Fast 13 Prozent betroffen: Sexualisierte Gewalt beginnt oft in der Familie

Repräsentative Untersuchung macht Ausmaß, Kontexte und Folgen von Missbrauch sichtbar – Dunkelfeld weiterhin groß

Laut einer aktuellen Dunkelfeldstudie, initiiert vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, berichten 12,7 Prozent der befragten Erwachsenen, in ihrer Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Das entspricht etwa 5,7 Millionen Menschen in Deutschland.

Besonders betroffen sind weibliche Befragte: 20,6 Prozent gaben an, in jungen Jahren sexualisierte Gewalt erlebt zu haben – bei den 18- bis 29-Jährigen liegt der Anteil sogar bei 27,4 Prozent.

„Die Ergebnisse weisen auf ein erhebliches Dunkelfeld hin, das im Vergleich zu früheren Untersuchungen nicht abgenommen hat“, sagt Prof. Dr. Harald Dreßing, Leiter der Forensischen Psychiatrie am ZI und Koordinator der Studie.

Tatorte: oft das Zuhause – Täter meist männlich

Die Studie zeigt: Sexualisierte Gewalt geschieht am häufigsten im familiären Umfeld oder durch nahestehende Bezugspersonen. Zwar erleben auch Jungen Gewalt, bei ihnen häufen sich aber Kontexte wie Sport- und Freizeiteinrichtungen, kirchliche Räume oder Angebote der Kinder- und Jugendhilfe.

Ein weiteres zentrales Ergebnis betrifft die Täterstruktur: In der großen Mehrheit der Fälle waren die Täter männlich. Nur 4,5 Prozent der Betroffenen berichteten von Übergriffen durch Frauen.

Digitale Medien als neuer Risikobereich

Die Studie weist auch auf die wachsende Bedeutung digitaler Räume hin: In 31,7 Prozent der Fälle spielten soziale Netzwerke, Chats oder Messenger-Dienste eine Rolle. Dabei ging es unter anderem um das ungewollte Zusenden pornografischer Inhalte, gezielte Kontaktaufnahme oder den Druck, intime Bilder oder Videos zu verschicken.

Besorgniserregend: Über 60 Prozent derjenigen, die im realen Leben betroffen waren, erlebten auch digital sexualisierte Gewalt.

Scham, Angst und Schweigen – viele sprechen nicht darüber

Ein weiteres bedrückendes Ergebnis: 37,4 Prozent der Betroffenen haben nie mit einer anderen Person über das Erlebte gesprochen.

Häufigste Gründe: Scham, Schuldgefühle und Angst, nicht ernst genommen zu werden. „Das zeigt, dass es vielfach an geschützten Räumen fehlt, in denen Menschen das Erlebte offen ansprechen können“, so Prof. Dreßing.

Wissenschaftlich belastbare Daten zum ersten Mal

Die Studie wurde in Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm, dem Kriminologischen Institut Heidelberg und dem Umfrageinstitut infratest dimap durchgeführt. Erstmals wurde damit eine für Deutschland repräsentative Erhebung zum tatsächlichen Ausmaß und den Kontexten sexualisierter Gewalt realisiert.

„Es ist wichtig, dass wir die Forschung zum Ausmaß und den Kontexten sexualisierter Gewalt verstetigen“, betont Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des ZI. „Nur so können wir Prävention und Versorgung verbessern.“

Originalpublikation:

Harald Dreßing, Andreas Hoell, Leonie Scharmann, Anja M. Simon, Ann-Christin Haag, Dieter Dölling, Andreas Meyer-Lindenberg, Joerg Fegert: Sexual Violence Against Children and Adolescents: A German Nationwide Representative Survey on Its Prevalence, Situational Context, and Consequences. Dtsch Arztebl Int 2025; 122: 285–91. DOI: 10.3238/arztebl.m2025.0076
Link: https://www.aerzteblatt.de/10.3238/arztebl.m2025.0076

Gernot Körner




Kinder anzuschreien kann so schädlich wie körperlicher Missbrauch sein

Neue Studie bestätigt die schädlichen Folgen des Anschreiens und der Missachtung von Kindern

Die Art und Weise, wie Erwachsene mit Kindern sprechen, prägt diese ein Leben lang. Die besondere Herausforderung besteht darin, dass dies zu wenigen Erwachsenen bewusst ist. Dabei kann Kinder anzuschreien genauso schädlich sein wie körperlicher Missbrauch.

Vom Anschreien, Schreien, Verunglimpfen und Drohen

Das bestätigen nun auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einer us-amerikanischen/britischen Studie, die im vergangenen Monat in „Child Abuse & Neglect“ veröffentlicht wurde. Demnach ist der „verbale Missbrauch von Erwachsenen gegenüber Kindern… durch Anschreien, Schreien, Verunglimpfen des Kindes und verbale Drohungen gekennzeichnet.“ „Diese Art von Erwachsenenhandeln kann für die Entwicklung eines Kindes ebenso schädlich sein wie andere derzeit anerkannte und forensisch belegte Unterarten der Misshandlung wie körperlicher und sexueller Missbrauch in der Kindheit“, schreiben die WissenschaftlerInnen in ihrem Beitrag.

Kinder nehmen die Aussagen von Erwachsenen ernst

Der britische Guardian zitiert in einem Artikel zur Studie einen der Mitverfasser. Prof. Peter Fonagy, Leiter der Abteilung für Psychologie und Sprachwissenschaften am University College London (UCL) und Geschäftsführer des Anna-Freud-Zentrums erklärt dazu: „Kinder sind genetisch darauf vorbereitet, dem zu vertrauen, was Erwachsene sagen. Sie nehmen uns Erwachsene ernst. Wenn wir dieses Vertrauen missbrauchen, indem wir Worte benutzen, um zu schimpfen statt zu lehren, können Kinder nicht nur beschämt, isoliert und ausgegrenzt werden, sondern auch unfähig sein, sich in ihrer Gemeinschaft zu engagieren und den vollen Nutzen aus dem sozialen Lernen zu ziehen. Wir wissen aus Hunderten von Studien, dass verbaler Missbrauch Kinder zutiefst beeinträchtigt und mit anhaltenden psychischen Problemen, komplexen emotionalen und Beziehungsschwierigkeiten, körperlichen und geistigen Störungen sowie einer erhöhten Wahrscheinlichkeit verbunden ist, dass sie in ihrem Leben erneut missbräuchliche Situationen erleben, etwa wenn sie einen Partner finden, der sie misshandelt, und dass sie den Missbrauch bei anderen wiederholen.“

Erlentes Verhalten ist nur schwer abzulegen

Oftmals ist den Erwachsenen nicht bewusst, was sie tun, wenn sie ihre Kinder als „dumm“ oder „faul“ bezeichnen. Prof. Shanta R. Dube, ebenfalls Mitverfasserin der Studie, sieht die Ursache dafür darin, dass diese Erwachsenen wohl ebenso erzogen wurden. Dieses Verhalten zu durchbrechen, ist für viele schwer.

Dieses „erlernte“ Verhalten zu durchbrechen, ist für viele Erwachsene kaum möglich. Dennoch versuchen viele diesem fatalen Prozess zu entfliehen. Eine Fülle von Elternkursen, Ratgebern und Selbsthilfegruppen zeugt davon. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist das von Adele Faber und Elaine Mazlish. Nachdem beide zahlreiche Elternkurse besucht hatten, haben sie auf Basis des Konzepts der Gewaltfreien Kommunikation von Marschall B. Rosenberg ein eigenes Erziehungs- und Kommunikationskonzept entwickelt. Daraus ist unter anderem der weltweit am meisten verbreitete Ratgeber für Eltern enstanden, der hierzulande unter dem Titel „So sag ich‘s meinen Kind“ entstanden. Mit wenig Theorie, einer Fülle von Bespielen und kleinen Comics ist es ihnen gelungen, einen so eingängigen Ratgeber zu verfassen, dass dieser noch bis zum heutigen Tag noch immer das erfolgreichste Sachbuch für Erziehende ist.




Studie zu sexuellem Kindesmissbrauch im Sport veröffentlicht

Leistungssport und wettkampforientierter Breitensport sind vorwiegend betroffen

Die eben veröffentlichte Studie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs bestätigt, dass sexueller Kindesmissbrauch in verschiedenen Sportarten und insbesondere im organisierten Vereinssport vorkommt. Die Betroffenen erlebten den Missbrauch überwiegend im Leistungssport und wettkampforientierten Breitensport, seltener im Freizeitsport und Schulsport. Grundlage der Studie sind 72 Berichte von Betroffenen sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Damit wurde in Deutschland erstmals eine so große Anzahl Berichte zu sexuellem Kindesmissbrauch im Sport wissenschaftlich ausgewertet. Die Studie beinhaltet zusätzlich drei persönliche Geschichten betroffener Menschen.

Tatpersonen meist in machtvollen Positionen

Die Auswertungen zeigen, dass zwei Drittel der Betroffenen sexualisierter Gewalt nicht nur einmal, sondern regelmäßig und zum Teil über einen langen Zeitraum ausgesetzt waren. In den meisten Fällen handelte es sich um (schwere) sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt. Die Tatpersonen stammen vorwiegend aus dem direkten oder nahen Umfeld und sind männliche Trainer, Betreuer oder Lehrer. Zudem befanden die Tatpersonen sich meist in machtvollen Positionen.

Gewalt im Rahmen des Sports in der DDR

Fast ein Fünftel der ausgewerteten Berichte bezieht sich auf sexualisierte Gewalt im Rahmen des Sports in der DDR. Zu diesem Bereich lagen bisher kaum wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Was in der Studie deutlich wird, sind die besonderen Bedingungen innerhalb des DDR-Sportsystems, die sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen aber auch andere Formen von Gewalt und Vernachlässigung ermöglichten und es für Betroffene fast unmöglich machten, Hilfe zu erhalten. Die sehr frühe Talentsichtung, Auswahl und Förderung sportlich begabter Kinder gehörte ebenso dazu wie das über allem stehende Ziel des sportlichen Erfolgs, welches die betroffenen Kinder die Gewalterfahrungen dulden ließ. Zudem gab es in den Sportschulen und Internaten keine erwachsenen Vertrauenspersonen. Die Kinder waren den Gewalthandlungen von Trainern, Medizinern und sonstigen Sportfunktionären somit schutzlos ausgeliefert.

Negiert, bagatellisiert und verschleiert

Die Studie liefert auch Erkenntnisse darüber, welche Erfahrungen Betroffene in den Organisationen des Sports gemacht haben, wenn sie die dort erfahrene Gewalt offenlegten. Die wenigsten Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs wurden aufgedeckt und aufgearbeitet. Betroffene erlebten stattdessen häufig, dass ihre Erfahrungen negiert, bagatellisiert und verschleiert wurden. „Sportorganisationen müssen ein Interesse daran haben, zu erfahren, was in ihrer Einrichtung in der Vergangenheit geschehen ist, auch um Kinder und Jugendliche besser schützen zu können. Darum braucht es ein gesetzlich verankertes Recht von Betroffenen auf Aufarbeitung, das gleichzeitig Institutionen dazu verpflichtet.“, appelliert Prof. Dr. Heiner Keupp, Mitglied der Aufarbeitungskommission.

Strukturelle Bedingungen erschweren die Aufklärung der Verbrechen

Die durchaus spezifischen strukturellen Bedingungen vor allem im organisierten Sport, erschweren es, dass sexualisierte Gewalt aufgedeckt wird. Dazu gehört beispielweise die Fixierung auf den sportlichen Erfolg, aber auch die Abhängigkeit von ehrenamtlichen Mitarbeitenden oder Sponsoren. Ebenso tragen das große Machtgefälle zwischen Sportlerinnen und Sportlern und den Trainern oder männlich dominierte Hierarchien in Vereinen und Verbänden dazu bei. Zudem steht das gemeinhin positive Image des Sports der Aufdeckung sexualisierter Gewalt oft im Weg. „Gerade die positive Erzählung des Sports macht es Betroffenen schwer, für ihr im Sport erfahrenes Unrecht und Leid Aufmerksamkeit und Hilfe zu erhalten“, verdeutlicht Prof. Dr. Bettina Rulofs, die leitende Autorin der Studie. Für diejenigen, die als Kind im Sport sexualisierte Gewalt erleben mussten, löst der Sport das Versprechen auf Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung und sportliche Leistungsentwicklung nicht ein. „Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs im Sport machen genau die gegenteilige Erfahrung: Ihnen entstanden lebenslängliche Schäden für die Gesundheit, Psyche sowie die Teilhabe am Sport und am gesellschaftlichen Leben“, so Rulofs.

Vom Sport unabhängige Ansprechstelle gefordert

Um geschützt über akute und vergangene Missbrauchsfälle sprechen zu können, fordern Betroffene eine vom Sport unabhängige Ansprechstelle, die Aufarbeitung initiieren kann. Angela Marquardt, Mitglied des Betroffenenrats bei der UBSKM betont: „Betroffene, die das Schweigen brechen, haben die Grundlage für die vorliegende Studie gelegt. Zu oft behindern Vereine und Verbände bisher eine schonungslose Aufarbeitung von Fällen sexueller Gewalt. Ehrliche Aufarbeitung jedoch ist die Voraussetzung für einen grundsätzlichen Wandel im Leistungs- und Breitensport. Der organisierte Sport ist dies den Betroffenen schuldig“.

Download:
Studie „Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports“