Suchtverhalten am Bildschirm: Wenn digitale Medien Kinderseelen belasten

Neue JAMA-Studie zeigt: Nicht die Dauer der Nutzung, sondern das „Wie“ entscheidet über psychische Risiken

Kinder und Jugendliche, die ein suchtartiges Nutzungsverhalten bei Social Media, Smartphones oder Videospielen zeigen, haben ein deutlich höheres Risiko für psychische Probleme – bis hin zu Suizidgedanken oder suizidalem Verhalten. Das ist das zentrale Ergebnis einer groß angelegten US-amerikanischen Langzeitstudie, die am 18. Juni 2025 im renommierten Fachjournal JAMA veröffentlicht wurde.

Die Forscher:innen werteten die Daten von 4.285 Kindern aus, die zu Beginn der Studie neun oder zehn Jahre alt waren. Über einen Zeitraum von vier Jahren wurden sie regelmäßig zu ihrem Umgang mit digitalen Medien und zu ihrer seelischen Verfassung befragt. Dabei zeigte sich: Kinder, die über die Jahre hinweg ein zunehmend zwanghaftes Nutzungsverhalten entwickelten – etwa, indem sie trotz Vorsatz nicht aufhören konnten, sich nervös fühlten, wenn sie offline waren oder zunehmend soziale Kontakte und schulische Verpflichtungen vernachlässigten –, hatten ein mehr als doppelt so hohes Risiko, suizidales Verhalten zu zeigen, als Kinder mit geringem oder unproblematischem Medienkonsum. Auch depressive Symptome wie Rückzug, Angst oder Antriebslosigkeit traten in dieser Gruppe deutlich häufiger auf.

Suchtverhalten ist nicht gleich Bildschirmzeit

Interessanterweise spielte die bloße Dauer der Bildschirmzeit keine entscheidende Rolle. Entscheidend war, ob die Nutzung mit Kontrollverlust, Entzugsgefühlen oder innerem Druck verbunden war. Die Studienautor*innen sprechen daher von „addiktiven Nutzungsmustern“, die von der Oberfläche her vielleicht harmlos wirken – aber tiefgreifende Folgen für das seelische Gleichgewicht junger Menschen haben können.

„Diese Muster wären anhand der bloßen Nutzungszeit zu Beginn nicht vorhersagbar gewesen“, betont Dr. Yunyu Xiao, Erstautorin der Studie und Assistenzprofessorin für psychische Gesundheit an der Weill Cornell Medical School. „Gerade das macht sie so tückisch. Wir sehen, dass es nicht reicht, Kinder einfach weniger ans Handy zu lassen – wir müssen verstehen, wie sie es nutzen und warum.“

Was die Studie so aussagekräftig macht

Die Studie ist Teil der sogenannten Adolescent Brain Cognitive Development (ABCD) Study, einer der größten und umfassendsten Langzeitstudien zur Entwicklung des kindlichen Gehirns weltweit. Seit 2016 begleitet sie über 11.000 Kinder aus den USA mit regelmäßigen Befragungen, psychologischen Tests, bildgebender Diagnostik und Berichten aus Schule und Familie. Für die vorliegende Auswertung wurden standardisierte Fragebögen zu Suchtverhalten bei digitalen Medien mit Fragen zur psychischen Gesundheit kombiniert – darunter auch zur Suizidalität, inneren Unruhe, Depressivität und aggressivem Verhalten.

Was Eltern und Pädagog:innen jetzt wissen müssen

Was bedeutet das für Eltern, Erzieher:innen und Lehrkräfte? Die Studienergebnisse zeigen vor allem eines: Es ist nicht die reine Bildschirmzeit, die das Risiko für seelische Belastungen erhöht. Vielmehr geht es um den Charakter der Nutzung – ob sie kontrolliert, beiläufig und eingebettet in soziale Beziehungen erfolgt, oder ob sie sich verselbstständigt, als Rückzugsraum dient oder emotionale Regulation ersetzt. „Viele Jugendliche nutzen ihr Handy oder Social Media, um negative Gefühle zu betäuben oder Konflikte zu vermeiden“, erklärt Xiao. „Aber das kann in eine Spirale führen, die sie noch verletzlicher macht.“

Eltern und pädagogische Fachkräfte sollten daher weniger mit der Stoppuhr an die Mediennutzung herangehen, sondern vielmehr beobachten, wie sich ein Kind beim und nach dem Konsum fühlt. Wirkt es gereizt, wenn es offline gehen soll? Zieht es sich zunehmend zurück? Spricht es kaum noch über andere Interessen? All das können Hinweise auf eine beginnende Problemnutzung sein.

Prävention beginnt mit Beziehung – nicht mit Verboten

Die Studienautor:innen plädieren für einen bewussteren, begleitenden Umgang mit Medien – und für regelmäßige Gespräche über das, was Kinder und Jugendliche online erleben. „Pädiater:innen und schulische Bezugspersonen könnten viel bewirken, wenn sie wiederholt und frühzeitig nach dem Wie der Nutzung fragen – nicht erst, wenn ein Kind bereits deutliche Symptome zeigt“, so Xiao.

Finanziert wurde die Studie unter anderem vom US-amerikanischen National Institute of Mental Health, der American Foundation for Suicide Prevention sowie von Google. Die Forscher:innen betonen, dass weitere Untersuchungen nötig sind, um die Langzeitfolgen und individuelle Schutzfaktoren besser zu verstehen. Klar ist aber schon jetzt: Digitale Medien prägen die Lebenswelt junger Menschen – und der Weg in die Abhängigkeit ist oft schleichend.

Quelle: Xiao Y, Meng Y, Brown TT, Keyes KM, Mann JJ. Addictive Screen Use Trajectories and Suicidal Behaviors, Suicidal Ideation, and Mental Health in US Youths. JAMA. 18. Juni 2025. DOI: 10.1001/jama.2025.7829




Das Risiko für sozial-emotionale Probleme steigt mit der Bildschirmzeit

Große Metaanalyse warnt vor wechselseitigem Zusammenhang – besonders beim Gaming und bei fehlender Alltagsstruktur

Digitale Medien gehören für Kinder heute selbstverständlich zum Alltag. Doch wie wirken sich Bildschirmzeiten auf die emotionale und soziale Entwicklung aus? Eine aktuelle Metaanalyse, eben im Psychological Bulletin (Sanders et al., 2024) veröffentlicht, bietet fundierte und differenzierte Antworten – mit wichtigen Implikationen für die pädagogische Praxis.

Die Untersuchung wurde unter Leitung von Dr. Michael Noetel von der University of Queensland durchgeführt und analysiert Daten aus 117 Längsschnittstudien mit rund 292.000 Kindern weltweit im Alter bis zu zehn Jahren. Es handelt sich um eine der bisher umfassendsten Studien zu diesem Thema.

Wechselseitiger Zusammenhang: Bildschirmzeit und sozioemotionale Entwicklung

Die Analyse zeigt: Kinder, die sehr viel Zeit mit digitalen Medien verbringen, zeigen häufiger Auffälligkeiten im Sozialverhalten und im emotionalen Erleben – etwa Rückzug, Gereiztheit oder impulsives Verhalten. Umgekehrt neigen Kinder, die bereits mit sozial-emotionalen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, dazu, sich verstärkt digitalen Medien zuzuwenden – oft als Strategie zur Ablenkung oder Stressbewältigung.

„Wir fanden heraus, dass erhöhte Bildschirmzeit zu emotionalen und Verhaltensproblemen führen kann – und umgekehrt neigen Kinder mit solchen Problemen dazu, vermehrt Bildschirmangebote zu nutzen“, so Studienleiter Dr. Michael Noetel.

Besonders stark waren diese Zusammenhänge im Bereich des Gamings. Spiele fungieren häufig nicht nur als Zeitvertreib, sondern auch als emotionales Ventil. Daraus ergibt sich für pädagogische Fachkräfte ein besonderer Beobachtungsauftrag: In welchem Kontext und mit welcher Funktion nutzen Kinder digitale Spiele?

Wie viel ist „zu viel“?

Die Studie selbst setzt keine festen Grenzwerte, doch im Abgleich mit internationalen Empfehlungen (z. B. WHO, American Academy of Pediatrics) lässt sich sagen:

  • Für Kinder von drei bis unter sechs Jahren gilt: nicht mehr als eine Stunde Bildschirmzeit täglich, immer begleitet von einer Bezugsperson.
  • Für Grundschulkinder sind ein bis zwei Stunden täglich in Ordnung – sofern genügend Zeit für Schlaf, Bewegung und soziale Aktivitäten bleibt.

Übermäßige Nutzung beginnt dort, wo diese Schutzfaktoren systematisch verdrängt werden – etwa wenn Kinder schlechter schlafen, seltener draußen spielen oder soziale Kontakte durch Medienkonsum ersetzt werden. Besonders riskant ist exzessives Gaming, das nicht selten mehr als drei Stunden täglich in Anspruch nimmt und dabei kaum pädagogisch begleitet wird.

„Kinder, die mit emotionalen oder sozialen Problemen ringen, nutzen Bildschirme oft zur Flucht oder zur Bewältigung – aber das kann sie in einen Kreislauf führen, der ihre Entwicklung zusätzlich belastet“, warnt Roberta Vasconcellos von der Australian Catholic University, Co-Autorin der Studie.

Kleine Effekte – große Wirkung

Obwohl die Effektstärken im Durchschnitt gering bis moderat sind, weisen die Forschenden darauf hin, dass sich solche Einflüsse über Jahre hinweg kumulativ auswirken können. Gerade im pädagogischen Alltag, wo Prozesse über längere Zeiträume begleitet werden, ist diese Erkenntnis zentral (vgl. Funder & Ozer, 2019).

Nicht nur die Dauer zählt

Die Studie betont, dass es bei Bildschirmzeit nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität und Kontext geht. Wenn Kinder altersgerechte, lehrreiche Inhalte konsumieren und gleichzeitig ausreichend Schlaf, Bewegung und soziale Bindungen erleben, sind negative Auswirkungen unwahrscheinlich. Kritisch wird es, wenn Medienkonsum zur Hauptstrategie im Umgang mit Emotionen wird – etwa bei Stress, Frustration oder Langeweile.

„Unsere Ergebnisse sprechen nicht gegen Bildschirmnutzung per se – sondern für Richtlinien, die auch auf Inhalte und soziale Einbettung achten“, so das Fazit der Autorengruppe.

Altersunterschiede: Ein Desiderat

Die Metaanalyse differenziert nicht explizit nach Altersgruppen – ein Umstand, den Fachkräfte im Alltag selbstständig mitdenken müssen. Denn es ist offenkundig: Ein fünfjähriges Kind nutzt Medien anders als ein Zehnjähriger – in Funktion, Umfang und Wirkung. Altersdifferenzierte Forschung wäre wünschenswert, um die medienpädagogische Arbeit gezielter ausrichten zu können.

Kinder unter drei Jahren haben dagegen grundsätzlich nichts vor einem Bildschirm zu suchen. Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen das seitens vieler Pädagog*innen, Träger und der Bildungsindustrie nur teilweise anerkannt wird – was zu nachhaltigen Schäden bei Kindern führen kann.

Gernot Körner

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Ein Appell für verantwortungsvolle Pädagogik im digitalen Zeitalter.. Für alle, die Kinder heute pädagogisch klug begleiten wollen.

Armin Krenz: Medienkompetenz beginnt mit der Sach- und Selbstkompetenz bei den Erwachsenen und nicht zuvorderst „am“ Kind!, Broschüre, 28 Seiten, ISBN: 978-3-96304-619-3, 5 €.