Wie wir Kurzsichtigkeit bei Kindern aufhalten

Was Spezialist für Kinderaugenheilkunde Prof. Wolf Lagrèze empfiehlt

Die Adventszeit ist da, es wird früh dunkel, viele Familien igeln sich zu Hause ein. Damit schwindet ein wichtiger Faktor, der Kinder vor Kurzsichtigkeit schützt: das Tageslicht. „Tageslicht hemmt das Längenwachstum des Augapfels und bremst so Kurzsichtigkeit ab“, erläutert Professor Dr. med. Wolf Lagrèze von der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG). „Wir empfehlen daher zwei Stunden Aufenthalt pro Tag im Freien, das hilft gegen Kurzsichtigkeit – vermutlich bis ins junge Erwachsenenalter.“

Kurzsichtigkeit beginnt im Kindesalter. Das unscharfe Sehen in der Ferne mindert nicht nur die Lebensqualität, sondern begünstigt auch ernste Augenerkrankungen wie Makuladegeneration oder Netzhautablösung. „Eltern sind daher gut beraten, einer Kurzsichtigkeit mit ein paar Verhaltensregeln vorzubeugen oder zumindest ihr Fortschreiten zu verlangsamen“, sagt Lagrèze von der Klinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Freiburg i. B.

Zwei Stunden täglich draußen spielen

„Kinder sollten zwei Stunden pro Tag draußen spielen, das halbiert das Risiko für Kurzsichtigkeit, sie sollten den Mindestleseabstand von 30 Zentimetern zu Buch oder Tablet einhalten und jede halbe Stunde eine Pause einlegen und den Blick in die Ferne schweifen lassen“, zählt der Spezialist für Kinderaugenheilkunde auf. Zudem sei es ratsam, den Kinderschreibtisch ans Fenster zu stellen, sodass der Arbeitsplatz möglichst hell beleuchtet ist. „Im Übrigen führt die viele Nahsicht auf digitale Medien nicht nur zu mehr Kurzsichtigkeit, sondern zieht zunehmend auch ernste psychologische Entwicklungsstörungen nach sich“, warnt Lagrèze.

Atropin-Tropfen: bis zu 40 Prozent geringere Kurzsichtigkeit

Sind beide Elternteile ausgeprägt kurzsichtig, ist Wachsamkeit angesagt. „Dann ist die Wahrscheinlichkeit für das Kind erhöht, ebenfalls stark kurzsichtig zu werden“, so Lagrèze. In diesen Fällen könnte eine Therapie mit Atropin-Tropfen helfen, die viele Augenärztinnen und Augenärzte in Kliniken und Praxen inzwischen im „Off lable use“ anbieten. „Dafür kommen Kinder im Alter von sechs bis 14 Jahren in Frage, bei denen die Kurzsichtigkeit pro Jahr um mindestens eine halbe Dioptrie zunimmt“, erklärt Lagrèze. Die Eltern träufeln abends vor dem Zubettgehen jeweils einen Tropfen in der geringen Konzentration von 0,01 Prozent Atropin in jedes Auge, dies für mindestens zwei Jahre. Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht. Erhältlich sind die Tropfen auf Privatrezept als unkonservierte Zubereitung in Apotheken.

„Studien aus Asien belegen, dass die Tropfen die Zunahme der Kurzsichtigkeit um bis zu 40 Prozent abbremsen“, berichtet der Freiburger Augenarzt, der eine Studie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Wirksamkeit der Atropin-Therapie leitet. Trotzdem sollten sich Kinder weiterhin zwei Stunden pro Tag im Freien aufhalten, betont Lagrèze und fügt hinzu: „Atropin-Tropfen ersetzen im Übrigen auch nicht die Brille, die während der Therapie konsequent zu tragen ist.“

Keine Unterkorrektur – und Vorsicht bei Spezial-Gläsern

Was die Brille betrifft, gilt: Kurzsichtigkeit sollte nicht unterkorrigiert werden. „Die Annahme, schwächere Brillengläser würden das Augenlängenwachstum bremsen, ist falsch“, warnt der Experte. „Das genaue Gegenteil ist der Fall: Unterkorrektur fördert Kurzsichtigkeit“, erläutert Lagrèze. Vor diesem Hintergrund rät der Augenspezialist: „Kinder, deren Kurzsichtigkeit fortschreitet, sollten halbjährlich untersucht und ihre Brille bei Bedarf an die aktuellen Werte angepasst werden.“ Spezielle Brillen, die versprechen, das Augapfel-Wachstum und damit die Kurzsichtigkeit aufzuhalten, betrachtet der DOG-Experte mit Zurückhaltung: „Um diese sogenannten Multisegment-Gläser abschließend beurteilen zu können, bedarf es weiterer, unabhängiger Studien.“

Eine Alternative zu Atropin-Augentropfen stellen spezielle Kontaktlinsen dar, die Kurzsichtigkeit um bis zu 40 Prozent mindern können und bis zum 14. Lebensjahr getragen werden sollten. „Hier ist die Studienlage wesentlich breiter und solider“, berichtet Lagrèze. „Wenn das Kind motiviert ist und Lust auf Kontaktlinsen und die damit verbundene Hygiene hat, kann man sie ab einem Alter von etwa zehn Jahren empfehlen.“ Wichtig zu wissen: Eine Möglichkeit zur Minderung der Kurzsichtigkeit besteht nur im Kindes- und Jugendalter während der Wachstumsphase des Augapfels. „Diese Entwicklung ist größtenteils mit 17 Jahren abgeschlossen“, so Lagrèze. „Bei Erwachsenen funktioniert das also nicht mehr.“

Dem körpereigenen Schalter gegen Kurzsichtigkeit auf der Spur

Unterdessen sind die Forscher den Entstehungsmechanismen der Kurzsichtigkeit weiter auf der Spur. „Eine neue Erkenntnis ist, dass die Netzhaut im kurzsichtigen Auge die Fähigkeit einbüßt, das übermäßige Wachstum des Augapfels zu erkennen“, berichtet Professor Dr. rer. nat. Frank Schaeffel vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde an der Universität Tübingen. Ist das Auge normalsichtig, sendet die Netzhaut bei zu starkem Augapfel-Wachstum ein wachstumshemmendes Signal. „Im kurzsichtigen Auge fällt dieses Signal zu schwach aus“, erläutert der Tübinger Forscher. Warum und wann der Wachstumsregelkreis aus dem Tritt gerät, ist noch unklar. „Das möchten wir gerne verstehen. Es wäre natürlich ideal, ihn zu reaktivieren und die Kurzsichtigkeit auf diese Weise auszuschalten“, betont Schaeffel, der zugleich am Institut für Molekulare und Klinische Ophthalmologie Basel tätig ist. Noch steht die Forschung hierzu aber am Anfang.

Weitere Informationen:

https://iovs.arvojournals.org/article.aspx?articleid=2772368
https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.2006021
https://tvst.arvojournals.org/article.aspx?articleid=2778758
https://link.springer.com/article/10.1007/s00417-022-05842-z

Kerstin Ullrich/Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft




Bildschirmzeit: Eltern erkennen Problem nicht

US-Umfrage unter rund 2.000 Erziehungsberechtigten – Kurzsichtigkeit nur eine Negativfolge

Videospiele auf tragbaren Konsolen oder Smartphones sowie verstärkter TV-Konsum schädigen die Augen von Kindern und Jugendlichen. Nur die Hälfte der Eltern ist sich dieses Problems jedoch bewusst, wie eine Studie der University of Michigan Health http://uofmhealth.org zeigt. Basis ist die US-weite Umfrage „C.S. Mott Children’s Hospital National Poll on Children’s Health“, für die 2.002 Eltern von Kindern zwischen drei und 18 Jahren im April dieses Jahres befragt wurden.

Schutz vor Sonnenlicht nötig

Laut Experten bedeutet mehr Bildschirmzeit weniger Zeit im Freien. Das Risiko einer Kurzsichtigkeit erhöht sich. Die Zahl der betroffenen Kinder ist in den vergangenen 30 Jahren drastisch gestiegen. Fachfrau Sarah Clark nach sollten Kinder mindestens ein bis zwei Stunden pro Tag im Freien verbringen, da der Kontakt mit natürlichem Licht gut für die Gesundheit der Augen ist. Andere Studien weisen auf einen Zusammenhang zwischen geringem Abstand zum Bildschirm, wie bei einem Tablet, und der erhöhten Wahrscheinlichkeit einer Kurzsichtigkeit hin.

Ein weiterer übersehener Bereich der Augengesundheit ist der Schutz der Kinderaugen vor intensivem Sonnenlicht. Weniger als ein Drittel der befragten Eltern sagt, dass das Tragen von Sonnenbrillen im Freien große Auswirkungen auf das Sehen der Kinder und ihre Augengesundheit hat. Nur zwei von fünf Eltern ließen ihre Kinder draußen eine Sonnenbrille tragen. Tatsächlich sollten Kinder im Freien Sonnenbrillen oder Hüte mit breiten Krempen tragen, um das Risiko einer Schädigung durch UV-Strahlung zu verringern. Eine Schädigung kann später zu Augenproblemen führen.

Viele Eltern treffen auch bei Aktivitäten, bei denen Objekte mit hoher Geschwindigkeit auf das Auge treffen, keine Vorkehrungen zum Schutz vor Verletzungen, wie die Studie zeigt. Weniger als ein Drittel der Eltern berichten zudem, dass ihr Kind bei Kontaktsportarten schützende Brillen trägt. Die meisten Befragten sagen jedoch, dass Kinder und Teenager bei Aktivitäten, bei denen das Risiko einer Augenverletzung besteht, wie dem Arbeiten mit Werkzeug oder einem Schießspiel wie Nerf Guns oder Paintball, durchaus Schutzbrillen tragen.

Alte Ratschläge noch aktuell

Wie nah die Kinder vor dem Bildschirm sitzen, beeinflusst die Lesefähigkeit im Dunkeln. Auch hat dies laut Experten Einfluss auf die Ernährung. Clark zufolge werden damit immer noch Ratschläge früherer Generationen befolgt. Diese Aktivitäten strengen die Augen zwar an, führen aber zu keiner anhaltenden Schädigung oder langfristigen Augenproblemen. Weniger als ein Drittel der Eltern erklärt, dass Kinder Brillen tragen, um das blaue Licht zu blockieren. Dieses schädigt zwar die Augen nicht, es kann sich aber auf den Biorhythmus auswirken und es den Kindern erschweren einzuschlafen.

Mindestens eine Stunde ohne Display-Kontakt sollte vor dem Zubettgehen eingehalten werden, sagen Experten. Vier von fünf Eltern berichten, dass sie während des Besuchs beim Kinderarzt oder beim Hausarzt einen Sehtest gemacht haben. Mehr als ein Viertel der Teilnehmer sagt, dass die Kinder in der Schule oder bei der Tagesbetreuung untersucht worden sind. Eines von sieben Elternteilen gibt an, dass ihr Kind in den vergangenen beiden Jahren weder einen Sehtest gemacht hatte, noch bei einem Augenarzt gewesen war. Dabei sollten Kinder laut Medizinern zumindest alle zwei Jahre einen Sehtest durchführen lassen.

Moritz Bergmann/pressetext.redaktion