Bildung beginnt im Kleinkindalter – und Chancengerechtigkeit auch

Ergebnisse des NEPS-Transferberichts zeigen: Ungleiche Startbedingungen entstehen früher als oft angenommen – und sind beeinflussbar

Die Grundlagen für Bildungserfolg werden bereits in den ersten Lebensjahren gelegt – und damit auch die Weichen für (Un-)Gleichheit. Eine neue Auswertung von Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) belegt, wie stark der soziale und ökonomische Hintergrund von Familien die Entwicklung von Kindern im Kleinkindalter beeinflusst. Der aktuelle Transferbericht zeigt, dass insbesondere die frühe sprachliche und sozial-emotionale Entwicklung in einem engen Zusammenhang mit den Bedingungen der familiären Lernumwelt steht.

Sprachliche Kompetenzen: Unterschiede ab dem zweiten Lebensjahr

Bereits mit zwei Jahren zeigen sich deutliche Unterschiede im aktiven Wortschatz von Kindern. Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Haushalten verfügten durchschnittlich über 97 Wörter aus einer festgelegten Liste von 260. Kinder aus bildungs- und ressourcenstärkeren Familien kamen laut elterlicher Einschätzung auf rund 158 Wörter. Diese Differenz verweist auf frühe Entwicklungsvorteile, die sich im weiteren Bildungsverlauf tendenziell verfestigen.

Qualität der Eltern-Kind-Interaktion als zentraler Einflussfaktor

Neben sozioökonomischen Faktoren wirkt sich auch die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion deutlich auf die kindliche Entwicklung aus. Als besonders förderlich erweisen sich feinfühliges, responsives und sprachlich anregendes Verhalten – etwa durch das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern oder durch dialogisches Sprechen im Alltag. Diese Form der Interaktion fördert nicht nur den Wortschatz, sondern auch die sozial-emotionale Kompetenz und die Fähigkeit zur Emotionsregulation.


Blickkontakt und Bindung formen das Gehirn

Dr. Walter Hultzsch erklärt, wie Nähe, Blickkontakt und feine Signale die Entwicklung von Aufmerksamkeit, Selbstregulation und Persönlichkeit fördern. Sein Buch verbindet neurowissenschaftliches Wissen mit alltagstauglicher Orientierung für Eltern, Großeltern, Paten und pädagogische Fachkräfte, die Babys in den ersten Lebensjahren achtsam begleiten wollen.

– Erfahrener Kinderarzt mit langjähriger Erfahrung
– Verbindet Neurobiologie, Bindungsforschung und frühe Kommunikation
– Zeigt, wie feinfühlige Eltern-Kind-Interaktion Entwicklung stärkt

Walter Hultzsch: Hey Mama, schau mir in die Augen – und sprich mit mir, Softcover, 120 Seiten, Oberstebrink 2025, ISBN 978-3-96304-072-6, 20 €


Belastungsfaktoren und kindliches Temperament: Wenn Förderung an Grenzen stößt

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist der Zusammenhang zwischen kumulierten familiären Belastungen und einer verminderten Interaktionsqualität. In Familien mit mindestens drei Belastungsfaktoren – etwa niedrigem Bildungsniveau, geringem Einkommen oder psychischen Belastungen – zeigte sich, dass ein herausforderndes kindliches Temperament (insbesondere negative Affektivität) die elterliche Feinfühligkeit deutlich einschränken kann. In Haushalten ohne diese Mehrfachbelastung war ein solcher Zusammenhang nicht nachweisbar. Die Daten basieren auf Videobeobachtungen von 2.190 Eltern-Kind-Dyaden und ergänzenden Interviews im Rahmen der NEPS-Startkohorte 1.

Früh ansetzen: Unterstützung für Familien in Risikosituationen

Die Ergebnisse legen nahe, dass Unterstützungsmaßnahmen möglichst frühzeitig ansetzen sollten – idealerweise bereits im ersten Lebensjahr. Projekte wie die Bremer Initiative zur Stärkung frühkindlicher Entwicklung (BRISE), die an die NEPS-Studien anschließen, untersuchen gezielt die Wirksamkeit solcher Interventionen bei Familien mit erhöhtem Unterstützungsbedarf. Die Autorinnen des Berichts, Prof. Dr. Sabine Weinert (Otto-Friedrich-Universität Bamberg) und Dr. Manja Attig (LIfBi), betonen, dass elterliches Verhalten formbar ist – insbesondere dann, wenn Angebote niedrigschwellig, alltagsnah und präventiv angelegt sind.

Pädagogische Perspektiven

Die Erkenntnisse des Transferberichts verdeutlichen, wie eng Bildungschancen und frühe familiäre Lebenslagen miteinander verflochten sind – und dass frühe, gezielte Unterstützung wirkt. Für pädagogische Fachkräfte eröffnen sich daraus wichtige Ansatzpunkte: Der frühpädagogische Bereich ist nicht nur ein Ort kindlicher Bildung, sondern auch ein zentraler Begegnungsraum für Familien. Die Qualität der Zusammenarbeit mit Eltern, die Beobachtung kindlicher Bedürfnisse sowie der sensible Blick auf Belastungskonstellationen sind entscheidende Faktoren, um Entwicklungsprozesse gezielt zu unterstützen. Wenn es gelingt, Bildungsbenachteiligungen nicht erst zu dokumentieren, sondern ihnen im frühesten Kindesalter präventiv entgegenzuwirken, kann ein wichtiger Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit geleistet werden – und das bereits lange vor dem Schuleintritt.




Verbal oder Zahl? – Schulzeugnisse verändern den Blick von Eltern

Neue BiB-Studie zeigt: Klare Noten statt blumiger Worte fördern das Engagement von Eltern

Sommerzeit ist Zeugniszeit – für viele Familien ein emotionaler Moment, der nicht nur Rückblick, sondern auch Weichenstellung für die Zukunft bedeutet. Passend zum Schuljahresende hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) eine neue Studie veröffentlicht, die beleuchtet, wie Schulzeugnisse das elterliche Verständnis für die Leistungen ihrer Kinder beeinflussen – und wie sich dies auf das Bildungsengagement zuhause auswirkt.

Eltern schätzen Leistungen oft zu positiv ein

Das zentrale Ergebnis: Viele Eltern überschätzen die schulischen Fähigkeiten ihrer Kinder, besonders in Deutsch, Mathematik und den Naturwissenschaften. Dies gilt vor allem in Haushalten mit niedriger formaler Bildung oder Migrationshintergrund. Die Forscherinnen der Studie, Elena Ziege und Ariel Kalil, warnen: Diese Fehleinschätzungen können dazu führen, dass Kinder nicht in dem Maße gefördert werden, wie es ihrem tatsächlichen Lernstand entspricht.

Format entscheidet: Noten wirken besser als Texte

Doch das muss nicht so bleiben. Wie die Untersuchung zeigt, können Schulzeugnisse diese Wahrnehmung wirksam korrigieren – vorausgesetzt, sie sind klar und verständlich. Dabei spielt das Format der Leistungsrückmeldung eine entscheidende Rolle: Während schriftliche Lernstandsbeschreibungen – wie sie in vielen Grundschulen für die ersten Jahrgangsstufen üblich sind – oft nicht richtig gedeutet werden, führen klare numerische Noten oder Gespräche mit Lehrkräften deutlich häufiger zu einer aktiveren Unterstützung der Kinder durch die Eltern.

Mehr Engagement durch bessere Information

„Väter und Mütter, die präzise Informationen zum Leistungsstand erhalten, lesen häufiger mit ihren Kindern oder spielen gezielter mit ihnen – insbesondere, wenn es sich um das erste Zeugnis handelt“, fasst Bildungsforscherin Elena Ziege zusammen. Besonders bedeutsam sei dies für Kinder aus sozial benachteiligten Haushalten. Hier könne eine frühzeitige, transparente Rückmeldung über die Schulleistungen ein Schlüssel sein, um Bildungspotenziale besser zu nutzen.

Frühe Rückmeldung als Chance für mehr Bildungsgerechtigkeit

Die Datenbasis der Studie stammt aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS) und bezieht sich auf das erste Grundschuljahr. Die Autorinnen empfehlen, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auf klar strukturierte Rückmeldungen zu setzen – idealerweise in Form von Noten oder standardisierten Einschätzungen, ergänzt durch persönliche Gespräche. Denn: Gut informierte Eltern sind besser in der Lage, ihre Kinder beim Lernen zu begleiten.

Quellenhinweis:

Ziege, Elena & Kalil, Ariel (2025): How Information Affects Parents‘ Beliefs and Behavior: Evidence from First-Time Report Cards for German School Children
Veröffentlichung beim Becker Friedman Institute, University of Chicago
Link zur Studie

Quelle: Dr. Christian Fiedler, Pressestelle, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB)