Leere Aussagen untergraben das Vertrauen und wirken nicht
geschrieben von Redakteur | Dezember 16, 2024
Umfrage in den Vereinigten Staaten: Viele Eltern drohen ihren Kindern
Viele Eltern in den USA greifen bei der Kindererziehung auf Drohungen zurück. Laut der „C.S. Mott Children’s Hospital National Poll on Children’s Health“ reicht die Bandbreite vom Wegnehmen von Spielzeug bis dahin, dass der Weihnachtsmann dieses Jahr nicht kommen wird. Eltern von Kindern zwischen drei und fünf Jahren setzen eigenen Angaben nach am ehesten Drohungen ein, um ein Fehlverhalten anzusprechen. Ein Viertel droht entweder mit der Abwesenheit des Weihnachtsmanns oder dem Verweigern von Geschenken.
Verstärkung und Disziplin
Der Erhebung nach haben viele Eltern zudem damit gedroht, eine Aktivität oder einen Ort zu verlassen, Spielzeug wegzunehmen oder, dass das Kind kein Dessert bekommt. Fast die Hälfte der Befragten will den eigenen Nachwuchs zudem bestochen haben. Laut Co-Direktorin Susan Woolford hilft Disziplin kleinen Kindern dabei zu lernen, welche Verhaltensweisen sicher und angemessen sind. Sie können, so die Expertin, eine entscheidende Rolle dabei spielen, dass diese Kinder lernen, was richtig ist und was falsch.
„Leere Drohungen hingegen untergraben das Vertrauen und sind normalerweise nicht wirksam. Eine positive Verstärkung und die konsequente Disziplin formen das langfristige Verhalten viel eher.“ Die Hälfte der Befragten sehen sich beim Disziplinieren ihrer Kinder als sehr konsequent. Trotzdem geben viele an, dass sie gerade mit der Konsistenz ihre Probleme haben. Die Umfrage basiert auf 725 Antworten von Eltern mit mindestens einem Kind. Die Befragung wurde im August dieses Jahres in den USA durchgeführt.
Strategie besser vorausplanen
Zu den größten Herausforderungen gehören, dass das Kind zu klein ist, um zu verstehen, dass die eingesetzten Strategien nicht immer funktionieren und dass die Eltern versuchen, einen öffentlichen Wutanfall zu verhindern, heißt es. Fast ein Viertel der Eltern gibt zu, dass auch sie irritiert sind, wenn ihr Kind ungezogen ist und sie reagieren, bevor sie sich an ihre Strategien erinnern oder dass sie einfach zu müde sind, um sich stimmig zu verhalten.
Ein Überlebenshandbuch für Eltern mit Kindern von 2 bis 7 Jahren. Richtig kommunizieren, Konflikte lösen: Hilfe bei der Kindererziehung
Der tägliche Kampf beim Anziehen, Gequengel am Mittagstisch, Trotzanfälle im Supermarkt: „Klassiker“, die alle Eltern schon erlebt haben. Wie lassen sich solche Alltagskonflikte lösen? Der Schlüssel liegt in der Art, wie wir zuhören und reden. Joanna Faber und Julie King haben einen Erziehungsratgeber entwickelt, in den sowohl eigene Erfahrungen mit ihren Kindern als auch Erkenntnisse aus der Wissenschaft eingeflossen sind. Mit ihren erprobten „Erziehungs-Werkzeugen“ gelingt ihnen eine respektvolle Eltern-Kind-Beziehung ohne Streit und Drama!
Woolford nach kann es schwierig werden, beim Durchsetzen von Disziplin einen konsistenten Ansatz zu haben, wenn genaue Überlegungen und eine Planung fehlen. Sogar dann kann Beständigkeit schwierig sein. Das sei vor allem dann der Fall, wenn Eltern müde oder abgelenkt seien und sie sich überfordert fühlten. „Es ist wichtig, dass Eltern vorausplanen und bei Strategien auf der gleichen Seite stehen, um eine Grundlage für das Verstehen von Erwartungen zu liefern. Damit können auch gemischte Signale in Hinblick auf Grenzen vermieden werden.“
Viele Eltern sind unsicher
Eltern sind sich zudem nicht immer sicher, ob ihre Disziplinierungsstrategien funktionieren. Zwei Fünftel gehen davon aus, dass sie sehr wirksam sind. Drei von fünf Elternteilen glauben hingegen, dass diese Strategien einigermaßen effektiv sind. Die meisten Studienteilnehmer erhalten ihren Input zu Disziplinierungsstrategien von verschiedenen Quellen. Bei vielen ist es der andere Elternteil, das Reden mit der Familie oder Freunden sowie Erziehungsratgeber, Artikel oder Posts in den sozialen Medien.
Weniger als ein Fünftel der Eltern diskutiert das Thema Disziplin mit dem Gesundheitsdienstleister. Eines von acht Elternteilen sagt, dass er sich keine Gedanken über diese Disziplinierungsstrategien gemacht hat. Manche Teilnehmer geben auch zu, dass sie Strategien angewendet haben, die von Experten nicht empfohlen werden. Zwei von fünf Eltern schlagen ihre Kinder manchmal. Das kann, so die Experten, bei Vorschülern und Schülern zu Trotz und in weiterer Folge zu einer verstärkten Aggression führen.
Moritz Bergmann/pressetext.redaktion
Von Recycling Weihnachtskarten und Wichtelkegeln
geschrieben von Redakteur | Dezember 16, 2024
ALLE JAHRE WIEDER…
Jedes Jahr dasselbe: Zu den großen Feiertagen wird gebastelt wie die Weltmeister. Das muss zwar nicht sein, aber es bietet auch schöne Möglichkeiten zum Recyceln. Alles, was so im Laufe des Jahres an farbigen Bildern und Flächen entstanden ist, kann jetzt, wenn es sonst keine Verwendung mehr findet, sehr gut weiter verarbeitet werden, zu wunderschönen Weihnachtskarten zum Beispiel. Ausschnitte aus großen, vor allem abstrakten Wandbildern mit ausdrucksstarken Farbübergängen und interessanten Strukturen eignen sich besonders als poetische Stimmungsmotive. Man braucht dazu lediglich noch ein paar Weihnachtsbaum-Schablonen (am besten stark vereinfacht) und Sternmotivausstecher, eine Auswahl an bunten Kartenhintergründen, Schere, Kleber, und Faden. Egal ob Doppel-Klappkarten oder ganz einfache Postkarten, es geht meist schnell und sieht oft wunderbar aus. Wenn bei dem Material auch etwas mit Glitzer dabei war, wird´s ganz besonders schön feierlich. Dann glänzen nicht nur die Karten, sondern auch die Augen.
SCHNEEMANN STATT WEIHNACHTSMANN
Wer weltliche Motive bevorzugt, findet auch im Schneemann (oder im Tannenbaum oder mit einem Selbstportrait) eine nette Alternative. Ein paar sparsame Elemente dazu (Schneehorizont, blauer Himmel, Schneeflocken) ausgeschnitten oder gezeichnet und einfach das Hauptmotiv mittig und schräg mit Klebefalz aufgeklebt, schon hebt sich die Figur beim Aufklappen nach vorne. In zusammengeklapptem Zustand sollte sie aber nicht zu sehen sein (vorher das richtige Maß und den besten Klebepunkt dafür ausprobieren). Je schräger das Mittelmotiv eingeklebt wird, desto mehr kommt es beim Aufklappen nach vorne. Wer sich traut, kann auch noch die Nase in Pop-Up-Technik konstruieren. Ist nicht schwer und sieht gut aus.
WICHTELKEGELN
Alle Jahre wieder kommt die Vorweihnachtszeit mit all ihren liebgewonnenen aber auch mit den nervtötenden Ritualen. Muss man das alles immer wieder mitmachen? Oder kann man den gewohnten Abläufen auch mal etwas Neues entgegensetzen? Wie wäre es zum Beispiel mit einer witzigen, spielfreudigen und die Fantasie anregenden Aktion aus dem Themenkreis dieser besinnlichen Zeit aber mit einem deutlich erhöhten Spaßfaktor? Mein bewährter Vorschlag: Wichtelkegeln! Wir basteln manchmal eine Kegelbahn aus Wellpappe. Das Wichtigste aber sind die lustigen Figuren, die dann mit einer Glasmurmel munter umgekegelt werden.
MACHT HOCH DIE TÜR, DIE TOR MACHT WEIT
Denn je offener die Tür zur eigenen kreativen Gestaltung, desto weiter wird der Horizont des eigenen Erlebens. Und in dieser fantastischen Vielfalt spiegelt sich der unendlich wunderbare Reichtum menschlicher Möglichkeiten. Uns verbindet der Spaß beim Basteln und Spielen und uns bereichert das Staunen über die große Vielseitigkeit der verschiedenen Interpretationen derselben Aufgabenstellung. Was sich da auf den Kegelbahnen tummelt, ist voller Witz und eigenwilligem Stil. Und doch – wenn dann die Kugel rollt, sind sie alle gleich. Entweder sie fallen um oder nicht.
Diesen Artikel haben wir aus folgendem Buch entnommen:
Praxis und Philosophie. Fantasie und Selbstbewusstsein fördern. Kunst mit Kindern: mehr als malen und basteln! Kreativbuch für Schule, Hort, Workshops und Kunstwerkstatt
Die Beobachtung des Kindes als zentrale Aufgabe der Pädagogik
geschrieben von Redakteur | Dezember 16, 2024
Worauf wir achten sollten, damit das Beobachten eines Kindes auch zu den richtigen Schlussfolgerungen führt
Karel Capek, ein tschechischer Schriftsteller, äußerte sich einmal wie folgt: ›Es ist unfassbar, wie schlecht die Menschen beobachten‹ und Daniel Mühlemann, ein Naturfotograf, kam zu der Erkenntnis: ›Der Beobachter bedarf klarer Sicht und eines scharfen Blickes‹.
Die Beobachtung des Kindes ist – über alles andere Bedeutsame hinweg – die zentrale Aufgabe der Pädagogik, die in ihrem Stellenwert nicht hochgenug eingeschätzt werden kann. Beobachtungen führen die Beobachtenden zu einer Erkenntnis, die zum Ausdruck bringt, was ein Kind für eine förderliche Entwicklungsunterstützung braucht, welche Bedingungen einen entwicklungsförderlichen oder auch entwicklungshinderlichen Einfluss auf das Kind haben, welche Kompetenzen auf Seiten der pädagogischen Fachkraft gefragt und gefordert sind, um eine körperliche, kognitive und psychosoziale Sättigung der kindlichen Grundbedürfnisse zu erreichen, welcher pädagogische Ansatz für die Kinder am geeignetsten ist, Entwicklungsprozesse zu unterstützen, welche Themenschwerpunkte angebracht sind, um kindorientierte Projekte mit Kindern zu planen und durchzuführen, welche Schwerpunkte in Elterngesprächen einen besonderen Stellenwert besitzen und welche eigenen Sichtweisen auf das Kind prozessförderlich oder vielleicht auch entwicklungshinderlich sind.
Beobachten ist gut, solange das Hauptaugenmerk auf ‚achten’ liegt. (Peter E. Schuhmacher, Aphorismensammler & Publizist)
Wir alle beobachten Vieles um uns herum
Doch ist es tatsächlich ein Beobachten oder eher nur ein kurzes, oberflächliches Wahrnehmen? Beobachtung ist ein zielgerichtetes, aufmerksames, von Ablenkungen befreites Hinschauen und Verweilen, um einen Erkenntnisgewinn zu bekommen. Dabei ist es notwendig, vorhandene, vorschnelle Annahmen (= Hypothesen) bei sich selbst zu entdecken, zu identifizieren und sich von diesen zu lösen, um weitestgehend wahrnehmungsoffen auf das zu schauen, was gerade passiert. Hier geht es nicht in erster Linie um ein Entdecken von so genannten Defiziten oder Schwächen, die ein kindliches Verhalten kennzeichnen, sondern vor allem um vorhandene Stärken, die jedes Kind sein Eigen nennen kann. Achtsamkeit spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle.
Beachte dich stets aufmerksam in deinem Tun und halte hier nichts deiner Bewertung unwert. (Konfuzius)
Beobachtungen sind in erster Linie auf das Kind gerichtet
Beobachtungen sind im Feld der Pädagogikk in erster Linie auf das Kind gerichtet, auf sein Verhalten, seine Interessen, seine Sprache, sein Spiel, sein Umgang mit anderen Kindern und den Erwachsenen sowie den Materialien. Gleichzeitig erfordert eine Beobachtung auch immer eine Selbstbeobachtung – was lösen die beobachteten Merkmale in mir selbst aus, was fällt mir schwer, anzunehmen, was irritiert mich und welche direkten Zusammenhänge kann es geben, dass sich das Kind so verhält, wie es sich gerade ausdrückt. Kann es sein, dass sich das Kind zu einem anderen Tageszeitpunkt, bei einer anderen Kinderkonstellation, bei einer anderen pädagogischen Fachkraft ganz anders verhalten würde?
Das Verhalten eines Kindes hat stets mit seiner Vergangenheit, seinen Erlebnissen und Erfahrungen aber auch mit der gegenwärtigen Situation, den Rahmenbedingungen, dem derzeitigen Projekt/ Thema und seinem Bindungsverhalten zur pädagogischen Fachkraft zu tun. Damit ergibt sich ein Beobachtungsergebnis aus einer Fülle von Ereignissen und deren Vernetzungen! Kleinigkeiten, die wir in einer Beobachtungssituation vielleicht für unbedeutsam halten, können einen großen Einfluss auf das Beobachtungsergebnis haben und somit sind immer vielerlei Vernetzungen zu berücksichtigen.
Aber du weißt, wie ich im Anschau’n lebe; es sind mir tausend Lichter aufgegangen. (Johann Wolfgang von Goethe)
Auch wenn professionell geplante und strukturierte Beobachtungen durch eine Beobachtungsabsicht und eine damit verbundene Zielsetzung ausgelöst wurden, ist es notwendig, sich schon im Vorfeld von vorhandenen Annahmen zu lösen und soweit wie möglich zu verabschieden. Ansonsten steht das Beobachtungsergebnis schon vor der durchgeführten Beobachtung unausgesprochen fest. Vorurteile, starre Vorannahmen oder gar so genannte ‚beweisführende Bestätigungsbeobachtungen’ führen immer zu einer Wahrnehmungseinschränkung, bei der abweichende Beobachtungsmöglichkeiten übersehen bzw. als unwichtig angesehen werden. Erst eine wahrnehmungsoffene, eine von starren Mustern geprägte, losgelöste Beobachtung führt zu Erkenntnissen, die im anderen Fall gar nicht entstehen können. Und das bedarf einer immer wiederkehrenden Selbstaufforderung. Dadurch entstehen ›tausend Lichter‹, die zuvor Vieles im Dunkeln gehalten hätten.
Ein Mensch passt am besten auf sich auf, wenn ihn auch andere beobachten. (George Savile, 1.st Marques of Halifax, englischer Politiker & Schriftsteller)
Erstens ist [es] erforderlich, dass du nicht den Spiegel ansiehst, den Spiegel betrachtest, sondern dich selbst im Spiegel siehst. (Sören Kierkegaard, dänischer Philosoph, Schriftsteller & Theologe)
Beobachtende fällen mit ihren Beobachtungsergebnissen immer auch ein ›Urteil‹ über das Kind
Sei es, dass es um eine in Aussicht gestellte Bildungs-, Betreuungs- oder Erziehungsaufgabe geht oder um eine anstehende (Nicht)Einschulung, um bestimmte förderpädagogische Maßnahmen ins Auge zu fassen und zu planen oder um Erziehungsberechtigten einen umfassenden Überblick über (nicht) vorhandene Entwicklungsschritte zu geben. Um dabei eigenen Beobachtungsfehlern auf die Spur zu kommen, ist es immer hilfreich, sich selbst von Kolleg*innen beobachten zu lassen, um mit ihnen in einen anschließenden Erfahrungsaustauch zu treten. Solche Auswertungsgespräche fordern und fördern eine Selbstexploration (= eine selbstkritische Betrachtung der eigenen Person, deren Einstellungen, Werte, deren Normverständnis, deren Beobachtungskompetenz), die zu einem professionellen Berufsverständnis unwidersprochen dazugehört.
Zur Beobachtung ist Nähe, zum Denken Ferne erforderlich. (Elias Kalischer, deutscher Rabbiner und Schriftsteller)
Natürlich sind bei jeder Beobachtung auch Emotionen vorhanden
Wissenschaftliche Untersuchungen im Bereich der Wahrnehmungspsychologie (Schönhammer, R., 2013 & Goldstein, E. Bruce & Cacciamani, Laura, 2023) haben gezeigt, dass Wahrnehmungen stets mit folgeprovozierten Gefühlen verknüpft sind, so dass diese auch automatisch in Beobachtungen einfließen!
Sei es der Stress, der dadurch aufkommt, dass in der Beobachtungszeit die anderen Kinder ohne Begleitung sind, sei es die Freude, endlich die Zeit gefunden zu haben, eine entsprechende Beobachtung in das Alltagsgeschehen einbinden zu können, sei es der Ärger, sich auch noch dieser Aufgabe zuwenden zu müssen oder sei es die Angst, weil bestimmte Beobachtungsstrukturen vielleicht falsch geplant sein können. Vielleicht ist es aber auch die aufkommende Unruhe, wohlwissend, dass nach der Beobachtungssequenz noch ein ausführlicher Entwicklungsbericht angefertigt werden muss und in der Folge sogar ein Elterngespräch ansteht. So ist es einerseits erforderlich, dem Kind (aber nicht nur während der Beobachtung) eine wohlwollende Nähe zu schenken, andererseits aber bei der Verschriftlichung der Beobachtungen sowie der Beobachtungsergebnisse emotionale Bezüge zu minimieren, um eine fachlich-sachliche Wiedergabe zu gewährleisten.
Beobachten tut man von unten nach oben; umgekehrt heißt es Besichtigen. (Günther Schneiderath, niederrheinischer Dichter und Aphoristiker)
Beobachter*innen schauen oftmals, nicht zuletzt durch ihre Rolle als Erwachsene/r, durch ihr Wissen und durch die Aufgabenstellung selbst, auf das Kind (herab), ohne zu erkennen und sich der Situation bewusst zu sein, dass damit eine ›Machtposition‹ besteht, die dazu verleiten kann, erkenntnisbesetzt und schon im Vorfeld ‚besserwisserisch’ an die Beobachtungsaufgabe heranzugehen.
Doch stets sind folgende Ausgangssituationen zu beachten:
Beide Personen, das Kind und die erwachsene Person, sind Lernende!
Beide Personen haben ihre individuellen, besonderen Biographien bis zum Augenblick der Beobachtung hinter sich und sind durch vielfältige Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke in einer bestimmten Denkrichtung geprägt.
Beide Personen besitzen bestimmte Formen, Richtungen und Ausprägungen der Sympathie sowie der Antipathie, die wiederum ihre Sicht- und Beurteilungsweisen geprägt haben. Entsprechend ist es notwendig – und hier sei eine Metapher (= ein Bildvergleich) erlaubt – ‚vom hohen Ross (eines vorhandenen Machtgefälles) herunterzusteigen’ und sich auf eine zum Kind gleichwertige Ebene zu begeben.
Zusammenfassung:
Überall, ob es sich dabei um die Institution Krippe, Kindergarten, Kindertagesstätte, Hort oder Familienzentrum handelt, sind elementarpädagogische Fachkräfte aufgefordert, Beobachtungen vorzunehmen, diese auszuwerten und für die praktische Tätigkeit zu nutzen.
Nur so ist es möglich,
den Bildungsrichtlinien aller 16 Bundesländer gerecht zu werden, da in allen Ausführungen der besondere Stellenwert von Beobachtungen herausgestellt wird;
dem Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag, wie im Kinder- und Jugendhilfegesetz in allgemeinen Formulierungen benannt (damit verbunden ist vor allem die Förderung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die Unterstützung von Eltern, der Schutz vor Gewalt, die Unterstützung der Selbstständigkeit der Kinder, ein entwicklungsförderliches Beziehungsangebot, eine individuelle Unterstützung von Bildungsprozessen) gerecht zu werden,
die Aussagen der in der UN-Charta ‚Rechte des Kindes‘ aufgeführten Artikel zu berücksichtigen und in die praktische Arbeit in den Einrichtungen zur Realität werden zu lassen, z.B. (a) das Wohl des Kindes in allen Vorhaben zu berücksichtigen (Artikel 3), (b) Kindern ein aktives Mitspracherecht bei allen wichtigen Entscheidungen einzuräumen und zu berücksichtigen (Artikel 12), (c) Kinder vor rechtswidrigen Beeinträchtigungen gegenüber seiner Ehre und seines Rufes zu schützen (Artikel 16), (d) Kindern das Recht auf Freizeit, Erholung und Spiel zuzugestehen (Artikel 31). Hier dienen Beobachtungen ganz konkret dazu, mögliche Widersprüche zu den geforderten – und auch durch den Bundestag ratifizierten – Rechten zu entdecken und für eine Einhaltung der Rechte konsequent und offensiv zu sorgen. [Anmerkung: Diese UN-Kinderkonvention wurde am 26.01.1990 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet und am 17.02.1992 mit Zustimmung vom Bundestag und Bundesrat durch Gesetz verabschiedet. Am 06.03.1992 wurde die Ratifizierungsurkunde beim Generalsekretär der Vereinten Nationen hinterlegt und trat am 05.04.1992 für Deutschland in Kraft.]
den bedeutsamen Aussagen im ‚Berufsbild der Erzieherin’ nachzukommen. Dort heißt es unter anderem, dass sich Erzieherinnen (a),in erster Linie als Partner*innen der Kinder verstehen. Hier helfen Beobachtungen, diese Forderung zu überprüfen; (b),als Anwält*innen für Kinder überall dort einsetzen, wo kindeigene Bedürfnisse unberücksichtigt bleiben; (c),in ihrem Arbeitsverständnis, ihrer Kommunikations- und Umgangskultur kritisch hinterfragen, ob sie ihre Arbeit auf der Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung sowohl mit den pädagogischen Traditionen als auch mit neuen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und bildungspolitischen Strömungen gestalten, (d)der Entwicklungsunterstützung der Gesamtpersönlichkeit verpflichtet fühlen, was mit einer Teilleistungsförderung (z.B. durch teilisolierte Förderprogramme) unvereinbar ist.
alle bedeutsamen Erkenntnisse aus den Wissenschaftszweigen der Erziehungswissenschaft, der Pädagogischen Psychologie, der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie, der Bildungs- und Bindungsforschung sowie der Neurobiologie in die praktische Arbeit einfließen zu lassen, wenn es darum geht, was Kinder für eine förderliche Entwicklung brauchen. Diese Notwendigkeit lässt sich nur durch professionelle Beobachtungen ganz konkret erfassen.
dass Erzieher*innen sich der alltäglichen Herausforderung stellen, die aktuellen Kindheiten – also ihre konkreten Lebenssituationen der Kinder, die ihnen in der Einrichtung anvertraut wurden – zu konstatieren (= festzustellen), um die Gegenwart der Kinder zu sehen und zu verstehen, um dann aus durchgeführten Beobachtungen professionelle Handlungsvorhaben abzuleiten.
Diesen Artikel haben wir aus folgendem Buch entmommen:
Eigens für dieses Buch wurde die Website www.beobachten-und-dokumentieren.de eingerichtet, auf der sich die Formulare zum Download befinden. Das Buch richtet sich sowohl an Studierende der Sozial- und Heilpädagogik als auch an Erzieher*innen/Kindheitspädagog*innen, die schon im Beruf stehen.
Wie Kinder echte Kooperation wirklich lernen können
geschrieben von Redakteur | Dezember 16, 2024
Adele Faber und Elaine Mazlish haben die Methode der „mitempfindenden Sprache“ entwickelt
Kommunikation ist ein Kunststück. Nur selten gelingt es uns, dass das, was wir sagen, beim anderen genau so ankommt. Der chinesische Denker Konfuzius schrieb dazu einst: „Die ganze Kunst der Sprache besteht darin, verstanden zu werden.“ Spätestens wenn wir unsere Kinder nach einem gestressten Tag darum bitten, den Tisch nach dem Abendessen abzuräumen, glauben wir, eben in der Muttersprache des chinesischen Weisen gesprochen zu haben.
Zwei zentrale Fragen zu Beginn
Warum wollen Kinder nicht gehorchen? Wie lernen Kinder Grenzen? Diese und viele andere Fragen verzweifelter Eltern sollen wir nicht nur auf Elternabenden beantworten. Wir müssen auch für uns selbst immer wieder Antworten finden. Die erste – oftmals etwas unangenehme Frage – an uns und unsere Umgebung ist: Wie sieht es denn mit dem eigenen Vorbild aus? Schließlich machen uns die Kinder vieles nach.
Die zweite Frage sollten wir uns möglichst auch beantworten können: Wie viel Spaß macht es uns, wenn wir den ganzen Tag nach der Pfeife eines anderen tanzen müssen? Kinder stecken eben meist in dieser Situation. Wer das verstanden und die Frage nach dem Vorbild auch benantwortet hat, ist schon eine ganzes Stück weiter. Und wie machen wir es besser? Für die einen mag das ein alter Hut sein. Der Blick auf den Alltag zeigt aber etwas völlig anderes. Schauen wir uns einfach mal ein Beispiel an:
Wie es nicht funktioniert
Der achtjährige Luca kommt wutschnaubend nach Hause und brüllt, er wolle seinem besten Freund mal so richtig eine reinhauen, weil der sein Schulheft grundlos in den Dreck geworfen habe. In solchen Situationen sind wir geneigt, der Sache erst mal auf den Grund zu gehen. Wir stellen Fragen, in denen manchmal schon ein wenig verdeckte Kritik steckt: „Was ist passiert. Hast du ihm zuerst was getan?“, wir geben Ratschläge: „Vergiss das Ganze. Tobias ist dein bester Freund.“
Dass ein solches Gespräch daneben gehen muss, ist klar. Für Adele Faber und Elaine Mazlish ist das einer von zigtausenden Fällen, die sie seit Jahrzehnten von oft verzweifelten ratsuchenden Eltern zu hören bekommen. Dabei ist es wohltuend, wenn Adele in „So sag ich`s meinem Kind“ schreibt: „Ich war eine wunderbare Mutter, bevor ich selbst Kinder bekam. Dann hatte ich selbst drei. Jeder Tag schien nur die Variation des vorherigen zu sein. ,Du hast den anderen mehr gegeben als mir’, ,Das ist die rote Tasse, ich will die blaue’, ,Er hat mich gehauen’ oder ,Das Müsli sieht wie Kotze aus’.“ Irgendwann konnte sie es nicht mehr hören. Sie ging in eine Elterngruppe. Adele lernte, dass sie ihre Kinder darin unterstützen sollte, sich gut zu fühlen. Und das gelingt vor allem, wenn wir die Gefühle unserer Kinder akzeptieren.
Kinder brauchen Mitgefühl und Aufmerksamkeit
Die meisten von uns meinen, die Gefühle der Kinder zu akzeptieren. Hören wir uns aber genau zu, kennen fast alle Bemerkungen wie „Du kannst gar nicht müde sein, Du hast doch eben geschlafen“, „Es gibt gar keinen Grund, so aufgeregt zu sein“, „Es ist nicht warm. Lass Deine Jacke an, du frierst sonst“, „Du sagst das nur, weil du dich ärgerst“…
Auf diesem Weg leugnen wir nicht nur die Gefühle der Kinder, wir versuchen sie sogar davon zu überzeugen, dass ihre eigene Wahrnehmung nicht stimmt. „Wer klug ist, wird im Gespräch weniger an das denken, worüber er spricht, als an den, mit dem er spricht“, schrieb der Philosoph Arthur Schopenhauer vor weit über hundert Jahren. Und das sollte besonders für die Gespräche mit unseren Kindern gelten. Eltern sind die wichtigsten Erwachsenen im Leben der Kinder. Sie sind Vorbild. Was nun, wenn sich ein Kind müde, verärgert, verängstigt oder gelangweilt fühlt. Es will doch, dass sein Vorbild von ihm weiß, wie es sich fühlt.
Wenn Kinder aufgeregt sind oder verletzt, brauchen sie keine Ratschläge, Philosophie, Fragen oder gar den Standpunkt eines anderen. Sie wollen, dass ihnen jemand wirklich zuhört, ihren inneren Schmerz erkennt und ihnen die Möglichkeit gibt, über das zu reden, was sie bewegt. Und – reagieren wir mitfühlend, lernen unsere Kinder, selbst Lösungen zu finden.
Elaine und Adele haben das Prinzip der „mitempfindenden Sprache“ über 30 Jahre hinweg weiterentwickelt. Heute gelten sie als Expertinnen wenn es um Kommunikation zwischen Eltern und Kindern geht. Dass es gar nicht so einfach ist, einem kindlichen Gefühlsausbruch zuzuhören und einen Namen zu geben, wissen die beiden nur zu gut. Es braucht Übung.
Zuhören und Akzeptieren
Der fünfjährige Luca, der sich so über seinen Freund ärgert, braucht keine Ratschläge. Er braucht zunächst einmal jemanden, der ihm hilft, seine Gefühle einzuordnen. Ein „Junge, bist du wütend“, hilft ihm viel weiter als Fragen oder Ratschläge. Schließlich muss er selbst einen Weg für sich finden. Kinder brauchen es, dass wir ihre Gefühle respektieren und akzeptieren. Hier ein paar Anregungen:
1.) Hören Sie ruhig und aufmerksam zu. 2.) Sie können mit einem Wort Verständnis für die Gefühle ihrer Kinder zeigen: „Oh …“, „Mmm …“ oder „Ich verstehe …“ 3.) Sie können dem Gefühl einen Namen geben „Das klingt frustrierend!“ 4.) Sie können den Wünschen Ihres Kindes in der Phantasie nachgeben: „Ich wünschte, ich könnte die Banane jetzt sofort für dich reif machen.“ 5.) Alle Gefühle sind zu akzeptieren. Manche Handlungen müssen wir jedoch einschränken: „Ich sehe, wie wütend du auf deinen Bruder bist. Sag ihm mit Worten, was Du willst, nicht mit Fäusten.“
Verständigen ohne zu verurteilen
Jetzt werden Sie vielleicht sagen: „Schön, wenn ich nun meine Kinder verstehe. Aber wie verstehen meine Kinder mich?“ Schließlich räumt bei uns zu Hause auch nicht der kleine Bruder von Konfuzius den Tisch ab.
Die Methoden, die wir so alltäglich anwenden, um unsere Kinder kooperativ zu stimmen, sind vielfältig. Viele tadeln und klagen an: „Was ist los mit Dir? Kannst Du nie was richtig machen?“; andere beschimpfen: „Schau nur, wie du isst! Das ist ja ekelhaft!“; manch einer versucht es mit Drohungen: „Bist du nun endlich angezogen? Wenn du nicht gleich fertig bist, gehe ich ohne dich!“; oder mit Befehlen: „Ich will, dass du sofort dein Zimmer aufräumst!“; beliebt sind auch Belehren und Moralisieren: „Du musst das verstehen. Wenn wir von den Leuten erwarten, dass sie zu uns höflich sind, müssen wir auch zu ihnen höflich sein!“; Warnungen: „Zieh Deine Jacke an, sonst wirst du dich erkälten!“; Märtyrer-Aussagen: „Schau nur meine grauen Haare. Alles wegen dir. Du bringst mich noch ins Grab.“; Vergleiche: „Warum kannst du nicht so fleißig sein wie deine Schwester?“; Sarkasmus: „Obwohl Du auf morgen lernen musst, hast du dein Buch in der Schule gelassen. Wie schlau. Das war wirklich eine Glanzleistung!“ und Prophezeiungen: „So wird niemals etwas aus Dir werden!“
„… und aus unserem Gespräch wohl auch nicht“, möchte man ergänzen. Zwar sind viele dieser Bemerkungen alltäglich und werden sicher keine bleibenden Schäden bei unserem Nachwuchs anrichten, dennoch sind sie mehr dazu angetan, Kindern schlechte Gefühle zu vermitteln.
Fünf Fähigkeiten für eine gelingende Kommunikation
Den Stein der Weisen hat dazu bisher noch niemand gefunden. Faber und Mazlish vermitteln dazu fünf Fähigkeiten, die ihnen und den Eltern in ihren Workshops geholfen haben. Dazu erklären Sie: „Nicht jede Methode wird auch bei jedem Kind funktionieren. Nicht jede Fähigkeit wird zu Ihrer eigenen Persönlichkeit passen. Diese fünf Fähigkeiten schaffen jedoch ein Klima des Respekts, in dem der Geist der Kooperation gedeihen kann.“
So können Sie Zusammenarbeit fördern:
1.) Beschreiben Sie, was Sie sehen oder beschreiben Sie das Problem: Es ist leichter, sich auf das Problem zu konzentrieren, das einem jemand beschreibt. „Leon, das Wasser in der Wanne geht bis zum Rand.“ „Ich sehe, dass dein Hund dauernd vor der Tür auf und ab läuft.“ „Das Licht im Bad brennt noch.“ „Cem, ich muss jetzt dringend telefonieren.“
2.) Geben Sie Informationen, denn diese sind leichter anzunehmen als Anklagen: „Kinder, die Milch wird sauer, wenn ihr sie nicht in den Kühlschrank stellt.“, „Apfelkerne gehören in den Mülleimer.“ „Es wäre mir eine große Hilfe, wenn du den Abendbrottisch abdecken würdest.“
3.) Sagen Sie es mit einem Wort, denn weniger ist oft eindeutiger. Kinder hassen Belehrungen, lange Reden und Erklärungen. Je kürzer eine Ermahnung ausfällt, desto besser wirkt sie: „Kinder, in die Schlafanzüge.“ „Alexander, dein Mittagessen.“
4.) Reden Sie über ihre Gefühle. Kinder haben ein Recht darauf, die ehrlichen Gefühle ihrer Eltern zu erfahren. Beschreiben wir unsere Gefühle, dann können wir ehrlich sein, ohne zu verletzen: „Ich mag nicht, wenn Du mich am Ärmel ziehst.“ „Es stört mich, wenn die Terrassentür offensteht. Ich möchte keine Fliegen im Essen.“
5.) Schreiben Sie eine Nachricht: „Hilfe, Haare in meinem Abfluss bereiten mir Verdruss. Dein verstopftes Waschbecken.“, „Lieber Leon, ich weiß, du bist mit Sport und Ausgaben beschäftigt, aber die Zeitungen müssen in den Papiercontainer. Danke. Papa.“
Hier haben Sie nun fünf Fähigkeiten, um die Zusammenarbeit mit ihren Kindern zu unterstützen und keine schlechten Gefühle aufkommen zu lassen. Aber aller Anfang ist schwer und es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Faber und Mazlish haben festgestellt, dass diese Fähigkeiten umso besser funktionieren, je authentischer sie geäußert werden. Die Übung macht also den Meister. Spielen Sie die Situationen gedanklich durch, probieren Sie Ihre Fähigkeiten an fiktiven Kindern aus. Das hilft und wird sich lohnen. Viel Erfolg dabei!
Zwei Bücher
Adele Faber und Elaine Mazlish haben viele Bücher geschrieben. Diese wurden vielfach kopiert, wobei die Plagiate niemals die Qualität des Originals erreicht haben. Ganz im amerikanischen Stil, bieten die Bücher von Faber/Mazlish immer einen kurzen theoretishen Teil, um diesen dann mit vielen Fallbeispielen zu ergänzen. Mittlerweile schreibt auch die Tochter von Adele Faber Joanna Faber gemeinsam mit ihrer Freundin Julie King eigene Bücher zum Thema. Im deutsprachigen Raum ist bisher „Wie sie sprechen sollten, damit ihr Kind Sie versteht!“ erschienen.
In eigener Sache und weil wir meinen, dass diese Bücher einfach enorm wichtig sind, möchten wir Ihnen folgende Klassiker ans Herz legen:
So sag ich’s meinem Kind
Neue Wege zur wertschätzenden Kommunikation in der Eltern-Kind-Beziehung. Wie Kinder Regeln fürs Leben lernen. Erziehungsratgeber mit praktischen Übungen und Fallbeispielen: Soziale Kompetenz fördern und Selbstbewusstsein von Kindern stärken. Wie können wir mit Kindern ins Gespräch kommen? Wie gelingt Kommunikation auf Augenhöhe, die tragfähige Beziehungen entstehen lässt? Die Erziehungs-Expertinnen Adele Faber und Elaine Mazlish kennen diese Fragen aus ihren zahlreichen Eltern-Workshops. Dieser praktisch ausgerichtete Ratgeber fasst die Erkenntnisse aus vielen Jahren Erziehungsarbeit zusammen und richtet sich an alle, die lernen wollen, mit ihren Kindern so zu sprechen, dass sie zuhören – und die zudem lernen wollen zuzuhören, wenn ihre Kinder reden!
Für Lehrkräfte und alle, die Kinder fürs Lernen begeistern möchten
Wie Sie Kinder fürs Lernen begeistern Was Eltern und Lehrer wissen müssen. Zu Hause und in der Schule. Freude am Lernen vermitteln – Praxisbuch mit vielen Tipps für mehr Lernerfolg. Damit Kinder mit Begeisterung lernen können:
Taschenbuch, DIN A5, 280 Seiten ISBN 978-3-96304-000-9 19,95 €
Runter vom Gas 5 – Die Authentizität der Lehrkraft
geschrieben von Redakteur | Dezember 16, 2024
Weil Schulkinder nicht das lernen, was wir ihnen vortragen, sondern nur das lernen, was sie aktiv aufnehmen wollen und bei ihnen ankommt
Das Wichtige ist nicht die Bildung des Lehrers, so wie die Gescheitheit und die Beschäftigung mit Pädagogik einen Vater nicht zum Erzieher fähig macht, wenn er nicht als Mensch, als Vorbild, das Überzeugende hat, dem ein Kind mehr glaubt als Worten. (Hermann Hesse, Lektüre für Minuten, Frankfurt am Main, S.118)
Bedeutsamer als das gesprochene Wort ist das, was wir „zwischen den Zeilen“ senden
Wenn du eine Unterrichtseinheit als interessant und spannend ankündigst, dir aber denkst, was für einen langweiligen Quatsch du unterrichten musst, dann wird nicht dein gesprochenes Wort, sondern deine insgeheim gedachte Botschaft bei den Kindern ankommen. Du musst dir so etwas nicht einmal ausformuliert denken. Es genügt schon, wenn du lustlos und uninspiriert den Stoff „durchnimmst“.
Deine Schüler lernen nicht das, was du ihnen vorträgst
Sie lernen nur das, was sie aktiv aufnehmen wollen, was wirklich bei ihnen ankommt. Und dafür ist es zuallererst wichtig, dass du als Lehrerin, als Lehrer, voll hinter den Inhalten stehst, die du deiner Klasse nahebringen möchtest.
Nun kannst du einwenden, dass du ja nicht einfach in deinem Gehirn einen Schalter umlegen kannst, damit du irgendwelche Lehrplaninhalte gut findest. Deshalb ist es wichtig, dass du erst einmal dein eigenes Verhältnis zu den Inhalten deines Unterrichts klärst. Es wird wohl kaum jemand bezweifeln, dass allem, was mit Lesen, Schreiben und Rechnen zu tun hat, allerhöchste Priorität zukommt. Dank der großen Autonomie, die du als Lehrkraft in deinem Unterricht hast, kannst du nun entscheiden, mit welcher Methode und welchem Material du an diese Inhalte herangehst.
Und das macht den Unterschied aus. Genauso, wie du bei Büchern, die du in der Klasse vorlesen willst, unbedingt nur solche auswählen sollst, die dir auch selbst gefallen, solltest du in den unbestritten wichtigen Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen nur mit Material arbeiten, das dir selbst sinnvoll erscheint. Und bei dem du selbst findest, dass es deinen Schülern etwas bringt und nicht nur eine Schulstunde füllt.
Beim Artikel über das Lesenlernen habe ich das konkret ausgeführt. Aber das Gleiche gilt auch für das Aufsatzschreiben, das ich im ersten Artikel angesprochen habe, auch für das Rechtschreiben und ganz besonders für den Rechenunterricht. Darüber findest du in meinen Büchern und auf meinem Matheblog viele Ideen, die es dir erleichtern, Methoden einzusetzen, hinter denen du wirklich überzeugt stehen kannst. (Christina Buchner, So lernen alle Kinder rechnen, Weinheim und Basel, 2012; Christina Buchner, Das Phantom Dyskalkulie, Weinheim und Basel, 2018; www.die-rechentante.de)
Eigene Stärken und Vorlieben machen dich authentisch
Über die Unterrichtsgestaltung im engeren Sinn hinaus kannst du dir und deinen Schülern etwas Gutes tun, wenn du gezielt die Ressourcen nutzt, die aus deinen eigenen Vorlieben erwachsen.
Das macht ja gerade den leidenschaftlichen und mitreißenden Lehrer aus, dass er nicht vormittags „im Dienst“ ist und nachmittags „privat“, sondern dass er neben seinem Fachwissen auch sich selbst einbringt, mit seinen Pfunden wuchert und aus seinen Begabungen und Vorlieben pädagogisches Kapital schlägt.
Gerade weil unser Beruf so viele Freiheiten bietet, können wir das, was uns selbst begeistert, in die Schule einbringen. Alles, was Schule bunt und lebenswert macht, dient – so ganz nebenbei und gleichsam durch die Hintertür – auch dem Lernklima und damit dem Lernerfolg.
Und außerdem gibt es gar nicht so wenige Querverbindungen von den „zweckfreien“ Aktivitäten zu schulischen Inhalten.
Kochst du gerne?
Dann kannst du im Mathematikunterricht Rezeptmengen umrechnen lassen und hin und wieder mit den Schülern auch wirklich etwas zubereiten, sodass Abmessen, Wiegen, Zeitplanung und Strukturierung eines Ablaufs tatsächlich getan und nicht nur gedacht werden. In Deutsch können Rezepte aufgeschrieben werden, im Sachunterricht kann über einzelne Zutaten gesprochen werden und mit Buchstaben- und Zahlenkeksen können Erstklässler sich Wichtiges „einverleiben“. Mit einem Zweiplattenkocher und exakter Organisationen lassen sich auch in Klassen mit 30 Kindern viele Ideen umsetzen. Mehr dazu, auch Rezepte, findest du in meinem Buch „Unterricht entschleunigen“ und im Download dazu. (Christina Buchner, a.a.O., S.232 f.)
Hast du Freude an Singen, Tanzen, Musizieren?
Dieser Bereich ist auch im Lehrplan verankert, kommt dort aber – das ist meine persönliche Meinung – ziemlich dröge daher.
Dabei ist gerade alles, was mit Musik und Rhythmus zu tun hat, in allerhöchstem Maße lernförderlich. Trommeln, Rappen und Beatboxen bieten einmalige Chancen, gerade auch an Buben, und sogar an die besonders coolen, heranzukommen. Also lass, wenn es für dich einigermaßen passt, diese Gelegenheit nicht an dir vorüberziehen.
Bist du gerne im Freien aktiv?
Auch hier bieten sich neben „zweckfreien“ Unterrichtsgängen, bei denen im Wald „nur“ gespielt wird, noch viele weitere Gelegenheiten für eine Einbindung in Unterrichtsinhalte:
Sammeln von Blättern und Früchten, Orientierungsspiele, Vermessen von Bäumen, Büschen, Waldrändern und Wegabschnitten und dann dazu Karten in einem geeigneten Maßstab zeichnen, Sammeln von Rinden, Wurzeln und Moos für die Gestaltung einer Weihnachtskrippe, Sammeln von Holunderbeeren im Herbst, aus denen ein köstlicher Saft gekocht werden kann und vieles mehr.
Die Waldvermesser
Macht dir Theaterspielen Spaß?
Dann sind Theaterprojekte ein absolutes Muss. Auch Lesetexte und Gedichte lassen sich gut dramaturgisch gestalten. Ich arbeite sogar im Mathematikunterricht mit den Handpuppen von Räuber, Liesel und Krokodil und begeistere Kinder immer wieder damit. (Christina Buchner, 2012)
Selbst etwas so Trockenes wie Grammatik kann gewaltig aufgewertet werden, wenn nach der Montessori-Idee mit Wortartsymbolen gearbeitet wird und dazu das Wortartmärchen von Eva Maria Schröer als Vorlage für Spielszenen dient. (Die Website Schröers existiert nicht mehr, aber im Auer Verlag gibt es darauf basierend ein Buch von Bernd Ganser: Wortarten – einfach märchenhaft, Donauwörth, 2021)
Bist du eine Leseratte?
Dann wirst du mit einer täglichen Vorleseviertelstunde viel Gutes bewirken können. Es gibt so gute Kinderliteratur, die auch für Erwachsene wertvoll ist. Und, wie ich bereits mehrfach erwähnt habe: Eine tägliche Vorlesezeit bietet nicht nur Sprachförderung von hoher Qualität, sondern ist darüber hinaus für das Klassenklima von größtem Wert.
Es ist nicht nur legitim, sondern sogar notwendig, dass auch wir Lehrer in der Schule auf unsere Kosten kommen und Spaß haben. Schule ist kein Spaß, auch Lernen ist es nicht, aber man kann jede Menge Spaß haben, und das tut allen Beteiligten gut.
Sinnerfülltheit erleben
Viele unserer Kolleginnen und Kollegen, ja, eigentlich die allermeisten, arbeiten nicht bis zum gesetzlichen Rentenalter, sondern gehen früher. Sie sind „fertig“ oder „ausgebrannt“. Das ist so schade, denn das müsste nicht sein, davon bin ich zutiefst überzeugt. Ich will jetzt nicht mit solchen Allerweltsfloskeln wie „Schau auf dich“ oder „Pass auf dich auf“ kommen.
Aber ich glaube, dass viele unserer Kolleginnen tagtäglich das Unmögliche versuchen und daran zwangsläufig scheitern müssen. Wenn du dich von meinen Beispielen und Anregungen dazu verführen lassen würdest, das Unmögliche sein zu lassen und nur das, was möglich ist, anzustreben, dann würde es dir und deinen Schülern zu „Nutz und Frommen“ gereichen. Aber es geht nicht einfach um das Weglassen. Es geht in erster Linie um das Anders-Machen. Wenn du siehst, dass es dir gelingt, in deinen Schülern Lernfreude zu wecken, aus grauer und öder Schule mit ihnen gemeinsam einen Ort zum Wohlfühlen zu machen, dann hast du etwas Wichtiges und Nachhaltiges getan, etwas, das auch im späteren Leben deiner Schüler noch bedeutsam sein wird.
Für die Lehrergesundheit gibt es nichts Besseres, als die eigene Arbeit als sinnvoll zu empfinden und als authentischer Mensch zu agieren. Authentizität ist energiesparend und sich selbst als wichtig und sinnvoll zu erleben gibt Kraft. So hast du gute Chancen, ein Lehrerleben lang mit Freude zu arbeiten.
Akzeptanz und Anerkennung
Noch etwas ist wichtig, damit es uns gut geht: Wir brauchen, wie jeder Mensch (siehe Maslow-Pyramide vom Artikel vier), soziale Zugehörigkeit. Dieses Bedürfnis kann einerseits privat durch Familie und Freunde erfüllt werden. Wenn wir aber im beruflichen Kontext keinerlei Wertschätzung erfahren, also uns dort, wo wir arbeiten, nicht zugehörig und angenommen fühlen, dann tut uns das nicht gut.
Es ist gewiss nicht einfach, heutzutage Lehrer zu sein. Die Umwelt des Lernens ändert sich. Eltern stellen Ansprüche, die Gesellschaft steht der Schule nicht positiv gegenüber. Kinder wachsen unter Verhältnissen auf, die alles andere als förderlich sind. All das stimmt. Und trotzdem hast du in der Schule viele Möglichkeiten, für dich und deine Schüler in deinem Klassenzimmer einen gewissen Schonraum und eine lebenswerte Insel zu schaffen.
Dafür habe ich in dieser Artikelserie geworben.
Wenn es dir nun auch noch gelingt, die Eltern mit in dein pädagogisches Boot zu holen, dann wirst du für deine Arbeit sehr viel Rückenwind bekommen und nicht nur das. Du wirst auch Akzeptanz und Anerkennung von dieser Seite erfahren.
Ich möchte dir einige Eckpunkte für den Umgang mit Eltern nennen, mit denen ich über viele Jahre die besten Erfahrungen gemacht habe. Das soll nun aber nicht heißen, dass zu hundert Prozent und mit allen Eltern immer nur eitel Sonnenschein war.
Doch wenn die überwiegende Mehrheit deiner Erfahrungen positiv ist, dann wiegt das Negative nicht schwer.
Und natürlich wird es dir höchstwahrscheinlich so ergehen wie auch mir immer mal wieder: Du wirst dich in manchen Fällen nicht optimal verhalten und Eltern unnötig gegen dich aufbringen. Wenn du aber solche Ausrutscher dann analysierst, wirst du daraus viel lernen und sie werden dir immer seltener passieren.
Miteinander ist besser als gegeneinander – die Chancen des ersten Elternabends
Wenn ich eine neue Klasse übernahm, fand ich den ersten Elternabend immer sehr aufregend. Und das sagte ich den Eltern auch. In Bayern werden Klassen für gewöhnlich zwei Jahre lang von einer Lehrerin geführt. Und das bedeutet, dass mit jeder neuen Klasse eine Partnerschaft beginnt, die unbedingt gelingen sollte.
Ich hatte für diesen Kennenlern-Abend eine Standardformulierung, die ich immer vorbrachte:
„Wir sind nun zwei Jahre sowas Ähnliches wie ‚verheiratet‘ miteinander. Und ich möchte unbedingt, dass das eine gute Ehe wird.“ Das klang zwar immer lustig, sorgte auch für Heiterkeit, war aber dennoch ganz ernsthaft gemeint.
Denn wie man es auch dreht und wendet: Eltern, die der Schule ablehnend und feindselig gegenüberstehen, behindern unsere Arbeit erheblich. Deshalb sollten wir uns nicht zu gut dafür sein, hier um Sympathien zu werben. Geschäftsleute machen so etwas ja auch. Und auch wenn wir unsere Kundschaft aufgrund der Schulpflicht sicher haben, so bedeutet es für unsere eigene Arbeits- und Lebensqualität einen gewaltigen Unterschied, ob wir mit Rückenwind oder mit Gegenwind arbeiten.
Natürlich meine ich mit „Sympathiewerbung“ nicht, dass es empfehlenswert wäre, sich bei den Eltern anzubiedern, womöglich gar noch ihnen nach dem Munde zu reden und ihnen schönzutun.
Aber wenn wir vorhaben, das Zusammensein mit unserer Klasse nicht nur von Stoffdruck und Prüfungen dominieren zu lassen, dann wäre es sehr sinnvoll, den Eltern genauer zu schildern, wie das konkret aussehen soll, ihnen die Gründe dafür zu nennen und auch die damit für jedes Kind verbundenen Vorteile aufzuzählen.
Wenn uns bewusst ist, wie wir Lehrer im ungünstigen Fall wahrgenommen werden, nämlich als Bewerter, Notengeber und Chancengewährer oder -vernichter und damit auch als „natürlicher Gegner“, wenn nicht gar Feind, dann führt das in meinen Augen zwingend zur Notwendigkeit, an dieser „Wahrnehmungsschraube“ zu drehen. Worte alleine schaffen das aber nicht. Es muss uns schon ernst damit sein, das große Thema Unterricht und Leistung anders anzugehen, als es gemeinhin üblich ist und als die Eltern es erwarten.
Dann ist es auch von großer Wichtigkeit, unsere pädagogischen Richtlinien konkret zu nennen und zu begründen und auch das Thema Kommunikation zwischen Schule und Elternhaus anzusprechen. Es ist doch viel geschickter, die Linien, die für gedeihliche und respektvolle Kommunikation wichtig sind, abzustecken, solange noch kein konkretes Problem im Raum steht.
Und es ist auch wichtig, die Stolpersteine zu benennen, die auf unserem gemeinsamen Weg durch ein Schuljahr auftreten können:
Es ist eine Unmöglichkeit für uns Lehrer, immer alles richtig zu machen. Da an einem normalen Schultag x-mal ad hoc reagiert werden muss, sind Fehler „eigentlich“ schon eingepreist.
Missverständnisse wird es sicher auch gelegentlich geben, sodass zu Hause etwas ganz anders ankommt, als es gemeint ist.
Kinder werden auch zu Hause nicht immer objektiv schildern, was in der Schule vorgefallen ist und zwar nicht, weil sie lügen würden. Sie geben einfach nur ihre subjektive Wahrnehmung wieder und versuchen manchmal auch, eine Variante darzustellen, die für sie günstiger ist. Das ist ganz normal, nur sollte uns das bewusst sein.
Wenn Eltern wegen eines Problems in die Schule kommen, wäre es gut, nicht gleich Vorwürfe zu erheben, sondern vielleicht erst einmal nachfragen, wie sich etwas erklärt oder was genau vorgefallen ist. Und das sollte man auch – eben gerade im Vorhinein und ohne konkreten Bezug, nur als allgemeine „Geschäftsgrundlage“ – thematisieren.
Viele Eltern sind von nichtssagenden Elternabenden enttäuscht. Wenn es dir gelingt, ein plastisches Bild davon zu entwerfen, wie Schule sein könnte, dann hast du einen wichtigen Schritt geschafft. Ein großer Teil der Eltern wird positiv gestimmt und neugierig auf deine Arbeit sein. Damit hast du schon einmal mentale Unterstützung, die du sehr gut brauchen kannst.
Information – nicht nur im Internet eine wichtige Währung
Wenn du nun entschlossen sein solltest, den Fuß vom pädagogischen Gashebel zu nehmen und dir und deinen Schülern Zeit für das Wesentliche zu gönnen, dann wird dein Schultag anders als „normal“ sein. Deshalb ist es unbedingt notwendig, den Eltern nicht nur Grundsätzliches zu erzählen, sondern sie ganz konkret zu informieren, wie dieses Grundsätzliche im Unterricht konkret aussieht:
Wenn du deinen Leseunterricht im Wesentlichen ohne Fibel gestaltest, beschreibe das genau und benenne die Vorteile. Falls du das Hundertstundentraining im Lesen machst, rechne genau vor, warum du es so organisierst.
Wenn du im Rechenunterricht bereits am zweiten Schultag den Zwanzigerraum öffnest, aber bis Weihnachten ohne Gleichungen arbeitest, erkläre genau, warum und welchen Nutzen das für die Kinder hat.
Im Idealfall erstellst du für die Eltern ein Handout mit Beispielen, sodass sie zu Hause in Ruhe noch einmal nachsehen können, wenn ihr Kind mit bestimmten Aufgaben nach Hause kommt.
Konkrete Handreichungen für Elternabende und Handouts zum Thema Rechnen findest du bei Beltz im Download zu meinem Buch: So lernen alle Kinder rechnen.
Stress, Druck und Hetze bestimmen oft bereits in der Grundschule den Alltag von Lehrern, Schülern und Eltern. Doch es ist möglich, trotz starrer Rahmenbedingungen und zahlreicher Anforderungen den schulischen Alltag für alle Beteiligten angenehm zu gestalten – ohne Hektik und Stress. Der Fokus liegt auf der Autonomie der einzelnen Lehrer. Du findest erprobtes Handwerkszeug für eine alternative Umsetzung des Lehrplans. Methodenfreiheit neu gedacht, fächerübergreifendes Unterrichten und Projektarbeit ermöglichen einen entschleunigten Unterricht. Zusätzlich gibt es noch Online-Materialien.
Wenn Eltern in der Sprechstunde die Klassenlehrerin um Hilfe bitten, weil ihr Kind sich schwertut mit dem Lesen, Schreiben oder Rechnen, dann kommt sehr häufig die Empfehlung: Ihr Kind muss mehr üben.
Das ist nicht nur eine völlig nutzlose Empfehlung, sie passt auch nicht zu einem Profi, der wir ja sein sollten. Das Kind wird sich mit noch mehr und noch mehr üben nicht verbessern. Die Eltern sind zu Recht enttäuscht von der Schule und aus einem Miteinander wird sehr schnell ein Gegeneinander.
In einem entschleunigten Unterricht kannst du deine Schüler intensiver wahrnehmen
Und wenn du auch noch eine tägliche Freiarbeitsphase fest in deinem Unterrichtsalltag installiert hast, dann kannst du im Elterngespräch schon einmal detailliert darlegen, wo genau es hapert. In einem nächsten Schritt kannst du den Eltern ein tägliches 15-Minuten-Training empfehlen, für das du ihnen auch Material bereitstellst und das du auch – z.B. über einen wöchentlichen Rückmeldebogen – von Seiten der Schule begleitest.
Ein zeitlich sehr überschaubares tägliches Übungspaket, das inhaltlich genau auf einen Schüler zugeschnitten ist, das zusätzlich auch von der Lehrkraft begleitet wird, ist natürlich etwas viel Wirkungsvolleres als irgendeine Übung, die mit Hilfe irgendeines Ratgebers von den Eltern auf eigene Faust – und meistens dann in viel zu langen Übungssequenzen – durchgeführt wird.
Eine Viertelstunde täglich, und wenn der Küchenwecker klingelt, ist Schluss. Damit kommen Kinder gut zurecht.
Individuelles Arbeitsmaterial zu erstellen ist dank unserer technischen und digitalen Möglichkeiten überhaupt kein Problem, z.B. mit dem worksheetcrafter. Wenn ein Schüler sein eigenes Arbeitsheft hat, zeigt ihm das, dass wir uns speziell für ihn einsetzen und das ist unglaublich motivations-fördernd.
Du kannst zusätzlich zu den Rechenblättern in das Trainingsheft auch Uhrenseiten einfügen, die jeweils in 10- oder in 15-Minuten-Abschnitte eingeteilt sind. Jeder absolvierte Übungszeitraum wird schraffiert, ein Elternteil unterschreibt, dass korrekt geübt wurde und das Kind bekommt pro Übungsstunde einen Aufkleber ins Trainingsheft unter die absolvierte Stunde. Die konkrete Gestaltung liegt ganz bei dir.
Allerdings: Ein Spiralbindegerät – am besten elektrisch! – sollte jede Schule haben. Damit lassen sich schnell individuelle Hefte erstellen.
Dann muss noch ein unverzichtbarer Bestandteil jedes Trainingsvorhabens vorab geklärt werden:
Das Kind muss wollen. Wenn nur die Mutter will, wird das Vorhaben nicht erfolgreich sein. Deshalb ist ein klärendes Gespräch im Vorfeld unerlässlich.
Wenn wir mit dem Kind sprechen, sachlich, ohne Vorwürfe und lösungsorientiert, dann haben wir sehr gute Chancen, es für ein aktives Mitmachen bei einem kurzen täglichen Training zu gewinnen. Wir müssen uns allerdings genau an die Abmachung halten: Fünfzehn (oder in Einzelfällen zehn) Minuten und beim Läuten des Küchenweckers ist sofort Schluss.
Besonders die Mütter sind hier gefährdet, die Abmachung nicht einzuhalten und dann zu insistieren: „Schau, du bist gerade so gut dabei. Mach doch diese Aufgabe – oder diese Seite oder diesen Satz – noch fertig!“ Das ist verhängnisvoll, denn dann wird es am nächsten Tag wahrscheinlich Probleme geben, das Kind überhaupt zum Üben zu bringen.
Zielorientierte Kommunikation im Elterngespräch
Ist der Boden für die Zusammenarbeit mit den Eltern bereitet, fühlen sie sich gut informiert über das Was, Wie und Warum deines Unterrichts. Und bist du glaubwürdig in deinem Bemühen um den Schulerfolg ihres Kindes, dann stehen Elterngespräche schon einmal von vornherein unter einem anderen Stern als das in der „normalen“ Praxis oft der Fall ist.
Die fatale Schleife von Vorwurf – Verteidigung – neuer Vorwurf, in die Lehrer sich so leicht hineinziehen lassen, wird nicht so schnell entstehen. Aber diese Gefahr sollte uns bewusst sein, damit wir nicht doch unversehens in die Gesprächsfalle tappen. Wir sollten mit professioneller Distanz an die Bewältigung schulischer Krisen herangehen.
Und dabei hilft uns eine grundsätzliche Positionierung, die Folgendes akzeptiert:
Eltern sind natürlich subjektiv, wenn es um ihr eigenes Kind geht und es fällt ihnen darum auch schwer, aus dieser persönlichen Befangenheit herauszutreten und sich mit Schwierigkeiten einigermaßen objektiv auseinanderzusetzen.
Auch ein Gespräch, das mit Kritik und Vorwürfen beginnt, muss nicht zwangsläufig entgleisen. Es liegt an dir, diesen Ball nicht aufzunehmen, sondern ruhig und sachlich zu bleiben.
Eltern, die Sorgen und Ängste haben, müssen unbedingt erst einmal angehört werden. Bereits das aufmerksame Zuhören und das Ernstnehmen wirken deeskalierend. Klug ist es, auf einen Kritikpunkt oder einen Vorwurf nicht mit einer Antwort zurückzuschießen, die auf Mängel des Kindes hinweist. Das führt sehr schnell zu einem kommunikativen Super-GAU, bei dem nichts mehr geht.
Viel besser und in jedem Gespräch zu empfehlen ist es, das, was die Eltern vorgebracht haben, noch einmal zusammenzufassen. Oft ist es sinnvoll, auch auf die Meta-Ebene zu gehen und das zu artikulieren, was du an Emotionen herausgehört hast.
Eltern wollen, dass es ihrem Kind in der Schule gut geht. Argumentiere deshalb bei der Lösungssuche vor der geistigen Matrix, dass das Kind in Not ist und dass du dich mit den Eltern verbündest, um ihm zu helfen.
Bei Verhaltensproblemen ist oft ein Feedbacksystem hilfreich, das die Eltern über das informiert, was in der Schule vorfällt und welche Maßnahmen du ergriffen hast. Aber bitte nicht durch einen Telefonanruf nach der Schule! Du kannst ein Feedbackformular entwerfen oder eine Notiz ins Hausaufgabenheft schreiben. Bei Lernproblemen sind die bereits angeführten Coaching-Tipps hilfreich.
Natürlich hat niemand von uns einen Zauberstab, mit dem er alle Elternkontakte in konstruktive und erfreuliche Begegnungen verwandeln kann. Aber die Chancen hierfür können drastisch steigen und du wirst sehen: Anerkennung und Akzeptanz von Seiten der Eltern sind möglich. Und das wird dich in deinem Alltag stärken.
Entschleunigung – ein Geschenk auf allen Ebenen
Je mehr du dich auf das Wesentliche deiner Arbeit fokussierst und das Überflüssige „ausmistest“, desto mehr wirst du auch mit deinen Schülern in individuelle Gespräche und Aktivitäten kommen. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass du ihre Eigenheiten, ihr Potenzial, aber auch ihre Schwächen kennenlernst. Und das wiederum macht dich für die Eltern zu einem wertvollen Gesprächspartner und Ratgeber.
Ein Unterricht, der im Wesentlichen aus dem Abarbeiten von Stoff und immer noch mehr Stoff besteht, lässt uns Lehrern gar keine Zeit für das Wesentliche unseres Berufes, nämlich mit den Kindern in pädagogische Interaktion zu treten und sie als menschliche Wesen mit eigener Ausprägung wahrzunehmen und nicht nur als mehr oder weniger „gute“ Schüler.
„Carpe diem!“ heißt das lateinische Sprichwort: „Nutze den Tag!“ Ich möchte es abwandeln in „Carpe occasionem!“, also: „Nutze die Gelegenheit!“, denn Gelegenheiten hast du in unserem System ausreichend.
Nutze die Chance, autonom und authentisch zu agieren, dann wirst du deine Tätigkeit als sinnvoll erleben. Pflege die Kommunikation mit den Eltern, dann werden Akzeptanz und Anerkennung von dieser Seite steigen.
Niemand kann verlangen, dass unser schulischer Alltag immer nur leicht und angenehm ist. Aber dennoch: Wir können ein erfülltes Lehrerleben haben, das „System“ macht es uns möglich. Carpe occasionem!
Die Autorin:
Christina Buchner arbeitete viele Jahre als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen. Und sie war 16 Jahre Rektorin an Grundschulen im Landkreis München. Sie ist in Oberbayern auf dem Land aufgewachsen. Ihre Kindheit war geprägt durch große Freiheit, Nähe zur Natur, Freude an Büchern und die Möglichkeit, kreative Einfälle in die Tat umzusetzen. Vor diesem Hintergrund war es ihr von Anfang an ein zentrales Anliegen, für ihre Schüler eine bunte und anregende Lernwelt zu schaffen.
Sie ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass in der Schule ohne Freude, Begeisterung und ohne Erfolgserlebnisse sehr wenig läuft. Die Mischung aus Pflicht und Freude, aus Begeisterung und konsequenter Übung, aus Disziplin und individueller Freiheit beim Lernen ist ihr Markenzeichen. Für diese Mischung wirbt sie in ihren Büchern und in Vorträgen und Lehrerfortbildungen in Deutschland, Österreich, Italien, der Schweiz und Luxemburg. Christina Buchner entwickelte eigene Methoden für das Lesenlernen, für Rechtschreiben und Schreiberziehung, für den elementaren Mathematikunterricht und für das Theaterspielen mit einer Klasse.
Selbst gesteuerte Entdeckungen machen klug und stark
geschrieben von Redakteur | Dezember 16, 2024
So entdecken Kinder ihre Fähigkeiten und machen Erfahrungen fürs Leben
In Kindergärten haben wir immer wieder erlebt, dass Kinder unabhängig voneinander – an völlig verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten – denselben Gegenstand zweimal erfanden.
In einem Kindergarten war gerade spielzeugfreie Zeit. Ein höchst kreatives Erlebnis, bei dem das sonst gewohnte Spielzeug von den Kindern durch selbst erfundenes oder gefundenes Material ersetzt werden muss, wenn man dieselbe Funktion damit erfüllen will. So war ein kaputter, luftleerer und daher eingedellter Ball zum einzigen Wasser-Transportmittel geworden. Ein Junge hatte ihn zufällig unter der Hecke gefunden. Dieser Ersatzeimer war plötzlich so wertvoll, dass er jeden Mittag bei Kindergartenende ins „Schatzversteck“ gebracht wurde.
Einige Monate später beobachteten wir Ähnliches in einem anderen Kindergarten, mehrere hundert Kilometer vom ersten entfernt. Eine Gruppe intensiv spielender Kinder hatte ein Kanalsystem in der Erde ausgehoben, das nun mit Wasser gefüllt werden sollte. Alle suchten nach dem Schlüssel für den Schuppen, in dem die Gartengerätschaften, also auch Gießkannen und Eimer, aufbewahrt wurden. Doch der Schlüssel war nicht aufzutreiben. Nach Gejammere, Schimpfen und Wutausbrüchen sah man einige Kinder intensiv nachdenken. Da fiel einem Mädchen ein, dass es auf dem Weg zum Kindergarten an einem Müllsack für Plastikabfall vorbeigekommen war, in dem durch die Folie ein „eingedellter Ball“ zu sehen war. Eine Erzieherin zog mit dem Mädchen los – und beide kamen wenige Minuten später mit dem Ball zurück, mit dem nun das Kanalsystem mit Wasser gefüllt werden konnte.
Im kindlichen Spiel herrscht eine Denk- und Arbeitsatmosphäre besonderer Art
Deshalb konnte der berühmte Nürnberger Trichter, mit dem Menschen das Wissen im Schlaf eingetrichtert werden sollte, nicht funktionieren. Denn Kinder sind nicht im Schlaf, anonym, belehrbar – schon gar nicht ohne ihr Zutun. Sie folgen ihren eigenen Fragen.
Das ist der Grund, warum Erwachsene auf kindliche Aktionen und Fragen achten und sie möglichst immer zulassen und beantworten sollten. Wollen Sie Ihr Kind tatsächlich fördern, müssen Sie seine Eigeninitiativen aufgreifen. Denn gerade dann, wenn es eine derartige Initiative zum Lernen startet, sind seine Aufmerksamkeit und sein Lernvermögen besonders groß. Jetzt müssen Sie nicht gegen Konzentrationsmängel ankämpfen. In diesen aufnahmebereiten Momenten ist Ihr Kind für jede Erfahrung offen. Es fordert mit Nachdruck Antworten und saugt die Informationen auf wie ein Schwamm. Es ist wissensdurstig.
Jetzt wird auch das neu Erfahrene und plötzlich Verstandene bestmöglich gespeichert. Das heißt: Es steht bei der nächsten passenden Gelegenheit abrufbereit als Wissen zur Verfügung.
Das Eingehen auf kindliche Fragen und Initiativen ist echte Förderung. Denn es geht um eigenes Ausprobieren und gezieltes Abfragen – jedes Mal ein wichtiger Etappensieg auf dem Weg zur Selbstständigkeit. Durch die zunehmende Selbstständigkeit und Wissenserweiterung entsteht ein Gefühl von Eigenkompetenz, das in immer neuen Situationen gestärkt und durch neue Erfahrungen erweitert wird.
Wenn Sie Kinder so fördern, machen Sie diese Kinder stark.
Jedes Kind sollte das Rad nochmal neu erfinden dürfen
Sie erinnern sich: Es geht um selbst gesteuerte Entdeckungen, die klug und stark machen. Ein Kind ist aktiv, es sucht sich seine Entdeckungsmöglichkeiten selbst. Wenn es in Suchstimmung ist, wirkt alles anregend – sehr geschickt eingerichtet von der Natur. Denn durch diese Offenheit für Neues erhöht sich automatisch die Chance, dass einem nichts entgeht und man sich nicht unnötig einschränkt.
Ein „Beobachtungsjuwel“ möchten wir Ihnen in diesem Zusammenhang nicht vorenthalten:
Zwei sechsjährige Mädchen, Lisa und Kim, sitzen am Rand eines Sandkastens, erzählen sich etwas und graben mit den nackten Zehen im Sand. Weil es kurz zuvor geregnet hat, ist der Sand noch feucht. Die Fußbewegungen hinterlassen Muster auf der Sandoberfläche. Die Erzählungen stoppen. Und immer aufmerksamer betrachten die beiden Mädchen die entstehenden Linien und Kreise. „Sieht aus wie Zauberschrift!“ „Oder wie Zeichen auf ganz alten Grabsteinen, die nur Indiana Jones lesen kann.“ Kim steigt aus dem Sandkasten und kniet sich auf die feuchte Erde. „Lisa, komm, ich mache uns eine bessere Tafel.“ Durch seitliche Einkerbungen leitet sie aus einer Pfütze das Wasser ab. Zurück bleibt eine glänzende, glatte Oberfläche. Ganz vorsichtig malen beide Mädchen Muster in den feuchten Schlamm. „Sieht man unsere Geheimschrift noch, wenn der Boden trocknet?“ Lisa überlegt, ihr Blick wandert durch den Park. Plötzlich springt sie auf und holt eine Handvoll weißen Sand aus der Kakteenecke. Sie füllt den Sand in die mit den Fingern gezogenen Gräben, sodass sich helle Rillen vom dunklen Schlammuntergrund abheben „Sieht aus wie geschrieben, aber mit Weiß auf schwarzem Papier.“
In Kinderaktivitäten kann echte Teamarbeit ablaufen. Das haben wir schon beim Rollenspiel von Moritz, Kai, Steffen und Freddy mit Spannung verfolgen können. Gegenseitige Anregung und gegenseitige Inspiration wirken. Die Ideen des anderen beflügeln das eigene Nachdenken, werden aufgegriffen und ausgebaut, jeweils erweitert um die Spezialitäten eines jeden Gruppenmitglieds. Alle sehen den Fortschritt – und jeder erkennt seine Beteiligung daran. Ein typisches Vorgehen im Gruppenspiel, das das einzelne Kind belohnt und die Gruppe stärkt.
Kinder sind Entdecker und höchst erfolgreiche Autodidakten – vorausgesetzt, sie haben die für diese Aktivitäten nötigen Freiräume. Diese kommen durch eine tragfähige und sichere Bindung und durch echte, bewusst geschaffene Handlungsspielräume zustande.
Die folgenden Leistungen kindlichen Entdeckungsdrangs haben wir alle schon kennengelernt:
Kinder entdecken ihren eigenen Körper, seine Bewegungsfähigkeit und im Spiegel der Erwachsenen sich selbst.
Kinder lieben positive Verunsicherung und streben danach, einer Sache auf den Grund zu gehen.
Sie suchen nach Ursachen, Konsequenzen und Zusammenhängen und bemühen sich, das alles zu verstehen.
Sie merken ihren Einfluss und ihre Wirksamkeit an Prozessen, die sie selbst in Bewegung gebracht haben – auch an den Verhaltensänderungen ihrer Interaktionspartner.
Durch provokante Vorstöße ins Gruppenleben testen sie ihre Möglichkeiten, ihren Verhaltensspielraum aus. Als Messlatte dienen ihnen die Kommentare und Reaktionen der anderen.
Neugierig, offen und motiviert für Neues sind sie, sobald sie sich geborgen fühlen, interagieren, kommunizieren und sich frei bewegen können.
Im folgenden Text erfahren Sie, …
dass Kinder hochmotiviert erforschen. Dabei beachten sie all das besonders, was vom bisher Erlebten abweicht. Gänzlich Neues lockt ihre Aufmerksamkeit. Bekanntes beruhigt sie, weil es eine Bestätigung ihrer Kenntnisse bedeutet.
dass Kinder auch passiv – allein durch Zuschauen – erforschen, nach dem Motto: „Man muss nicht jede Erfahrung selbst gemacht haben“.
dass Kinder naturgemäß Strategien haben, die ihnen Zugang zu Schlüsselqualifikationen verschaffen, die ihnen später manche Tür öffnen helfen.
Schritt für Schritt tasten sich Wissenschaftler an das Muster kindlicher Selbstbildungsprozesse heran, um zu verstehen, wie Kinder – wenn sie ungestört sind – sich selbst Wissen und Fähigkeiten aneignen.
Die ersten Zutaten sind bekannt: Erkunden, Spielen, Nachahmen, phantasievolles Gestalten und Erfinden. Diese Strategien zum Erfahrungserwerb haben ihre große Bedeutung in der Kindheit. Doch sie wirken weiter. Sie sind das naturgegebene Programm zur Entwicklung jedes Fortschritts. Sie gelten unter Heranwachsenden und Erwachsenen. Anfangs noch in Kinderausführung, später dann ausgewachsen – aber im Grunde identisch – sind sie die natürlichen Triebfedern, die letztendlich die Entfaltung von menschlicher Kultur, Wissenschaft und Kunst über Jahrmillionen möglich gemacht haben. Immer vorausgesetzt, es liegen Entwicklungsbedingungen vor, die ihre Entfaltung, ihr spielerisches Erproben und ihren kreativen Einsatz möglich machen.
Der kindlichen Selbstbildung stehen aber noch weitere Ressourcen zur Verfügung. Viele kennen wir noch gar nicht. Doch bereits bekannt ist die kindertypische Begabung, Interesse, Konzentration und Ausdauer „auf den Punkt genau“ zu bündeln, wenn etwas die Wissbegierde geweckt hat. Jetzt ergreifen Kinder auf eigene Initiative hin jede Chance, sich mehr Wissen zu verschaffen. Dazu erstellen sie sich wie Wissenschaftler Untersuchungsprogramme, um durch kontrollierte Tests mehr Einblick zu gewinnen.
Falls Sie glauben, dass wir hier wohl etwas übertreiben und Kinder überschätzen, wird Sie das nächste Beispiel vom Gegenteil überzeugen:
Der vierjährige Nico spielt in seiner aus Holzbausteinen errichteten Dachgarage mit Metall- und Plastikautos. Auf engstem Raum rangiert er die Wagen um und parkt sie neu ein. Dabei bricht eine Garagenwand ein und mehrere Autos stürzen zu Boden. Nico beginnt die Garage zu reparieren, hält dann aber inne und wendet sich den heruntergefallenen Autos zu. Zuerst nimmt er ein Metallauto in die Hand und lässt es mit erhobenem Arm aus etwa einem Meter Höhe auf den Boden fallen, danach aus identischer Höhe ein Plastikauto. Abwechselnd wiederholt er diesen Vorgang mit Metall- und Plastikautos, wobei er jeweils mehrere Wagen der beiden Materialien verwendet. Lautmalerisch imitiert er das unterschiedliche Aufprallgeräusch auf dem Holzboden. Er nimmt noch einen Holzbaustein, einen alten Herrenhut und zum Abschluss einen Wollfaden in den galileischen „Fall-Test“ auf. Jeder Untersuchungsgegenstand wird mehrfach getestet. Danach scheint Nico diesen Spielabschnitt zu seiner Zufriedenheit beendet zu haben. Denn er wendet sich summend der Garagenreparatur und dem erneuten Einparken zu.
Kindheit verändert sich immer schneller immer mehr.
In den Kinderspielgruppen traditionaler Gesellschaften entstand eine eigenständige Kinderkultur, die ohne Zutun der Erwachsenen von den älteren an die jüngeren Kinder weitergegeben wird: vor allem Spiele, Reime und Verse.
Doch noch weit komplexere Aspekte des Sozialverhaltens wurden von den größeren Kindern an die jüngeren vermittelt.
Wie man miteinander Kontakt aufnimmt, Konflikte löst, seinen Verhaltensspielraum auslotet – also seine Möglichkeiten und Grenzen erkundet – und Beziehungen untereinander gestaltet, wurde vorgelebt, gezeigt und kontrolliert. Wer passen und dazugehören wollte, hielt sich daran.
Die Sozialisation eines Kindes lief zwar in Hör- und Blickkontaktnähe zu den Erwachsenen ab, wurde jedoch im Wesentlichen in der altersgemischten Kindergruppe vollzogen – auf der Basis von Selbstentdeckung und gewähltem und deshalb akzeptiertem Vorbild.
Dieses Modell entspricht mit Sicherheit den erprobten und erfolgreichen Sozialisationserfahrungen der menschlichen Stammesgeschichte. Es funktionierte so lange, bis Landwirtschaft, Industrialisierung, Trennung von Arbeits- und Familienwelt und nun vor allem Migration die Lebens- und Arbeitsbedingungen einschneidend veränderten.
Einen echten Ersatz gibt es noch nicht. Bei uns versuchen geschulte Erwachsene als Tagesmutter oder Erzieherin in Krippe und Kita einen Ausgleich zu bieten.
Die Simulation ist nicht perfekt:
Die Einrichtung ist völlig getrennt vom Bereich der Kernfamilie, ein spontanes Aufsuchen der Eltern ist nicht möglich. Nichtverwandte, anfangs fremde Betreuerinnen treten an ihre Stelle.
Die freie räumliche und soziale Entfaltung fehlt, weil Spielplatz und Spielpartner nur begrenzt zur Wahl stehen.
Der Altersabstand zwischen den Kindern ist gering, sodass Vorbild, Schutz und Erfahrungen älterer Kinder kaum verfügbar sind.
Erwachsene übernehmen die Strukturierung der Gruppe und die Organisation der Spielaktivitäten, was kindliche Entscheidungsmöglichkeiten einschränkt und zu Abhängigkeit und Erlebnisarmut führen kann.
Alle Angebote bleiben auf den Ort der Einrichtung beschränkt, es erfolgt keine echte Integration in die Familienwelt des Kindes.
Die Elementarpädagogik versucht, die genannten Defizite durch Vernetzung im Sozialraum, Eingewöhnungsprozedere, vielfältig gestaltete Lebenswelten, große Altersmischung, Freispielzeit und offenes Arbeiten bewusst an kindlichen Entwicklungsbedürfnissen orientiert auszugleichen.
Immer mehr wird versucht, die Interessen und Fähigkeiten der Kinder zu beantworten.
Es ist im Prinzip kein großer Unterschied zwischen der Motivation eines spielenden Kindes und eines Wissenschaftlers:
In beiden Fällen beruht sie auf Neugierde. Eine Vielzahl immer wieder systematisch variierter Versuchsanordnungen und deren konsequente Wiederholung bestätigen oder revidieren bislang vorhandenes Wissen und bereiten Gedankenblitze für ein neues, nun erweitertes Verständnis vor. Kind wie Wissenschaftler wollen dabei nicht gestört werden. Auch die Funktionslust wirkt selbstbildend. Es ist die immer und überall zu beobachtende Tatsache, dass Kinder komplizierte – also schwer zu erlernende – Bewegungsabläufe unermüdlich wiederholen, um sie zu beherrschen und zu perfektionieren.
Stark motiviert eignen sie sich ein selbst auferlegtes Bewegungsprogramm an – Kickboard-Fahren, Fahrradfahren ohne Hilfsräder, auf Stelzen gehen – allein dadurch belohnt, dass sie ihre Anstrengung spüren und ihren Erfolg sehen. Unermüdlich wird die Bewegungsfolge wiederholt: Ein Durchgang animiert zum nächsten. Einen Fehler will man sofort ausgleichen, einen Erfolg gleich wiederholen. Sie wollen es können. Freude und Selbstbewusstsein wachsen mit der Größe der Aufgabe und der gemeisterten Schwierigkeit. Das Wiederholen von Spielsequenzen ist ein Geheimtipp, der sich offensichtlich im Laufe der Evolution als wesentliche Voraussetzung für Erkenntnisgewinne herumgesprochen hat. Und Spaß macht es auch noch – besonders dann, wenn Gegenstände oder Spielpartner auffällig reagieren, etwa besonders amüsiert oder ganz unerwartet. Umweltreaktionen erfreuen Kinder, sie belohnen sie.
Doch nicht genug. Das Wiederholen im Spiel bringt wichtige Erfahrungen:
Wissenschaftlich durchaus korrekt, wiederholt ein Kind seine Handlungen auch deshalb mehrmals, weil es nur auf diesem Weg mit Sicherheit gesetzmäßige Konsequenzen seines Tuns von einem zufälligen Zusammentreffen mit anderen Ereignissen unterscheiden kann.
Lea (2 Jahre alt) knipst den Lichtschalter der Deckenlampe 32-mal an und aus. Dabei schaut sie auf den Schalter, knipst, schaut auf die Lampe, schaut zum Schalter, knipst wieder, schaut zur Lampe …
Sie will nicht nerven. Sie will nur feststellen und sich dann selbst noch davon überzeugen, dass es ihr Fingerdruck ist, der hier für Licht und Dunkelheit sorgt – nicht etwa Papa, der mit der Zeitung wackelt. Natürlich ist es auch schön, seinen Einfluss auf den ganzen Raum und auf die Tätigkeiten der anderen noch anwesenden Familienmitglieder festzustellen.
Linn (1 1/2 Jahre alt) sitzt im Hochstuhl. Auf dem Tisch vor ihr liegen Holzbausteine. Einen nach dem anderen nimmt sie in die Hand, hebt den Arm, öffnet das Händchen – und der Baustein fällt mit typischem Geräusch zu Boden. Sobald alle Bausteine gelandet sind, strahlt sie ihre Mutter an und signalisiert ihr, die Steine doch bitte wieder aufzuheben. Das Spiel beginnt von neuem. Plötzlich läutet es. Linn schaut auf, schaut ihre Mutter an. „Das ist die Türklingel,“ sagt diese. Dennoch schaut Linn misstrauisch auf die am Boden liegenden Bausteine. Vielleicht ist ja doch einer dabei, der den besonderen Ton gemacht hat.
Dass jetzt noch einige Male Bausteine hochgeholt und wieder runtergeworfen werden müssen, ist klar. Am besten klingelt Mama noch mal für Linn an der Tür. Sonst kann sie nicht sicher sein, dass das andere Geräusch tatsächlich die Türglocke war – und nicht einer ihrer Bausteine.
Abwechseln und Abwandeln von Spielhandlungen
Nico hat bei seinem Experiment neben der Wiederholung auch noch das Abwechseln und Abwandeln von Spielhandlungen eingesetzt. Durch Variationen des eigenen Verhaltens – zuerst prüfte er den Fall der Autos, dann des Bausteins, des Huts und schließlich des Wollfadens – konnte er auch Unterschiede bei den Reaktionen feststellen und die Materialien in ihren Fallbesonderheiten unterscheiden lernen.
„Jetzt hast du doch schon gesehen, wie Wasser in diesen zwei Bechern aussieht. Warum musst du denn jetzt auch noch Wasser in einem Glas ansehen – und das auch noch schmutzig machen? Gleich fällt es dir noch runter.“ Eine recht häufige, aber dennoch ungünstige Reaktion von Erwachsenen auf ihre experimentierenden Kinder.
Spielerisches Nachahmen
Eine weitere wichtige Zutat zur Selbstbildung ist spielerisches Nachahmen Von Kindern etwa ab dem siebten bis achten Lebensmonat an weiß man, dass sie ihre Mütter oder Väter bei sich wiederholenden Tätigkeiten immer wieder intensiv beobachten, um die Tätigkeiten dann schließlich selbst durchführen zu können. Der genaue Ablauf dieses speziellen Erkundungsprozesses erfolgt meist nach einem bestimmten Schema: Zuerst beobachtet das Kind mehrmals die Bewegungen der Mutter. Seine Augen begleiten mit hoher Anspannung die mütterlichen Routinetätigkeiten. Kennt es schon in etwa die Stationen des Ablaufs, kann man sehen, dass die kleinen Augen den mütterlichen Handlungen mitunter vorweg eilen, das Kind also schon ahnt, wie ihr nächster Schritt aussehen wird. Manche Kinder „durchlaufen“ den Gesamtvorgang nochmal allein mit den Augen, sozusagen „zur Probe“, bevor sie dann die Handlung selbst ausführen – übrigens unabhängig davon, was die Mutter nun zeitgleich gerade tut.
Wie viel einfacher hat es ein Kind, dessen Mutter sein Interesse bemerkt und durch ein Lächeln begrüßt, danach vielleicht einzelne ihrer Tätigkeiten kommentiert. Das Kind nun gleich gezielt anzuleiten, zum Mitmachen zu bewegen, wäre sicher nicht richtig. Die soziale Einbeziehung und das visuelle Angebot reichen für den Anfang bei weitem aus. Ist der Zeitpunkt gekommen, an dem das Kind selbst aktiv werden möchte und sich das auch zutraut, wird es diesen Entwicklungsschritt von selbst signalisieren.
Was andere Kinder– vor allem schon ältere – oder die Eltern oder andere wichtige Erwachsene machen, ist schon deshalb interessant, weil sie es machen. Es scheinen Handlungen der großen weiten Welt zu sein – sofort erkannt als aus dem „echten Leben“ stammend – die besonders attraktiv erscheinen und zum Imitieren reizen. Der Einsatz von „Echtzeug“ – Alltagsgegenständen – lockt Kinder weit mehr und vor allem längerfristig als Spielzeug.
Zu oft werden Kindern Pseudowelten zum Probeleben geboten statt echter Erlebnisse
Mit Waldtagen, Abenteuerspielplätzen, der monatlichen Spezialaktivität und Werkbänken in Kindergärten und Schulen sind wir zwar schon ein ordentliches Stück weiter. Doch es sind immer noch „Erfahrungsinseln“, die angeboten werden. Warum, wenn doch ganze „Kontinente“ zum Erforschen zur Verfügung stehen? Ingrid Miklitz, eine der Pionierinnen des lebenspraktischen Ansatzes, drückt es passend aus: Statt in funktionsfähigen, offenen Küchen dürfen die neugierigen, intelligenten, wissenshungrigen „Kleinen“ nur in ihrer Puppenküche hantieren. Mit Holzäpfeln, die sich (man staune) mit einem stumpfen Holzmesser teilen lassen – dank Klettverschluss!
Diesen Artikel haben wir aus fogendem Buch entnommen:
Das kindliche Spiel als Bildungsmittelpunkt für Kinder
Wenn sich kindheitspädagogische Fachkräfte mit dem großen und gleichzeitig bedeutsamen Thema „Psychologie des Spiels“ auseinandersetzen wollen, wird zunächst eines sehr deutlich werden: es gibt kaum einen zweiten Themenschwerpunkt in der Psychologie und Pädagogik, der in einem gleichen Maße so umfangreich in der Fachliteratur berücksichtigt und behandelt wurde/ wird. So sind hunderte von Büchern auf dem Markt, die sich dem Spiel zuwenden. Und es gibt weltweit Tausende wissenschaftliche Untersuchungen, die sich jeweils ganz bestimmten Phänomenen im weiten Feld der Spielpsychologie und Spielpädagogik gewidmet haben. Die Frage nach dem „warum“ ist auf den ersten Blick vielleicht schnell zu beantworten – weil das Spiel(en) in allen Kulturen und zu allen Zeiten ein fester Bestandteil im Leben des Menschen war bzw. ist und dadurch überall eine große Beachtung findet.
Die Quelle von allem Gutem liegt im Spiel. (Friedrich Fröbel)
Ob in der Steinzeit, der Antike, im Hochland von Mexiko oder im alten Ägypten, im Mittelalter, in sakralen Handlungen oder auf Hinterhöfen: auf der ganzen Welt legen Aufzeichnungen, Dokumente und Berichte Zeugnis davon ab, dass das Spiel aus dem Leben des Menschen nicht wegzudenken war und es damit ganz offensichtlich eine wichtige Funktion im Leben von Menschen erfüllt hat. Insofern kann dieses wichtige Phänomen Spiel auch in der Alltagspädagogik gar nicht ausgeblendet werden, sondern muss zweifelsohne eine Berücksichtigung in der Kleinkindpädagogik finden. Andreas Flitner, einer der großen Spielforscher des letzten Jahrhunderts, schrieb:
„Das Kinderspiel ist eine zu auffällige Erscheinung aller Zeiten und aller Kulturen, als dass die Menschen es nicht von jeher beachtet […] hätten […]. Schon die frühesten Bilder des alten Reichs der Ägypter zeigen Puppen, Spieltiere, Bälle und Wagen zum Ziehen; sie zeigen Kinder, die tanzen und hüpfen, übereinander wegspringen und sich balgen, ja sogar theatralische Szenen spielen und dabei Masken tragen […]. In der vorindustriellen Gesellschaft haben die Kinder auch unmittelbar an den eigenen Spielen der Erwachsenen teilgenommen […], so wie ihr ganzes Kinderleben noch in das Leben und Arbeiten der Erwachsenen eingefügt war. Erst das Industriezeitalter zerstörte diese Gemeinschaft. Erst an der Schwelle entstand deshalb die moderne pädagogische Reflexion, welche Theorie und Erforschung des Kinderspiels ermöglichte.“ (2011, S. 13).
Heute hingegen verbinden viele Menschen mit dem Begriff Spiel weniger bedeutsame Lebensrituale oder gesellschaftspolitische Aspekte als vielmehr die einfache Gleichung, dass das Spiel vor allem etwas sei, was zu Kindern gehöre. Jeder, der sich mit seiner eigenen Kindheit beschäftigt, wird automatisch auch an eigene Kinderspiele denken.
Nebenbei fällt aber auch auf, dass das Wort selbst in unserer Sprache häufiger vorkommt als auf den ersten Blick gedacht. So sagen wir bei Dingen, die uns unwichtig erscheinen: „Das spielt doch keine Rolle.“ Menschen, die ein hohes Risiko eingegangen sind, haben „alles aufs Spiel gesetzt“ und wenn eine befreundete Person etwas getan hat, durch das man selbst tief verletzt wurde und von der man sich nun trennen wird, „hat ein für alle Mal verspielt“.
Menschen, die das Leben nicht so ernst nehmen, besitzen aus Sicht der ernsthafteren Personen eine „Spielernatur“ und andere wiederum sind der festen Überzeugung: „Das ganze Leben ist einSpiel“. Wenn jemand ein außergewöhnlich hohes Risiko eingeht, dann sagen wir, die Person „spielt mit dem Feuer“ und wenn jemand etwas nicht versteht, heißt es: „Der weiß gar nicht, was hier gespielt wird.“ Menschen, die viele Schicksalsschläge hinnehmen mussten, wurde „im Leben übel mitgespielt“ und einem Übeltäter kann es passieren, dass er bei seiner Festnahme die Worte hört: „Das Spiel ist aus.“
So vielschichtig die jeweiligen Bedeutungen dieser alltagssprachlichen Aussagen sind, so unterschiedlich werden auch in der Psychologie sowie der Pädagogik des Spiels bestimmte Phänomene betrachtet. Doch darf diese Tatsache nicht dazu führen, dass man sich weniger ernsthaft diesem „Phänomen Spiel“ zuwendet.
Im Gegenteil: Es kommt darauf an, aus der ungewöhnlich großen Menge fachwissenschaftlicher Arbeiten das Wesentliche zu entdecken und für die Praxis nutzbar werden zu lassen. Im Rahmen des 16. Weltkongresses der Internationalen Gesellschaft für Spiel (IPA- International Play Association), die 2005 in Berlin tagte und bei der sich Fachleute aus aller Welt darüber austauschten, welche Rolle das Spiel(en) heute einnimmt und auch weiterhin dringend einnehmen muss, äußerte sich beispielsweise Jan van Gils, der damalige IPA-Präsident (IPA = International Play Association) damals wie folgt:
„Allzu oft wird Spiel als Zeitvertreib betrachtet, um Kinder ruhig zu halten bis sie erwachsen sind. Allzu oft wird Spiel auch als ein Bildungswerkzeug angesehen. Aber nur selten ist man sich der Tatsache bewusst, dass Kinder beim Spielen für das Leben lernen.“
Mit allen Sinnen spielen ist sinnvolles Spielen, heißt sich in die Welt zu begeben und sich mit ihr auseinanderzusetzen. (Renate Zimmer)
Zur Theorie des Kinderspiels
Ein Blick in die Zeitgeschichte zeigt, dass verschiedene Vertreter aus den Bereichen der Philosophie, Theologie, Psychologie, Pädagogik, Medizin, Soziologie und der Anthropologie ihre Einschätzung zur Funktion und Bedeutung des Spiels für die Entwicklung des Menschen vorgenommen haben. So unterschiedlich die Berufsfelder auch sind, so unterschiedlich, widersprüchlich und gegensätzlich sind auch deren Sichtweisen. Aus ihnen entstanden Meinungen und Hypothesen, warum Kinder in den meisten Fällen gerne und intensiv spielen, welche Wirkungen das Spiel auf die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit hat, ob das Spiel auch einen gesellschaftsrelevanten Sinn besitzt und inwieweit das Spiel im Rahmen unterschiedlicher pädagogischer bzw. psychologischer Zielsetzungen genutzt werden kann. bzw. eingesetzt werden sollte. Aus diesem Grunde scheint es sinnvoll zu sein, die bedeutendsten Grundlagenvertreter, die sich mit dem Bedeutungswert des SPIELS/ SPIELENS von und für den Menschen forschend auseinandergesetzt haben, mit ihren jeweiligen Erkenntnissen und Einschätzungen in Kürze zu nennen (Winter, 2015/ Rieck, 2015).
Hall und Wund, US-amerikanische Psychologen, gehen davon aus, dass sich im Spiel des Kindes die Stammesentwicklung (Phylogenese) des Menschen wiederholt. Sie beziehen sich dabei vor allem darauf, dass Kinder mit Vorliebe Erd-, Holz- oder Baumhöhlen bauen, auf Abenteuerspielplätzen ihrem ungebremsten Entdeckerinteresse nachgehen oder selbst mit Spielgegenständen immer wieder Häuser errichten, mit Dinosauriern hantieren oder Jagdrollenspiele und Ähnliches unternehmen. Spencer vertritt die so genannte Kraftüberschusstheorie. Seiner Meinung nach steckt das Kind voller Energie und nutzt das Spiel dazu, seine unverbrauchte Kraft hierbei umzusetzen. Diese Annahme kann beispielsweise dadurch gestützt werden, wenn wir Kinder beobachten, die gerade bei Bewegungsspielen ein unglaubliches Maß an Handlungsdrang ausagieren. Schaller – ähnlich wie Guts-Muths – glaubt, dass das Spiel dem Menschen die Möglichkeit bietet, nach einer partiellen Erschöpfung einen wichtigen Ausgleich zu finden, und Carr ist davon überzeugt, dass im Spiel aufgestaute Gefühle, dem Menschen inne liegende Instinkte und gedankliche sowie motorische Impulse abreagiert werden können.
Locke gesteht den Kindern zu, das Spiel aus dem Grunde zu erleben, weil es im Gegensatz zum Erwachsenen noch nicht in der Ernsthaftigkeit des Lebens eingebunden ist, und Kant sieht im Spiel eine absichtslose Beschäftigung, die der eigenen Muße dienlich ist. Schiller schuf mit seinen philosophischen Betrachtungen über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen eine Vernetzung zwischen Spiel, Schönheit und ästhetischem Sein. Er schätzt das Spiel als etwas so Bedeutsames ein, das den Menschen erst vollständig macht.
Groos vertritt in seiner Einübungs- und Vorübungstheorie die Ansicht, dass das Kind im Spiel die Möglichkeit findet, die vielfältigsten, angelegten Fähigkeiten zu üben und mit zunehmendem Alter in einer Form der Selbstausbildung weiterzuentwickeln. Richter geht von einem experimentierenden Spiel einerseits und vom dramatisierenden Fantasieren und Entladen körperlichen Überschusses durch Bewegung andererseits aus. Dabei geht seiner Meinung nach das Kind mit allen Gegenständen im Spiel so um, als wären sie lebendig.
Stern schätzt das Spiel als eine Tätigkeit ein, die einen direkten Bezug des Kindes zu den drei Zeitdimensionen – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – besitzt und in deren zeitlichen Dimensionen symbolische, magische und entwicklungsausgerichtete, funktionsübende Momente zum Tragen kommen. Bühler gibt der Funktionslust des Kindes mit seiner Spiel- und Wiederholungsfreude die größte Bedeutung und geht davon aus, dass das Kind durch seine hohe Spontaneität immer wieder versucht, aktuell herausfordernde Situationen spielend zu bewältigen und zu meistern.
Für Fröbel wird das Spiel zur höchsten Stufe der Kindheitsentwicklung, in der es vor allem darum geht, Äußerliches innerlich und Innerliches äußerlich zu machen, entsprechend der Vorstellung, dass Eindrücke ausgedrückt werden müssen und das eigene Ausdrucksverhalten einen Eindruck in der Welt hinterlassen soll. Der Holländer Buytendijk vergleicht das Spiel mit einem Theaterstück, in dem es immer einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende gibt. Für ihn geht es um die spielerische Dynamik im Umgang mit Dingen oder Lebewesen, die für das Kind im Spiel eine besondere Bedeutung besitzen und aus diesem Grunde dazu geeignet sind, eine Spieltätigkeit auszulösen.
Der Philosoph und Kunsthistoriker Huizinga geht von einem sehr weiten Spielbegriff aus. Er sieht die gesamte Kultur als eine Form des Spiels an, indem er beispielsweise die Spielregeln in der Kommunikation als ein „Spiel mit Regeln“ betrachtet, Menschen ihre individuellen „Spielrollen“ übernehmen und das ganze Leben ein „Spiel“ ist. Piaget ordnet das Spiel des Kindes als einen permanenten Versuch ein, sein Umfeld in das eigene Denken, Handeln und Gestalten einzubeziehen, um erlebte Situationen zu begreifen und möglichst aktiv mitbestimmen zu können. Für ihn ergibt sich daraus die logische Notwendigkeit, dass damit das Kind im Spiel vor allem eine egozentrische Haltung einnimmt und ausdrückt.
Hetzer glaubt im Spiel der Kinder eine wesentliche Möglichkeit ihrer Befriedigung entdecken zu können. Ereignisse, die aus Sicht der Kinder unbefriedigend oder belastend verliefen, können nun durch das Nachspielen und ein anderes Gestalten einen nachträglich besseren Verlauf nehmen als in der erlebten Realität. Haigis glaubt, dass das Spiel vor allem die Lust an existenzieller Erregung für Kinder bedeutet – jedes Risiko schafft ein Erlebnis zur emotional bestärkenden Berechtigung der eigenen Existenz und lässt das Kind damit spüren: „Ich bin wer! Nämlich ich.“ Freud vertritt in der Einschätzung und Beurteilung des kindlichen Spiels die Katharsis Hypothese. Seiner Einschätzung nach führt jedes Spiel zu einer Reinigung (Katharsis) von Erlebnissen, Erfahrungen und Eindrückenaus der Vergangenheit und hilft dem Kind immer wieder aufs Neue, sein seelisches Gleichgewicht aktiv wiederherzustellen.
Diese Übersicht stellt lediglich eine Auswahl an so genannten „Spieltheorien“ dar. Bei näherer Betrachtung können interessierte kindheitspädagogische Fachkräfte zu folgenden Schlüssen kommen:
Jede Einschätzung zur Funktion und Bedeutung des Spiels ist aus einer bestimmten ideologischen Idee oder einem bestimmten Kenntnisstand heraus konstatiert.
Die Einschätzungen des Spiels reichen von einer besonderen Wertschätzung bis zur unumstößlich größten Bedeutung für die kindliche Entwicklung.
Die besondere Bedeutung des Spiels für die weitere Entwicklung des Kindes entstand erst von dem Zeitpunkt an, als auch das Kind selbst (unter dem Gesichtspunkt einer eigenen Entwicklungszeit, der Kindheit) immer stärker in den Mittelpunkt einer respektvollen Betrachtung gerückt wurde.
Eine „alleinige“ Spieltheorie gibt es aufgrund der unterschiedlichen Sichtweisen nicht!
Da das Spiel des Menschen – in der Kindheit, Jugendzeit und Erwachsenenwelt – eine immer schon existierende Ausdrucksform war und ist muss davon ausgegangen werden, dass das Spiel zumindest eine Lebensnotwendigkeit ist.
Die Bedeutung des Spiels für die weitere Entwicklung von Kindern kann aus zweierlei Sichtweisen betrachtet werden: der Erwachsenensicht mit ihren dogmatischen Absichten und aus der Perspektive des Kindes und seinen Entwicklungswünschen, -bedürfnissen und -möglichkeiten. So besteht heute kein Zweifel daran, dass das Spiel in der Entwicklung des Kindes eine ganz zentrale Stellung einnimmt. Spiel ist damit keine reine Spielerei, die je nach Lust oder Unlust umgesetzt oder unterlassen wirdoder durch einen Zufall – spontan – entsteht. So besitzt jede Spielhandlung einen Sinn und jedes Spielverhalten hat einen Hintergrund sowie eine Ursache! Es stecken demnach bestimmte, intrainidividuell vorhandene Bedürfnisse hinter jeder Spielhandlung, die in der Pädagogik – aus der Bewertung einer Geringschätzung oder einem ‚überflüssigen Ausdrucksverhalten, auf das auch verzichtet werden kann‘, nicht negiert werden dürfen.
Man kann die … Auffassung vom Spiel dahingehend zusammenfassen, dass das eigentliche Spielen in erster Linie und vor allem ein Erkenntnisprozess ist. (Brian Sutton-Smith)
So unterschiedlich und auch widersprüchlich die „Spieltheorien“ von ihren Verfasser*innen geprägt sind, so vielschichtig stellt sich das Spiel auch in der Praxis dar. Immer wieder haben Wissenschaftler*innen aus vielen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten versucht, eine Definition des Spiels zu finden und es gibt in der Vielfalt der Literatur auch ungezählte, unterschiedliche Ansätze einer Definition. Vielen Definitionen ist vor allem eines gemeinsam: sie betonen die „freie Handlung“ des Spiels. So haben sich bis in die heutige Zeit zwei Grundaussagen von Huizinga und Caillois durchgesetzt:
„Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selbst hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Anderseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‛.“ (Huizinga 1956, S. 46).
Und Caillois ergänzt diesen Gedankengang:
„Das Spiel ist:
1. eine freie Betätigung, zu der der Spieler nicht gezwungen werden kann, ohne dass das Spiel alsbald seines Charakters der anziehenden und fröhlichen Unterhaltung verlustig ginge;
2. eine abgetrennte Betätigung, die sich innerhalb genauer und im Voraus festgelegter Grenzen von Zeit und Raum vollzieht;
3. eine ungewisse Betätigung, deren Ablauf und deren Ergebnis nicht von vornherein feststeht, da bei allem Zwang, zu einem Ergebnis zu kommen, der Initiative des Spielers notwendiger Weise eine gewisse Bewegungsfreiheit zugebilligt werden muss;
4. eine unproduktive Betätigung, die weder Güter noch Reichtum noch sonst ein neues Element erschafft, und die, abgesehen von einer Verschiebung des Eigentums innerhalb des Spielerkreises, bei einer Situation endet, die identisch ist mit der zu Beginn des Spiels;
5. eine geregelte Betätigung, die Konventionen unterworfen ist, welche die üblichen Gesetze aufheben und für den Augenblick eine neue, allgemeingültige Gesetzgebung einführen;
6. eine fiktive Betätigung, die von einem spezifischen Bewusstsein einer zweiten Wirklichkeit oder einer in Bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird.“
(Caillois 1958, S. 16).
Ergänzt werden kann diese letzte Definition durch die Fixpunkte, die Chateau dem Spiel zuschreibt: Spiele haben keinen materiellen Wert, sie sind durch Freude charakterisiert, die erlebte Spielfreude ist aktiv und unmittelbar, sie zeichnen sich durch einen bestimmten Spielernst aus, sie bedeuten Wettkampf – wenn nicht mit anderen, so mit sich selbst – und das Spielen ist ein Aufsuchen von Schwierigkeiten, um sie selbst zu meistern. (1964). Vielleicht hat Portmann das Spiel am einfachsten und prägnantesten definiert, wenn er schreibt:
„Spiel ist freier Umgang mit der Zeit, ist erfüllte Zeit; es schenkt sinnvolles Erleben jenseits aller Erhaltungswerte; es ist ein Tun mit Spannung und Lösung, ein Umgang mit einem Partner, der mit einem spielt – auch wenn dieser Partner nur der Boden ist oder die Wand, welche dem Spielenden den elastischen Ball zurückwerfen.“ (1976, 60)
Das Menschenleben ist aus Ernst und Spiel zusammengesetzt, und der Weiseste und Glücklichste verdient nur derjenige genannt zu werden, der sich zwischen beiden im Gleichgewicht zu bewegen versteht. (Johann Wolfgang von Goethe)
Diesen Beitrag haben wir folgendem Buch entnommen:
Wenn es gelingt, ein förderliches soziales Klima zu schaffen, wird auch besser gelernt
Erlittene Beschämungen führen zu Angst vor neuen Beschämungen. Angst aber ermöglicht nur ein Lernen, das das rasche Ausführen von einfachen Handlungen zum Ziele hat: Schnell nach links laufen, wenn der Löwe von rechts kommt. […] Denn verhindert wird durch Angst das lockere Assoziieren, das für die Lösung komplexer Probleme unbedingt erforderlich ist. […] Emotion und Kognition, Gefühl und Denken, sind eng miteinander verbunden […]. Sorgen wir dafür, dass dieses Lernen in einer positiven emotionalen Umgebung stattfindet, denn nur dann – so die Gehirnforschung – werden unsere Kinder in 30 Jahren in der Lage sein, das Gelernte nicht nur herzubeten, sondern es zur Lebensgestaltung und Problemlösung aktiv zu nutzen.
Klimaarbeit in der Schule – der Zeitaufwand lohnt sich für alle Beteiligten
Wenn wir mit einer Klasse zu arbeiten versuchen, in der es unterirdisch brodelt, in der einige Kinder Opfer sind und andere die Rädelsführer, dann werden wir sehr viel über die Köpfe hinweg agieren, ohne dass das Wesentliche ankommt. Aber auch wenn es etwas harmloser und ohne „mafiose“ Strukturen zugeht: In einer Klasse, in der sich manche Kinder dumm vorkommen und in der Angst leben, sich durch falsche Antworten zu „outen“ und ausgelacht zu werden, ist mit Konzentration und Lernfreude wenig los.
Auch Klassen, in denen der Wettbewerb das Klima bestimmt und jede gute Note, die ein anderer bekommt, neidvoll registriert wird, sind nicht unbedingt das Umfeld, in dem ich unterrichten wollte.
Es ist also eigentlich ganz einfach: Wenn es uns gelingt, ein förderliches soziales Klima zu schaffen, wird auch besser gelernt. Ich investiere und bekomme dafür Zinsen. Eine kluge Entscheidung!
In der Theorie ist das sehr einleuchtend, doch wie soll das in der Praxis funktionieren? Gewiss nicht dadurch, dass wir Arbeitsblätter ausfüllen, in denen die Merkmale eines gedeihlichen Miteinanders benannt werden sollen. Gutes Zusammenleben und -arbeiten lernt man, indem man es täglich übt, ausdauernd und konsequent, wobei das natürlich nicht so explizit geschieht wie das Einüben des Einmaleins, sondern allmählich, in vielen Mikrosituationen.
Du als Lehrkraft bist dabei in der Klasse ein mächtiger Meinungsführer und kannst alleine durch das, was du vorlebst, einiges bewirken.
Dein positives Verhaltensvorbild wird dann besonders wirksam und wahrnehmbar sein, wenn du es bewusst und betont einsetzt. Das soll nicht heißen, dass du wie ein Schauspieler agierst, indem du etwas darstellst, was nicht authentisch zu dir passt.
Beschämungen – ein unbedingt zu vermeidendes Übel
Nehmen wir das große Thema Beschämungen. In diese Schublade gehört auch der Umgang mit Fehlern. Du wirst sicher – davon gehe ich aus – die pädagogische Haltung vertreten, Kinder sollten nicht beschämt werden, wenn sie etwas Falsches sagen. Aber wird diese deine Haltung auch allen Schülern in der Klasse so deutlich, dass sie das wahrnehmen? Hier kannst du zum Beispiel ganz bewusst als Vorbild auftreten.
Es macht für ein betroffenes Kind, das eine falsche Antwort gibt, einen großen Unterschied, ob du – da diese eine Antwort falsch war – einfach das nächste Kind aufrufst, vielleicht gar noch aus Unüberlegtheit mit der Hand eine abwertende Geste machst, zum Beispiel abwinkst, oder ob du den Mut und die gedankliche Anstrengung dieses einen Kindes explizit würdigst.
Das kostet weder besonders viel Zeit noch Mühe, erspart aber dem Delinquenten das ungute Gefühl, sich blamiert zu haben.
Du könntest zum Beispiel sagen: „Super, Franzi, dass du mitgedacht hast und dass du dich gemeldet hast. Ganz stimmt’s noch nicht. Aber das kriegen wir hin. Wer kann denn jetzt da weiterhelfen?“
In meinen Matheklassen gab es einen Slogan, der von mir gerne eingesetzt wurde und der sicher das Denken der Kinder beeinflusst hat. Ich sagte in den passenden Situationen oft und oft: „Falsch denken ist überhaupt nicht schlimm. Das einzige, was wirklich echt richtig schlimm ist…“ und die Kinder antworteten im Chor: „… gar nicht denken!“
Alleine das häufig wiederholte Erleben eines positiv-wohlwollenden Umgangs mit jedem Schülerbeitrag, oft noch verstärkt durch die „chorische Rezitation“, färbt das Klima in einer Klasse ein wenig hin zum Positiven. Aber das genügt natürlich bei weitem nicht. Gerade das Thema „Beschämung“ hat viele Facetten und muss aus einigen Richtungen angegangen werden.
Dazu möchte ich erst noch einen gedanklichen Schwenk von den Kindern zu uns Lehrern machen.
Sich beschämt zu fühlen, sich hilflos einer demütigenden Situation ausgesetzt zu sehen, das können durchaus auch Lehrer erleben und auch für sie kann das traumatisierend sein.
Ich hatte eine Kollegin, die sich wirklich Mühe mit ihrer vierten Klasse gab. Aber sie war einfach für den Beruf der Lehrerin nicht geeignet. So etwas gibt es gar nicht so selten und es ist das maximale Unglück für alle Beteiligten. Mit dieser Lehrerin gab es zwei Tage vor den Weihnachtsferien einen Eklat, der die Kinder verstörte, aber nicht weniger auch die bedauernswerte Kollegin. Was war geschehen?
Diese Kollegin war – in bester pädagogischer Absicht – mit ihrer Klasse zum Schlittenfahren gegangen, an einen eher bescheidenen Hügel mitten im Dorf, der den Namen „Schlittenberg“ gar nicht richtig verdiente. Aber die Kinder waren fröhlich, es war der vorletzte Schultag vor den Ferien und alle rutschten lachend und voller Freude auf ihren verschiedenen Schlitten den Hang hinunter. Dann geschah das, was bei allgemein aufgekratzter Stimmung schon einmal vorkommen kann: Einer kam auf eine dumme Idee und begann, Schneebälle auf die Kollegin zu werfen. Diese war mit der Situation überfordert, befahl dem Schüler, damit aufzuhören. Aber inzwischen hatten auch einige andere Kinder sich dem Spaß angeschlossen und „bombardierten“ ihre Lehrerin. Irgendwann gelang es dieser, das Treiben zu beenden und in schlechter Stimmung kehrten alle ins Schulhaus zurück.
Dort gab es im Klassenzimmer eine ordentliche Abreibung für die Kinder: Die Lehrerin erklärte, die für den letzten Schultag angesetzte Weihnachtsfeier würde nun ausfallen und sie würde auch keinerlei Geschenke von den Kindern annehmen. Und nach den Ferien – ja, da sollten die Kinder nur sehen! Da würde ein anderer Wind wehen.
Das war natürlich pädagogisch denkbar unselig, aber aus Sicht der Lehrerin zu verstehen. Sie fühlte sich durch ihre Hilflosigkeit bei der einseitigen Schneeballschlacht total beschämt und gedemütigt und saß, als sie mir all das erzählte, weinend bei mir im Büro.
Andererseits waren auch die Kinder völlig verstört und die Weihnachtsferien begannen in sehr gedrückter Stimmung. Besonders schlimm war es, dass sie – und vor allem auch die Eltern der Kinder – auch nach den Weihnachtsferien auf Kriegsfuß mit der Lehrerin standen und sich das zerstörte Verhältnis auch nicht mehr reparieren ließ.
Die Lehrerin meldete sich kurz darauf krank, kam in diesem Schuljahr auch nicht mehr zurück und wurde im Jahr darauf versetzt. Über ihren weiteren beruflichen Werdegang weiß ich nichts, aber mit Sicherheit wird sie im Lehrerberuf nicht glücklich geworden sein.
Natürlich hätte die Kollegin mit der vertrackten Situation wesentlich geschickter umgehen können. Aber das soll hier gar nicht thematisiert werden. Ich möchte vielmehr deine Empathie für ein derartiges Beschämungserlebnis wecken.
Doch so schlimm auch das Erlebnis für diese Lehrerin war: Sie war eine erwachsene Frau und sie konnte eine Möglichkeit finden, der aktuellen Situation zu entfliehen.
Wie aber steht es mit Kindern, die in der Schule beschämt werden? Und das müssen nicht nur wir Lehrer sein, die wir vielleicht aus Unbedachtheit manchmal pädagogisch ungeschickt agieren. Viel häufiger kommt es vor, dass Kinder ganz gezielt und keineswegs „aus Versehen“ von Mitschülern gehänselt, geärgert, ausgegrenzt, kurz: auf schlimme Art beschämt und gedemütigt werden.
Wie sollen solche Kinder sich auf das Lernen konzentrieren, wenn jeder Gang zur Schule mit Angst verbunden ist? Da sind wir Lehrer gefordert, nicht wegzusehen, sondern zu handeln.
Die Maslow’sche Bedürfnispyramide
Der Psychologe Abraham Maslow hat in seiner Bedürfnispyramide die hierarchische Ordnung dargestellt, die für die Entfaltung unserer Aktivitäten von grundlegender Bedeutung ist. Er suchte die Antwort auf die Frage, was Menschen zu ihren Handlungen motiviert. Nach seinem Modell sind unsere Bedürfnisse in fünf aufeinander bezogenen Stufen hierarchisch angeordnet. Bevor wir darangehen, uns denkend und lernend zu entfalten, müssen erst vitale Bedürfnisse befriedigt sein, Maslow nennt sie Defizitbedürfnisse. Werden diese Bedürfnisse nicht befriedigt, kann das zu körperlichen oder seelischen Krankheiten führen. Erst wenn dieser „vitale Sockel“ gefestigt ist, kann unsere Motivation sich auf höhere Bedürfnisse – nach Maslow „Wachstumsbedürfnisse“ – richten (Abraham A. Maslow, Psychologie des Seins, Frankfurt am Main, 1985, S.198 f.).
Maslow erntete für seine Arbeit viel Anerkennung, aber auch Kritik, die sich vor allem daran entzündete, dass er zu seinem Hierarchie-Modell keine umfassenden Studien durchführte, mithin also für manche Fachkollegen nicht „wissenschaftlich“ genug vorzugehen schien, sondern durch Beobachtung, Selbsterforschung, theoretische Ableitung und Überlegung zu seinen Ergebnissen kam.
Er selbst äußert sich im Vorwort zur ersten Auflage von „Psychologie des Seins“ sehr differenziert über das Thema Wissenschaft:
Die Wissenschaft, so wie sie von den Orthodoxen gewöhnlich konzipiert wird, ist für diese Aufgaben (der neuen, persönlichen, erfahrungsgemäßen Psychologien, Anm.d.Verf.) ganz unzureichend. Doch ich bin mir sicher, dass man sich auf diese orthodoxen Wege und Mittel nicht zu beschränken braucht. Man muss nicht vor den Problemen der Liebe, der Kreativität, der Werte, der Schönheit, Imagination, Ethik und Freude abdanken und sie ganz den „Nichtwissenschaftlern“ überlassen, den Dichtern, Propheten, Priestern, Dramatikern, Künstlern oder Diplomaten. […] Nur Wissenschaft kann die charakterologischen Unterschiede im Sehen und Glauben überwinden. Nur Wissenschaft kann fortschreiten. Es verbleibt jedoch die Tatsache, dass sie in eine Sackgasse geraten ist und in einigen ihrer Formen als Bedrohung und Gefahr für die Menschheit angesehen werden kann, zumindest für die höchsten und vornehmsten Eigenschaften und Ambitionen der Menschheit.
(Abraham A. Maslow, a.a.O., S.16)
Ganz gleichgültig, wie wir uns in diesem Fall zum Thema „Wissenschaftlichkeit“ stellen: Ich finde die Beschäftigung mit der Maslowschen Bedürfnispyramide für die tägliche Arbeit in der Schule sehr hilfreich, denn sie hilft uns zu verstehen, wie wichtig es ist, erst einmal den Boden für gelingendes Lernen zu bereiten.
Wir können die schönsten Unterrichtsstunden vorbereiten und die modernste Technik verwenden und dennoch didaktisch erfolglos bleiben, denn:
Ein Schüler,
der auf dem Schulweg regelmäßig traktiert und gehänselt wird,
der jeden Tag in seinem Hausschuh einen Reißnagel findet,
der im Klassenzimmer hinter dem Rücken der Lehrkraft durch aggressive Gestik und Mimik verhöhnt wird,
der im Pausenhof bei Spielen ausgegrenzt oder getriezt wird, z.B. durch das Wegnehmen seiner Mütze,
so ein Schüler hat ganz andere Dinge im Kopf als die Rechtschreibregeln für Dehnungen und Schärfungen oder das korrekte Anwenden eines Algorithmus beim Rechnen.
Kinder, die Derartiges erleben, haben existentielle Ängste, wenn sie in die Schule gehen müssen.
Die angeführten Gemeinheiten sind nur ein Bruchteil dessen, was es an Schikanemöglichkeiten gibt und dass die sozialen Netzwerke diese Palette noch aufs Unseligste erweitert haben, macht alles nur noch schlimmer.
Deshalb ist es für uns Lehrer von oberster pädagogischer Priorität, uns mit aller Macht darum zu bemühen, dass Kinder sich in der Schule, die sie ja nolens volens besuchen müssen, sicher fühlen und eine Chance haben, sich in die Peergroup – in diesem Fall die Klasse – zu integrieren.
Niemand von uns kann zaubern und es werden immer wieder Dinge geschehen, die nicht gut sind. Aber wir können uns auftretenden Problemen stellen, mutig hinschauen statt feige wegzusehen und uns mit allen Kräften darum bemühen, das Richtige zu tun.
Kinder wollen gesehen werden – das ist gelebte Akzeptanz
Wenn wir in unserer Klasse sozialklimabewusst agieren wollen, dann heißt das nicht unbedingt, dass es nur um die wirklich schlimmen Dinge geht, sondern das Ganze beginnt sehr niedrigschwellig.
Wie ich zum Thema „Beschämung vermeiden“ bereits gesagt habe: Wir als Lehrer können eine bestimmte Haltung demonstrativ vorleben.
Das ist eine Facette des Prismas. Eine weitere, wichtige Facette ist das Ernstnehmen kindlicher Befindlichkeiten. Das kann allein schon dadurch geschehen, dass wir von Zeit zu Zeit abfragen, wie es den Kindern mit bestimmten Themen oder Inhalten geht, z.B. mit den Hausaufgaben, mit dem täglichen Kopfrechnen, mit der Freiarbeit, mit dem Spielangebot in der Pause, mit den Portfolioproben, mit den Aktivitäten bei einem Projekt usw.
Und natürlich gehört zu diesem Ernstnehmen auch der individuelle Umgang mit einzelnen Kindern. Ob es um Angst vor Proben, um Zornschübe bei wiederholten Misserfolgen, um Frustrationserlebnisse, z.B. bei Über- oder Unterforderung oder um kleine Streitereien unter den Kindern geht: Es macht einen riesigen Unterschied, ob wir sagen: “Stell dich nicht so an“ oder „Das ist doch nicht schlimm“ oder „Du bist doch schon groß“ und was es sonst noch an pädagogischen Floskeln gibt oder ob wir zunächst einmal einfach einem Kind zuhören und ihm seine Emotionen zugestehen, was nichts anderes heißt als das Kind in seinem So-Sein zu akzeptieren. Dieses Akzeptieren ist im Grunde keine große Sache: Es genügt oft, einem Kind Verständnis dafür zu signalisieren, dass es jetzt traurig, enttäuscht oder was auch immer ist und vielleicht – je nach Lage – zu fragen, ob und wie man helfen kann.
Ich erinnere mich an eine Szene auf dem Pausenhof unserer Schule: Eine meiner Erstklässlerinnen hatte wohl Streit mit anderen Kindern und kam weinend zu mir, fasste mich um den Bauch und schluchzte ganz erbärmlich. Ich sagte zu ihr: “Ja, wein dich erst einmal richtig aus, das tut dir gut!“ Neben mir stand eine Kollegin, die meine Reaktion wohl überhaupt nicht verstand und sagte: „Also, weinen lass ich sie nicht! Die hören ja nicht mehr auf, wenn sie einmal anfangen!“
Ich vermag mir nicht vorzustellen, wie das geht, „sie“ nicht weinen zu lassen.
Die Wandzeitung – ein Vermächtnis von Celestin Freinet
Andere Ansätze zu sozialer Klimaarbeit
Es gibt einige Ansätze, Streit und Negativverhalten in Klassen zu verringern: Das sind zum einen die Streitschlichter, also Grundschüler, die ein entsprechendes Training absolviert haben, um bei Streitigkeiten vermitteln zu können. Dann gibt es die von der Polizei angebotenen Projekte „aufgschaut“ und „zammgrauft“ für Grundschulkinder und Jugendliche.
Dass diese Ansätze überhaupt existieren bedeutet die Anerkennung der Wichtigkeit von Prävention, und das ist sicher sehr positiv. Inwieweit dadurch das tägliche Miteinander langfristig und nachhaltig für alle Mitglieder einer Gruppe – hier: einer Klasse – zum Guten verändert wird, kann ich nicht fundiert beurteilen.
Ich kann nur aus eigener Anschauung berichten, dass etwa beim Programm „aufgschaut“ auch dann, wenn alle Gruppenaktivitäten und Sozialspiele der Projektmappe absolviert wurden, die daraus kognitiv gewonnen Einsichten beileibe nicht in den schulischen Alltag übertragen wurden.
Die Wandzeitung Celestin Freinets: Der Königsweg für soziale Klimaarbeit
Das kommt dir wahrscheinlich jetzt ziemlich vollmundig vor, wenn ich von einem Königsweg spreche, denn umfangreiche Studien zur Wandzeitung kann ich nicht zitieren, wohl aber über meine jahrzehntelange Erfahrung damit berichten.
Ein unschlagbarer Vorteil der Regelschule ist es, dass wir Lehrer die pädagogische Freiheit haben, unsere Lehrmethoden und unsere pädagogischen Schwerpunkte selbst zu wählen, ohne einem bestimmten System verpflichtet zu sein. Seit einigen Jahren ist der Klassenrat in Mode gekommen, der sich ableitet von der Wandzeitung des Reformpädagogen Celestin Freinet. Dieser Klassenrat hat – außer, dass er wöchentlich abgehalten wird – nicht unbedingt noch sehr viel mit dem ursprünglichen Vorgehen Freinets gemein.
Bei Freinet ging es ganz vorrangig um das gute Miteinander, um die Förderung einer positiven Gemeinschaft, mithin um das Erzeugen eines förderlichen Sozial- und Lernklimas und die Themen ergaben sich aus dem Klassenleben der vergangenen Woche:
Die Wandzeitung, die in der Sitzung der Klassenversammlung am Ende der Woche vorgelesen wird, veranlasst immer eine Gewissenserforschung, die für die Gemeinschaft vorteilhaft ist. […] Dies alles vollzieht sich in einem mehr und mehr hilfreichen Milieu, das für das Gemeinschaftsleben eine unablässige Kraftquelle darstellt.
(Elise Freinet, Erziehung ohne Zwang, München, 1986, S.110)
Freinet hatte in seiner Wandzeitung vier Spalten: „Ich kritisiere, ich beglückwünsche, ich möchte gerne, ich habe verwirklicht.“ Diese Einträge wurden – für alle sichtbar! – im Laufe einer Woche gesammelt.
Ein Mittel, die Schüler zu einem ehrlichen und guten mitmenschlichen Verhalten zu führen, sieht Freinet in der Wandzeitung oder dem Wandtagebuch. […] Sie (die Wandzeitung, Anm.d.Verf.) ist in vier Felder eingeteilt, in die die Schüler im Laufe der Woche ihre kritischen Bemerkungen, ihre Vorschläge und ihre Erfolge eintragen. […] Mit Hilfe dieser Wandzeitung, die Freinet schon von den Schülern der ersten Klasse anfertigen lässt, will man die Kinder zur Ehrlichkeit gegen sich und andere und zur Selbstkritik erziehen. Macht der Schüler eine Eintragung, so muss er seinen Namen dazusetzen; eine anonyme Eintragung gibt es nicht.
Das Original von Freinet ist für die Klassengemeinschaft so wertvoll, dass wir keine grundsätzlichen Veränderungen vornehmen sollten. Über die verschiedenen Einträge bekommst du auch mit, wenn sich unter der Oberfläche in deiner Klasse Animositäten zusammenbrauen oder sich Unlust breitmacht.
Wenn die Spalte der kritischen Eintragungen länger wird, während gleichzeitig die der Glückwünsche kürzer wird, wenn die Vorhaben selten werden und die Verwirklichungen an Geschwindigkeit verlieren, ist eine Wiederbelebung nötig. Wenn immer die gleichen Namen wegen Verfehlungen in den Kritiken erscheinen, muss man den vom rechten Weg Abgewichenen helfen, den richtigen Weg wiederzufinden.
(Elise Freinet, a.a.O., S.109)
Diese Idee, durch eine Mitteilung in der Wandzeitung den Kindern Gelegenheit zu geben, sich auf der Stelle zu äußern, wenn sie etwas loswerden wollen, war für mich absolut überzeugend. Deshalb führte ich vor vielen Jahren, lange bevor der Klassenrat in Mode kam, die Freinetsche Wandzeitung ein.
Die Vorteile lagen für mich auf der Hand:
Kinder haben ein Sofort-Ventil für das, was sie der Welt mitteilen wollen.
Jedes Kind muss seinen Eintrag unterzeichnen.
Es gibt keine Heimlichkeiten.
Jeder weiß, was beim Klassengespräch verhandelt werden wird.
Nach einigen Experimenten sah die konkrete Durchführung bei mir so aus: An der rückwärtigen Pinnwand war ein Platz als Wandzeitung definiert. Es gab zwei Abteilungen: Das gefällt mir und Das freut mich auf der einen Steite und Das gefällt mir nicht und Das ärgert mich auf der anderen Seite.
Auf einem halbhohen Regal unter der Wandzeitung lag ein Stoß Zettel im Format DIN A6 sowie eine Schachtel mit Stiften. In der Pinnwand steckten Nadeln. Wer nun etwas mitzuteilen hatte, konnte jederzeit zur Wandzeitung gehen, einen Zettel beschriften und diesen in der passenden Abteilung an die Wand pinnen.
Die Regeln für die Wandzeitung waren:
Jeder Zettel ist unterschrieben, anonyme Zettel werden abgenommen.
Es gibt eine einzige Unterschrift pro Zettel, keine „Massenmeldungen“
Wenn man sich über einen Mitschüler beschwert, muss das sachlich formuliert werden und nicht auf herabsetzende Weise.
Am Donnerstag nach der Schule nahm ich die Zettel ab und am Freitag wurden dann in einer sozialen Stunde die Zettel gemeinsam gelesen. Wie im Freinet-Zitat beschrieben, galt auch bei uns das besondere Augenmerk einer Häufung von negativen Äußerungen zu einem bestimmten Sachverhalt oder zu einem bestimmten Kind.
Entscheidend für den Erfolg: Es gibt bei Konflikten nicht Sieger und Besiegte! Jeder muss sein Gesicht wahren können!
Ob ein Kind in der Pause ein anderes attackiert, ein Schüler beim Sportunterricht dauernd stört, jemand das Material von einem Mitschüler kaputt macht oder Sonstiges: Niemals kann es die Lösung sein, dass ein Kind sich für sein Fehlverhalten entschuldigt und der „Geschädigte“ diese Entschuldigung annimmt.
Was würde das bedeuten? Der „Übeltäter“ müsste nicht nur einsehen, dass er falsch gehandelt hat, sondern er müsste auch in einer „Unterwerfungsgeste“ das öffentlich gestehen und um Verzeihung bitten.
Wenn aber – aus welchen Gründen auch immer – die ganze Wahrheit überhaupt nicht ans Licht gekommen wäre? Wenn der Täter vom Opfer so oft gereizt und attackiert worden wäre, dass ihm irgendwann der Kragen platzte und er dann ungeschickterweise dem anderen eins verpasste und so plötzlich als der Böse dastand? Natürlich ist es nicht die richtige Art und Weise, seine Emotionen – seien sie auch noch so berechtigt – durch Gewalt abzureagieren. Aber sich dann auch noch öffentlich beschämen lassen? Das erzeugt sicher aufs Neue negative Gefühle, die dann auch wieder irgendwann abreagiert werden müssen.
Oder ein Schüler ist wirklich ein „Rambo“, der sofort zuschlägt, auch ohne besonderen Grund. Wird der nach einer öffentlichen Entschuldigung einsehen, dass das falsch war und sich hinfort besser benehmen? Sicher nicht!
Was wir durch ein derartiges oberflächliches „Entschuldigungswesen“ allenfalls erreichen, ist Unehrlichkeit im Umgang mit Konflikten.
Blicken wir noch einmal auf das oben angeführte Zitat:
Mit Hilfe dieser Wandzeitung, die Freinet schon von den Schülern der ersten Klasse anfertigen lässt, will man die Kinder zur Ehrlichkeit gegen sich und andere und zur Selbstkritik erziehen. (Hans Jörg, a.a.O., S.156)
Stress, Druck und Hetze bestimmen oft bereits in der Grundschule den Alltag von Lehrern, Schülern und Eltern. Doch es ist möglich, trotz starrer Rahmenbedingungen und zahlreicher Anforderungen den schulischen Alltag für alle Beteiligten angenehm zu gestalten – ohne Hektik und Stress. Der Fokus liegt auf der Autonomie der einzelnen Lehrer. Du findest erprobtes Handwerkszeug für eine alternative Umsetzung des Lehrplans. Methodenfreiheit neu gedacht, fächerübergreifendes Unterrichten und Projektarbeit ermöglichen einen entschleunigten Unterricht. Zusätzlich gibt es noch Online-Materialien.
Selbstreflexion und Empathiefähigkeit sind zwei wichtige Eigenschaften, damit Menschen in einer Gruppe konstruktiv agieren können. Viele Erwachsene – auch Lehrer – können das nicht. Besonders Selbstreflexion, also das Besinnen auf eigenes Handeln, auch auf eigene Fehler, fällt wahrscheinlich niemandem leicht, ist aber für viele Menschen gar nicht möglich.
Wenn wir nun unsere Schüler an ein sozial gedeihliches Verhalten in der Gruppe heranführen wollen, so ist dazu natürlich nötig, dass auch Fehlverhalten angesprochen wird. Aber eben auf eine Weise, bei der es nicht am Ende einen Bösen und einen Guten gibt.
Ein einfaches Beispiel soll das verdeutlichen. Genauere Informationen zum Umgang auch mit schwierigeren Fällen findest du in meinem Buch „Unterricht entschleunigen“. (Christina Buchner, Unterricht entschleunigen, Weinheim Basel, 2017, S. 125-133)
Konfliktlösung im Guten
An der Wandzeitung hängt folgende Anklage auf der Ärger-Seite:
Das ist natürlich nicht einfach hinzunehmen, sondern bedarf der Klärung.
Diese erfolgt nach meinem bewährten Lösungs-Schema:
Schilderung 1 Der Kläger darf sein Anliegen vorbringen, ohne unterbrochen zu werden. Der Beklagte muss still abwarten, bis er an der Reihe ist.
Schilderung 2 Der Beklagte darf nun seine Sicht der Dinge darlegen, ebenfalls, ohne unterbrochen zu werden.
Nähere Klärung des Sachverhalts Ich stelle Fragen, um den Ablauf so genau wie möglich vor Augen zu haben. Wenn es um „tätliche Übergriffe“ geht, lasse ich mir in einem kurzen Rollenspiel genau zeigen, was vorgefallen ist. Dabei stelle ich mich als Zielperson für den Übergriff zur Verfügung, damit der Täter genau herzeigen kann, wie er seinen Kameraden geschubst, gezwickt oder was auch immer hat und ich lasse mir auch vom Opfer noch einmal zeigen, wie das in seiner Wahrnehmung aussieht. Bei Michael und Sebastian stellt sich heraus, dass Michael Sebastians Mütze genommen und auf einen Baum geworfen hat. Achtung: Was ich in dieser Phase unter keinen Umständen mache, ist die Befragung von Zeugen. Es geht hier nicht um eine Gerichtsverhandlung, sondern darum, einen Konflikt einvernehmlich zu klären. Das wird schiefgehen, wenn es hinterher einen „Bösen“ und einen „Guten“ gibt. Da ich selbst wahrscheinlich den Vorfall nicht gesehen habe, hüte ich mich, eine „objektive“ Variante als richtig darzustellen. Werden die Vorgänge von den beiden Parteien unterschiedlich geschildert, so sage ich höchstens: „Ich war nicht dabei und kann deshalb gar nicht sagen, wie es war. Ich kann mir schon vorstellen, dass jeder von euch beiden alles genau so erzählt hat, wie er es erlebt hat.“ Manchmal biete ich dann noch Varianten an und sage: „Könnte es vielleicht auch so oder so gewesen sein?“
Empathiephase Wenn nun hinreichend geklärt ist, was genau passierte, ist es wichtig, eine Deutungsmöglichkeit zu finden, die den „Übeltäter“ nicht bloßstellt, aber trotzdem zu dem Ergebnis kommt, ein anderes Verhalten wäre in dieser Situation besser gewesen. Wenn es um zwei Streithähne, wie z.B. Michael und Sebastian, geht, biete ich jedem der beiden sozusagen „zur Wahl“ Motive an, die es ihm ermöglichen, ehrenhaft und ohne Gesichtsverlust abzuschneiden. Zum Beispiel könnte ich zu Sebastian sagen: „Ich kann gut verstehen, dass du dich geärgert hast, als Michael einfach mit deiner Mütze weggerannt ist. Das würde mich auch ärgern. Michael, ich glaube, das würde dir auch nicht passen. Du hast wahrscheinlich gedacht, das ist lustig, stimmt’s? Aber denk mal nach, ob du das gernhättest. Ja, Sebastian, und dann hast du dem Michael richtig ins Gesicht gespuckt. Das war sicher eklig, stimmt’s Michael? Hätte dir das gefallen, Sebastian? Jetzt habt ihr beide eigentlich einerseits einen Grund für euer Verhalten, andererseits hätte man das schon anders machen können, was meint ihr? Du, Michael, wolltest was Lustiges machen und du, Sebastian, hast dich dann recht geärgert.“ In diesem Stil äußere ich Verständnis, baue Brücken, indem ich mögliche Motive liefere und wecke in jedem der Kontrahenten Verständnis für die jeweils andere Position.
Abschluss Grundsätzlich werden in der Abschlussphase eines Konfliktgespräches gemeinsam Alternativmöglichkeiten gesammelt, was jeder der beiden hätte tun können, damit es nicht zum Streit kommt.
Beim „Spuck-Gespräch“ kamen dann Vorschläge wie: „Der Sebastian hätte dem Michael doch sagen können, dass er das mit der Mütze nicht mag.“ Und auf den Einwand, dass Michael sich davon vielleicht nicht hätte abhalten lassen, kam: Der Sebastian hätte das an die Wandzeitung schreiben können.“
In den Phasen 4 und 5 sind alle Schüler am Gespräch beteiligt. Zur Förderung der Empathie kann man die Mitschüler fragen, wem es schon einmal ähnlich ergangen ist wie in dem aktuellen Vorfall, sei es als „Täter“ mit etwas vermeintlich Lustigem oder als „Opfer“.
Was ich an diesen Gesprächen immer sehr ermutigend fand, war die Bereitschaft der Kinder, sich an eigene Verhaltensausrutscher zu erinnern und diese den anderen mitzuteilen.
Dieses „sharing“ entlastet den Protagonisten, nimmt ihm das unbehagliche Gefühl, mit seinem Verhalten im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden zu haben und stärkt den Gruppenzusammenhalt. Das Resultat heißt also nicht: „Der da hat was gemacht und wir haben darüber geredet, sondern: Da wurde etwas thematisiert, was viele von uns kennen.“ (Christian Stadler, Sabine Kern, Psychodrama, Wiesbaden, 2010, S.86)
Abschließende Gedanken zu Wandzeitung
Die Themen für das wöchentliche Klassengespräch ergeben sich bei der Wandzeitung aus der aktuellen Befindlichkeit der Schüler. Gerade das macht die besondere Wirksamkeit für die Gruppenkohäsion aus:
Es geht um unsere Themen und Probleme, die uns alle angehen und die wir gemeinsam lösen. Weil es echte Themen aus dem echten Leben sind, die aus sich heraus Bedeutsamkeit haben, sind die Energien der Klasse darauf gebündelt.
Da werden nicht synthetische Gespräche geführt, weil man halt was zum Bereden braucht. Und wie bei den Wattekugeln gilt auch hier: Die angesprochenen Probleme sind evident, für alle Kinder sichtbar, und betreffen uns auch alle, das Thema „Diskretion“ ist also obsolet.
Ein weiterer Vorteil der Wandzeitung ist, dass Lehrer durch sie sehr viel mitbekommen, was sonst ihrer Aufmerksamkeit entgehen würde.
Gerade dadurch, dass die an der Wandzeitung veröffentlichten Vorfälle niemals zu Bestrafungen, sondern immer nur zu Lösungen und Hilfestellungen für den „Übeltäter“ führen, kommt auch der Makel des „Verpetzens“ den Meldungen nicht zu.
So können Lehrer erfahren, was in der Klasse vorgeht und haben die Möglichkeit, regulierend einzugreifen.
In einer Klasse, in der es einen geschützten Raum gibt, haben destruktive Tendenzen wenig Chancen. Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, das bei Grundschulkindern noch sehr stark ausgeprägt ist, führt im Gegenteil dazu, dass solche Tendenzen offengelegt werden.
So sind zum Beispiel durchaus auch Wandzeitungsbeiträge dieser Art möglich:
Wenn wir uns vorstellen, wie viel Leid es für ein Kind bedeutet, zum Opfer kollektiver Ablehnung zu werden, dann können wir uns doch nicht hinter dem Mäntelchen des Nicht-gewusst-Habens verstecken, sondern müssen alles daran setzen, in den eigenen Klassen Derartiges zu verhindern und Schule zu einem Schutzraum werden zu lassen, „der vor jeglicher Art Demütigungserfahrung schützt“ (Hartmut Rosa, Wolfgang Endres, Resonanzpädagogik, Weinheim und Basel, 2016, S.83).
Die Wandzeitung leistet hierzu einen wichtigen Beitrag.
Die Autorin:
Christina Buchner arbeitete viele Jahre als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen. Und sie war 16 Jahre Rektorin an Grundschulen im Landkreis München. Sie ist in Oberbayern auf dem Land aufgewachsen. Ihre Kindheit war geprägt durch große Freiheit, Nähe zur Natur, Freude an Büchern und die Möglichkeit, kreative Einfälle in die Tat umzusetzen. Vor diesem Hintergrund war es ihr von Anfang an ein zentrales Anliegen, für ihre Schüler eine bunte und anregende Lernwelt zu schaffen.
Sie ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass in der Schule ohne Freude, Begeisterung und ohne Erfolgserlebnisse sehr wenig läuft. Die Mischung aus Pflicht und Freude, aus Begeisterung und konsequenter Übung, aus Disziplin und individueller Freiheit beim Lernen ist ihr Markenzeichen. Für diese Mischung wirbt sie in ihren Büchern und in Vorträgen und Lehrerfortbildungen in Deutschland, Österreich, Italien, der Schweiz und Luxemburg. Christina Buchner entwickelte eigene Methoden für das Lesenlernen, für Rechtschreiben und Schreiberziehung, für den elementaren Mathematikunterricht und für das Theaterspielen mit einer Klasse. Ihr MatheBlog: www.die-rechentante.de Ihre Website: www.christina-buchner.de