Gute Lieder sind Seelenproviant für Kinder
Warum Musik so wichtig ist und wie wir lernen, mehr zu musizieren
Seit mehr als 40 Jahren macht Reinhard Horn Musik. Seit 20 Jahren schreibt er auch für Kinder. Warum Musik für Kinder so wichtig ist und warum wir uns dennoch so schwer damit tun, haben wir ihn im Interview gefragt.
spielen und lernen: Herr Horn, Sie zählen zu den kreativsten deutschen Kinderliedermachern und haben fast dauernd Kontakt zu Kindern. Sie bezeichnen Musik als Seelenproviant für Kinder. Warum halten Sie Musik für so wichtig?
Reinhard Horn: Ich glaube, dass diese Welt anders wäre, wenn es die Musik nicht geben würde. Die Kinder kommen auf die Welt und längst bevor sie die ersten Worte sprechen, ist die erste Ausdrucksform die Musik, indem sie die Sprachmelodie der Mutter, der Großmutter, des Vaters nachahmen. La la la mama, mama, dada da.
Also von daher wird die Welt eigentlich musikalisch begrüßt. Von dem großen israelischen Geiger Yehudi Menuhin stammt der Ausspruch „Musik ist die allererste Muttersprache von uns Menschen“. Ich glaube, dass wir tief in unserer Seele musikalisch miteinander verbunden sind.
Dieses Wort vom „Seelenproviant“ habe ich mir vom Armin Krenz sozusagen mit freundlicher Genehmigung geliehen, weil Armin da ein wunderbares Buch geschrieben mit dem Titel „Kinder brauchen Seelenproviant“. Was würden wir in einen Rucksack packen, mit dem wir durch das Leben gehen? Was gehört da hinein? Ganz viele Dinge: natürlich in allererster Linie eine sichere, verlässliche Beziehung und Bindung, die sich in den ersten Lebensjahren einstellt. Über die Mutter, über den Vater, die Großmutter… Man möge aber bitte auch nicht die Aufgabe von ErzieherInnen und Lehrkräften unterschätzen. Auch diese sind wichtige Beziehungs- und Bindungspersonen. Und natürlich gehört in den Rucksack auch Bildung. Ganz wichtig sind aber auch Lieder und Geschichten.
sul: Warum meinen Sie, dass sie so bedeutend sind? Auf den ersten Blick erschließt sich das nicht.
RH: Dann spule ich mal vom Anfang des Lebens bis zum Ende. Ich bin unter anderem auch ein Botschafter der singenden Krankenhäuser. Die Idee stammt aus den USA. Hier gehen Singpaten in Krankenhäuser und singen mit Langzeit -Patientinnen und Patienten, also mit Krebserkrankungen, mit chronisch Kranken, mit Alzheimer und Demenzpatienten, mit wirklich großartigen Erfolgen. Das bestätigen auch die Ärzte.
Und wenn ich Gelegenheit habe, eine Singstunde mitzumachen, dann bekomme ich immer eine Gänsehaut, wenn ich sehe, wie das Gesicht eines Demenzpatienten sich aufhellt, wenn er ein Lied aus seiner Kindheit singt – und zwar mit allen Strophen. Was es mittags zu essen gab, wird er nicht mehr sagen können, aber das Lied aus seiner Kindheit hat er stets im Kopf.
Ich gehe aus diesen Singstunden nachdenklich raus und frage mich „Was werden wohl unsere Kinder in 80 Jahren singen, sollten sie an Demenz erkranken? Geben wir ihnen wirklich gute Lieder und gute Geschichten mit auf dem Weg? Die heutigen Demenzpatienten speisen ihre Liedererinnerung aus vier Quellen: Lieder aus dem Gottesdienst – wie zum Beispiel „Lobe den Herren“ „Ein feste Burg“. Die zweite Quelle sind Weihnachtslieder: „Stille Nacht, heilige Nacht“, „Oh du Fröhliche!“. Und dann gibt es die Lieder aus ihrer eigenen Jugend, wo sie zum ersten Mal verliebt waren. Das ist manchmal schon sehr berührend, wenn ein 85-Jähriger „Sugar Baby“ von Peter Kraus singt, und man kann sehen, wie ersich an dieses alles erinnert. Und alle, die eine rheinische Frohnatur haben, haben natürlich als Quelle auch die Karnevalslieder. Hier spürt man auf einmal, was Seelen-Proviant wirklich bedeutet.: welche Würde und welche Partizipationsmöglichkeiten am Ende des Lebens wieder zurückkehren.
Und deswegen ist mir das so wichtig, dass wir als ErzieherIn, als LehrerIn, als PädagogIn den Kindern Lieder und Geschichten mit auf dem Lebensweg geben.
sul: Was singen denn Kinder heute?
RH: Ganz grob können wir die Kinder in zwei Altersgruppe unterteilen: Die Null- bis Achtjährigen wachsen mit traditionellen Kinderliedern, mit traditionellen Volksliedern und mit neuen Kinderliedern auf. Es gibt eine ganze Reihe von sehr guten neuen Kinderliedern, die sich auch etabliert haben.
Mit acht Jahren etwa kommt dann die Popularmusik hinzu. Da könnten wir jetzt lange, lange darüber sprechen. Ich persönlich frage mich manchmal, warum Kinder irgendwelche Titel auf Englisch mit acht Jahren singen, wo sie mit Sicherheit noch keinen Zugang zu den Texten und zum Inhalt des Liedes haben.
Für mich hat der Text eines Liedes eine große Bedeutung.
sul: Sie machen ja auch viele Konzerte und Veranstaltungen mit Kindern. Was kommt da rüber? Was beobachten Sie bei den Kindern?
RH:Also erst mal nehmen die Kinder unmittelbar und elementar Musik und Rhythmus auf. Das lässt sich sogar medizinisch belegen. Das zweite – und das ist für meine pädagogische Arbeit im letzten Jahr sehr wichtig geworden – hat sehr viel zu tun mit dem Begriff der Resonanz. Das, was ich ausstrahle, was ich den Kindern vermittle an Lust, an Leidenschaft, an Unsinn, an Bewegung, das greifen sie auf und spiegeln mich. Das halte ich für eigentlich für die für die Grundlage jeder pädagogischen Arbeit. Es gilt in guter Resonanz mit den Kindern zu sein, in einer guten Beziehung mit den Kindern zu sein. Und das geschieht bei meinen Konzerten, bei kleinen wie auch bei großen Konzerten im hohen Maße.
Ich bin vor Corona immer sehr viel unterwegs gewesen mit einer großen Weihnachtstournee, mit rund 20 Terminen. Das Besondere: Es sind immer Kinder und Chöre aus der jeweiligen Region mit auf der Bühne, die mit mir gemeinsam aufgetreten sind. Und bei der Probe zum Konzert gebe ich mir ein paar Minuten, die Kinder so zu erreichen, dass wir gemeinsam ein Konzert geben können. Und so nehme ich mir diese Zeit, diese Resonanz aufzubauen. Ein Schlüsselbegriff dafür: Lachen. Kinder lachen 40-mal häufiger als wir Erwachsene. Ich weiß nicht, ob wir das Lachen verlernt haben oder ob es weniger zu lachen gibt. Aber für Kinder ist es ganz wichtig, über das Lachen eine Beziehung herzustellen zu können, dass das lustvolle Erleben unterstützt.
sul: Lustvolles Erleben, das ist so ein wunderbares Stichwort. Toben sich die Kinder jetzt bei der Musik mehr aus oder gibt ihnen die Musik Energie?
RH: Ich erlebe beides. Ich erlebe Kinder, die sehr stark von einer inneren motorischen Bewegung herkommen und natürlich dann die Musik viel stärker in Bewegung ausdrücken können als andere. Und ich erlebe eigentlich immer in den Autogrammstunden nach den Konzerten, dass die Kinder gestärkt sind. In einer Chorprobe mit Kindern sehe ich das viel deutlicher, dass Kinder sich hinterher quasi auf einmal aufrichten, im wahrsten Sinn des Wortes und gestärkt aus solchen musikalischen Dingen herausgehen.
sul: Wenn ich von Ihnen höre, dass man bei Musik gar nicht so gut sprechen können muss oder sich unbedingt klar artikulieren können muss, dann muss Musik doch auch etwas sehr Inklusives und Integratives haben.
RH: Ganz genau. Das ist sozusagen die Brücke, über die wir immer wieder, gerade auch bei diesen inklusiven Ansätzen gehen können. Ich habe vor zwei Jahren für die Aktion Mensch ein Musical geschrieben. „Gemeinsam sind wir stark, das bunte Band Musical“, wo wir genau das Themen Inklusion, Integration und „Wie können wir gemeinsam etwas machen“ im Mittelpunkt gestellt haben? Da spielt Musik eine ganz, ganz bedeutende und große Rolle.Ich habe ein Lied, das heißt, „Ich bin klasse, so wie ich bin.“ In einer Förderschule mit blinden und stark sehbehinderten Kindern erzählten mir die Lehrkräfte, dass vier Kinder das Lied „Ich bin klasse“ einstudiert hätten und das gerne gleich beim Sommerfestkonzert auf der Bühne präsentieren wollen. Die Kinder kamen auf die Bühne und jedes einzelne Kind sang: „Ich bin klasse, so wie ich bin“. Ich hatte echt Gänsehaut.
Trotz aller Schwierigkeiten, die diese Kinder haben, schmälert es nicht ihre Lust an diesem Leben, nicht die Neugier auf all das, was uns das Leben bieten kann. Und das Singen ist der Ausdruck dafür.
sul: Wenn mich der Eindruck nicht täuscht, dann nimmt auch passiven Musikhören zu. Ganz gleich, ob das nun bewusst geschieht oder die Musik nebenherläuft, welche Bedeutung hat das für die Musik bei uns?
RH: Zu meiner Lehrerzeit habe ich mit meinen Schülerinnen und Schülern immer Musical Projekte inszeniert. Das letzte was wir gemacht haben, war „Jesus Christ Superstar“. Es war so ein Abschiedsgeschenk an meine Schule und ich hatte eine kurz vor dem Abitur stehende Schülerin, die hochgradig magersüchtig war und sich in das Projekt eingeklinkt und auch durchgebissen hat. Nach einem halben Jahr wurde der Ruf „Ihr müsst das noch mal machen, es war so toll“ immer lauter. Und dann habe ich alle nochmal angeschrieben und zu den Proben in den Weihnachtsferien eingeladen. Im Januar waren die Aufführungen. Auf einer großen Plakatwand im Theater stand, was aus den SchülerInnen geworden war. Die besagte Schülerin hatte dorthin geschrieben: „Ich lebe in Hamburg und bin Ideenscout.“ Das erklärte sie so: Das Wort „Idee“ hatte sie Buchstabe für Buchstabe untereinandergeschrieben und erläuterte „Idee heißt für mich, ich darf endlich essen“. Die Theaterarbeit, die Musik auf der Bühne hätten ihr ein anderes Körpergefühl, eine andere Körperwahrnehmung ermöglicht und auch das Gefühl, ich kann ja was in mir bewegen.
Das ist sicherlich ein extremes Beispiel, aber ich glaube, wir vergeben so viele Chancen, wenn wir Kindern diesen Raum, wo sie sich selbst ausprobieren können, wo sie selbst entdecken können, was alles in ihnen steckt, nicht geben.
sul: Ja, das ist wirklich beeindruckend. Aber was bedeutet dann dieses passive Musikhören?
RH: Ja, es triggert natürlich auch unsere ganze Emotionalität an. Das ganze limbische System wird über die Musik getriggert. Aber es führt letztlich zu einer konservativen Haltung, dass ich mich zurücknehme und etwas mit mir gemacht wird. Die Musik macht etwas. Sie verändert meine Stimmung, hält mich auf, unterstützt meine Traurigkeit oder bringt mich quasi in einen anderen energetischen Zustand. Das ist soweit in Ordnung. Aber für mich, mit Blick auf die Entwicklung von Kindern, ist der andere Bereich, dass sie selbst zum Tun kommen, mindestens ebenso wichtig.
sul: Wenn ich mich an meine Kindergartenzeit erinnere, dann haben wir viel mit Instrumenten gemacht. Wir hatten Orff-Instrumente. Das war toll für mich, weil ich da irgendwo draufhauen konnte und wenn der Rhythmus einigermaßen gut gestimmt hat, hat sich das irgendwie auch gut angehört. Und jede meiner ErzieherInnen konnte zumindest Gitarre oder Flöte spielen. Das war eine sehr fröhliche Zeit. Wenn ich mir das heute ansehe, bemerke ich oder glaube ich zu bemerken, dass bei all der Wichtigkeit, die Musik für die Entwicklung von Kindern hat, für ErzieherInnen die Situation ganz anders aussieht. Musik stößt oftmals auf Ablehnung. Warum ist das so?
RH: Also das würde ich auf jeden Fall für die letzten zwei Jahre, wo wir uns in dieser Pandemiesituation befinden, auf jeden Fall unterstreichen. Ich hatte das Gefühl in den Jahren vorher, dass wir uns auf einen guten Weg gemacht haben. Ich habe ja viele, viele Fortbildungen für ErzieherInnen gehalten, die immer sehr gut besucht waren. Dabei haben viele entdeckt, welche Möglichkeiten sich ihnen bieten und so sind viele Türen aufgegangen.
Das ist nun durch die Pandemie deutlich eingeschränkt. Von daher bin ich jetzt im Moment nicht mehr ganz so optimistisch. Aber ich hoffe sehr, dass wir diesen Weg weitergehen können. Gerade junge ErzieherInnen und Musik sind oft nicht die besten „Freunde“. Das hat immer was mit der eigenen musikalischen Biographie zu tun. Wenn ich selber Musik nicht mehr konstruktiv erlebt habe, dann traue ich mir das auch nicht mehr zu. Wenn in den Familien zu Hause nicht gesungen wird, wenn in ihrer eigenen schulischen Karriere eben über Musik gesprochen, aber nicht erlebt und gemacht wird, dann sind da erst mal gewisse Türen zu. Aber hinter den Türen, da bin ich fest davon überzeugt, stecken ganz viele Potenziale und es bedarf eigentlich meiner Meinung nach einfach nur einer guten Begleitung. Das hat etwas mit der Ausbildung zu tun. Da fristet auch die Musik oder die ästhetische Bildung eher ein Mauerblümchendasein. Da werden viele, viele andere Dinge nach vorne gestellt. Ich will jetzt auch gar nicht, das eine gegen das andere ausspielen. Aber ich glaube, dass da eine gute Begleitung für die jungen Erzieherinnen sehr hilfreich sein kann, damit sie erleben „Ich kann das“.
sul: Und an dem Prozess beteiligen sie sich auch hier durch Fortbildungsangebote.
RH: Wir machen jetzt durch die Pandemie mehr Onlineseminare. Die Angebote sind sehr gut nachgefragt und wo wir bekommen anschließend viel positive Rückmeldung. Ich hoffe, dass wir ab 2022 wieder stärker präsent sein können, damit ErzieherInnen sich mit Lust ausprobieren können und Neugierde darauf entwickeln, wie sie die neuen Erfahrungen in ihre Arbeit integrieren können.
sul: Das ist ein schönes Schlusswort. Vielen Dank.
RH: Danke auch.
Weitere Informationen zu Reinhard Horn auf www.reinhardhorn.de, Verlag www.kontakte-musikverlag.de
10 Punkte über Reinhard Horn
- Reinhard-Horn-Grundschule Rhumspringe
- Botschafter des „Kindernothilfe e. V.“
- Botschafter des „Singenden Krankenhäuser e. V.“
- Ca. 3 Millionen verkaufte Tonträger und rund 5 Millionen verkaufte Bücher
- Ca. 150 Veranstaltungen im Jahr – Konzerte, Fortbildungen, Seminare, Kongresse
- Mit über 2000 komponierten und produzierten Songs der „kreativste deutsche Kinderliedermacher“
- Er hat die Kinder-Hymnen geschrieben für ADAC, Adveniat, Aktion Mensch, Brot für die Welt, BUND, Dietrich Grönemeyer Stiftung, Deutsche Turnerjugend, Ein Herz für Kinder, Greenpeace, Kindernothilfe, MISEREOR, Stadt Lippstadt, TUI, World Vision
- Zahlreiche Auszeichnungen: u. a. von der Deutschen UNESCO Kommission (Nachhaltige Entwicklung), mehrfacher Preisträger des Deutschen Rock & Pop Preises, ERASMUS Award, COMENIUS Award
- Künstler bei UNIVERSAL Music und KONTAKTE Musikverlag
- Der „tollste Kinderversteher“ (Zitat eines 8-jährigen Jungen)