Pinocchio für heute – poetisch, klug und eindrucksvoll illustriert

Imme Dros nach Carlo Collodi/Carll Cneut: Pinocchio

Pinocchio – ist das nicht diese uralte Geschichte von der Marionette, die lebendig wird und der beim Lügen immer eine lange Nase wächst? Stimmt. Fast 140 Jahre ist es her, seit Carlo Collodi sie aufgeschrieben und in Fortsetzungen in einer Zeitschrift veröffentlicht hat. Die in ihrer Heimat sehr bekannte niederländische Autorin Imme Dros hat sie überarbeitet – ohne pädagogischen Zeigefinger –, hat viele Nebenfiguren und sich ähnelnde Abenteuer weggelassen und so für die heutigen Leser, Vorleser und Zuhörer märchenhaft und spannend neu erzählt.

Von sprechendem Holz bis zur blauen Fee: Die Geschichte bleibt ein Abenteuer

Los geht’s mit einem sprechenden Stück Holz. Aus dem schnitzt der alte Gepetto eine Marionette. Eben weil das Holz zu ihm spricht. Und sofort ist es ein Lausbub, der alles umwirft und durcheinanderbringt. Aber auch einen unbändigen Wissensdurst hat, immer grundsätzlich nachfragt und damit seinen alten Vater ständig in Verlegenheit bringt. Weshalb der Bub unbedingt zur Schule gehen soll. Gepetto gibt alles für seinen hölzernen Sohn, verkauft sogar seinen Mantel, um Schulbücher kaufen zu können.

Aber schon auf dem Weg Richtung Klassenzimmer lenkt ihn ein Marionettentheater ab. Er erkennt: Die sind ja wie ich! Der ziemlich fiese Chef der Truppe setzt ihn gefangen, und erst, als Pinocchio ihm herzzerreißend seine Geschichte erzählt, lässt er ihn wieder frei. Sogar mit Goldstücken als Lohn! Klar, dass der Junge es mit zwielichtigen Gestalten, Betrügern und Räubern zu tun bekommt.

Gut oder böse? Märchenhafte Entscheidungen mit Tiefgang

Und mit der blauen Fee. Denn schließlich muss Pinocchio immer wieder gerettet werden. Was auch deshalb gelingt, weil er eigentlich ein gutes Herz hat. Denn die Goldstücke will er seinem Vater bringen, den er doch sehr liebt. Eben wie einen Vater. Und die blaue Fee wie eine Mutter.

Nun hat sich Gepetto aber auf die Suche nach seinem Marionettenkind gemacht, Pinocchio findet ihn nicht mehr zu Hause. Und sucht weiter. Bis zum Meer. Dort, weit draußen in einem kleinen Boot … Okay, mehr will ich jetzt nicht verraten. Nur, dass da bald ein riesiger Hai auftaucht und noch einige Abenteuer zu bestehen sind.

Immer wieder muss Pinocchio sich entscheiden, was er nun tun, auf wen er hören will. Immer wieder die Entscheidung treffen zwischen Gut und Böse, wie das in märchenhaften Erzählungen üblich ist. Impulskontrolle heißt das heute. Das hat Carll Cneut in ausdrucksstarke Bilder umgesetzt. Mal wirken sie wie schnell hingeworfene Skizzen, mal sind es detailreich ausgearbeitete, großformatige Gemälde. Insbesondere die naturgetreuen und realistischen Darstellungen von Tieren und Fabelwesen beeindrucken. Und machen die Lust, die Freude, den Spaß, die inneren Konflikte, die Ängste und die Liebe des kleinen Jungen auf dem Weg zu einem großen Jungen erlebbar.

Ein Kinderbuch, das berührt – für Herz und Bücherregal

Bohem Press hat hier ein Buch publiziert, das seinesgleichen sucht. Es ist nicht nur eine Überarbeitung und Neuausgabe eines Klassikers. Es ist eine Geschichte, die so geschrieben und illustriert ist, dass sie Kindern und Eltern zu Herzen geht – und immer wieder gern aus dem Regal geholt wird. Zum Lesen, zum Schauen, zum Entdecken, zum Träumen und zum Darüber-Sprechen. Und das ist das Beste, was einem Kinderbuch passieren kann.

Ralf Ruhl

Imme Dros nach Carlo Collodi | Carll Cneut (Ill.)
Pinocchio
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Hardcover mit Leinenrücken und Folienprägung, 64 Seiten
Überformat: 23,5 x 31,8 cm
ab 5 Jahren
ISBN 978-3-85581-597-5
28 €

Erscheinungstermin 1. August 2025

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Gehört auch Oma zur Familie?

Bilderbuch „Und deine Familie?“ von Charlotte Belliere und Ian de Haes

Auf dem Schulhof spielen die Kinder Familie. „Vater-Mutter-Kind“ hat man dazu früher gesagt. So etwa vor 40 Jahren. Damals war auch klar, dass Mädchen Röcke tragen und lange Haare haben. Jungen genau anders herum, Hosen und kurze Haare. Und alle waren weiß. So hautfarbenmäßig.

Heute sieht es auf dem Schulhof anders aus. Mädchen tragen Hosen oder Kleid, wie sie wollen. Allerdings sieht man keinen Jungen im Rock. An der Haarlänge lässt sich die Geschlechtereinteilung auch nicht ablesen. Und die weiße Hautfarbe ist genauso oft vertreten wie andere.

Es hat sich also viel verändert. Die Realität der Kinder sieht heute anders aus als noch vor wenigen Jahrzehnten. Ebenso verhält es sich mit der Familie. Und den eigenen verinnerlichten Geschlechterbildern der Kinder. So will das Mädchen nicht die Mama spielen, sondern den Papa. Andere wollen auch mitspielen. Damit entspinnt sich schnell eine rege Diskussion darüber, wer denn eigentlich zur Familie gehört. Das eine Kind findet es toll, Geschwister zu haben. Denn dann ist es nicht so langweilig. Ein anderes findet es toll, allein zu sein. Denn dann muss es seine Spielsachen nicht teilen.

Familie ändert sich ständig

Ein Mädchen lebt allein mit seiner Mutter, ein anderes hat zwei Mütter. Ein drittes wohnt allein mit seinem Vater. Da es für Mütterabwesenheit in dieser Gesellschaft gute Gründe geben muss – einfach so würde eine Mutter dem Vater ja nie ihr Kind zu Erziehungs- und Aufwachs-Zwecken überlassen – lebt diese in einem anderen Land.

Papas werden von den Kindern übrigens erstaunlich positiv gesehen. Offenbar schimpfen sie nicht häufiger als die Mütter. Und werden nicht mehr – wie noch vor 40 Jahren – als Bestrafungsinstanz eingesetzt. Dann gibt es noch die Trennungsfamilien, die Patchworkfamilien, nach der nächsten Trennung wieder neue Patchworkfamilien. Manche Kinder werden von Tagesmüttern betreut und manche von der Oma. Vor- und Nachteile der jeweiligen Lebenssituation bringen die Kinder erstaunlich klar in einem Satz auf den Punkt.

Aber das Familie-Sein ist heutzutage ganz schön vielfältig. Und damit kompliziert. Noch dazu verändert es sich immer wieder. Weshalb die Kinder am Ende lieber etwas Einfacheres spielen wollen: Schule…

Charlotte Bellieres Bilderbuch eignet sich hervorragend dazu, mit Kindern über das Thema „Familie“ ins Gespräch zu kommen. Nicht nur zu Hause, sondern auch in der Kita- oder Grundschul-Gruppe. Denn es zeigt, dass es viele unterschiedliche Familien mit vielen unterschiedlichen Angehörigen gibt. Und zwar ganz ohne Wertung.

Ralf Ruhl

Charlotte Belliere (Text), Ian de Haes (Ill.)
Und deine Familie?
Carl-Auer-Verlag 2022
www.carl-auer.de
46 Seiten, 21×27 cm
ab 4 Jahre
ISBN 978-3-96843-032-4
19,95 Euro




Eine packende und aufwühlende Drogenfamiliengeschichte

Pierre Monnards „Platzspitzbaby“ ist eben auf DVD erschienen – zudem gibt es Schulmaterial

Viel ist von der so genannten „Mutterliebe“ die Rede. Aber wer spricht von der Liebe der Kinder zu ihren Eltern? Schließlich ist das immer und jederzeit eine bedingungslose Liebe, die Kinder dazu bewegt, ihre Eltern schützen zu wollen. Das ist eine der Ursachen dafür, warum Kinder bei Schicksalsschlägen in der Familie wie bei schweren Krankheiten, Tod oder Scheidung besonders leiden. Schließlich hatten sie keine Chance zu helfen.

Genau so eine Geschichte ist jene der elfjährigen Mia. Sie zieht mit ihrer Mutter Sandrine weg aus der Züricher Drogenszene in eine Kleinstadt im nahegelegen Oberland. Zu nahe, wie sich bald herausstellt: Denn als Sandrine am neuen Wohnort auf alte Bekannte stößt, greift sie auch bald wieder zu harten Drogen.

Warum „Platzspitzbaby“

Pierre Monnard erzählt von nun ab in seinem Film „Platzspitzbaby“ Mias Geschichte, die verzweifelt und hartnäckig nach Wegen sucht, ihre Welt und damit auch die Welt der Mutter wieder zu heilen. Das Drehbuch von André Küttel ist angelehnt an die Autobiographie von Michelle Halbheer, die mit Unterstützung der Journalistin Franziska K. Müller ihre Kindheitserinnerungen und damit auch ihre Beziehung zu ihrer Mutter in dem Roman aufarbeitet. Dabei kommt der ungewöhnliche Name des Buches und des Films auch nicht von ungefähr. Platzspitz heißt ein kleiner Park beim Züricher Hauptbahnhof, der in den 80er Jahren zum berüchtigten Treffpunkt von Drogensüchtigen und Dealern mutierte. Und die Hauptdarstellerin des Films, die elfjährige Mia ist eben das „Baby“ dieser Drogenszene.

Schockierend, bedrückend, lebensnah

Im Roman wie im Film flüchtet das Mädchen in eine Phantasiewelt mit einem „heimlichen Freund“, sie versucht für ihre Mutter und sich Geld aufzutreiben und sie übernimmt die Rolle des Familienoberhaupts. Es ist ein verzweifeltes und anrührendes Agieren. Trost dabei spendet, dass Mia neue Freunde findet, die sie jedoch wieder verliert, um sich am Ende selbst zu finden.

Es ist eine schockierende, bedrückende Welt, die Monnard gelungen und glaubwürdig inszeniert. Szenenbild und Ausstattung versetzen das Publikum in die 90er Jahre, die das Kamerateam um Darran Bragg gelungen einfängt. Der Film ist unterlegt mit den meist warmen Melodien von Matteo Pagamici.

Aufwühlend und grundlegend

In dieser Szenerie agieren die beiden Hauptdarstellerin Luna Mwezi als Mia und Sarah Spale als deren Mutter in beeindruckender Weise. Beide sind in jedem Moment glaubwürdig und spielen großes emotionales Kino, das sein Publikum packt und in jeder Situation mitreißt.

Monnard, der schon mit der Serie Wilder und Recycling Lily beeindruckte, ist hier ein tiefgründiger, facettenreicher und ergreifender Film gelungen, der seinen Zuschauern ein aufwühlendes Erlebnis verbunden mit grundlegenden Fragestellungen vermittelt.

Eben ist die DVD in einer für den deutschen Markt synchronisierten Fassung erschienen.

Schulmaterial

Zusammen mit der Pädagogischen Hochschule Luzern wurde ein spezielles Schulprogramm entwickelt, welches für die Sekundarstufe I und II vorgesehen ist. Mögliche Bezüge können zu den Fachbereichen „Räume, Zeiten, Gesellschaft“, „Wirtschaft, Arbeit, Haushalt“ und „Ethik, Religionen, Gemeinschaft“ des Lehrplans 21 gemacht werden. Genauere Beschreibungen zur Einbettung in den Unterricht sind in der Lehrerhandreichung zu finden.

Gekoppelt an die Filmwebseite (www.platzspitzbaby.ch), bietet das Schulmaterial einen multimedialen Zugang, um sich dem Thema zu erschließen. Originalaufnahmen der 80er und 90er Jahre, Sequenzen des Spielfilms verbunden mit Interviews mit Zeitzeugen (u.a. auch dem damaligen Stadtpräsidenten Josef Estermann) schaffen eine attraktive Plattform, die es den Jugendlichen ermöglicht, sich Fachwissen anzueignen und sensibilisiert zu werden im Umgang mit Drogen und Suchtbetroffenen. Fragen und Aufgaben zu den Filmsequenzen und Textpassagen regen die Schülerinnen und Schüler zusätzlich an, das Thema selbstständig weiterzudenken und Verbindungen zu ihrer eigenen Lebenswelt zu machen.

Das gesamte Schulmaterial ist auf https://www.platzspitzbaby.ch/de/schulmaterial/ abrufbar.

Filmographie:

Platzspitzbaby
Regie: Pierre Monnard
Darsteller: Luna Mwezi als Mia, Sarah Spale als Sandrine
Produktionsjahr: 2020/Schweiz
Genre: Drama
Filmlänge: ca. 96 Minuten
FSK: 12 Jahre

Gernot Körner




Eine moderne, preisgekrönte Fabel für Frieden und Toleranz

Helen Piers/Michael Foreman: Schlangenhals und Trampelbein

Bei den Dinosauriern ist es manchmal wie bei uns. Als Trampelbein in das Gebiet von Schlangenhals kommt, vermuten beide vom anderen nur das Schlimmste. Sie haben schreckliche Angst voreinander. Deshalb bauen sie Fallen und landen am Ende doch beide in derselben. Dabei entdecken sie, dass keiner den anderen fressen will. Schließlich sind beide Vegetarier. Und am Ende müssen sie sich gegenseitig aus der Grube helfen.

Frieden, Toleranz und Miteinander

Die beiden Bestsellerautoren Michael Foreman und Helen Piers haben eine moderne, mittlerweile preisgekrönte Fabel geschrieben. Warmherzig und humorvoll erzählen sie die Geschichte der beiden Dinosaurier, die mit fröhlichen Farben gestaltet ist.

Es ist eine klare Aufforderung, dem Fremden eine Chance zu geben und die eigenen Vorurteile beiseite zu lassen.

Die bekannt Kinder- und Jugenbuchexpertin und Rezensentin Gabriele Hoffmann stellt das Buch hier vor.

Helen Piers/Michael Foreman
Schlangenhals und Trampelbein
Hardcover, 32 Seiten
ISBN: 978-3-934333-74-1
12,95 Euro