Das Erziehungs- und Bildungsverständnis in der Waldorfpädagogik

Die Eigenaktivität des Kindes – ein biopsychosoziales Grundbedürfnis

Der Entwicklungsneurologe Hans Georg Schlack bezeichnet die Eigenaktivität, die jedem Kind eigen ist, als spontane Freude am Erkunden, Lernen und Handeln. Jedes Kind will Akteur seiner Entwicklung sein. Seinem biopsychosozialen Grundbedürfnis hat pädagogisches Handeln zu entsprechen. Befunden der frühkindlichen Deprivationsforschung zufolge „lassen sich vier psychische Grundbedürfnisse in der frühen Kindheit formulieren, von denen jeweils zwei in einer polaren (gegensätzlichen) Beziehung zueinanderstehen:

Grundbedürfnis nach

Bindung und Sicherheit <–> Autonomie und Eigenaktivität

Berechenbarkeit und festen Regeln <–> Abwechslung und neue Reize

Aktives Erkundungs- und Lernverhalten setzt eine ,sichere Basis’ voraus, und umgekehrt werden diese Aktivitäten blockiert, solange die Aktivitäten und Energien des Kindes dafür in Anspruch genommen werden, sich der Bindung versichern zu müssen“ (Schlack 2005, S. 42).

Auf die kindliche Eigenaktivität wirken positiv emotionales Interesse, unmittelbare und regelmäßige Rückmeldung sowie responsives Verhalten der Erzieherin. Responsivität überlässt dem Kind die Initiative zur Kontaktnahme mit Menschen und Gegenständen, reagiert bestätigend auf initiatives Verhalten, falls erforderlich auch korrigierend. Negativ wirkt auf die Entwicklung des Kindes ein Verhalten der Beziehungsperson, das ein Kind in eine passive Rolle bringt, sei es aus Mangel oder Übermaß an Anregung.

Die Befunde weisen nachdrücklich auf die fundamentale Bedeutung der Eigenaktivität bei Kindern mit biologischen Risiken (Frühgeborene), bei blinden, schwerhörigen, kognitiv beeinträchtigten oder bewegungsgestörten Kindern hin. Es handelt sich bei der Selbstentwicklung aus eigener Initiativkraft um ein Prinzip, das für alle Kinder zutrifft und dem die Erzieherin durch ihr Vorbild wie in einem Resonanzraum zu entsprechen sich bemüht (Näheres im Beitrag „Dem Resonanzbedürfnis des Kindes antworten“- ab 5.05.22 online).

Aus den entwicklungsneurologischen Erkenntnissen geht auch hervor, dass so genannte neue Krankheiten ursächlich damit zusammenhängen, dass Kinder nicht eigenmotiviert explorieren (untersuchen, forschen) konnten. Wird ihnen Lernfreude vorenthalten, dann können sie kein sicheres Selbstwertgefühl aufbauen. Schließlich verlieren sie die Lust am freien Spielgestalten und gewöhnen sich daran den passiven Konsum zu genießen. Auf diese Störung der Willenskraft (zur Selbstgestaltung) gehen zahlreiche Verhaltens-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen zurück.


In diesem Buch bringt Ferdinand Klein Rudolf Steiners Gedanken über die Erziehungs- und Bildungspraxis ins Gespräch. Dabei geht es auch um Humanisierung und die Entschulung der Schulen und Kindergärten, um grundlegende Orientierung am sich entwickelnden Kinder in der Lebenswirklichkeit hier und heute. Denn alles Forschen, Lehren, Erziehen und Bilden dient einer Aufgabe: Das (auf)gegebene individuelle Kind auf seinem Entwicklungsweg mit Herz und Tatkraft zu begleiten und zu leiten.

Waldorfpädagogik in Krippe und Kita
Einblick in eine ganzheitliche Praxis, die jedem Kind seinen individuellen Lebensweg ermöglicht
Klein, Ferdinand
BurckhardtHaus
ISBN: 9783963046100
208 Seiten, 25 Euro
Empfohlen vom Internationalen Archiv für Heilpädagogik

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Anerkennung des Ich als geistigen Wesenskern

Waldorfpädagogik versteht das Kind als Subjekt seines individuellen Erziehungs- und Bildungsprozesses, das auf seinem Entwicklungsweg achtsam so zu unterstützen und zu begleiten ist, dass sich seine veranlagten Potenziale in einem ausgewogenen Verhältnis frei entfalten können. Auf diesem Weg bedarf es einer Haltung und Handlung der Erzieherin, die das Kind in seiner unverfügbaren Individualität als Subjekt so wertschätzt, dass es sich mit seinen Sinnen in Freiheit entfalten kann und seine spätere Lebensgestaltungskompetenzen im Blick hat – und nicht die zu messenden Leistungen.

Am Ur-Bedürfnis des Kindes orientieren

Gegen curriculares Festschreiben verwertbarer Kompetenzen steht ein am Menschen orientiertes Verständnis, das danach fragt, was im Menschenkind veranlagt ist und sich in ihm entwickeln will, damit es seelisch gesund, sich wohl fühlt, resilient und selbstwirksam seine Ich-Stärke, Kreativität, Lebens- und Lernfreude, sein Interesse und seine Herzensbildung zusammen mit andern entwickeln kann. Bei diesem offenen und ganzheitlichen Bildungsauftrag für die frühe Kindheit fragt die Erzieherin: Wie unterstütze und begleite ich die Kinder so, dass sie sich in ihrem Körper und in der Gruppe so zu Hause fühlen und beheimaten können, dass sie ihr individuelles Entwicklungsbedürfnis und ihre Potenziale voll und ganz frei verwirklichen können?

Die Waldorferzieherin achtet darauf, dass jedes Kind mit der Geburt zwei Ur-Erfahrungen mitbringt: Beziehungswillen (Willen zur Verbundenheit und Beziehung) und Gestaltungswillen (Willen zum Gestalten und Wachsen). Sie hat einen Beziehungsraum zu schaffen, in dem sich die Potenziale entfalten können. Um dieser herausfordernden Aufgabe soweit wie möglich zu entsprechen, hat die Erzieherin auf sich selbst zu schauen und sich zu fragen: Wer bin ich und wie muss ich sein, damit sich das Kind in der von mir gestalteten Umgebung selbst erziehen kann?

Die Antwort kann durch vertiefte Selbstreflexion gefunden werden: durch das Gespräch mit sich selbst, über das unter drei weiteren Fragen nachzudenken ist:

  • Bin ich offen für die geistige Heimat, aus der das Kind kommt?
  • Bin ich dialogfähig und wie gestalte ich die Beziehungsangebote?
  • Bin ich in meinem eigenen Leib zu Hause und kann ich dem Kind ein Vorbild sein, an dem es sich selbst erzieht? (Glöckler/Grah-Wittich 2020, S. 31)

Mit dieser Fragehaltung antwortet die Erzieherin dem Beziehungswillen des Kindes: Sie ist bemüht, seinem Grundbedürfnis zu entsprechen und schenkt ihm Geborgenheit, Wärme und Vertrauen. Damit antwortet sie dem Gestaltungswillen des Kindes und ermöglicht ihm Freiheit, Autonomie und Kreativität. Auf dieser Basis

  • Willen zur Verbundenheit und Beziehung und
  • Willen zum Gestalten und Wachsen

entfaltet das Kind sein Denken, Fühlen und Wollen. Ziel der Erziehungs- und Bildungsarbeit ist es also, dass Kinder einerseits zu selbstbestimmten, andererseits zu beziehungsfähigen Menschen heranreifen. Stets geht es darum, dem Kind eine sichere Bindung und freies Erkunden zu ermöglichen, bei dem die Erzieherin wie ein Reflektor (Spiegel) für das Kind ist, damit es selbstwirksam tätig sein kann, seine Potenziale selbstbestimmt, also frei, autonom und kreativ, beziehungsfähig und vertrauensvoll entfalten kann. Die Erzieherin gibt durch ihr Dasein, durch ihre authentische und wertschätzende Haltung dem Kind eine Hülle für die Entfaltung seiner Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens, die in einem fortwährenden lebenserfüllten Wandlungsprozess sind. Das kann die Erzieherin auf ihre ganz persönliche Art (er)spüren und das Kind auf der Basis des Vertrauens begleiten und sich fragen: Was braucht gerade in diesem Moment dieses Kind von mir?

Dieser zu gestaltende Beziehungsraum achtet Kontinuität (Ausdauer, Beharrlichkeit) und Konstanz (Beständigkeit), die das Kind als haltend und schützend wahrnimmt. Zudem ist dieser Raum zu strukturieren. So kann durch die geschaffenen äußeren Strukturen das Kind diese verinnerlichen und auf einer sicheren Beziehungsbasis seine Welt erfahren. Um diesen Prozess verstehen zu können und Beziehungen förderlich zu gestalten und Räume zu strukturieren, braucht die Erzieherin ein intersubjektives Reflektieren und Verstehen. Sie braucht ein feines Gespür dafür wie sie dem Kind im Beziehungsraum (Resonanzraum) eine Hülle für seine Selbstwirksamkeit gibt.

Das Kind will mit allen Sinnen seine Welt erkunden

Beim Spazierengehen kommt ein Kind zu einer Eiche, sieht sie im Sonnenlicht stehen und entdeckt, dass sie einen Schatten auf den Boden wirft. Es umrundet den Baum und nimmt wahr, dass hinter der Eiche alles anders ist als vor der Eiche. Es fängt an die Eicheln zu sammeln: lauter kleine Eicheln. Nach einer Weile kommt es wieder um den Baum herum und beobachtet eine der Eicheln genauer. Gleich setzt es sich auf den Boden, steht bald wieder auf und läuft nochmals um den Baum herum. Durch diese Sinnesaktivitäten formt es sein Selbstbild an der Welt. „Indem es an bestimmten Stellen gründlich in die Tiefe geht, kann es die nötigen Wahrnehmungen machen, um in der Weltbegegnung Sicherheit zu gewinnen“ (Glöckler/Grah-Wittich 2020, S.123). In dieser Weltbegegnung (Anfassen der Eichel, Umrunden des Eichenbaumes, Einnehmen unterschiedlicher Standpunkte) begreift es, was eine Eichel und eine Eiche sind.

Bei dieser Begegnung mit der Natur und Kultur beobachtet das Kind seine es umgebende Welt, bildet dabei seine Denkfähigkeit weiter und gewinnt Sicherheit. Bei einem anderen bestimmten Baum, zum Beispiel bei einer Birke, macht es ähnliche Erfahrungen und erweitert dadurch seine individuelle Denkkraft. Es baut sich in der Einheit von Bewegen (Gehen), Sprechen und Begreifen seine Brücke zur Welt auf.

Diese Verbundenheit mit der Natur und Kultur hat auch Janusz Korczaks partizipative Pädagogik im Sinn. Für ihn kennt das Empfinden des Kindes keine Hierarchie: Es „leidet mit einem gequälten Pferd, mit einem geschlachteten Huhn. Der Hund und der Vogel sind ihm verwandt, Schmetterling und Blumen sind ihm ebenbürtig, im Steinchen und in der Muschel findet es seinen Bruder“ (Korczak 1999, S. 389).

Die Erzieherin kann sich fragen: Bin ich fähig, dieses Bedürfnis des Kindes, das die Welt erkunden will, aufmerksam wahrzunehmen und durch meine eigenen Intentionen einen Raum für die autonomen Impulse des Kindes zu schaffen?

Mit dieser Frage beherrscht sie nicht die Situation, sondern nimmt eine Haltung ein, die es dem Kind ermöglicht sich selbst zu empfinden und zu erleben.

Geboten ist das Gestalten der Umgebung, bei der das Denken, Fühlen und Wollen der Erzieherin auf den kindlichen Organismus unmittelbar wirkt. Auf diese Umgebungsgestaltung weist uns die Hirnforschung nachdrücklich hin: Was die Erzieherin sagt, was sie tut und vor allem wie sie ist, ist wesentlich.

Gefragt ist die Biografie, das beispielhafte Vorleben, die Gestaltung der eigenen Individualität, die abhängt von der Fähigkeit sich mit dem

  • eigenen Denken aus dem übergreifenden Geistigen heraus zu verständigen,
  • am eigenen Tun und Wollen und
  • am eigenen Fühlen zu orientieren.

„Alles, was wir in diesem frühen Alter tun oder unterlassen, legt eine Spur fest, in der das Kind gehen muss. Im späteren Leben, wenn es darauf ankommt, dass es selbstständig denken kann, wenn es den ,Schritt aus dem Paradies‘, den Schritt des ersten Ungehorsams, immer wieder tun muss, kann es das umso besser, je mehr es sich mit dem identifizieren kann, was es auf dieser Erde vorhat, und wenn es ihm gelingt, sich seinen Leib gefügig zu machen, dass es dem auch standhält. Dafür braucht es eine Basis“

(Glöckler/Grah-Wittich 2020, S. 127).


Literaturverzeichnis:

Glöckler, M./Grah-Wittich, C. (Hrsg.) (2020): Die Würde des kleinen Kindes 2. Gesunde Entwicklung und Prävention. Dornach, am Goetheanum

Korczak, J. (1999): Wie liebt man ein Kind/Das Recht des Kindes auf Achtung/Fröhliche Pädagogik. Bearbeitet von F. Beiner und S. Ungermann. Gütersloh, Gerd Mohn

Schlack, H. G. (2005): Das Kind als Akteur seiner Entwicklung. In: Büchner, Chr. (Hrsg.): Lebensspuren. Über den Zusammenklang von Erziehung und Therapie. Luzern, SZH, S. 39 – 49

Der Autor:

Prof. Dr. Dr. et Prof h.c. Ferdinand Klein ist Lehrer, Heilpädagoge und Logotherapeut, Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik. Er war 14 Jahre in der heilpädagogischen Praxis tätig, dann an acht Universitäten im In- und Ausland. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Kindheitspädagogik, interkulturelle und inklusive Pädagogik, Forschungsmethoden, Korczakpädagogik und ethische Fragen.