Mögliche Ursache für intellektuelle Defizite bei Frühgeborenen entdeckt

Offenbar wirkt sich die Geburt hemmend auf das Wachstum von Nervenscheiden aus

Die Geburt wirkt sich hemmend auf das Wachstum von Nervenscheiden aus. Das schließt eine neurowissenschaftliche Forschungsgruppe aus der Analyse von Magnetresonanztomografie-Daten. Dass die Nervenscheiden unmittelbar nach der Geburt verlangsamt wachsen, könnte kognitive Defizite bei Frühgeborenen erklären. Das Team um die Marburger Neurowissenschaftlerin Dr. Mareike Grotheer berichtet im Forschungsmagazin „PNAS“ über seine Ergebnisse.

Je besser das Kabel isoliert ist, desto schneller kann der Strom hindurchfließen

Viele Nervenfasern von Wirbeltieren besitzen eine Hülle aus Myelin, die sogenannte Nervenscheide; sie gewährleistet eine besonders schnelle Erregungsleitung. „Dies lässt sich gut mit einem Kabel vergleichen“, erklärt Mareike Grotheer, die Leitautorin der Studie: „Je besser das Kabel isoliert ist, desto schneller kann der Strom hindurchfließen.“ Auch die Leitungsbahnen von menschlichen Hirnzellen sind mit Myelin umhüllt. „Diese Nervenscheiden aus Myelin sind für die Funktion des Gehirns von wesentlicher Bedeutung“, legt die Neurowissenschaftlerin dar; „geht die Bildung der Myelinscheiden schief, so kann dies zu Entwicklungs- und kognitiven Störungen führen.“

Nervenscheiden reifen vor der Geburt schneller als direkt danach

Grotheer nutzte gemeinsam mit ihrem Team das Verfahren der Magnetresonanztomografie, um die Ausdehnung der Myelinscheiden entlang der Leitungsbahnen zu erforschen. Hierfür griff die Gruppe auf bereits bestehende Bilddaten des „Developing Human Connectome Projects“ zurück. Um die Nervenbahnen im Gehirn der Neugeborenen zu identifizieren und deren Myelingehalt zu quantifizieren, entwickelte das Team eigens eine neue Software. „Mit deren Hilfe wiesen wir nach, dass die Nervenscheiden vor der Geburt schneller reifen als direkt danach“, berichtet Grotheer.

Verzögerung in der Reifung der Myelinscheiden bei Frühgeborenen

Zudem verglich die Forschungsgruppe die Resultate termingerecht geborener Kinder mit den Befunden bei Frühgeborenen. Bei diesen sind die Nervenscheiden demnach weniger reif. „Die Verzögerung in der Reifung der Myelinscheiden könnte damit zusammenhängen, wieviel Zeit ihrer Entwicklung die frühgeborenen Kinder im Mutterleib verbrachten und wieviel Zeit außerhalb“, erläutert Grotheer.

„Das geringere nachgeburtliche Wachstum der Nervenscheiden könnte außerdem mit kognitiven Defiziten zusammenhängen, die nach einer Frühgeburt auftreten können“, folgert die Marburger Neurowissenschaftlerin. Biete man Frühgeborenen eine Umgebung, die sich an die Gegebenheiten im Mutterleib anlehne, könne dies vielleicht ihrer neuronalen Entwicklung nach der Geburt zugutekommen.

Mit Magnetresonanztomografie kann sichtbar gemacht werden, dass das Gehirn reift, wenn Säuglinge älter werden
(Abbildung: Stephanie Zika/ Philipps-Universität Marburg)

Die Neurowissenschaftlerin Dr. Mareike Grotheer leitet die Arbeitseinheit Educational Neuroscience an der Philipps-Universität Marburg; sie gehört dem mittelhessischen „Center for Mind Brain and Behavior“ an. Neben Grotheers Team beteiligten sich Arbeitsgruppen von den Universitäten Stanford und Washington in den USA an der Veröffentlichung.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Exzellenzprogramm des Hessischen Wissenschaftsministeriums sowie US-amerikanische Förderorganisationen unterstützten die Forschungsarbeit finanziell.

Originalpublikation: Mareike Grotheer & al.: Human white matter myelinates faster in utero than ex utero, PNAS 2023

Anne Reichel, Philipps-Universität Marburg




Hängen Musik und Verstand zusammen?

Wissenschaftler:innen aus Australien, England und Deutschland können bisher keine direkte Verbindung nachweisen

Immer wieder wird diskutiert, inwieweit musikalische Bildung auch für andere kognitive Fähigkeiten oder schulische Leistungen von Vorteil sein kann. Forscher:innen der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover, der Goldsmiths University of London, der Macquarie University in Sydney, des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main und der University of Cambridge haben sich dieser Frage nun mithilfe einer neuen wissenschaftlichen Methode genähert. Die Ergebnisse der Studie sind vor einiger Zeit im Fachmagazin „Music Perception“ erschienen.

Die wesentliche Komponente ist das Arbeitsgedächtnis

Eine wesentliche Komponente für alle kognitiven Fähigkeiten ist das Arbeitsgedächtnis, also die Fähigkeit, Dinge im Gedächtnis zu behalten und sie ohne externe Hilfsmittel wie Stift oder Papier kognitiv zu verarbeiten. Noch ist jedoch unklar, ob das Arbeitsgedächtnis universell oder bereichsspezifisch funktioniert, sprich: ob das Gehirn für Musik, Bilder, Sprache oder Mathematik dieselben Bereiche und Kapazitäten nutzt – oder verschiedene.

In ihrer Studie untersuchten die Wissenschaftler:innen insgesamt 148 Personen. Anhand sechs verschiedener Tests glichen sie das musikalische und das visuelle Arbeitsgedächtnis der Studienteilnehmer:innen mit deren Grad an musikalischer Bildung ab.

Neue wissenschaftliche Methode

„In den bisherigen Forschungen zum Zusammenhang von musikalischer Bildung und allgemeinen kognitiven Fähigkeiten wurde das musikalische Gedächtnis häufig nicht berücksichtigt. Wir haben diese Triade nun mithilfe des ‚Causal Modeling‘-Ansatzes untersucht, einer relativ neuen wissenschaftlichen Methode, mit der man unter gewissen Voraussetzungen kausale Zusammenhänge feststellen kann“, erläutert Seniorautor Peter Harrison vom MPIEA.

Die Ergebnisse

Die Ergebnisse zeigen: Wenn musikalische Bildung das visuelle Arbeitsgedächtnis beeinflusst, dann über den „Umweg“ des musikalischen Arbeitsgedächtnisses. Das heißt, musikalische Bildung verbessert in erster Linie das musikalische Arbeitsgedächtnis, was dann wiederum einen positiven Effekt auf das visuelle Arbeitsgedächtnis haben könnte. Darüber hinaus ergaben die Tests, dass – andersherum – ein allgemein gutes Arbeitsgedächtnis grundsätzlich eine musikalische Bildung erleichtert.

Diese Erkenntnisse deuten darauf hin, dass es eine gemeinsame bereichsübergreifende Komponente gibt, die sowohl das visuelle als auch das musikalische Arbeitsgedächtnis beeinflusst. Ein direkter Zusammenhang zwischen musikalischer Bildung und allgemeinen kognitiven Fähigkeiten scheint dagegen eher unwahrscheinlich. Langzeitstudien, bei denen die Entwicklung musikalischer und kognitiver Fähigkeiten bei Personen mit und ohne musikalische Bildung verglichen werden, könnten diese Ergebnisse weiter konkretisieren.

Originalpublikation:

Silas, S., Müllensiefen, D., Gelding, R., Frieler, K. & Harrison, P.M.C. (2022). The Associations Between Music Training, Musical Working Memory, and Visuospatial Working Memory: An Opportunity for Causal Modeling. Music Perception, 39(4): 401–420. https://doi.org/10.1525/mp.2022.39.4.401

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik
Klaus Frieler
klaus.frieler@ae.mpg.de

Ina Wittmann (Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik)




Mehr Kinder zu haben, wirkt sich wohl negativ auf geistige Leistung im Alter aus

Wesentliche Faktoren könnten Stress, Sorgen sowie eine geringere Teilhabe am kulturellen Leben sein

Heute bekommen Frauen durchschnittlich weniger Kinder. In der Schweiz sind das 1,46, in Österreich 1,48 und in Deutschland 1,53. Allerdings gibt es mittlerweile wieder Trends zu größeren Familien. In Deutschland etwa leben in rund eine Million Haushalte drei und mehr minderjährige Kinder. Das hat seine Vor- und Nachteile. Das Familienleben ist meist lebendiger. Die Kinder sind selten einsam. Vielleicht ist das Leben auch fröhlicher. Allerdings ist Kinder haben sehr kostspielig. Die Eltern bekommen weniger Schlaf und der Stress ist größer. Jüngste Forschungsergebnisse deuten zudem darauf hin, dass Eltern mit vielen Kindern im Alter einen stärkeren Verlust ihrer geistigen Leistungen erleiden.

Auswirkungen hoher Fruchtbarkeit auf die kognitiven Fähigkeiten

Eine aktuelle Studie der Mailman School of Public Health der Columbia University, des Robert Butler Columbia Aging Center und der Université Paris-Dauphine – PSL fand heraus, dass sich drei oder mehr Kinder im Vergleich zu zwei Kindern negativ auf die kognitiven Fähigkeiten im späteren Leben auswirken. Die Daten zeigen auch, dass dieser Effekt in Nordeuropa am größten ist, wo eine höhere Fruchtbarkeit zwar die finanziellen, nicht aber die sozialen Ressourcen verringert. Dies ist die erste Studie, die die Auswirkungen einer hohen Fruchtbarkeit auf die kognitiven Fähigkeiten im späteren Leben untersucht.

Bislang wurde der Fruchtbarkeit als möglichem Prädiktor für die kognitiven Fähigkeiten im späteren Lebensalter im Vergleich zu anderen Merkmalen wie Bildung oder Karriere wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift Demography veröffentlicht.

Kognitive Gesundheit der älteren Bevölkerung von entscheidender Bedeutung

„Das Verständnis der Faktoren, die zu einer optimalen kognitiven Leistungsfähigkeit im Alter beitragen, ist für die Gewährleistung eines erfolgreichen Alterns auf individueller und gesellschaftlicher Ebene von entscheidender Bedeutung – insbesondere in Europa, wo die Familiengrößen geschrumpft sind und die Bevölkerung schnell altert“, so Dr. Vegard Skirbekk, Professor für Bevölkerungs- und Familiengesundheit an der Columbia Mailman School. „Für den Einzelnen ist die kognitive Gesundheit im fortgeschrittenen Alter von entscheidender Bedeutung, um seine Unabhängigkeit zu bewahren und im späteren Leben sozial aktiv und produktiv zu sein. Für die Gesellschaft ist die Sicherstellung der kognitiven Gesundheit der älteren Bevölkerung von entscheidender Bedeutung für die Verlängerung des Arbeitslebens und die Verringerung der Gesundheitskosten und des Pflegebedarfs“, sagte Dr. Eric Bonsang, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Université Paris-Dauphine – PSL.

Die Forscher untersuchten Daten aus dem Survey of Health, Aging, and Retirement in Europe (SHARE), um herauszufinden, wie sich das Vorhandensein von drei oder mehr Kindern im Vergleich zu zwei Kindern auf die Kognition im späteren Leben auswirkt. SHARE erhebt Daten von repräsentativen Stichproben älterer Menschen in 20 europäischen Ländern und Israel, darunter Österreich, Belgien, Kroatien, die Tschechische Republik, Dänemark, Estland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien, Schweden und die Schweiz. Die Teilnehmer mussten mindestens 65 Jahre alt sein und mindestens zwei biologische Kinder haben.

Kosten, Stress, geringeres Familieneinkommen und geringere Teilhabe

Auf der Grundlage fortschrittlicher ökonometrischer Methoden, die in der Lage sind, Kausalität von einfachen Assoziationen zu trennen, deuten die Ergebnisse darauf hin, dass das Vorhandensein von drei oder mehr Kindern im Vergleich zu zwei Kindern mit schlechteren kognitiven Fähigkeiten im späteren Leben zusammenhängt. Sie fanden auch heraus, dass dieser Effekt bei Männern und Frauen ähnlich ist.

Die Fruchtbarkeit kann die kognitiven Fähigkeiten im späteren Leben über mehrere Wege beeinflussen. Erstens verursacht ein zusätzliches Kind oft erhebliche finanzielle Kosten, verringert das Familieneinkommen und erhöht die Wahrscheinlichkeit, unter die Armutsgrenze zu fallen, wodurch der Lebensstandard aller Familienmitglieder sinkt und möglicherweise finanzielle Sorgen und Unsicherheiten entstehen, die zu einer kognitiven Verschlechterung beitragen könnten.

Zweitens steht die Geburt eines weiteren Kindes in kausalem Zusammenhang mit einer geringeren Erwerbsbeteiligung der Frauen, weniger Arbeitsstunden und einem niedrigeren Verdienst. Im Gegenzug wirkt sich die Erwerbsbeteiligung – im Vergleich zum Ruhestand – positiv auf die kognitive Leistungsfähigkeit von Männern und Frauen aus.

Drittens verringert die Geburt von Kindern das Risiko der sozialen Isolation älterer Menschen, die ein wichtiger Risikofaktor für kognitive Beeinträchtigungen und Demenz ist, und erhöht häufig das Niveau sozialer Interaktion und Unterstützung, was vor einem kognitiven Abbau im Alter schützen kann.

Und schließlich kann es stressig sein, Kinder zu haben, das Gesundheitsverhalten zu beeinflussen und die kognitive Entwicklung von Erwachsenen zu beeinträchtigen. Eltern, die mehr Kinder haben, können mehr Stress empfinden, haben weniger Zeit zum Entspannen und können weniger in kognitiv anregende Freizeitaktivitäten investieren. Dies kann zu Schlafentzug bei den Eltern führen.

6,2 Jahre älter

„Der negative Effekt von drei oder mehr Kindern auf die kognitive Leistungsfähigkeit ist nicht zu vernachlässigen, er entspricht 6,2 Jahren Alterung“, so Bonsang. Die Studie legt nahe, dass der Rückgang des Anteils der Europäer, die drei oder mehr Kinder haben, positive Auswirkungen auf die kognitive Gesundheit der älteren Bevölkerung haben könnte.

„In Anbetracht des Ausmaßes des Effekts sollten künftige Studien zur kognitiven Leistungsfähigkeit im höheren Lebensalter auch die Fruchtbarkeit als Prognosefaktor neben allgemeineren Prädiktoren wie Bildung, Berufserfahrung, körperliche Bewegung sowie geistige und körperliche Gesundheit untersuchen“, so Skirbekk. „Darüber hinaus sollten künftige Studien die möglichen Auswirkungen von Kinderlosigkeit oder einem Kind auf die Kognition im späteren Leben untersuchen. Wir brauchen auch mehr Informationen über die Art der Interaktionen, Unterstützungen und Konflikte zwischen Eltern und Kindern, die die kognitiven Ergebnisse beeinflussen können“.

Die Studie wurde vom Lehrstuhl für Gesundheit unterstützt – einer gemeinsamen Initiative von PSL, der Université Paris-Dauphine, ENSAE, MGEN und ISTYA unter der Schirmherrschaft der Fondation du Risque (FDR).

Quelle: „Does Childbearing Affect Cognitive Health in Later Life? Evidence From an Instrumental Variable Approach” von Eric Bonsang und Vegard Skirbekk, 1. Juni 2022, Demography.