Janusz Korczaks Pädagogik der Achtung

korczak

Schon das Neugeborene ist eine Person, über die keiner nach Gutdünken verfügen darf

Schon als junger Mensch interessierte sich Korczak für Kinder der Elendsviertel in Warschau. Er betreute sie in den Semesterferien in den sogenannten Sommerkolonien. Seine Erlebnisse (Enttäuschungen und Freuden, Misserfolge und Erfolge) verarbeitete er in Büchern und Aufsätzen. Mit dreißig Jahren fasste der junge Arzt den Entschluss den Kampf für das Wohl des benachteiligten Kindes zu seiner Lebensaufgabe zu machen. 1912 wurde er Direktor des Warschauer Waisenhauses „Dom Sierot“, das er zu einer demokratischen Gemeinschaft aufbaute. Er schrieb Bücher, hielt Vorlesungen über Erziehung, arbeitete als Gutachter für Jugendgerichte, sprach regelmäßig im polnischen Rundfunk und setzte sich für die Rechte der Kinder ein. Bald wurde er in ganz Polen bekannt.

Das Recht auf Achtung bis zuletzt leben

Als die Nazis Polen besetzten wurde in Warschau ein Ghetto errichtet, in das auch Korczak, seine Mitarbeiterinnen und 200 jüdische Waisenkinder einziehen mussten.

Korczak ist bemüht das Gegebene, also das, was wahrgenommen wird, unter den Bedingungen der Zeit zum Guten zu wandeln – ohne Illusionen. Mit „Weisheit des Herzens“ findet er im „Lachen des Kindes“ einen Anker:

„Was uns […] innigst
mit dem Leben verbindet,
ist ein Kinderlachen,
strahlend und klar.“

Korczak-Bulletin 2015, S. 2

Die Kinderrechte, die Korczak an vielen Beispielen – in oft dichterischer Sprache – facettenreich erläutert, nehmen der pädagogischen Fachkraft die Verfügungsmacht über das Kind aus der Hand. Korczak erkannte als feinfühlender Seelenarzt, dass schon das neugeborene Kind eine Person ist, das ein Ich oder Selbst hat, über das keiner nach eigenem Gutdünken verfügen darf. Das Recht des Kindes, „so zu sein, wie es ist“, muss der Erwachsene ganz ernst nehmen. Es schließt ein

  • sein Recht auf Unwissenheit, weil darin sein Recht auf Neugier enthalten ist;
  • sein Recht Fehler zu machen, weil jedes erfolglose Tun eine wichtige Lernerfahrung einschließt;
  • sein Recht seine Gedanken und Urteile auszusprechen, weil es nur so sein Denken und Urteilen üben kann;
  • sein Recht auf ein Geheimnis, denn wir haben kein Recht, das Kind „in Augenblicken schwerer Gewissenskonflikte zu bedrängen“ oder das Geheimnis gar zu „erzwingen, weder mit Bitten noch mit List oder Drohungen; alle diese Methoden sind gleichermaßen unwürdig, denn sie bringen dich deinem Erziehungsbefohlenen nicht näher, sondern lassen dich von ihnen abrücken“ (Korczak 1978, S. 200);
  • sein Recht nicht ganz ehrlich zu sein und „Rosinen aus dem Kuchen zu klauben und sie heimlich zu naschen“ (ebd., S. 205), nicht weil es allgemein lügen darf, sondern weil wir ihm erlauben müssen, eine übliche Regel zu erproben.

Bedürfnis nach Orientierung

Immer mehr Einrichtungen in der ganzen Welt tragen den Namen Janusz Korczak. Menschen verschiedener Länder finden unter seinem Namen zusammen und studieren seine Pädagogik. Korczaks vitaler Frageimpuls, geschrieben ohne Bibliothek, orientiert an der eigenen Erfahrung und dem Studium der deutschen und französischen medizinischen und pädagogischen Literatur (vor allem der Werke des Schweizer Menschenfreundes Pestalozzi), lädt zum Nachdenken ein.

Offenbar wächst das Bedürfnis nach Orientierung an Vorbildern in dem Maße, wie das Vertrauen in Institutionen und normative Denkstrukturen, die über Jahrzehnte Stabilität garantierten, brüchig geworden ist.Vor allem junge Menschen und jene, die in medizinisch-therapeutischen und pädagogischen Arbeitsfeldern tätig sind, erfahren durch die Begegnung mit Korczak eine motivierende und inspirierende Perspektive.


klein inklusion

Heilpädagogische Grundlagen

Pädagogisches Wirken beginnt bei der pädagogischen Fachkraft. So beginnt auch Prof. Dr. Ferdinand Klein bei seinem eigenen Werdegang als Heilpädagoge und beim Kinderarzt und Pädagogen Janusz Korczak, um sich dem Begriff und der Aufgabe des Heil- und Sonderpädagogen zu nähern. Zudem bietet das Buch vielfältige Fallbeispiele, konkrete Tipps und Hilfestellungen zum Umgang mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen, praxisgerecht, leicht verständlich und direkt umsetzbar.

Prof. Ferdinand Klein, Inklusive Erziehung in der Krippe, Kita und Grundschule, ISBN 978-3-963046-01-8, BurckhardtHaus, 2018, 168 Seiten, 19,95 €.


Den eigenen Weg suchen

Im Gegensatz zu den exakten Naturwissenschaften hat die Wissenschaft Pädagogik ihr eigenes Selbstverständnis, das sich von anderen Wissenschaften grundlegend unterscheidet. Pädagogik ist seit eh und je eine Beziehungswissenschaft mit und für Menschen. Diese Praxiswissenschaft erkennt: Alte pädagogische Einsichten sind nicht an zeitliche Zusammenhänge gebunden, sondern auf das Erziehen und Bilden des Kindes konzentriert.

Darauf müssen uns heute neurobiologische und psychosoziale Forschungen aufmerksam machen: Das Wissen darf dem Kind nicht wie mit dem „Nürnberger Trichter“ eingefüllt werden. Diesem technischen Beherrschen widersetzt sich seine Natur. Das Kind will nicht zum Reagierenden und Konsumierenden herabgewürdigt und fremdbestimmt werden. Diese Herrschaftspädagogik wandelt Korczak in eine Pädagogik, die ohne Vorbedingungen allein dem Kind – und damit der Zukunft der Menschheit – dienen will.

Korczaks Dienstpädagogik sprengt die lebensferne Theorie, an die sich viele um den Preis klammern, ihr eigenes Denken aufzugeben – und „ganz bequem und in aller Ruhe“ der vorgegebenen Theorie zu folgen. Zurecht betont deshalb Hartmut von Hentig, dass der pädagogischen Ausbildung das Wahrnehmen des Lebens fehlt, denn sie findet vorwiegend sitzend, hörend und darüber redend statt. Geboten ist das Erfahren und Reflektieren der Würde der Praxis.

Mit dem Kind in der Begegnung sein

Korczak knüpft an alltägliche Erfahrungen an, die er mit dem Kind macht. Die Erfahrungen werden in die pädagogische Urteilsfindung mit hineingenommen. Damit kehrt er der vorherrschenden Theoriegläubigkeit den Rücken und bringt den lebendigen Menschen, mit dem es nun einmal die Erziehung zu tun hat, ins Spiel. Hart aber fair zieht er gegen die „verknöcherte Theorie“, d. h. das begrifflich (vor-)gefasste Denken, zu Felde, wenn er sagt, dass „Anschauungen fremder Menschen sich im eigenen lebendigen Ich brechen müssen“ (Korczak 1978, S. 14).

Korczak sieht die Perspektive des Kindes und die Perspektive des Erziehers. In seiner Schrift „Wenn ich wieder klein bin“ (1973) versetzt er sich in die Situation eines kleinen Jungen und sieht die Gedanken der Erwachsenen aus der Sicht der Kinder, und die Gedanken der Kinder sieht er aus der Sicht der Erwachsenen. In dieser dialogischen Begegnung erkennt er die Aufgabe der Erziehung: „Ein Erzieher, der nicht einpaukt, sondern etwas freilegt, der […] nicht diktiert, sondern anfragt, der erlebt mit dem Kind manchen bewegenden Augenblick; und er wird manchmal mit Tränen in den Augen den Kampf zwischen Engel und Satan miterleben, bis der lichte Engel den Sieg davonträgt.“(Korczak 1973, S. 35 f.)

Die pädagogische Kompetenz

Korczaks ganz andere Pädagogik kann in keinem historiografischen Schema einer theoriegeleiteten Erziehungswissenschaft mit ihrer anspruchsvollen Rhetorik untergebracht werden. Von Korczak können wir in Wissenschaft und Praxis lernen, dass für das Erziehen ein einfach, aber gehaltvolle Sprache geboten ist. Bei seiner Erziehungspraxis im Kairos, nämlich im entscheidenden Moment geistesgegenwärtig situationsorientiert zu handeln, versuchte er aus der Perspektive des Kindes seine Sprache zu entwickeln. Sie lädt zum Mitdenken ein, die jeder in einem nicht abschließbaren Prozess weiterentwickeln kann.

Korczak hat das erzieherische Verhältnis radikal verändert. Wir können von einer „kopernikanischen Wende“ in der Pädagogik sprechen, denn er hat die Perspektive der Pädagogik revolutioniert. Er steht mit seiner Theorie mitten im Prozess der Erziehung und entwickelt aus dem Zusammensein mit den Kindern die Methoden, die ihnen Selbstwirksamkeit ermöglichen. Korczak legt nicht fest und schreibt nichts vor, bleibt vielmehr in einer offenen und fragenden Haltung, denn Kinder wollen mit Sehnsucht im Herzen sich das Wissen und Können selbst aneignen.

Einen weiteren Artikel zu Janusz Korczak von Prof. Klein finden Sie hier .

Literatur

Gruen, A. (2003): Wie man ein Kind lieben soll. In: publik-forum, journal nr. 6

Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks. München, BurckhardtHaus

Korczak-Bulletin (2015): 24. Jg., Ausgabe September, S. 2

Korczak, J. (1973): Wenn ich wieder klein bin. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht

Korczak, J. (1978): Wie man ein Kind lieben soll. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht

Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in der Krippe, Kita und Grundschule, München, BurckhardtHaus

Krenz, A. (2018): Der Situationsorientierte Ansatz – auf einem Blick. München, BurckhardtHaus

Krenz, A./Klein, F. (2012): Bildung durch Bindung. Frühpädagogik: inklusiv und beziehungsorientiert. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

Neuhäuser, G./Klein, F. (2019): Therapeutische Erziehung. Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule. München, BurckhardtHaus

Der Autor

Ferdinand Klein ist Heil- und Sonderpädagoge. Er wirkte und wirkt als Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik an den Universitäten Würzburg, Mainz, Halle-Wittenberg und an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, sowie als Gastprofessor an der Masaryk-Universität in Brünn, der Comeius-Universität in Bratislava und der Gusztáv-Bárczi-Fakultät für Heil- und Sonderpädagogik an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest.




Was Kinder wirklich brauchen

Damit sich Kinder selbst erfahren und entwickeln können

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich der Alltag, die Lebens­situation und der Lebensraum für die Kinder in unserer Gesellschaft stark verändert. Die Entwicklungsphase Kindheit droht verloren zu gehen. Gesucht sind Orte und Menschen, die vielfältige Erfahrungen und Entwicklung ermöglichen. Dem geht Prof. Dr. Armin Krenz aus seinem Beitrag nach. Wir haben diesen aus seinem Buch „Elementarpädagogik aktuell“.

Kinder müssen eine ständige Zunahme an Erfahrungsverlusten hinnehmen

Wer mit Kindern arbeitet, wird sich sicher manchmal fragen, ob es wünschenswert wäre, heute noch einmal Kind zu sein. Da ist es nahe­liegend, zunächst nachzuspüren, wie es einem in der eigenen Kindheit ergangen ist, was gute und was schlechte Erinnerungen ausmachen. An was erinnern wir uns? Ans Höhlen­bauen im Wald, an Versteckspiele in Kornfeldern, ans Bäumeklettern, an ausgelassene Spiele auf bun­ten Wiesen, an Fahrradtouren mit den Eltern, an die Wochenendfahrten zu Verwandten …

In der Erinnerung verklärt sich vieles, und schnell ist man ver­sucht, ein­schränkende, verletzende, zerstörende und belastende Erfahrungen außen vor zu lassen. War da nicht auch die Strenge mancher Lehrer in der Schule, das eingeschränkte Spielmaterial zu Hause, die klei­ne Woh­nung oder die leidige Gemüsesuppe, die trotz innerer Ablehnung ge­gessen werden musste?

Ungeachtet persönlicher Erfahrungen hat sich die Kindheit – das be­stätigt die Forschung – in den vergangenen beiden Jahrzehnten drastisch verändert. Das Leben in unserer Gesellschaft wird für Kinder (und nicht nur für diese) immer unübersichtlicher. Sie können das Leben in all sei­nen Facetten nicht mehr in Ruhe und mit ausreichend Zeit wahrnehmen oder bestimmte Verhal­tensmuster durchspielen und ausprobieren.

Die Entwicklungsphase Kindheit droht verloren zu gehen. Zu den ein­schneidendsten Veränderungen gehören:

  • Kinder sind als Konsumenten entdeckt worden. Konsum, so wird ihnen versprochen, bedeutet Glück, und der Besitz bestimmter Markenprodukte ist zu seinem Grad­messer geworden. Dies betrifft inzwischen bereits die Kinder im Kindergartenalter. Das Habenmüssen und diesbezügliche Vergleichen verdrängt zunehmend andere elementare Bedürfnisse.
  • Erfahrungen werden zunehmend aus zweiter Hand, aus dem übergroßen Angebot der Medien gewonnen. Für viele Kinder erschließt sich die Welt nur noch zum kleinen Teil über die eigene Aktivität. Fernsehen, Videospiele, Computer und Internet haben den Kinder­alltag mittlerweile fest im Griff. Nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich hinterlassen diese Medien ihre Spuren im Erleben der Kinder.
  • Der Urlaub unterliegt zunehmend einem Anspruch, der sich nicht an den Bedürfnissen der Kinder orientiert. Für Kinder reicht es in der Regel völlig aus, gemeinsam mit den Eltern und anderen Kindern (Geschwistern) spielerisch ihre Umwelt zu entdecken. Die Reisever­anstalter und die Werbung suggerieren aber schon den Kindern, dass Urlaubsreisen in die entferntesten Winkel unserer Erde beson­ders attraktiv seien.
  • Die hohe Bevölkerungsdichte Deutschlands hat zur Folge, dass der Einzelne immer weniger Platz hat. Das Straßennetz wird enger gezogen. Brachliegende Grundstücke, auf denen es sich ins unserer Kindheit herrlich spielen ließ und die zum Treffpunkt aller Kinder der Wohngegend wurden, gibt es immer seltener. Gepflegte Grünanlagen sind mit Regeln belegt, und öffent­liche Spielplätze lassen wenig Raum für freies Spielen, da sie bestimmte Spielfunktionen vorgeben. Selbst dort, wo es noch Wald oder Wiesen gibt, ist es meist nicht mehr möglich, „mal eben“ rauszugehen und andere Kinder zu treffen. Bedenkt man, dass es immer mehr Einzelkinder gibt, ist diese Entwicklung umso problematischer.
  • Eltern versuchen, auf eingeschränkte Spielmöglichkeiten ihrer Kinder zu reagieren, indem sie deren Tagesrhyth­mus durch Kurse wie Judo-, Ballett- oder Klavier­unter­richt neben Kindergarten- oder Schulzeit strukturieren.
  • Die Angst vor Gefahren, allein durch den Straßenverkehr, verhindert, dass sich die Kinder in der ihnen verbleiben­den freien Zeit informell mit ihren Freunden treffen können. Wieder muss alles arrangiert und geregelt wer­­den. Das Mobiltelefon ist für viele Kinder zum ver­längerten Sprachrohr in einer anonymisierten Welt geworden. Spontane, lebendige Beziehungen der Kinder unter­einander werden immer seltener.

Soziale Kompetenz lässt sich nur dadurch erlernen, indem man sich auf andere Menschen und deren Erfahrungen einlässt

Kinder hatten früher viel größere Chancen, sich in selbst organisiertem Maße zu entwickeln, selbst gewählte Freundschaften in selbstbe­stimmter Art zu gestalten und räumliche sowie persönliche Schwer­punkte neben alltäglichen Verpflichtungen zu r­ealisieren. Auf den Punkt gebracht bedeutet diese Entwicklung, dass das ­Kinderleben heute immer zerrissener, Kindertagesabläufe in zunehmendem Maße zerteilt und Kinder­welten immer stärker eingeengt werden.


krenz-elementarpaed-aktuell

Diesen Artikel haben wir aus folgendem Buch entnommen:
Elementarpädagogik aktuell
Die Entwicklung des Kindes professionell begleiten
Krenz, Armin
Burckhardthaus-Laetare
ISBN: 9783944548012
208 Seiten, 24,95 €
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Dem mag man entgegenhalten, dass Kinder heutzutage mehr Spielmaterial, größere Bildungschancen, eine bessere Förderung und vielschichtigere Kommunikationswege nutzen können. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass Kinder trotz dieser Chancen eine ständige Abnahme an Erfahrung hinnehmen müs­sen! Aus entwicklungspädagogischer Sicht muss diese Tatsache sowohl Eltern als auch pädagogische Fachkräfte aufrütteln, weil Kinder vor allem über das eigene Handeln lernen. Nicht um­sonst heißt es: „Aus Erfahrung wird man klug.“ Wenn Kinder zunehmend Erfahrungsverlusten ausgesetzt sind, können sie sich nicht gleichzeitig als Akteure ihrer ei­genen Entwicklung begreifen.

Viele Möglichkeiten haben die Kinder dann nicht mehr: Entweder sie resignieren, ziehen sich zurück und klagen darüber, dass ihnen „sooo langweilig“ sei, oder sie suchen sich Mittel und Wege, die Welt trotzdem zu entdecken, etwa durch Regel- und Grenzüberschreitungen oder den Versuch, auf sich aufmerksam zu machen, nach dem Motto „Seht her, hier bin ICH!“

Gesucht: Orte und Menschen, die vielfältige Erfahrungen und Entwicklung ermöglichen

Wenn Kinder in einer Weise aufwachsen, in der ihnen bedeut­same Er­fahrungen vorenthalten und Zeitstrukturierungen sowie organisatori­sche Vorgaben übergestülpt werden, sind sie mehr denn je darauf angewiesen, noch Handlungsschritte unternehmen zu können, die ihrer Entwicklung dienen. Wie aber müssen Orte sein, die Kindern das bieten, was sie brauchen?

  • Kinder brauchen einen Ort, an dem sie ihre eigene Iden­tität auf- und ausbauen, sich von Spannungen freispielen und erfahren können. Sie sind auf der Suche nach sich selbst: „Das bin ich, das kann ich, das schaffe ich, und das traue ich mir zu.“ Indem sie aktiv werden und Eigeninitiative zeigen, entwickeln sie eine Beziehung zu ihrem Können und erwerben das notwendige Selbst­bewusstsein. Warum klettern Kinder auf Bäume oder Dächer, lassen sich auf verschie­dene kleine und große Abenteuer ein, hüpfen von Mauern und laufen um die Wette? Weil Kinder ihre Kraft erfahren und erpro­ben möchten!
  • Kinder brauchen Gelegenheiten, ausgiebig und immer wieder mit anderen Kindern zusammenzutreffen und den Umgang mit ihnen zu erfahren und zu erleben. Soziale Kompetenz lässt sich nur durch ein Einlassen auf andere Menschen, durch Erfahrungen mit anderen erlernen. Kinder suchen das Miteinander, sie brauchen die Erfahrung, gemeinsam etwas auszuhecken und solidarisch zusammenzuhalten. In spielerischen Gefahrensituationen erleben sie, wie stark und stützend Gemeinschaft sein kann.
  • Sie brauchen die Erfahrung von der Verlässlichkeit menschl­i­cher Beziehungen, besonders dann, wenn es darum geht, Erlebnisse einzuordnen oder unverständ­liches Verhalten (zum Beispiel der Eltern/ErzieherInnen) auszuhalten.
  • Kinder brauchen Rückzugsmöglichkeiten, um dem allgegen­wärtigen Blick von Erwachsenen zu entrinnen und sich allein (oder mit anderen) Beschäftigungen hinzugeben, die nur ihnen bekannt sind.
  • Kinder brauchen Freiräume, um sich zu bewegen, zu laufen, zu toben, zu rollen, zu springen und zu hüpfen, kurz: um ganzheitliche Körper- und Sinneserfahrungen machen zu können.
  • Kinder brauchen genügend Zeit, in der sie mit Ausdauer und nach eigenem Zeitempfinden Dinge in Ruhe zu Ende führen können. Sie benötigen und suchen Orte, an denen sie ihr eigenes Zeitmaß leben können, wo wenig gedrängelt wird und ihre geistigen Fähigkeiten Entfaltungsmöglichkeiten erhalten.
  • Kinder brauchen einen Ort, an dem sie ein aktives Mit­sprache­­recht haben. Dies beginnt bei der täglichen Kommuni­­kation und endet bei fest eingeplanten Kinder­konferenzen. Sie haben zudem das Recht auf Versuch und Irrtum, ohne dafür bestraft oder ausgelacht zu werden.
  • Kinder brauchen eine Umgebung, in der sie sich in ihrer Individualität entwickeln können, und sie brauchen Menschen, die ihnen einen Freiraum zugestehen, in dem sie durch Auspro­bieren und auch Irrtümer die Vorgänge in ihrer Umgebung, ihrer Umwelt begreifen können.
  • Kinder brauchen Erwachsene (und ein entsprechendes Umfeld), die der Prozesshaftigkeit eine höhere Beachtung schenken als dem Herstellen von „ästhetischen Produkten“, und sie brauchen diese Erwachsenen als Bündnispartnerinnen ihrer ureigenen Interessen.

Aufgaben des Kindergartens

Wenn es Kindern nicht mehr möglich ist, grundsätzliche und entwick­lungsrelevante Erfahrungen zu Hause oder im häuslichen Umfeld zu machen, so muss es einmal mehr die Aufgabe des Kindergartens be­ziehungsweise der Kita sein, hier ausgleichend einzugreifen. Wer sich dieser Herausforderung bewusst stellt, kommt nicht darum herum, seine bisherigen Aufgaben hinsichtlich Schwerpunkten, Arbeitsweisen und Methoden neu zu überdenken. ErzieherInnen gestalten die Arbeit in Kindergarten und Kita vor allem vor dem Hintergrund von drei Erfah­rungshorizonten: ihrer eigenen Biografie (mit den erlebten Werten und Normen), ihrer Ausbildung (mit den teilweise immer noch herr­schenden traditionellen pädagogischen Vorstellungen) und ihrer kon­kreten individuellen Erfahrung, die sie während ihrer Arbeit als Erzie­herin bisher gemacht haben. Gespräche mit den Kolleginnen bieten die Chance, gesellschaftliche und lokale Veränderungen wahrzunehmen und in der Einrichtung entsprechend zu reagieren.

Kindergarten und Kita als pädagogische Institutionen unterliegen immer auch der Gefahr, sich von bildungspolitischen Strömungen beeinflus­sen zu lassen und die tatsächlichen Gegebenheiten nicht ausreichend zu berücksichtigen. Gegen eine vorbehaltlose Übernahme dieser Strö­mungen sollten sich die Fachkräfte vor Ort solidarisieren. Denn theore­tische oder politische Vorstellungen und Betrachtungen über die „Ge­staltung der Zukunft von Kindern“ haben nicht unbedingt etwas mit der Realität heutiger Kind­heit (und ihren entwicklungsbe­zogenen Folgen für die Kinder) zu tun. Gerade weil soziale Erfahrungen in der „natürlichen“ Lebenswelt der Kinder gegenwärtig nur noch ein­geschränkt möglich, zum Teil sogar unmöglich geworden sind, müssen Kindergarten und Kita diesen Aspekt in ihrer Einrichtung gezielt berücksichtigen: So dramatisch der Verlust sozialer Beziehun­gen der Kinder unter­einander in ihrem Lebensumfeld ist, desto bedeut­samer wird für viele Kinder ihre Zeit im Kindergarten/in der Kita.

Anregungen zur Reflexion im Team: Kindergarten – ein Garten für Kinder

Ein großer Garten mit altem Baumbestand und einer reichen Tier- und Pflanzenwelt entführt uns in ein wahres „Reich der Sinne“. Es gibt allerlei Farben, Formen und Düfte zu entdecken. Blumen und Sträucher entwickeln ihre Pracht zu unterschiedlichen Jahreszeiten, sodass eine Blütezeit die andere ablöst. Hecken dienen Kleintieren zum Schutz und bieten Nistgelegenheiten für verschiedene Vogelarten. Große Bäume spenden Schatten, sodass der Boden in regenarmen Zeiten nicht gänz­lich austrocknet. Ein solcher Garten zeichnet sich durch seine Vielfalt und Widerstandsfähigkeit aus, im Gegensatz zu Monokulturen mit ihrer besonderen Anfälligkeit für Krankheiten und gegenüber ungünstigen Witterungsbedingungen.

Die ErzieherInnen im Kindergarten beziehungsweise in der Kita können ihre Aufgaben entsprechend eines Gärtners/einer Gärtnerin nun auf dreierlei Arten verstehen: Es gäbe die Möglichkeit, alles einfach wach­sen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass sich der Garten „irgend­wie“ von selbst entwickeln wird (Laisser-faire-Stil). Eine zweite Mög­lichkeit bestünde darin, das Gelände in einen gepflegten Vorstadtgarten verwandeln zu wollen, in dem die Beete „unkrautfrei“ gehalten werden und der Gärtner/die Gärtnerin nach eigenem Geschmack und Gutdün­ken entscheidet, was, wo, wie, neben wem und in welcher Höhe wächst (autoritärer Stil). Drittens könnten aber auch Gartenfachleute, die über ein profundes Wissen verfügen, dafür Sorge tragen, dass sich alle Pflanzenarten optimal entwickeln, wobei ihnen selbstverständlich auch ihre Ausbreitung und Ausweitung zugestanden wird. Solche GärtnerInnen sorgen vor allem für eine gute Bodenbeschaffenheit nach dem Motto: „Nicht die Pflanze ist krank, wenn sie nicht gedeiht, son­dern der Boden ist für ihr Wachstum ungeeignet.“ Diese Sichtweise entspricht einem demokratischen Stil, weil die elementaren Bedürfnis­se der einzelnen Pflanzen berücksichtigt und wertgeschätzt werden. Dieses Bild von einem Garten soll dazu anregen, allein oder im Team darüber zu reflektieren, ob die eigene Einrichtung einem solchen Garten für Kinder entspricht, in dem sie sich individuell entwickeln und entfal­ten können.

Armin Krenz




Fachtagung Reggio-Pädagogik Online 27./28. November 2020

Unter dem Titel „UND ES GIBT HUNDERT DOCH  – Bildung braucht Beteiligung – 100 Jahre Loris Malaguzzi“ veranstaltet das Forum Reggio Pädagogik Österreich am 27./28. November die Fachtagung Reggio Pädagogik online. Durch die Fachtagung haben Pädagoginnen, Fachberaterinnen und alle anderen, die mit Kindern leben, die Möglichkeit den pädagogischen Ansatz von Reggio Emilia, Italien kennen zu lernen, mehr darüber zu erfahren und sich zu vertiefen. Theorieblöcke ergänzt mit Praxisbeispielen aus reggio-orientierten Bildungseinrichtungen geben Einblick und sollen Inspiration bieten.

Das Programm:

1. Das Recht auf Rechte, Freitag, 27.11.2020, Eine ökologische Vision des Menschen, 16:00- 17:30 Uhr
2. Das Recht auf Subjektivität, Freitag, 27.11.2020, Die hundert Sprachen legen Wert auf die Vielzahl von Wissensprozessen, 18 – 19:30 Uhr
3. Das Recht auf Forschung, Samstag, 28.11. 2020 Wechselwirkung im pädagogischen Kontext zwischen Theorie und Praxis  9 – 10:30 Uhr
4. Das Recht auf Kompetenz, Samstag, 28.11.2020 Kinder und Erwachsene als partizipative Subjekte am Aufbau von Kultur 11 – 12:30 Uhr
5. Das Recht auf Ästhetik, Samstag, 28.11. 2020 Die Ethik und Ästhetik von Wissensprozessen, 13:30 – 15:00 Uhr

Ausklang ist dann von 15 bis 15.30 Uhr mit der Möglichkeit zum Austausch und zur Vernetzung.

Jedes Webinar dauert etwa 90 Minuten

Teilnahmegebühr: 30 € pro Webinar oder 120 € für die gesamte Fachtagung.

Weitere Infos unter finden Sie hier auf der Website des Forums.