Selbstbildung als Herausforderung und Notwendigkeit

Wer bin ich, was kann ich, was bewirke ich?

Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, hat einmal den Satz ausgesprochen: Drei Dinge sind extrem hart: Stahl, ein Diamant und sich selbst zu kennen. Gerade in der Pädagogik ist es von eminent hoher Bedeutung, sein eigenes „Ich“ möglichst realistisch zu erfassen, um Wirkungen des eigenen Verhaltens und die daraus mitbedingte, spezifische Reaktion des Gegenübers zu verstehen, weil jedwede Interaktion eine gegenseitige Beeinflussung bedeutet. Gleichzeitig sitzen elementarpädagogische Fachkräfte – und hier in besonderem Maße die Leitungskräfte – immer zwischen allen Stühlen und sind stets aufs Neue aufgefordert, berechtigte Ansprüche von innen und außen fachkompetent zu erfüllen und unberechtigte Ansprüche professionell und klar abzuwehren.

Selbstbildung ist nicht nur ein Recht der Kinder

Die Elementarpädagogik in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker – wenn auch in einer Wellenform – zu einer funktionalen und stark gesteuerten Disziplin entwickelt, in der hohe Erwartungsansprüche an Kinder gestellt wurden bzw. werden. Besonders zeigt sich dies ganz aktuell in den meisten Bildungsprogrammen, in denen festgelegt wird, was Kinder in den unterschiedlichen Bildungsbereichen alles „lernen sollen“. Dabei wird in den wenigsten Bildungsprogrammen – und hier sei vor allem das Bildungsselbstverständnis im Bildungsprogramm für Kindertageseinrichtungen in Sachsen-Anhalt sowie in der Bildungskonzeption von Mecklenburg-Vorpommern als überaus rühmliche Ausnahme im Vergleich mit den 14 anderen Bildungsprogrammen besonders hervorgehoben – die Person der elementarpädagogischen Fachkraft in den Mittelpunkt gestellt. Ist sie es doch, die den Ausgangspunkt für Qualität bildet, um dem Mittelpunkt der Pädagogik – dem Kind – entwicklungsförderlich zur Seite zu stehen. Bei einer Schwerpunktlegung auf das Bildungsverständnis einer Selbstbildung geht es nicht um eine „Veränderung von Kindern“ sondern um eine veränderte Einstellung der elementarpädagogischen Fachkräfte zum eigenen Selbstverständnis und dem von Kindern.

Alle Erziehung ist nur Handreichung zur Selbsterziehung

Eduard Spranger, 1882-1963

Bildungsprogramme beinhalten in erster Linie (in indirekter Form) Anforderungen an die Selbstbildungsmotivation der Fachkräfte

Ebenso wie Kinder nicht gebildet werden können sondern sich durch Beziehungsangebote, Bindungserlebnisse und ein impulsgebendes Umfeld selbst bilden, brauchen elementarpädagogische Fachkräfte die innere Motivation, ihre eigenen Kompetenzen kritisch zu beleuchten, inwieweit sie durch ihre Persönlichkeitsstruktur und ihre personalen Ressourcen in der Lage sind, die für eine Unterstützung der Selbstbildungskräfte der Kinder notwendigen Kompetenzen zum Ausdruck zu bringen. Dies entspricht dem Grundsatz Pestalozzis, wenn er die Grundmaxime vertritt, Erziehung sei Liebe und Vorbild, sonst nichts. Und der große, irische Dichter und weitsichtige Humanist, Oscar Wilde, war stets der festen Überzeugung, dass Persönlichkeiten und nicht Grundsätze das Zeitalter bewegen und zugleich der einzelne Mensch keine Beziehung eingehen kann, solange er nicht seine unverwechselbare Individualität für sich entdeckt.


Armin Krenz
Elementarpädagogische Grundsätze auf den Punkt gebracht
20 PowerPointPräsentationen als Grundlage für Teambesprechungen, Fortbildungsveranstaltungen, Fachberatungen
Softcover, 336 Seiten, druchgehend vierfarbig
ISBN: 978-3-96304-613-1
29,95 €
Die Power-Point-Präsentationen und Seminarunterlagen von Armin Krenz haben sich in zahllosen Vorträgen und Weiterbildungen bewährt. Sie vermitteln kurz und prägnant das Wesentliche für die pädagogische Praxis und stützen sich dabei auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse. Mit seinem Buch unterstützt er pädagogische Fachkräfte dabei, in Bereichen wie Raumgestaltung, Kindheitspädagogik oder in der Beziehung zum Kind aktuelles Wissen in die Praxis umzusetzen. Ob in der Ausbildung, als Vorbereitung auf Gespräche im Kita-Team oder zur Auffrischung des eigenen Fachwissens: Dieses Handbuch leistet in allen Bereichen unerlässliche Hilfe!


Das Ganze fordert zur selbstständigen Reflexion auf – vor allem Menschen, die mit anderen Menschen arbeiten und den Anspruch haben, durch ihr Wirken (als PERSON und mittels ihrer Arbeit) förderliche Entwicklungsprozesse beim Gegenüber auszulösen. Fremdbeobachtung wird dann zur Selbstbeobachtung, Bildungsangebote für Kinder werden dann zu Bildungsanforderungen, die die Fachkraft an sich selbst stellt, Erziehungsziele werden dann zu persönlichen Zielen umformuliert und Erwartungen/ Ansprüche an Kinder oder Eltern werden zu Qualitätsansprüchen an die eigene Person umgedeutet. Es ist durch die Bildungsforschung und Neurobiologie weithin belegt, dass alle Bildungsprozesse durch das Kind selbst angetrieben werden: den Treibstoff dafür liefert das Kind mit seiner Neugierde bzw. seinem Wunsch, die Welt zu entdecken und sich selbst zu erkunden und den Funken zur Zündung reicht ihm die Fachkraft mit ihren humanistisch orientierten, kommunikationsförderlichen Persönlichkeits- und hilfreichen Interaktionsmerkmalen.

Zwischen Lachen und Spielen werden die Seelen gesund

Arabisches Sprichwort

Ausgangspunkte für die Berechtigung der Selbstbildung

Alle Erwachsenen – so auch die elementarpädagogischen Fachkräfte – leiten ihre Vorstellungen über Kinder und ihre Entwürfe zur Pädagogik aus unbewussten Bildern sowie Erfahrungen/ Erinnerungen aus ihrer eigenen Kindheit ab und übertragen diese auch auf die ihnen anvertrauten Kinder. Bowlby, der Pionier der Bindungsforschung, vertrat die Ansicht, dass jeder Mensch dazu neigt, anderen das anzutun, was ihm selbst angetan wurde, so dass der tyrannisierende Erwachsene das tyrannisierte Kind von gestern ist. Selbstverständlich geschieht dies unterbewusst, unbeabsichtigt und gleichzeitig in der festen Überzeugung, die an den Tag gelegten Handlungen seien „gut für das Kind“. Insofern sind Maßstäbe, normativen Sichtweisen und verinnerlichten Grundsätze, die alle im Alltagsgeschehen zum Ausdruck kommen, weder per se professionell, mit Kompetenz ausgestattet oder durch Qualität gekennzeichnet. Um von einer Defizit- zu einer Ressourcenorientierung bei Kindern zu kommen, sind die folgenden fünf Kehrtwendungen notwendig:

1.) Ein radikaler Paradigmenwechsel von einer Defizit- zu einer Ressourcenorientierung (verbunden mit der Forderung, dass die Selbstbildung von Kindern nicht durch permanente, funktionalisierte und teilisolierte erzieherische Förderprogramme eingeschränkt/ abgebaut/ zerstört wird),
2.) Ein Verständnis, dass Kindheit eine eigenständige Lebensphase darstellt (und nicht als ein „unfertiges Erwachsenensein“ verstanden wird),
3.) Ein Selbstverständnis der elementarpädagogischen Fachkräfte, dass sie selbst mit ihren Ausdrucksweisen und Umgangsformen die wichtigste Bildungsmethodik darstellen und diese nicht an künstlich inszenierte Angebote delegieren.
4.) Der Begriff „Bildung“ ist als ein Prozess der „Persönlichkeitsbildung“ zu verstehen (in deutlicher Abgrenzung von einer kognitiv orientierten Belehrungsabsicht).
5.) Selbstbildungsarbeit muss sich in erster Linie auf die Fachkräfte beziehen – sie beginnt mit einer anspruchsvollen, selbsterfahrungsorientierten Ausbildung, setzt sich über die gesamte Berufstätigkeit in Form von Fort-/ und Weiterbildungen (als Pflicht) fort und wird von Trägerseite aktiv gefördert und unterstützt.

Um diese Perspektivwechsel umsetzen zu können, bedarf es einer hohen Selbstmotivation, Mut, Anstrengungsbereitschaft, Belastbarkeit und Neugierde, um Innovationen zu initiieren, zuzulassen und voranzutreiben. Diese Arbeit im Sinne einer Selbstbildung ist schwer. Neale Donald Walsch hat daher folgerichtig die Konsequenz formuliert, dass der Mensch seine größten Chancen und Gelegenheiten zum Wachstum stets nur jenseits persönlicher Bequemlichkeitsbremsen findet.

Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden

Hermann Hesse

Selbstbildung führt in einen laufenden Prozess der Identitätsentwicklung

Es geht im Selbstverständnis der Selbstbildung stets darum, Ziele, die beispielsweise für Kinder formuliert werden, zunächst zu eigenen Zielen zu erklären und dabei zu überprüfen, inwieweit die eigenen Verhaltensweisen den externen Zielen entsprechen.

Jeder Mensch besitzt ein ganz bestimmtes Selbstbild von sich und ist der festen Überzeugung, sich selbst gut zu kennen. Doch demgegenüber haben viele Wissenschaftler/innen immer wieder deutlich gemacht, dass die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu (er)kennen, eher mangelhaft bis ungenügend ausgeprägt ist. Die eigene Selbsteinschätzung entspricht häufig einer Selbstüberschätzung und Fehleinschätzung. Es erscheint notwendig, sich selbst mit Fragen auseinanderzusetzen, die dazu geeignet sind, dem „inneren Kind“ immer stärker auf die Spur zu kommen und den Prozess der Selbstbildung in Gang zu setzen bzw. zu vertiefen:

Fragestellungen, die eine Selbstbildung initiieren:

  • Welche Interessen und Motive liegen meiner Berufstätigkeit zugrunde und welchen persönlichen „Profit“ ziehe ich aus meiner Arbeit?
  • Wann/ wo/ wie habe ich mich mit meiner Sozialisation/ Biographie aktiv beschäftigt und dazu beispielsweise Selbsterfahrungsseminare besucht/ ein Individualcoaching in Anspruch genommen?
  • Wie motiviert bin ich, mich in Kollegiumsgesprächen/ Supervisionssitzungen persönlich aktiv einzubringen, um mein pädagogisches Handeln zu überprüfen/ zur Diskussion zu stellen?
  • Fällt es mir schwer oder leicht, eigene Gedanken und Gefühle öffentlich zu äußern und welche Hintergründe gab/ gibt es dafür in meiner Biographie?
  • Vereinbare ich (un)regelmäßig Ziele mit mir selbst, die ich im Hinblick auf meine weitere Persönlichkeitsentwicklung erreichen will?
  • Welche Handlungsschritte habe ich bisher unternommen, um meine Fähigkeiten/ Fertigkeiten realistisch einschätzen zu können (Selbstwahrnehmung vs. Fremdwahrnehmung) und zu welchen Handlungsschritten hat mich diese Erkenntnis geführt?
  • Welche Zielsetzungen verfolge ich grundsätzlich in meiner Arbeit und was haben meine Zielsetzungen mit meiner Biographie zu tun?
  • Welche Werte bestimmen meine Handlungen, leiten mich in meinen Handlungsausführungen und welche Werte habe ich in meiner Sozialisation erlebt?
  • Welche Normen bestimmen mein Denken/ Handeln und wie (entwicklungsförderlich – entwicklungshinderlich) wirken sie sich auf kindliche Selbstbildungsprozesse aus?
  • Besitze ich eine grundsätzlich persönlichen/ pädagogischen Optimismus oder Pessimismus und worauf führe ich diese Haltung im Hinblick auf meine Biographie zurück?
  • Welche Handlungsstrategien zeige ich in der Regel bei persönlich erlebten Verletzungen, Angriffen, Ungerechtigkeiten – woher kenne ich solche Reaktionen aus meiner Kindheit und welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für mich heute?
  • Besitze ich eine eher positive Einstellung zu einem lebenslangen Lernen oder fällt es mir schwer, mich von „alten Denk-./Handlungsstrukturen“ zu lösen?
  • Schaffe ich es, mich selbst in belastenden Situationen zu motivieren, problemlösungsorientiert zu denken/ zu handeln oder halten mich Belastungen eher in einer starren Problemfixierung fest? Wann bzw. wo/wie habe ich gelernt, problemlösungsorientiert vorzugehen?
  • Durch was bzw. wie sorge ich in der Einrichtung für eine eher positive oder negative Atmosphäre?

(Dieser Fragebogen kann mit vielen weiteren, eigenen Fragen ergänzt werden.)

Lernen ist Vorfreude auf sich selbst Peter Sloterdijk

Peter Sloterdijk

Selbstbildung führt zu einer stabilen Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz

Selbstgerechtigkeit, Selbstbefangenheit, Selbstsucht, Selbstisolierung, Selbstbeschuldigung, Selbstvernichtung, Selbsthass, Selbstvorwürfe, Selbsttäuschung oder Selbsterniedrigung führen zu einer fortschreitenden Selbstentfremdung. Hingegen trägt eine Selbstbildung dazu bei, Selbstüberwindung, Selbstfindung, Selbstbefreiung, Selbstständigkeit, Selbststeuerung, Selbstachtung, Selbstvertrauen, Selbstbejahung, Selbstheilung und Selbstbestimmung in der Person voranzubringen. Die erweiterte Transaktionsanalyse würde hier im ersten Fall von einem Kindheits- bzw. Eltern-Ich, im zweiten Fall von einem stabilen Erwachsenen-Ich sprechen. Selbstbildungsorientierte Fachkräfte besitzen eine intrinsisch orientierte Reflexionsbereitschaft zur Selbstbetrachtung, gehen mit einer großen Wahrnehmungsoffenheit auf bekannte und unbekannte Situationen zu, um aus selbst formulierten Fragen unterschiedliche Antworten abzuleiten, wollen den Auswirkungen ihrer Biographie auf ihr jetziges Verhalten auf die Spur kommen, betrachten ihre Kommunikationsstruktur und Interaktionskultur sorgsam und kritisch, überprüfen immer wieder ihre Handlungsauswirkungen, zeigen eine hohe Bereitschaft, aus eigenen Fehlern zu lernen, setzen sich mit eigenen Vorurteilen auseinander, arbeiten an ihrer Selbstmotivation, gehen mit Leistungsfreude auf schwierige Herausforderungen zu und schätzen die Möglichkeit eines lebenslangen Lernens als ein höchstes Gut ein. 

Ich fürchte, unsere allzu sorgfältige Erziehung liefert uns Zwergenobst Georg Christoph Lichtenberg, 1742-1799

Georg Christoph Lichtenberg, 1742-1799

Fazit:

Selbstbildung ist die Grundlage für eine humanistisch geprägte Pädagogik im pädagogischen Selbstverständnis von Pestalozzi, Rousseau, Rogers, Freinet sowie Korczak und gehört zum festen Bestandteil einer qualitätsgeprägten Entwicklungsarbeit an sich und einer verantwortungsvollen Entwicklungsbegleitung von Kindern. Mit einer kontinuierlichen Zunahme und Ausweitung einer funktionalisierten und von wirtschaftlichen Interessen geprägten Elementarpädagogik geriet dieser fundamentale Aspekt immer mehr ins Abseits, obgleich der Begriff selbst – vor allem durch die Ergebnisse der Bildungsforschung und Neurobiologie – im Rahmen der „Bildungsarbeit mit Kindern“ eine herausgehobene Wertigkeit zugesprochen bekam. Doch anstatt diese für sich selbst in Anspruch zu nehmen wurde sie theoretisierend und häufig dogmatisch geprägt den Kindern zugesprochen. Es ist an der Zeit, einen notwendigen Perspektivwechsel vorzunehmen, um im Sinne der Erkenntnisse aus den Feldern der Bindungsforschung sowie der Lernpsychologie einen beziehungsintensiven und kommunikationsaktiven „Lernalltag“ zur entscheidenden Grundlage einer lebendigen sowie natürlichen Elementarpädagogik werden zu lassen. Damit würde sich der Kreis schließen, um Kindern durch das eigene, positive Selbstkonzept (Ich bin…), die eigenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (Ich kann…) und ein eigenes, stabiles Selbstwertgefühl (Ich habe…) in effizienter Form zu helfen, diese drei basalen Ausgangsdaten für eine förderliche Entwicklung gleichsam auf- und auszubauen bzw. zu stabilisieren.        

Literaturempfehlungen

Bradshaw, John: Das Kind in uns. Wie finde ich zu mir selbst? Verlag Knaur MensSana, München 3. Auf. 2018
Fleisch, Sabrina: Meine Reise zu mir selbst. Finde die Antwort in dir selbst, die dir sonst niemand beantworten kann. Remote Verlage, Oakland, 5. Edition 2021
Missildine, W. Hugh: In dir lebt das Kind, das du warst. Seelische Belastungen bewältigen. Verlag Klett-Cotta, 21. Aufl. 2012
Rohr, Richard + Ebert, Andreas: Das Enneagramm. Die 9 Gesichter der Seele. Claudius Verlag, München 47. Aufl. 2013
Skiera, Ehrenhard: Reflexive Selbsterfahrung als Weg zur Seele. Übungen zur Vertiefung der Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zur Natur. Klinkhardt Verlag, München 2011
Stahl, Stefanie: Das Kind in dir muss Heimat finden. Kailash Verlag, München 2015
Tillmetz, Eva: Familienaufstellungen – sich selbst verstehen, die eigenen Wurzeln entdecken. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012

Prof. h.c. Dr. h.c. Armin Krenz, Honorarprofessor a.D.
Wissenschaftsdozent für Entwicklungspsychologie und Elementarpädagogik




Eine Pilgerreise ist eine Entwicklungsreise zu sich selbst

Ein Interview mit Brigitte Falkenhain zur ihrem Buch und ihren Erfahrungen auf dem Pilgerweg

Brigitte Falkenhain schenkte sich nach ihrer Zeit als Erzieherin und Heilpädagogin eine längere Pilgerreise auf dem Jakobsweg. Daraus ist das Buch „Auf dem Jakobsweg – Ein persönlicher Erlebnisbericht und zugleich eine Reise zu sich selbst“ entstanden. Wir haben uns dafür interessiert, welche Rolle dabei ihre Erfahrungen als pädagogische Fachkraft gespielt haben.

Sie haben sich während Ihrer Zeit im Kindergarten dafür entschieden, sich eines Tages auf den Jakobsweg zu machen. Was waren ihre Motive dafür?

Brigitte Falkenhain: Meine Pilgerreise war die Erfüllung eines lang gehegten Traumes und zugleich ein persönliches Geschenk an mich.  Damit läutete ich für mich ein neues, überaus spannendes Lebenskapitel ein. Mit einem zuvor absolvierten Spanisch-Kurs an der Volkshochschule war ich bereit, neue, mir völlig unbekannte Wege zu gehen, bisher verschlossene Türen zu öffnen und in unbekannte Welten einzutauchen.

Ich wollte mich erleben: ohne einen festgelegten geregelten / geplanten Tagesablauf, wollte mich treiben lassen und von unbekannten äußeren und inneren Wegen leiten lassen. Darauf freute ich mich. Ja, und auch einmal zu erleben, wie ich alleine, in der für mich noch unbekannten Welt so ticke; das machte mich sehr neugierig auf mich selbst.

Welche Rolle hat dabei Ihre Tätigkeit als Erzieherin gespielt?

Für Kinder Bündnispartnerin, Entwicklungsbegleiterin und auch so manches Mal Anwältin zu sein, macht den pädagogischen Beruf zur Berufung, behaftet mit Pflichten, die verpflichten. Diese gilt es mit Professionalität und Emphatie jeden Tag auf’s Neue zu leisten. Der Beruf fordert, gibt aber auch unglaublich viel, doch dabei darf man sich selbst nicht aus den Augen verlieren, um nicht zu einem ‚hilflosen Helfer’ zu werden, in Routinen zu verharren oder irgendwann einmal kraft- und motivationslos im ‚Außen’ dahinzuleben. Eine Selbstbeobachtung des eigenen Gesundheits- und Seelenzustandes ist notwendig: nicht immer habe ich diese im Auge behalten. So manches Mal stand die Pflicht, also die Arbeit im Vordergrund und ich habe mich übersehen. Mein Leitsatz: „Du kannst nur jemanden lieben, wenn du dich selbst liebst“ hat mich begleitet und mich des Öfteren wieder auf den für mich richtigen und damit stimmigen Lebenspfad geführt.

Nach meinem langjährigen beruflichen Weg als Erzieherin, Heilpädagogin und Leiterin einer Kindertagesstätte schenkte ich mir eben den Weg mit mir in Form einer Pilgerreise.

Sie haben auf der Reise nicht nur viel gesehen, sondern auch viel über sich erfahren. Was waren für Sie die wesentlichen Erkenntnisse der Reise?

Als bedeutendstes Erkenntnis- und Erfahrungsbündel kann ich Folgendes beschreiben: Mit freudvoller, spannungsgeladener, ungebändigter Abenteuerlust, kaum zu bremsender Neugier und gleichzeitig tiefer Zuversicht habe ich mich auf den Jakobsweg begeben, und dies mit einem anfangs unglaublich schweren Pilgerrucksack. Recht bald schaffte ich es, mein Gepäck auf ein Minimum zu reduzieren, äußerlich anscheinend Überflüssiges loszulassen, Ballast sprichwörtlich abzuwerfen, um eine bessere Beweglichkeit zu spüren. Es war ein Gefühl der Freiheit und Freude zu erfahren, wie wenig es braucht, um gelassen und zufrieden zu leben, indem man sich selbst auf das Wesentliche konzentriert. Und ich erlebte auf meiner Pilgerreise eine ganz besondere Zeit mit mir. Sie war von unglaublicher Vielfalt mit einem kulturellen, spirituellen und legendären Zauber überzogen: Stunde für Stunde, Tag für Tag. Über die vielen gegangenen Kilometer habe ich durch äußere Wahrnehmungen und innere Auseinandersetzungen, reflexive Gedanken und innere Klärungen eine zunehmende Stimmigkeit in mir erfahren, die mich stetig ein Stück näher zu mir selbst geführt hat. Die äußere Fußreise setzte sich immer wieder aufs Neue in meinem Inneren fort und verhalf mir zu einer nach innen gerichteten Beobachtung, die im aktiven Berufsleben zu kurz gekommen ist. Unzählige Fügungen haben mir emotionalen Reichtum geschenkt. So manches Mal suchte ich Gründe, warum etwas so gelaufen ist, ob es ein Zufall oder eine Fügung war und endete damit stets bei mir, verbunden mit philosophischen und auch religiösen Gedankengängen.


Von den Pyrenäen zum Atlantik

Als Einleitung zu ihrem neuen Lebensabschnitt nach ihrer Zeit als Erzieherin und Heilpädagogin wählt Brigitte Falkenhain eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg. Aus dieser nimmt sie ihre Leser mit und lässt si an ihren Erlebnissen auch mit zahlreichen Bildern teilhaben. Startpunkt ist das am Fuße der Pyrenäen gelegene französische Städtchen Saint-Jean-Pied-de-Port. Der Weg führt sie westwärts durch Nordspanien auf dem Camino Francés zum Wallfahrtsort Santiago de Compostela und weiter bis an den Atlantik zum Fischerdorf Fisterra.

Brigitte Falkenhain
Auf dem Jakobsweg – Ein persönlicher Erlebnisbericht und zugleich eine Reise zu sich selbst
Ölsner Verlag
Hardcover, 320 Seiten, viele Fotos
ISBN 978-3-9823790-4-3
www.oelsner-verlag.de
24,90


Die Pilgerreise auf dem Jakobsweg hat mein Leben verändert, wie ich es im Vorwege nicht für möglich gehalten hätte. Für mich ist es ein Bündel einzigartiger Erlebnisse und ein einzigartiger Weg, der voller Geheimnisse und vielfältiger Überraschungen steckt. Das gewonnene Alleinsein und die Einfachheit haben mich unterstützt, den Jakobsweg besinnlich abschließen zu können und ihn zugleich feinfühlig in meinem neuen Lebensabschnitt fortzusetzen. Ich gehe ihn gefühlt mit Sorgfalt und Achtsamkeit weiter. Das chinesische Sprichwort „Auch der weiteste Weg beginnt mit einem ersten Schritt“ macht auf eine oft vergessene Selbstverständlichkeit aufmerksam und zugleich immer wieder nachdenklich. Den einen Fuß von der Erde lösen und sich trauen, neue Orte zu suchen, unbekannte Türen zu entdecken und mutig zu öffnen, in unbekannte Welten einzutauchen, loszugehen und das Neue aufmerksam und sensibel als Türöffner für „Ent-Wicklungen“ zu begrüßen: das sorgt für einen mit Nichts auf der Welt zu bezahlbaren Schatz. Jeder Schritt ist ein Abenteuer auf einem Weg, gleich wo er vollzogen wird. So kann man seine Pilgerreise auch gut etappenweise gehen. Sie als eine mögliche Auszeit von zwei oder drei Wochen wahrnehmen, vielleicht einmal jährlich. Beim Pilgern gibt es keine Regeln. Die Entscheidung, ihn zu gehen, trifft am Ende jeder für sich selbst.

Nur wenn wir uns selbst kennen, können wir Kinder in ihrer Entwicklung unterstützen. Welche Rolle spielt die Selbsterkenntnis auf einer solchen Reise?

Die Selbsterkenntnis ist für mich ein überaus wichtiger Bestandteil in meinem Leben, das eigene Sein zu verstehen, den Sinn meines Lebens zu finden und mit gleicher Intensität die gefundenen Erkenntnisse auf den Beruf zu übertragen, um aus der eigenen Entwicklungsbegleitung eine authentische und hilfreiche Entwicklungsbegleiterin für Kinder sein zu können.  Die regelmäßige Teilnahme an Seminaren zur Selbsterfahrung hat mich für diese Bereitschaft und Sichtweise geöffnet und dabei sehr unterstützt. So gaben mir die Seminare Gelegenheit, aktuelle und wiederkehrende Themen und Fragestellungen meiner eigenen Entwicklung und Lebensgestaltung zur Sprache zu bringen und in einer achtsamen, wenn auch nicht immer leichten Weise zu klären. Ein Selbsterfahrungsseminar ist für mich ebenso bedeutsam wie eine Pilgerreise; sie haben Vieles gemeinsam und sind dennoch mit sehr unterschiedlichen Merkmalen ausgestattet.

Würden Sie die Reise auch ihren Kolleginnen empfehlen?

Ich kann nicht nur allen pädagogischen Fachkräften sondern jedem empfehlen, sich auf einen solchen Entwicklungsweg zu machen.
Eine Auszeit, gleich welcher Form, würde ich heute auch schon früher für mich in Erwägung ziehen, denn Dinge aufschieben, heißt oft, man findet Ausreden, halbherzige Begründungen, lässt sich von fantasierten Ängsten leiten, von Bequemlichkeiten abholen und tut sie nie.
Folgende Impulse kann ich heute allen entwicklungsmotivierten Kolleg:innen dazu mit auf den Weg geben:
– Jeder kann den eigenen Wunsch verspüren, auf alles, was einen umgibt, neugierig zu sein. 
– Indem sich stets jeder selbst sein bester Freund ist, kann er sein persönliches Wachsen fördern, seine eigene Grenzen hinterfragen und mutig überschreiten. Dabei die eigene Lebensgeschichte einzubeziehen, bringt immer wieder auf’s Neue spannende Herausforderungen für sich selbst sowie in den Alltag, lässt Verkrustungen aufweichen und eine neue Lebendigkeit in sich selbst und in Beziehungen spüren.
– Im Konjunktiv stehende Worte wie „sollte, hätte, könnte, würde“ aus dem eigenen Wortschatz streichen. Diese „be-wegen“ nichts und lassen mögliche Entwicklungen mit der Zeit absterben. Stattdessen ein klares „Auf geht’s!“ bevorzugen.
Jeder darf sich etwas wagen. Ist das Wagnis gelungen, entwickelt es die Freude und den Wunsch auf ein nächstes Abenteuer.

Mit dieser Einstellung wirkt man selbst entwicklungsförderlich in Bezug auf Kinder. So ist dieses Verhalten ansteckend und entwickelt ein unglaubliches Band zwischen Kindern und Erzieher:innen. Ungeahnte Potenziale entfalten sich und bringen ein neugierig machendes Umfeld mit sich. Es entsteht eine lebendige und lebensfrohe Pädagogik, die Kinder brauchen. Und eine solche Pädagogik wird heutzutage in dieser funktional gestalteten, primär kognitiv ausgerichteten, lernzielgeleiteten Pädagogik immer mehr zur Ausnahme, was sehr bedauerlich ist. Es muss ein ‚innerer Ruck’ durch die Pädagog:innen gehen, um äußerlich an hinderlichen Merkmalen zu rücken: und dabei ist eine Pilgerreise mehr als hilfreich.   

Was sind ihre nächsten Ziele?

Die wunderbare Erfahrung des Gehens auf kürzeren und längeren (Pilger)Wegen werde ich so oft wie möglich beibehalten. Auch das Schreiben werde ich in mein weiteres Leben mit Begeisterung integrieren. Gern werde ich mein Buch auf Lesungen vorstellen, von meinen persönlichen Pilgererlebnissen erzählen und auf Fragen dazu antworten. Ich möchte mit meinen tief verwurzelten Erfahrungen Menschen ansprechen und anregen, selber neue Entwicklungswege zu gehen und sich als Mitgestalter:in der Welt, in der wir leben, zu erleben.

Ich hoffe, dass ich viele Menschen dazu inspirieren kann, sich selbst auf die faszinierenden Spuren des Jakobsweges zu begeben. Ich möchte die Sehnsucht wecken, sich im Allgemeinen auf den inneren Weg zu machen und im Besonderen auf den Jakobsweg im Äußeren aufzubrechen.

Dazu wünsche ich „Buen Camino“

Das Interview führte Gernot Körner