Arme Kinder starten mit Nachteilen – reiche erben Erfolg und ein langes Leben

Neue Langzeitstudie zeigt: Wohlstand schafft Vorteile durch Selbstkontrolle, Wohlbefinden, Netzwerke – und wirkt bis in Gesundheit und Lebenserwartung hinein

Bundeskanzler Friedrich Merz forderte jüngst im Bundestag einen „neuen Konsens der Gerechtigkeit“. Es gehe, so Merz, „um nichts weniger als um Gerechtigkeit“ – und darum, was dieser Begriff in unserer Zeit bedeutet. Diese politische Forderung trifft auf aktuelle Forschung, die deutlich macht, wie stark Herkunft, Wohlstand und Netzwerke das Leben von Kindern und Jugendlichen prägen – von der Karriere bis hin zur Gesundheit und Lebenserwartung.

Das Märchen von der Leistungsgesellschaft

Die Ergebnisse einer neuen Untersuchung der Concordia University in Montreal stellen die Frage neu, ob in modernen Gesellschaften tatsächlich Leistung, Fleiß und Talent über Erfolg entscheiden – oder doch eher der Geldbeutel und die Kontakte der Eltern.

Die Forschenden haben Daten der British Cohort Study ausgewertet, einer Langzeiterhebung mit knapp 6.800 Kindern. Sie alle wurden 1970 geboren und bis ins Erwachsenenalter begleitet. Ergebnis: Kinder aus wohlhabenden Familien haben wesentlich bessere Chancen, schon mit Mitte zwanzig eine Führungsposition einzunehmen.

„Wohlstand bedeutet die Möglichkeit zu haben, Hobbys nachzugehen, zu reisen und eine gute Schule zu besuchen“, erklärt Studienautor Steve Granger. „Diese Möglichkeiten helfen, soziales Kapital aufzubauen – also Ressourcen und Chancen, die wir durch unsere Netzwerke erwerben.“

Vermögen wirkt – Geld öffnet Türen

Vermögen wirkt gleich mehrfach: Es sorgt für materielle Sicherheit, ermöglicht Zugang zu guter Bildung und eröffnet Erfahrungen, die wiederum Kontakte nach sich ziehen. Auch wenn die Studie Selbstkontrolle und psychisches Wohlbefinden als Vermittler herausstellt, spielt die finanzielle Ausgangslage eine kaum zu unterschätzende Rolle.

„Frühe Widrigkeiten – sei es eine dysfunktionale Familie, berufliche Unsicherheit, ständige Umzüge oder wirtschaftliche Belastungen – können Kindern wichtige Ressourcen vorenthalten“, so Granger. „Diese Erfahrungen behindern ihre Entwicklung und wirken bis ins Erwachsenenalter hinein.“

Netzwerke als Karriere-Sprungbrett

Neben dem Geld sind es die Netzwerke der Eltern, die entscheidend sind. In den Befragungen berichteten Jugendliche schon mit 16 Jahren, ob sie jemals durch familiäre Beziehungen an einen Arbeitsplatz gekommen waren. Die Daten zeigen: Wer gut vernetzte Eltern hat, profitiert oft direkt beim Einstieg in den Arbeitsmarkt.

Das widerspricht der liberalen Erzählung, dass jede und jeder „seines Glückes Schmied“ sei. Zwar spielen Talent und Anstrengung eine Rolle – doch der Zugang zu Gelegenheiten, Praktika oder ersten Jobs ist ungleich verteilt.

Gesundheit und Lebenserwartung – ein doppelter Vorteil

Die ungleichen Startbedingungen wirken sich nicht nur auf Karrierewege aus, sondern auch auf Gesundheit und Lebenszeit. Wer in einer wohlhabenden Familie aufwächst, hat besseren Zugang zu medizinischer Versorgung, gesunder Ernährung und sicheren Wohnumfeldern. Zahlreiche Studien zeigen, dass die Lebenserwartung zwischen einkommensstarken und einkommensschwachen Gruppen in westlichen Gesellschaften oft um zehn Jahre oder mehr auseinanderliegt.

Reichtum verschafft also nicht nur bessere Chancen auf Bildung und Karriere, sondern auch höhere Chancen auf ein langes und gesundes Leben. Wenn also derzeit so viele Reiche und Prominente ihren 90. oder gar 100. Geburtstag feiern, ist das kein Zufall, sondern schlicht das Ergebnis einer besseren medizinischen Versorgung. Damit stellt sich die Frage nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit noch grundlegender: Wenn Herkunft über beruflichen Erfolg, Gesundheit und Lebensdauer entscheidet, kann von gleichen Chancen kaum die Rede sein.

Gesellschaftliche Gerechtigkeit auf dem Prüfstand

Die Befunde werfen Fragen nach Gleichheit der Chancen auf. Wenn Vermögen und soziale Netzwerke schon früh Weichen stellen, wird die Idee eines fairen Wettbewerbs fragwürdig. Kinder aus benachteiligten Familien müssen oft doppelt so hart arbeiten, ohne vergleichbare Chancen auf Förderung oder Protektion.

Gleichzeitig zeigt die Studie: Interventionen sind möglich. Selbstkontrolle und psychisches Wohlbefinden lassen sich durch stabile Umfelder, schulische Unterstützung und außerschulische Aktivitäten fördern. Die Forschenden regen an, diese Ressourcen gezielt zu stärken und zugleich Unternehmen stärker in die Verantwortung zu nehmen, Talente auch jenseits privilegierter Herkunft zu fördern.

„Sozialneid“ – ein Kampfbegriff gegen Gerechtigkeit

In gesellschaftlichen Debatten wird die Forderung nach gleichen Chancen häufig mit dem Schlagwort „Sozialneid“ abgetan. Doch diese Vokabel ist weniger eine sachliche Diagnose als eine rhetorische Abwehrstrategie: Sie verunglimpft berechtigte Anliegen nach fairen Startbedingungen als Neidreaktion.

Wer aber nüchtern auf die Daten blickt, erkennt: Es geht nicht um Neid, sondern um fundamentale Fragen der Gerechtigkeit. Kinder aus armen Familien leben kürzer, sind häufiger krank und haben geringere Chancen auf Bildung und beruflichen Aufstieg. Das zu kritisieren, bedeutet nicht Neid – sondern den Anspruch auf eine Gesellschaft, in der Herkunft nicht über Lebenschancen entscheidet.

Schlussfolgerung für die Politik

Für die Politik bedeutet dies: Ein „neuer Konsens der Gerechtigkeit“, wie ihn Bundeskanzler Merz einfordert, muss zwar auch über Steuerfragen oder Bildungspolitik geführt werden. Er muss zudem die tiefgreifenden Zusammenhänge zwischen Herkunft, Gesundheit und Lebenschancen berücksichtigen. Wenn die Bundesregierung den Anspruch auf mehr Gerechtigkeit ernst nimmt und nicht nur leere Worthülsen von sich geben will, muss sie Strukturen schaffen, die allen Kindern unabhängig vom Elternhaus faire Chancen ermöglichen – auf gute Bildung, stabile Gesundheit und eine Zukunft, in der Leistung nicht länger hinter Vermögen und Beziehungen zurückstehen muss.

Mag dies alles auch längst bekannt sein, steckt doch der Hauptgrund für die Radikalsierung vieler demokratischer Gesellschaften darin. Eine wirkliche faire soziale Gerechtigkeit böte deshalb viele Chancen auf ein friedliches Leben für alle in Wohlstand. Eine glückliche Kindheit, mehr Motivation und damit bessere Leistungen zählen dazu.

Zur Studie: Early family socioeconomic status and later leadership role occupancy (Journal of Organizational Behavior, 2023): https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/job.2730

Gernot Körner




Wie Erbe Wohneigentum bestimmt: Ungleichheit in Stein und Beton

Wie die große Ungleichheit beim Wohneigentum mit familiärem Wohlstand, Miet- und Hypothekenmarkt zusammenhängt

Wohnen ist Menschenrecht, das hält der UN-Sozialpakt in Artikel 11 unmissverständlich fest. Doch wie man wohnt, unterscheidet sich sehr. Nicht nur geben die Menschen in Europa mehr fürs Wohnen aus als für die meisten anderen Grundbedürfnisse: Am Wohnen hängen auch psychologische Aspekte wie Sicherheitsgefühl, soziale Aspekte wie Prestige und Familienplanung, und wirtschaftliche Aspekte wie Wohlstand, Vermögensbildung und Altersabsicherung.

Wohneigentum ist Vermögen

Den spürbarsten Unterschied macht in diesen Hinsichten die Frage, ob man zur Miete wohnt oder Eigentümer:in ist. Ein Haus oder eine Wohnung zu besitzen, gilt – der Immobilien- und folgenden weltweiten Finanzkrise nach 2007 zum Trotz – weiterhin als der sicherste Weg zur Vermögensbildung. Ob ein Haushalt sich das leisten kann, dafür spielt sein Einkommen allein nicht die einzige Rolle: Genauso wichtig oder wichtiger kann die Struktur des Immobilienmarkts im jeweiligen Land sein, und wie schwierig es ist, an einen Kredit oder eine Hypothek zu kommen. Und schließlich ist beim Erwerb von Wohneigentum natürlich Startkapital sehr wichtig. Die meisten Menschen, die Wohnraum erwerben, erhalten ihr Startkapital von den Eltern, in Form von Geschenken oder Erbe.

Or Cohen Raviv, die sich schon seit Jahren mit soziologischen Fragestellungen rund um das Wohnen beschäftigt, sagt: „Die Übertragung von Vermögen von Eltern auf ihre Kinder ist eine der Hauptursachen sozioökonomischer Ungleichheit in Europa. Und ihre offensichtlichste Auswirkung ist die ungleiche Verteilung von Wohneigentum: Wer erbt – oder von den Eltern finanziell dabei unterstützt wird –, ist hier ganz klar im Vorteil. Ein Riesenproblem für eine Politik, die Ungleichheit entgegenwirken will! Und ein Riesenproblem für die jungen Erwachsenen dieser Generation, die in vielen Ländern Europas weitaus mehr von Inflation, steigenden Wohnkosten, Arbeitslosigkeit und anderen Unsicherheiten bedroht sind als ihre Eltern. Deshalb wollten wir wissen, wie diese Ungleichheit mit anderen Rahmenbedingungen interagiert, besonders mit dem Mietmarkt und der Verfügbarkeit günstiger Kredite oder Hypotheken.“

Elternkapital bestimmt Wohneigentum

Gemeinsam mit Thomas Hinz, Wirtschaftssoziologe und Spezialist für quantitative Sozialforschung, untersuchte Or Cohen Raviv einen Datensatz aus drei Erhebungszyklen zu Haushaltsfinanzen und Konsumverhalten der Europäischen Zentralbank – jeweils knapp 70.000 bis über 80.000 Haushalte aus 20 europäischen Ländern. Ihr erster Befund: Wohneigentum ist bei jungen Erwachsenen in Südeuropa und in Ostmitteleuropa viel gleichmäßiger verteilt als in West- und Mitteleuropa.

„Das obere Fünftel der jungen Erwachsenen, was das Vermögen der Eltern angeht, hat in Ländern wie Deutschland, Österreich oder Irland viel höhere Chancen, sein Haus oder seine Wohnung selbst zu besitzen“, erklärt Thomas Hinz. „Verglichen mit dem untersten Fünftel ist die Chance in Deutschland etwa 30 Prozent höher, in Österreich sogar rund 50 Prozent. Beim Eigentum mit Hypothekenlast liegt die Ungleichheit in Deutschland mit 36 Prozent Unterschied zwischen oberstem und unterstem Fünftel sogar noch höher.“ Gerade in Deutschland mit seinem großen und gesetzlich regulierten Mietmarkt wohnten diejenigen, die von den Eltern kein größeres Startkapital vorgeschossen bekommen, daher zwangsläufig viel öfter zur Miete.

Flexible Kreditmärkte begünstigen Ungleichheit beim Wohnen

Beim genaueren Blick in die Ursachen nahmen Cohen Raviv und Hinz besonders diesen Mietmarkt und die Verfügbarkeit von Hypotheken in den Blick. Ihre Hypothese war, dass flexible und offene Kreditmärkte auch denjenigen Wohneigentum ermöglichen müssten, die auf finanzielle Unterstützung durch Eltern oder Erbe verzichten müssen. Tatsächlich aber mussten sie feststellen, dass leichterer Zugang zu Krediten und Hypotheken im Gegenteil diejenigen begünstigte, die besonders viel Wohlstand aus der Elterngeneration übernommen hatten.

„Wir haben dafür zwei Erklärungen“, führt Or Cohen Raviv aus. „Erstens sind Immobilien in Ländern mit liberalem Kreditmarkt tendenziell teurer, junge Erwachsene brauchen also immer noch Vermögen, um Wohneigentum zu erwerben. Zweitens versetzen leicht verfügbare Hypotheken sie in die Lage, von den Eltern geschenktes oder geerbtes Geld in Immobilien anzulegen: Wohneigentum als Vermögensanlage.“

Ungleichheit beim Wohnen über Generationen

Besonders in West- und Mitteleuropa führte das zur Konzentration von Wohneigentum in den Händen von Familien, in denen Vermögen von Generation zu Generation weitergegeben wird. Thomas Hinz erklärt: „Wir beobachten, dass die jungen Erwachsenen mit mehr Startkapital tendenziell besonders dort investieren, wo die Immobilienpreise hoch sind oder besonders viel Investitionen nötig sind – Stichwort Gentrifizierung. Dort steigen aber auch die Preise besonders schnell, so dass sich die Investition schneller auszahlt. Wohngegenden der Reichen grenzen sich so zunehmend von denen der Armen ab. Und sozioökonomische Ungleichheit wird über Generationen festgeschrieben – in Stein und Beton.“

Faktenübersicht:

• Neue Publikation:
Thomas Hinz, Or Cohen Raviv (2022): Intergenerational Wealth Transmission and Homeownership in Europe: A Comparative Perspective. PLOS One.
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0274647
• Datengrundlage:
Daten des Household Finance and Consumption Survey (HFCS) der Europäischen Zentralbank. 20 Europäische Länder, drei Wellen: 2010 (68.627 untersuchte Haushalte), 2013–14 (84.829 Haushalte) und 2017 (84.611 Haushalte).

Originalpublikation:

Thomas Hinz, Or Cohen Raviv (2022): Intergenerational Wealth Transmission and Homeownership in Europe: A Comparative Perspective. PLOS One.
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0274647

Helena Dietz Stabsstelle Kommunikation und Marketing, Universität Konstanz