworden. Laut einer aktuellen, repräsentativen GfK-Umfrage im Auftrag der Albert-Schweitzer-Kinderdörfer und Familienwerke sind 65,2 Prozent der Befragten überzeugt, dass die Zahl der Kinder, die in familiären Krisen leben und deren Wohl gefährdet ist, in den letzten fünf Jahren deutlich gestiegen ist. Diese Wahrnehmung verweist auf ein gesellschaftliches Klima, in dem Überforderung, psychische Belastungen, Armut, Gewalt und Vernachlässigung als zunehmende Risiken für Kinder wahrgenommen werden.

Die Studie zeigt außerdem sehr deutlich: Kinderschutz wird nicht mehr als Randthema betrachtet, sondern als dringende gemeinsame Aufgabe von Politik, Fachpraxis und Zivilgesellschaft. Gleichzeitig wächst das Unbehagen, ob die bestehenden Schutzsysteme tatsächlich stark genug sind, um allen gefährdeten Kindern verlässlich zur Seite zu stehen.

Kinderschutz in Zahlen: Inobhutnahmen 2024

Die subjektive Besorgnis wird durch offizielle Zahlen untermauert. Nach aktuellen Daten des Statistischen Bundesamts wurden im Jahr 2024 in Deutschland insgesamt 69.477 Kinder und Jugendliche von den Jugendämtern in Obhut genommen. Inobhutnahmen sind immer eine einschneidende Schutzmaßnahme und erfolgen in akuten Krisen, wenn das familiäre Umfeld nicht mehr in der Lage ist, Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten.

Hinter diesen Zahlen stehen sehr unterschiedliche Problemlagen. Häufige Gründe sind die Überforderung von Eltern oder einem Elternteil, Vernachlässigung, Anzeichen für körperliche oder psychische Misshandlung oder Hinweise auf sexuelle Gewalt. Daneben spielt auch die unbegleitete Einreise von Minderjährigen eine große Rolle. Ein Teil der Kinder kehrt nach der Klärung der Situation in die Herkunftsfamilie zurück, doch ein erheblicher Anteil braucht langfristig andere Lebens- und Betreuungsformen, etwa in Kinderdorffamilien, Wohngruppen oder Pflegefamilien.

Auch wenn die Zahl der Inobhutnahmen 2024 im Vergleich zum Vorjahr um rund sieben Prozent zurückgegangen ist, bleiben die absoluten Zahlen hoch. Sie machen deutlich, dass der Kinderschutz in Deutschland täglich mit komplexen Lebenssituationen konfrontiert ist – und dass es nicht reicht, sich auf vermeintlich sinkende Fallzahlen zu verlassen.

Wer schützt die Kinder? Vertrauen in Staat und freie Träger

Ein zentrales Ergebnis der GfK-Studie betrifft die Frage, wem die Bevölkerung im Bereich Kinderschutz am meisten vertraut. Nur 46,1 Prozent der Befragten geben an, dass sie dem Staat – etwa in Form von Jugendämtern und öffentlichen Trägern – beim Kinderschutz und bei der Familienhilfe vertrauen. Deutlich höher fällt das Vertrauen in gemeinnützige Organisationen und Wohlfahrtsverbände aus: 72,9 Prozent der Befragten sehen freie Träger als verlässliche Partner, wenn es darum geht, Kinder in Not zu schützen und Familien zu unterstützen. Kirchliche oder religiöse Träger liegen mit 39,1 Prozent im Mittelfeld.

Gefragt nach der aus ihrer Sicht besten Unterbringungsform für Kinder, die aufgrund von Vernachlässigung, Missbrauch oder Gewalt nicht in ihren Herkunftsfamilien bleiben können, entscheiden sich 38,1 Prozent der Befragten für familienanaloge Kinderdorffamilien mit festen Hauseltern. Diese Form der Betreuung wird häufiger als besonders kindgerecht bewertet als stationäre Wohngruppen oder Pflegefamilien. Die Bevölkerung verbindet mit Kinderdorffamilien Stabilität, persönliche Bindung und ein möglichst „normales“ Familienleben – Faktoren, die gerade für Kinder mit belastenden Erfahrungen enorm wichtig sind.

Überblick über die GfK-Studie

Die vorliegenden Ergebnisse gehen auf eine repräsentative Online-Befragung der GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) zurück, die im Auftrag der Albert-Schweitzer-Kinderdörfer und Familienwerke im Sommer 2025 durchgeführt wurde. Befragt wurden Männer und Frauen im Alter von 18 bis 74 Jahren in Deutschland; die Stichprobe umfasst etwa 1.000 Personen und bildet die deutschsprachige Bevölkerung dieser Altersgruppe ab.

Wesentliche Resultate sind: Ein deutlicher Teil der Bevölkerung sieht einen Anstieg familiärer Krisen mit möglicher Kindeswohlgefährdung. Das Vertrauen in gemeinnützige Träger ist ausgesprochen hoch, während das Vertrauen in staatliche Strukturen als vergleichsweise gering eingeschätzt wird. Kinderdorffamilien werden als besonders geeignete Unterbringungsform wahrgenommen, wenn Kinder nicht in ihren Herkunftsfamilien bleiben können.

Die Ergebnisse werden in der öffentlichen Kommunikation eng mit aktuellen amtlichen Daten zu Inobhutnahmen verknüpft, um die subjektive Wahrnehmung der Bevölkerung mit objektiven Zahlen zu unterfüttern.

Was die Studie leistet – und wo ihre Grenzen liegen

Die GfK-Studie hat mehrere Stärken. Sie bietet einen aktuellen Blick auf die Stimmungslage in der Bevölkerung, macht sichtbar, wie präsent das Thema Kinderschutz in Deutschland ist, und zeigt, welchen Stellenwert Vertrauen in verschiedene Akteure hat. Durch die Verknüpfung mit amtlichen Statistiken entsteht ein differenzierteres Bild aus subjektiver Wahrnehmung und objektiven Zahlen.

Gleichzeitig hat die Studie klare Grenzen. Sie misst Wahrnehmungen, nicht direkt die tatsächliche Häufigkeit von Kindeswohlgefährdungen. Dass 65 Prozent der Befragten einen Anstieg familiärer Krisen erleben, spiegelt vor allem gesellschaftliche Stimmung, mediale Debatten und persönliche Eindrücke wider. Ob und in welchem Umfang die tatsächlichen Gefährdungslagen zunehmen, lässt sich aus der Umfrage allein nicht belegen.

Hinzu kommt: Die Stichprobe von rund 1.000 Personen ist zwar für Meinungsumfragen üblich, aber für die komplexe Realität von Kindeswohlgefährdungen nur begrenzt aussagekräftig. Regionale Unterschiede, unterschiedliche soziale Milieus oder besondere Problemlagen lassen sich damit nur eingeschränkt abbilden.

Auch der Rückgriff auf Inobhutnahmedaten bleibt ohne tieferen Kontext. Die Zahl von 69.477 Inobhutnahmen im Jahr 2024 erklärt nicht, wie viele Kinder anschließend dauerhaft in Pflegefamilien, Kinderdörfern oder stationären Einrichtungen leben, wie viele zurückkehren konnten oder wie die Qualität der Betreuung konkret aussieht. Zur Reintegration, zur Stabilität der Hilfen und zur langfristigen Wirkung macht die Studie keine Aussagen.

Hinzu kommt ein möglicher Darstellungsdruck: Die Studie wurde von einer Organisation in Auftrag gegeben, die selbst als Träger im Kinderschutz und der Kinder- und Jugendhilfe aktiv ist. Es liegt nahe, dass die Ergebnisse und ihre Präsentation diejenigen Betreuungsformen besonders hervorheben, in denen eben diese Organisation stark engagiert ist – beispielsweise Kinderdorffamilien. Das ist legitim, erfordert aber bei der Interpretation eine kritische Distanz, um andere Formen wie Pflegefamilien oder ambulante Hilfen nicht aus dem Blick zu verlieren.

Schließlich bleibt der zentrale Begriff „familiäre Krisen“ recht unscharf. Er umfasst ein breites Spektrum von vorübergehender Überforderung bis zu schwerer Vernachlässigung oder Gewalt. Die Studie differenziert diese Dimensionen nicht nach Schweregrad, Dauer oder Art der Gefährdung. Damit bleibt offen, ob Menschen in erster Linie kleine Alltagssorgen, extreme Misshandlungssituationen oder alles dazwischen im Kopf haben, wenn sie von „mehr Krisen“ sprechen.

Was die Ergebnisse für den Kinderschutz bedeuten

Trotz ihrer Grenzen hat die Studie für die Praxis des Kinderschutzes eine wichtige Signalwirkung. Sie zeigt, dass Kinderschutz in Deutschland als dringliches Thema wahrgenommen wird, dass viele Menschen besorgt sind und dass sie von Politik, Jugendhilfe und freien Trägern entschlossenes Handeln erwarten.

Gleichzeitig macht sie offenkundig, dass das Vertrauen in staatliche Strukturen begrenzt ist und dass freie, gemeinnützige Träger als besonders glaubwürdige Partner gelten. Für Politik und Fachpraxis lässt sich daraus eine klare Botschaft ableiten: Kinderschutz braucht stabile, gut ausgestattete und transparente Kooperationsstrukturen zwischen öffentlichen und freien Trägern – und er braucht eine starke Stimme in der Öffentlichkeit.

Familien früh und präventiv unterstützen

Ein zentrales Ergebnis aus amtlichen Zahlen und praktischer Erfahrung ist, dass viele Kindeswohlgefährdungen im Kontext von Überforderung, psychischen Belastungen, Armut oder Konflikten entstehen, die sich über längere Zeit aufbauen. Hier setzt die Forderung nach präventiven Angeboten an:

Familien brauchen frühzeitige, gut erreichbare Unterstützung, bevor Krisen eskalieren. Dazu gehören niedrigschwellige Elternberatungen, Familienzentren, Familienhebammen, bindungsorientierte Angebote in der frühen Kindheit und verlässliche Hilfen schon vor dem Kita-Eintritt. Je früher solche Unterstützungsangebote greifen, desto häufiger können Inobhutnahmen vermieden oder zumindest die Dauer von Trennungen verkürzt werden.

Gemeinnützige Träger und Kinderdorffamilien als stabile Anker

Da die Bevölkerung gemeinnützigen Trägern ein hohes Maß an Vertrauen entgegenbringt, ist ihre Rolle im Kinderschutz besonders bedeutsam. Damit sie dieser Verantwortung gerecht werden können, brauchen sie verlässliche Rahmenbedingungen: langfristige Finanzierung statt kurzfristiger Projektlogik, weniger Bürokratie, um mehr Zeit direkt mit den Kindern verbringen zu können, und gute Arbeitsbedingungen für Fachkräfte, die täglich mit hoch belasteten Lebensgeschichten umgehen.

Kinderdorffamilien stehen in der Wahrnehmung vieler Menschen für Stabilität, Bindung und ein familienähnliches Umfeld. Wenn Kinder nicht in ihren Herkunftsfamilien bleiben können, sind solche familienanalogen Lebensformen oft ein wichtiger Gegenpol zu den Erfahrungen von Unsicherheit, Gewalt oder Vernachlässigung. Voraussetzung ist allerdings, dass diese Strukturen qualitativ hochwertig und gut abgesichert sind: mit qualifizierten Hauseltern, klaren Entlastungs- und Vertretungsmodellen, angemessener Vergütung und verlässlicher traumapädagogischer sowie psychologischer Begleitung. Wachstum um jeden Preis wäre hier fatal; entscheidend ist ein Ausbau, der sich an den realen Möglichkeiten der Fachkräfte und an der Qualität orientiert.

Mehr Forschung, mehr Monitoring, mehr Transparenz

Weil die GfK-Studie Wahrnehmungen abbildet und mit aggregierten Zahlen zu Inobhutnahmen arbeitet, bleibt sie in vielen Punkten an der Oberfläche. Für einen wirksamen Kinderschutz in Deutschland braucht es jedoch ein deutlich dichteres Netz an Forschung und Monitoring.

Nötig sind bundesweit einheitliche und vergleichbare Daten zum Kinderschutz, regelmäßige Dunkelfeldstudien, die auch nicht gemeldete Fälle sichtbar machen, sowie Längsschnittstudien, die untersuchen, welche Hilfen Kindern und Familien langfristig wirklich helfen. Nur auf Basis solcher evidenzbasierten Erkenntnisse lassen sich Angebote ausbauen, verbessern oder neu ausrichten. Forschung muss daher fester Bestandteil einer modernen Kinderschutzstrategie sein – nicht ein optionales Zusatzthema.

Öffentliche Aufmerksamkeit für Kinderrechte stärken

Kinderschutz beginnt nicht beim Jugendamt, sondern in Familien, Schulen, Kitas, Vereinen und Nachbarschaften. Eine starke Kultur der Kinderrechte bedeutet, dass Erwachsene aufmerksam sind, hinsehen, zuhören und handeln, wenn sie den Eindruck haben, dass ein Kind Schutz braucht. Dazu gehört, Kinderrechte im Bildungssystem zu verankern, Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte zu qualifizieren, aber auch die breite Öffentlichkeit zu sensibilisieren – etwa über Kampagnen, Aktionstage wie den Weltkindertag am 20. September und eine nachhaltige Berichterstattung in den Medien.

Je sichtbarer Kinderrechte und Kinderschutz im Alltag werden, desto größer ist die Chance, dass Gefährdungen früh erkannt und Kinder tatsächlich geschützt werden. Die GfK-Studie zeigt: Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit ist da, die Sorgen sind real – nun kommt es darauf an, aus dieser Sensibilität konsequentes Handeln zu machen.

Weiterführender Link zur Studie

Die ausführliche Presseinformation mit den zentralen Ergebnissen der GfK-Umfrage und den aktuellen Inobhutnahmezahlen ist auf der Website des Albert-Schweitzer-Verbands abrufbar:
https://albert-schweitzer-verband.de/wp-content/uploads/2025/07/Presseinformation-Kindeswohlgefaehrdung_GfK-Umfrage.pdf

Gernot Körner




Zahl der Kindeswohlgefährdungen erreicht neuen Höchststand

Das Statistische Bundesamt berichtet von 62.300 Kindeswohlgefährdung in 2022

Nach einem leichten Rückgang im Corona-Jahr 2021 hat die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht: Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, haben die Jugendämter im Jahr 2022 bei fast 62.300 Kindern oder Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt festgestellt. Das waren rund 2.300 Fälle oder 4 % mehr als im Jahr zuvor. In weiteren 68.900 Fällen lag 2022 nach Einschätzung der Behörden zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber ein erzieherischer Hilfebedarf vor (+2 %). Geprüft hatten die Jugendämter im Vorfeld insgesamt 203.700 Hinweismeldungen, bei denen der Verdacht auf eine mögliche Gefährdung von Kindern oder Jugendlichen im Raum stand (+3 %).

Auch langfristig hat sich die Zahl der Kindeswohlgefährdungen erhöht: In den Jahren von 2012 bis 2022 betrug der Anstieg rund 24.000 Fälle beziehungsweise 63 %. Dabei nahmen die Fallzahlen von 2017 bis einschließlich dem ersten Corona-Jahr 2020 besonders kräftig zu -und zwar jährlich um 9 % bis 10 %. Im zweiten Corona-Jahr 2021 sanken sie dann leicht (‑1 %), um im Jahr 2022 mit 4 % wieder moderat zu wachsen.

2 % weniger latente, aber 10 % mehr akute Kindeswohlgefährdungen

Fachleute hatten im Zuge der Pandemie davor gewarnt, dass ein Teil der Kinderschutzfälle durch die Kontaktbeschränkungen unerkannt bleiben oder erst mit Verzögerung nach Ende der Pandemie auffallen könnte. Auch wenn die neuen Ergebnisse zunächst eher nicht auf einen solchen allgemeinen Nachholeffekt hindeuten, gibt es doch Auffälligkeiten: So gingen zwar die latenten Fälle -also jene, bei denen eine gegenwärtig vorliegende Gefahr nicht eindeutig bestätigt werden konnte, aber ein ernster Verdacht verblieb – im Jahr 2022 auf 28.900 zurück (‑2 %). Gleichzeitig sind aber insbesondere die akuten (eindeutigen) Fälle von Kindeswohlgefährdung mit 10 % vergleichsweise stark auf 33.400 Fälle gestiegen.

Etwa vier von fünf gefährdeten Kindern waren jünger als 14 Jahre

Etwa vier von fünf (79 %) aller 62 300 von einer Kindeswohlgefährdung betroffenen Kinder waren jünger als 14 Jahre, etwa jedes zweite sogar jünger als 8 Jahre (47 %). Während Jungen bis zum Alter von 11 Jahren etwas häufiger von einer Kindeswohlgefährdung betroffen waren, traf dies ab dem 12. Lebensjahr auf die Mädchen zu. Die meisten Minderjährigen wuchsen bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern (42 %) oder bei beiden Eltern gemeinsam (38 %) auf, 10 % bei einem Elternteil in neuer Partnerschaft und weitere 9 % in einem Heim, bei Verwanden oder in einer anderen Konstellation. Knapp die Hälfte der betroffenen Jungen und Mädchen (47 %) nahm zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung bereits eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch, stand also schon in Kontakt zum Hilfesystem.

In 22 % aller Fälle lagen mehrere Arten von Vernachlässigung und Gewalt vor

In den meisten Fällen von Kindeswohlgefährdung (59 %) hatten die Behörden Anzeichen von Vernachlässigung festgestellt. In über einem Drittel (35 %) gab es Hinweise auf psychische Misshandlungen. In 27 % der Fälle wurden Indizien für körperliche Misshandlungen und in 5 % Anzeichen für sexuelle Gewalt gefunden. Den Jugendämtern zufolge gab es darunter auch Fälle, bei denen die Betroffenen mehrere dieser Gefährdungsarten -also Vernachlässigungen, psychische Misshandlungen, körperliche Misshandlungen oder sexuelle Gewalt gleichzeitig erlebt hatten. 2022 traf dies auf 22 % aller Fälle von Kindeswohlgefährdung zu. Dieser Anteil ist seit 2015 kontinuierlich gewachsen, damals hatte er noch bei 16 % gelegen.

Hinweise von Polizei und Justiz haben sich in zehn Jahren mehr als verdreifacht

Knapp ein Drittel (30 %) der rund 203.700 Gefährdungseinschätzungen wurden im Jahr 2022 von der Polizei oder den Justizbehörden angeregt. Rund ein Viertel (23 %) der Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung kam aus der Bevölkerung – also von Verwandten, Bekannten, Nachbarn oder anonym. Dahinter folgten Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe, Erziehungshilfe u. a. (13 %). Jeweils etwa ein Zehntel der Hinweise auf die Gefährdungssituation gaben die Schulen (11 %) und die Familien selbst, also die betroffenen Minderjährigen (2 %) oder deren Eltern (7 %).

Eine abschließende Beurteilung, wie sich die Corona-Pandemie -etwa durch die allgemeinen Kontaktbeschränkungen, Lockdowns oder das Homeschooling -auf die Entwicklung der Kinderschutzfälle ausgewirkt hat, ist zurzeit noch schwierig. Gerade in  einer Ausnahmesituationen wie der Pandemie scheint aber das Meldeverhalten der Hinweisgeber eine besondere Rolle zu spielen: Zum Beispiel deuten die bisherigen Ergebnisse darauf hin, dass Schulen und Kitas infolge der Schul- und Kitaschließungen besonders im Jahr 2020 vorübergehend weniger Hinweise auf mögliche Kinderschutzfälle an die Jugendämter gegeben haben als zuvor und danach. Andererseits können Lockdowns und Homeoffice dazu beigetragen haben, dass bei den Behörden zeitweise deutlich mehr Meldungen aus der Bevölkerung eingegangen sind. In der Rückschau fällt auch hier das Jahr 2020 besonders auf.

Vergleichsweise stabil geblieben ist dagegen auch in Zeiten der Pandemie offensichtlich das Meldeverhalten von Polizei und Justizbehörden. Diese Hinweisgeber weisen auch im längerfristigen Vergleich eine beachtliche Entwicklung auf: 61 300 Gefährdungseinschätzungen wurden 2022 von Polizei und Justiz angeregt -gut dreimal so viele wie im Jahr 2012 (+234 %). Zum Vergleich: Im Durchschnitt hatte sich die Zahl der Gefährdungseinschätzungen im Zehnjahresvergleich in etwa verdoppelt (+91 %).

Methodische Hinweise:

Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls eines Kindes droht oder bereits eingetreten ist. In Verdachtsfällen sind die Jugendämter verpflichtet, durch eine Gefährdungseinschätzung (nach § 8a SGB VIII) das Gefährdungsrisiko und den Hilfebedarf abzuschätzen und einer Gefährdung entgegenzuwirken. Dazu zählen in der Regel auch ein Hausbesuch und die Erörterung der Problemsituation mit dem Kind und den Sorgeberechtigten – sofern dies dem Kinderschutz nicht entgegensteht.

Weitere Informationen:

Weitere Ergebnisse stehen in der Datenbank GENESIS-Online in der Tabelle 22518 bereit. Weiterführende Informationen zum Thema Kinderschutz und Kindeswohl befinden sich auf der Themenseite „Kinderschutz und Kindeswohl“.

Quelle: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt




Kostenloser Onlinevortrag: Kindeswohlgefährdung und Schutzauftrag für Fachkräfte

Fortbildungsveranstaltung des Instituts für Bildung und Entwicklung (ibe) zu einem schwierigen Thema

Was unterscheidet eine pädagogisch schwierige Situation von einer, die als Kindeswohlgefährdung eingestuft wird? Welche Handlungsoptionen gibt es und was sind Handlungsnotwendigkeiten? Wie kommt man mit der Verantwortung, die aus dieser Situation erwächst klar, und wo endet diese? Darum geht es beim Online-Vortrag des Instituts für Bildung und Entwicklung (ibe) am 7.03.2023 um 16 Uhr.

Themen sind die Grundlagen des Umgangs mit dem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung, die Optionen und verschiedenen Unterstützungsmodelle, die Verantwortung und die notwendigen Handlungsprozesse. 

Referent ist Bodo Ströber, Einrichtungsleiter am Jugendhaus OASE in Potsdam. Hier geht es zur Anmeldung.

Wie immer wird eine Aufzeichnung des Vortrags anschließend in der Mediathek von www.netquali-bb.de eingestellt: https://www.netquali-bb.de/mediathek/online-vortraege/

Quelle: ibe




Jugendämter haben rund 45.000 Kinder in Obhut genommen

Im Corona-Jahr 2020 war die Überforderung der Eltern Hauptgrund für Inobhutnahme

Die Jugendämter in Deutschland haben im Jahr 2020 rund 45.400 Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut genommen. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, erfolgten zwei Drittel (67 Prozent) dieser Inobhutnahmen wegen einer dringenden Kindeswohlgefährdung, 17 Prozent aufgrund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland und weitere 17 Prozent auf Bitte der betroffenen Minderjährigen. Ein Drittel (33 Prozent) aller 2020 in Obhut genommenen Jungen und Mädchen war jünger als zwölf Jahre, jedes zehnte Kind (11 Prozent) sogar jünger als drei Jahre.

Rückläufige Zahlen in 2020

Im Vergleich zu 2019 sind die Inobhutnahmen um 8 Prozent oder rund 4.100 Fälle zurückgegangen. Anders als in den beiden Vorjahren war dafür im Corona-Jahr 2020 jedoch nicht allein die sinkende Zahl der Inobhutnahmen nach unbegleiteter Einreise verantwortlich (‑1.100 Fälle). Noch deutlicher war der Rückgang in Fällen von dringender Kindeswohlgefährdung (-2.100 Fälle). Auch die Zahl der Selbstmeldungen von Jungen und Mädchen hat 2020 – im Unterschied zu den beiden Jahren zuvor – abgenommen (-800 Fälle). Inwieweit diese Entwicklungen in Zusammenhang mit den Lockdowns und den Kontaktbeschränkungen infolge der Corona-Pandemie stehen, lässt sich anhand der vorliegenden Ergebnisse nicht beantworten. Fachleute und Studien weisen jedoch darauf hin, dass ein Teil der Kinderschutzfälle coronabedingt unentdeckt geblieben und das Dunkelfeld somit gewachsen sein könnte. In die offizielle Statistik fließen nur solche Fälle ein, die den Jugendämtern bekannt gemacht wurden und daher dem sogenannten Hellfeld zuzurechnen sind. 

Die Bedeutung von Überforderung, Misshandlungen und Vernachlässigung wächst 

Am häufigsten wurden Kinder und Jugendliche 2020 wegen der Überforderung eines oder beider Elternteile in Obhut genommen (41 Prozent). Mit Abstand folgte an zweiter Stelle die unbegleitete Einreise aus dem Ausland (17 Prozent). Anzeichen für Vernachlässigungen waren der dritthäufigste (15 Prozent) und Hinweise auf körperliche Misshandlungen der vierthäufigste Grund für eine Inobhutnahme (13 Prozent). An fünfter Stelle standen Beziehungsprobleme (ebenfalls 13 Prozent) und auf Rang 6 psychische Misshandlungen (8 Prozent). Mehrfachnennungen waren hierbei möglich.

Trotz des allgemeinen Rückgangs der Zahl der Inobhutnahmen haben im Vergleich zu 2019 fast alle Anlässe anteilig an Bedeutung gewonnen – die einzigen Ausnahmen waren unbegleitete Einreisen sowie Schul- und Ausbildungsprobleme. Besonders deutlich war dies bei den Anlässen Überforderung der Eltern (+2,3 Prozentpunkte), psychische Misshandlungen (+2,1 Prozentpunkte), Vernachlässigungen (+1,7 Prozentpunkte) und körperliche Misshandlungen (+1,0 Prozentpunkt). Dadurch sind körperliche Misshandlungen in der Liste der häufigsten Anlässe für eine Inobhutnahme im Vergleich zu 2019 von Rang 5 auf Rang 4 und psychische Misshandlungen sogar um zwei Ränge von Rang 8 auf Rang 6 vorgerückt.

Etwa jede zweite Inobhutnahme wurde nach spätestens zwei Wochen beendet 

Die meisten Minderjährigen waren vor der Inobhutnahme bei einem alleinerziehenden Elternteil (25 Prozent), bei beiden Eltern gemeinsam (25 Prozent) oder bei einem Elternteil in neuer Partnerschaft untergebracht (14 Prozent). Aber auch eine vorherige Heimunterbringung war nicht selten (13 Prozent). Etwa jede zweite Schutzmaßnahme konnte nach spätestens zwei Wochen beendet werden (52 Prozent). In etwa jedem achten Fall dauerte die Inobhutnahme mit drei Monaten oder mehr jedoch vergleichsweise lang. 

Während der Inobhutnahme wurde die Mehrheit der betroffenen Kinder und Jugendlichen in einer geeigneten Einrichtung, zum Beispiel einem Heim, untergebracht (80 Prozent). Danach kehrte ein Großteil der Jungen und Mädchen an den bisherigen Lebensmittelpunkt zu den Sorgeberechtigten, der Pflegefamilie oder in das Heim zurück (37 Prozent). Knapp ein Drittel der Jungen und Mädchen bekam dagegen ein neues Zuhause in einer Pflegefamilie, einem Heim oder einer betreuten Wohnform (33 Prozent).

Quelle: destatis