Bildung beginnt im Kleinkindalter – und Chancengerechtigkeit auch
geschrieben von Redakteur | Juli 28, 2025
Ergebnisse des NEPS-Transferberichts zeigen: Ungleiche Startbedingungen entstehen früher als oft angenommen – und sind beeinflussbar
Die Grundlagen für Bildungserfolg werden bereits in den ersten Lebensjahren gelegt – und damit auch die Weichen für (Un-)Gleichheit. Eine neue Auswertung von Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) belegt, wie stark der soziale und ökonomische Hintergrund von Familien die Entwicklung von Kindern im Kleinkindalter beeinflusst. Der aktuelle Transferbericht zeigt, dass insbesondere die frühe sprachliche und sozial-emotionale Entwicklung in einem engen Zusammenhang mit den Bedingungen der familiären Lernumwelt steht.
Sprachliche Kompetenzen: Unterschiede ab dem zweiten Lebensjahr
Bereits mit zwei Jahren zeigen sich deutliche Unterschiede im aktiven Wortschatz von Kindern. Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Haushalten verfügten durchschnittlich über 97 Wörter aus einer festgelegten Liste von 260. Kinder aus bildungs- und ressourcenstärkeren Familien kamen laut elterlicher Einschätzung auf rund 158 Wörter. Diese Differenz verweist auf frühe Entwicklungsvorteile, die sich im weiteren Bildungsverlauf tendenziell verfestigen.
Qualität der Eltern-Kind-Interaktion als zentraler Einflussfaktor
Neben sozioökonomischen Faktoren wirkt sich auch die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion deutlich auf die kindliche Entwicklung aus. Als besonders förderlich erweisen sich feinfühliges, responsives und sprachlich anregendes Verhalten – etwa durch das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern oder durch dialogisches Sprechen im Alltag. Diese Form der Interaktion fördert nicht nur den Wortschatz, sondern auch die sozial-emotionale Kompetenz und die Fähigkeit zur Emotionsregulation.
Dr. Walter Hultzsch erklärt, wie Nähe, Blickkontakt und feine Signale die Entwicklung von Aufmerksamkeit, Selbstregulation und Persönlichkeit fördern. Sein Buch verbindet neurowissenschaftliches Wissen mit alltagstauglicher Orientierung für Eltern, Großeltern, Paten und pädagogische Fachkräfte, die Babys in den ersten Lebensjahren achtsam begleiten wollen.
– Erfahrener Kinderarzt mit langjähriger Erfahrung – Verbindet Neurobiologie, Bindungsforschung und frühe Kommunikation – Zeigt, wie feinfühlige Eltern-Kind-Interaktion Entwicklung stärkt
Belastungsfaktoren und kindliches Temperament: Wenn Förderung an Grenzen stößt
Ein zentrales Ergebnis der Studie ist der Zusammenhang zwischen kumulierten familiären Belastungen und einer verminderten Interaktionsqualität. In Familien mit mindestens drei Belastungsfaktoren – etwa niedrigem Bildungsniveau, geringem Einkommen oder psychischen Belastungen – zeigte sich, dass ein herausforderndes kindliches Temperament (insbesondere negative Affektivität) die elterliche Feinfühligkeit deutlich einschränken kann. In Haushalten ohne diese Mehrfachbelastung war ein solcher Zusammenhang nicht nachweisbar. Die Daten basieren auf Videobeobachtungen von 2.190 Eltern-Kind-Dyaden und ergänzenden Interviews im Rahmen der NEPS-Startkohorte 1.
Früh ansetzen: Unterstützung für Familien in Risikosituationen
Die Ergebnisse legen nahe, dass Unterstützungsmaßnahmen möglichst frühzeitig ansetzen sollten – idealerweise bereits im ersten Lebensjahr. Projekte wie die Bremer Initiative zur Stärkung frühkindlicher Entwicklung (BRISE), die an die NEPS-Studien anschließen, untersuchen gezielt die Wirksamkeit solcher Interventionen bei Familien mit erhöhtem Unterstützungsbedarf. Die Autorinnen des Berichts, Prof. Dr. Sabine Weinert (Otto-Friedrich-Universität Bamberg) und Dr. Manja Attig (LIfBi), betonen, dass elterliches Verhalten formbar ist – insbesondere dann, wenn Angebote niedrigschwellig, alltagsnah und präventiv angelegt sind.
Pädagogische Perspektiven
Die Erkenntnisse des Transferberichts verdeutlichen, wie eng Bildungschancen und frühe familiäre Lebenslagen miteinander verflochten sind – und dass frühe, gezielte Unterstützung wirkt. Für pädagogische Fachkräfte eröffnen sich daraus wichtige Ansatzpunkte: Der frühpädagogische Bereich ist nicht nur ein Ort kindlicher Bildung, sondern auch ein zentraler Begegnungsraum für Familien. Die Qualität der Zusammenarbeit mit Eltern, die Beobachtung kindlicher Bedürfnisse sowie der sensible Blick auf Belastungskonstellationen sind entscheidende Faktoren, um Entwicklungsprozesse gezielt zu unterstützen. Wenn es gelingt, Bildungsbenachteiligungen nicht erst zu dokumentieren, sondern ihnen im frühesten Kindesalter präventiv entgegenzuwirken, kann ein wichtiger Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit geleistet werden – und das bereits lange vor dem Schuleintritt.
Wenn das Smartphone erzieht: Eltern im Mediendilemma
geschrieben von Redakteur | Juli 28, 2025
„Safe am Screen“ von freenet liefert Einblicke in den Alltag moderner Familien – und bietet Unterstützung statt Druck
Die digitale Mediennutzung von Kindern ist längst kein Randphänomen mehr – sie ist Teil des Familienalltags. Eine Initiative namens „Safe am Screen“, des Telekommunikationsunternehmens freenet hat eine Umfrage unter Eltern durchgeführt: Demnach empfinden es 36 Prozent als Erleichterung, wenn ihre Kinder digitale Inhalte nutzen – doch ein Viertel leidet dabei unter Schuldgefühlen.
Der Erhebung nach nutzt ein Drittel der Eltern die freie Zeit zumindest, um selbst etwas zu erledigen. 28 Prozent verwenden diese zur Motivation der Kinder und 24 Prozent zur eigenen Entspannung. 17 Prozent wünschen sich schlicht etwas ungestörte Freizeit.
Die von infas quo im Mai 2025 durchgeführte Umfrage mit 1.095 Eltern verdeutlicht die Ambivalenz vieler Erziehender. Digitale Medien werden bewusst eingesetzt – zur Überbrückung von Zeit, zur Motivation oder schlicht zur eigenen Entspannung. Gleichzeitig erleben viele einen Kontrollverlust oder fühlen sich von digitalen Trends überfordert.
Digitale Präsenz beginnt im Kleinkindalter
Schon in Familien mit Kindern unter drei Jahren sind digitale Geräte allzu präsent. In 61 Prozent der Haushalte spielen Smartphones, Tablets & Co. eine große Rolle – sogar ein Viertel der Eltern von Babys bis zwei Jahren berichtet von täglichem Medienkontakt.
Die Medienpädagogin Edina Medra mahnt zur bewussten Vorbildfunktion: „Eltern prägen durch ihr eigenes Medienverhalten entscheidend mit. Schon das Baby beobachtet – und ahmt nach.“
Zwischen Anspruch und Alltagsstress: Medienerziehung sorgt für Spannungen
Trotz guter Vorsätze sind viele Eltern in der Umsetzung inkonsequent: Zwar sind drei Viertel überzeugt, ihre Kinder gut begleiten zu können – doch fast die Hälfte gesteht, kein konsistentes Vorbild zu sein. Jedes fünfte Kind hat das Medienverhalten der Eltern bereits kritisiert, besonders häufig Kinder im Kitaalter.
Auch in der Familie sorgt das Thema für Konflikte: Ein Drittel empfindet die Diskussionen über Medienzeiten als belastend, knapp ein Fünftel sogar als stark stressend – vor allem, wenn unterschiedliche Vorstellungen aufeinanderprallen, etwa zwischen Elternteilen oder mit Großeltern.
Kinder jeden Alters erleben die vielfältige digitale Mediennutzung überall in ihrem Lebensalltag Da bleibt es nicht aus, dass sie sich ebenfalls der Faszination digitaler Medien nicht entziehen können. Gleichzeitig gehört es zu den >Lebenskompetenzen< eines Menschen, mit den unübersehbaren und besonders verlockenden Angeboten in einer stark konsumorientierten […]weiterlesen
Ganzheitliche Pädagogik – Modewort oder echtes Konzept
geschrieben von Redakteur | Juli 28, 2025
Eine tiefgreifende Analyse von Armin Krenz zeigt, was es bedeutet, Kinder in ihrer gesamten Persönlichkeit zu begleiten – jenseits von Förderprogrammen, normierten Bildungszielen und pädagogischen Modebegriffen.
Es gibt kaum einen pädagogischen Ansatz, der in seiner Beschreibung nicht darauf hinweist, dass ihm ein ganzheitliches Menschenbild zugrunde liegt. Und in fast jeder Einrichtungskonzeption oder im Leitbild nahezu aller sozialpädagogischer bzw. pflegeorientierter Einrichtungsträger ist der Satz zu lesen, dass die Grundlage der Arbeit in einem ganzheitlichen Personverständnis fußt.
So begegnet uns der Begriff Ganzheitlichkeit immer wieder auf vielfältige Weise. Ärzt*innen weisen auf ihre „Praxis für ganzheitliche Medizin“ hin, dann gibt es eine „Internationale Gesellschaft für ganzheitliche Zahnmedizin e.V.“. Kurkliniken nutzen in ihrer Beschreibung den Hinweis auf eine „ganzheitliche Behandlung“. Tierheilpraktiker*innen und Tierärzt*innen bieten eine „ganzheitliche Aromaheilkunde für Tiere“ an. Senioreneinrichtungen beschreiben in ihrer Selbstdarstellung, dass sie eine „ganzheitliche Alten- und Krankenpflege“ durchführen. In vielen Konzepten von heilpädagogischen Institutionen ist zu lesen, dass die „ganzheitliche Förderung der Kinder und Jugendlichen“ im Mittelpunkt steht. Und einige Ausbildungsstätten bieten eine Ausbildung zum „ganzheitlichen Gesundheitsberater“ oder in „ganzheitlicher Psychotherapie“ an.
In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe. (Johann Wolfgang von Goethe)
Betrachtung und Analyse
In diesem Zusammenhang darf, ja muss unter einer professionellen Betrachtungsanalyse die Frage gestellt werden, was sich eigentlich hinter diesem Wort Ganzheitlichkeit verbirgt, was damit genau gemeint ist (bzw. wird), ob das Wort „Ganzheitlichkeit“ nicht vielleicht in der Zwischenzeit nur zu einem geflügelten Wort geworden ist, das sich gut anhört und „up to date“ zu einem alltagsgebräuchlichen Attribut geworden ist, das aber vielleicht an seinem ursprünglichen Bedeutungswert an Aussagekraft verloren hat. So wie beispielsweise umgangssprachlich mit dem Begriff „Team(arbeit)“ umgegangen wird, obgleich bei einer sorgsamen Situationsanalyse der Kommunikations- und Interaktionskultur in vielen Kollegien von einer real existierenden Teamarbeit kaum etwas zu bemerken ist.
Denn eine Arbeitsgruppe bzw. ein Kollegium ist erst durch ganz besondere, sehr anspruchsvolle, nachhaltige und unverwechselbare Merkmale als Team zu bezeichnen! Werden dazu in Supervisionssitzungen, sogenannten Teambesprechungen oder im Rahmen einer Qualitätsevaluation dezidierte Alltagsbeobachtungen beobachtet bzw. anschließend thematisiert, kommen nicht selten Verhaltensmerkmale oder Verhaltensstrukturen einzelner Mitarbeiter*innen zum Vorschein, die mit den Verhaltensweisen eines Teammitgliedes unvereinbar sind. Begriffe und Realitäten stehen sich auch in der Pädagogik zunehmend widersprüchlich gegenüber!
So bedarf von Zeit zu Zeit jeder Begriff einer Überprüfung, einer tiefergehenden Betrachtung und Analyse, ob bzw. in welchem Maße und in welcher Ausprägung die unveränderlichen Kennzeichen eines Begriffehintergrundes tatsächlich vorhanden sind.
Der SINN wird verdunkelt, wenn man nur kleine fertige Ausschnitte des Daseins ins Auge fasst. (Dschuang Dsi)
Annäherung an den Begriff „Ganzheitlichkeit“
Schon Plotin, ein antiker Philosoph (205 – 270 n. Chr.), hat auf die Gesamtheit und Untrennbarkeit von „Körper – Seele – Geist“ hingewiesen: „Die ganze Seele ist in jedem Teil des Körpers und ganz auch in seiner Gesamtheit.“ So kann bzw. muss der Mensch als ein System verstanden werden, dessen Anteile in einer permanenten Wechselwirkung miteinander verbunden sind. In dem Begriff „Ganzheitlichkeit“ steckt das Adjektiv „ganz“ und damit wird eine vollkommeneVOLLSTÄNDIGKEIT erfasst. Hippokrates von Kos, griechischer Arzt und Lehrer in der Antike, hat schon zu seiner Zeit auf die Bedeutsamkeit einer zusammenhängenden Kontinuität hingewiesen, die sich nicht aus dem bloßen Aneinanderreihen von Funktionen, sondern aus dem gleichzeitigen Zusammenspiel der verschiedenen Anteile ergibt. Fühlen – Denken – Handeln, spüren – erfassen – begreifen, eine innerliche Resonanz erfahren – gedanklich beteiligt sein – erleben: immer geht es um eine gleichzeitige Verbindung der drei Anteile eines ganzen Systems.
Lernen mit Kopf, Herz und Hand
Besonders die Reformpädagogik, deren Anfänge schon im 17. und 18. Jahrhundert wirksam wurden, hat die hohe Bedeutung einer „ganzheitlichen Entwicklungsbegleitung von Kindern“ herausgestellt und darauf hingewiesen, dass nur durch reichhaltige sinnliche Erfahrungen ein ganzheitliches Lernen möglich sei. Als bekannteste Vertreter seien an dieser Stelle der Pädagoge Johann Amos Comenius (1592 – 1670), der Philosoph Jean-Jaques Rousseau (1712 – 1778) und der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827) benannt. Von ihm stammt der auch heute noch vielerorts bekannte und zitierte Spruch, dass es die Pädagogik schaffen muss, den Kindern ein „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ zu ermöglichen.
Die Naturwissenschaft bestätigt die pädagogischen und philosophischen Gedanken
Diese pädagogischen und philosophischen Gedanken und Ausführungen wurden schließlich durch vielfältige Forschungsergebnisse aus den Wissenschaftsfeldern der Neurowissenschaften, der Neurobiologie, Hirnforschung und Neuropsychologie untermauert. An dieser Stelle seien vor allem der italienische Neurophysiologie Giacomo Rizzolatti, der die Forschungsgruppe zum Thema Spiegelneuronen an der Universität Parma leitet, der portugiesisch-US-amerikanische Neurowissenschaftler António Rosa Domásio mit seinen Arbeiten zur Bewusstseinsforschung, der Hirnforscher, Philosoph und Biologe Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth, der deutsche Neurobiologie Prof. Dr. Gerald Hüther mit dem Schwerpunkt „experimentelle Hirnforschung“ und der Universitätsprofessor Joachim Bauer mit dem Schwerpunkt Psychoneuroimmunologie genannt.
Damit ist die Erkenntnis fundiert und abgesichert, dass nur ein Lernen mit allen Sinnen entwicklungsförderlich und nachhaltig ist.
Kein einzelner Teil konnte entstehen als in diesem Ganzen, und dieses Ganze selbst besteht nur in der Wechselwirkung der Teile. (Friedrich Schelling)
Ein ganzheitliches Lernen ergibt sich aus der Aufnahme von und der Beschäftigung mit resonanzwirkenden Informationen im Gehirn
Das menschliche Gehirn kann mit einer riesigen Datenautobahn, Raststätten, verbundenen Neben- und Ausweichstrecken verglichen werden, die unentwegt durch Außenreize über unsere Augen, Nase, Mund, Ohren und die Haut genutzt wird, wobei Nervenzellen (= Neuronen) per elektrischer Impulse die aufgenommenen Reize ans Gehirn weiterleitet. Dabei stehen dem menschlichen Gehirn ca. 100 Milliarden Neuronen zur Verfügung, wobei von den etwa zehn Millionen Informationen, die pro Sekunde an unser Gehirn weitergeleitet werden, nur ca. 20 Informationsanteile ins Bewusstsein gelangen. Der gigantische Rest wird dabei als unbrauchbar bewertet und verworfen oder findet unterbewusst seinen Ankerplatz.
Chemische Botenstoffe (= Neurotransmitter) sorgen für die Weiterleitung von einer Nervenzelle zur anderen, die emotional bedeutsame Impulsinformationen über elektrische Impulse an empfängervorgesehene Nervenzellen zur Speicherung weitersenden kann. Und diese emotional belegten, gespeicherten Impulse steuern das Verhalten aller Menschen. Bei allen bedeutsam erlebten Situationen, Erlebnissen und Ereignissen sind jeweils einige Millionen von Neuronen beteiligt, aktivieren oder blockieren im weiteren Verlauf Sinnesorgane, provozieren weitere Gefühle und führen den Menschen in entwicklungsförderliche oder -hinderliche Ausdrucksformen, je nachdem welches Primärgefühl im Erlebnisvordergrund steht.
Ganz sein, nicht fragmentiert in unseren Handlungen, im Leben, in jeder Art von Beziehung, das ist das eigentliche Wesen geistiger Gesundheit. (Krishnamurti)
Immer wieder geschieht also ein permanent vernetzter Austausch zwischen unserer rechten und linken Hirnhälfte, die mit ihren jeweiligen Arealen vor allem für intuitive, kreative und visuelle Prozesse, eine authentische Körpersprache, Spontaneität, Neugierde, Raumempfinden, Musik, Emotionen und die Erfassung ganzheitlicher Zusammenhänge sowie für analytisches und logisches Denken, für mathematische Fähigkeiten und unser Sprach- und Sprechverhalten zuständig sind. Früher ordnete man der rechten und der linken Hirnhälfte klar definierte, isolierte Aufgaben und Zuständigkeiten zu – diese Sichtweise ist inzwischen nicht mehr haltbar. Vielmehr sprechen wir von Gehirnarealen, so genannten Gehirnlappen, die zwar in jeweiligen Hirnhälften liegen, sich dennoch immer wieder mit anderen Gehirnlappen – auch aus der gegenüberliegenden Hirnhälfte vernetzen und somit zu einem dualen (= zweiseitig) Ganzen werden.
Fazit: Je mehr das Primärgefühl Freude provoziert und aktiviert wird, desto vielfältiger und intensiver wird das Netzwerk neuronaler Schaltungen mit den beteiligten Bereichen emotional gesteuerte intrinsische Motivation – allseitiges Denken – motivationales Handeln und nachhaltiges Lernen aktiviert.
Ein weites Wissensspektrum, ein kausales, logisch fundiertes und innovatives Denken sowie ein sozial verträgliches Handeln gründen sich demnach auf bedeutsamen Sinneswahrnehmungen, so wie uns schon der Pädagoge Johann Amos Comenius auf diesen Umstand hingewiesen hat. Doch leider scheint dieser grundlegende Umstand immer mehr in Vergessenheit zu geraten, wie ungezählte Beispiele nicht nur in der Elementar-, Schul- und Berufspädagogik, sondern auch in der Ausbildung (sozial-/heil-) pädagogischer, pflegerischer oder medizinischer Kräfte dies immer häufiger und deutlicher zeigen.
In der Liebe zum Ganzen tritt das Individuelle in Erscheinung. (Krishnamurti)
Entwicklung und Lernen erfassen das „ganze Kind“ und keine Einzelbereiche
Das Ziel – entsprechend dem Erziehungs- und Bildungsauftrag, wie es für elementarpädagogische Einrichtungen im Sozialgesetzbuch 8. Band, II. Halbband, § 22, Nr. 2/1 + 2/3 sowie § 22a, Nr. 3 gesetzlich vorgeschrieben ist, dafür zu sorgen, dass unter der Maxime des Förderauftrags Erziehung, Bildung und Betreuung die Entwicklung des Kindes zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu unterstützen ist und sich dieser Auftrag auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung bezieht, wobei sich die pädagogische und organisatorische Tagesgestaltung an den Bedürfnissen der Kinder und Eltern orientieren soll, entspricht damit in vollem Umfang einer ganzheitlichen Pädagogik.
Hier geht es um den Auf- und Ausbau von grundlegenden, nachhaltig bedeutsamen Fähigkeiten (in deutlicher Abgrenzung zu Fertigkeiten!), was eben nur dann von Erfolg gekrönt sein kann, wenn Bedürfnisse der Kinder und Eltern (hier geht es nicht um Wünsche von Kindern oder Eltern!) zum Ausgangspunkt der Arbeit herangezogen und in einer Tagesgestaltung in der Form integriert werden, dass sich die Organisationsstruktur der Tagesabläufe den Bedürfnissen der Kinder anpasst. Dies entspricht exakt den Erkenntnissen, die sich aus den vielfältigen neurobiologischen, neuropsychologischen, lernpsychologischen und bildungswissenschaftlichen Forschungsergebnissen ergeben.
Alle Lernprozesse werden im Menschen dann in optimaler sowie effektiver Form aktiviert und unterstützt, wenn das Kind einerseits möglichst viele annehmbare Sinneseindrücke erleben und aufnehmen kann, sowie andererseits immer wieder emotionale, motorische und kognitive Impulse eine Symbiose bilden, die ungetrennt gleichzeitig miteinander verbunden sind. Dabei gewonnene Informationen speichern sich im Gehirn nachhaltig ab und stehen nicht wie bei sinnunverbundenen oder fehlenden Erlebnisergänzungen nebeneinander, wodurch im „limbischen System“, das vor allem der Verarbeitung von Emotionen dient, eine Unordnung entstehen würde und dadurch das Stresshormon „Adrenalin“ hervorgerufen würde, was sich beim Kind in Unruhe, Bewegungsaktivität und einer mit der Zeit zunehmenden eingeschränkten Wahrnehmungsoffenheit ausdrückt.
Kinder lernen dann am besten, wenn ihre Interessen aufgegriffen werden und sie ihrer stets vorhandenen Neugierde und ihrer großen Entdeckerfreude nachgehen können, wenn sie sich als Forschende erleben und dabei von tief erlebten Sinneseindrücken bei gleichzeitiger Bewegungsfreude und einer Suche nach Erkenntnisgewinn erfüllt sind.
Es ist unmöglich, zu wahrer Individualität zu gelangen, ohne im Ganzen verwurzelt zu sein. Alles andere ist egozentrisch. (David Bohm)
Warum ist eine ganzheitliche Pädagogik angebracht und daher unverzichtbar?
Wie schon zuvor, wenn auch nur kurz erwähnt, sprechen neurobiologische Untersuchungsergebnisse für eine stets resonanzerzeugende Kommunikations- und Interaktionskultur, in der sich Kinder in ihrer Gedanken- und Handlungswelt verstanden und angenommen fühlen.
Gleichzeitig sprechen entwicklungspsychologische Erkenntnisse und daraus abgeleitete Grundsätze eine deutliche Sprache, wie Selbstbildungsprozesse in Kindern aktiviert sowie aufrechterhalten werden und welche Ausgangssituationen es unumgänglich erforderlich machen, eine ganzheitliche Pädagogik zu realisieren.
So gelten nach wie vor folgende Entwicklungsgesetze, die die Grundlage für eine aktive, engagierte und damit für eine entwicklungsunterstützende Pädagogik bilden:
Jedes Kind ist aktiv, will aktiv sein und hat das starke Bedürfnis, immer wieder aufs Neue ein „Bewirker“ in seinem Lebensumfeld zu sein.
Kinder wollen etwas leisten, wollen persönlich gesetzte Ziele erreichen und wenden dabei ihre ganzen Kräfte an, um die Vorhaben in Gänze umzusetzen.
Jedes Kind ist von einer großen Neugierde geprägt und fühlt sich daher als Weltentdecker. Unbekanntes will erforscht werden, neue Erkenntnisse wollen wiederholt erprobt und erlebt werden, Grenzen wollen immer wieder überschritten werden, um in neue Erlebnisbereiche eintauchen zu können.
Kinder entscheiden sich für das, was für sie in diesem Augenblick von höchstem Interesse ist. Sie sind (ebenso wie Erwachsene) subjektiv selektiv, wählen bei ihren Interessen und ihren Handlungserfahrungen das aus, was für sie den höchsten Bedeutungswert hat und der sich aus ihrer Einschätzung lohnt, näher erforscht und betrachtet zu werden.
Das Kind bestimmt seinen Entwicklungsverlauf aktiv mit. Sprach man früher von einer Entwicklungsprägung, die sich aus der Dualität (= Zweiseitigkeit) von „Anlage und Umwelt“ ergibt, wurde schon vor Jahren eine neue Ausgangssituation – die Trinität (= Dreiheitigkeit) der Entwicklung – konstatiert: der Mensch besitzt genetisch vorhandene Dispositionen (= bipolare Bereitschaften), gleichzeitig wirken Umfeldeinflüsse auf das Kind und (!) schließlich bestimmt der Mensch durch seine Selbststeuerungskräfte seinen Entwicklungsverlauf aktiv mit.
Dadurch, dass es kein „idealtypisches Durchschnittskind“ (was lange Zeit als Vorstellungsbild in der Pädagogik und Psychologie z.B. als „Entwicklungsgitter“ existiert hat und in vielen Einrichtungen auch heute noch genutzt wird) gibt und bei Kindern gleichen Alters kein Entwicklungsmerkmal automatisch gleich ausgeprägt ist (= interindividuelle Individualität), ist dafür zu sorgen, dass nicht alle Kinder zum gleichen Zeitpunkt dieselbe Aufgabe nach gleichen Vorgaben und einer gleichen Ergebniserwartung zu erledigen haben.
Eine gelingende Identitätsentwicklung verlangt eine gleichzeitige Reichhaltigkeit der Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten im emotionalen, sensorischen, motorischen, ästhetischen, kommunikativen, sozialen und kognitiven Bereich in einer sicherheitsbietenden Atmosphäre.
Bildung wird als ein aktiver Entfaltungsprozess des Kindes als Subjekt seiner Entwicklung verstanden, eingebettet in eine Auseinandersetzung mit inneren Bedürfnissen und äußeren Begleiterlebnissen, wobei das Kind die Möglichkeit hat, sich von inneren Ängsten und äußeren Zwängen zu befreien.
Kinder entwickeln vor allem dann ein hohes Maß an Lernfreude, wenn sie sich als bedeutsam erleben können, wenn die Tagesaktivität für das Kind eine Alltagsbedeutung besitzt und wenn die vorhandene Entwicklungsatmosphäre entwicklungsmotivierend gestaltet ist. Diese drei Aspekte bilden eine Einheit und müssen stets in dieser Trinität miteinander vernetzt sein.
Da Bildung in erster Linie aus einer Reihe von sinnlichen Erlebniserfahrungen besteht und erst in zweiter Linie unterschiedliche Erkenntnismöglichkeiten zulässt und mit sich bringt, entstehen Bildungsprozesse nicht durch kognitiv-sprachliche Informationsaussagen und auch nicht durch versachlichte Tätigkeitsangebote.
Die psycho-soziale Gesundheit der sich entwickelnden Kinder verlangt eine kontinuierliche und feinfühlige Entwicklungsbegleitung – ganz besonders in den ersten drei Lebensjahren. Daher ist es von herausragender Bedeutung, dass Erwachsene den Kindern Sicherheit vermitteln und sie gleichzeitig vor verhaltensirritierende Stressoren schützen.
Je sicherer sich ein Kind von (s)einer kontinuierlich vorhandenen (!) Bezugsperson angenommen und wertgeschätzt fühlt, desto ausgeprägter ist seine Aufnahmebereitschaft, sich mit einer gelösten Aufmerksamkeit und einem hohen Neugierdeverhalten einer vor ihm liegenden Aufgabe zuzuwenden.
Kinder zeigen dann ein hohes Explorationsverhalten sowie sozial geprägte Beziehungen zu anderen Kindern, wenn Erwachsene sensibel und engagiert mit den Kindern kommunizieren und interagieren.
Vor allem sorgen diese dreizehn Grundsätze für eine entwicklungsförderliche und nachhaltige Entwicklungsunterstützung des Kindes und bedürfen daher in ihrer Gesamtheit einer Berücksichtigung und einer konsequenten Aufnahme in die Alltagspädagogik, so dass eine ganzheitliche Pädagogik zur Realität wird und werden kann.
Legt man frühzeitig die Saat von Unsicherheit und Hemmung im Menschen aus, bedarf es später keiner Fesseln, ihm die Hände zu binden.
(Christiane Allert-Wybranietz)
Eine ganzheitliche Pädagogik grenzt sich deutlich von einer funktionsorientierten Förderpädagogik ab!
Ungezählte Beobachtungen in verschiedenen Kita-Einrichtungen und in den sechszehn Bundesländern und zusätzliche Berichte von vielen engagierten elementarpädagogischen Fachkräften zeigen in zunehmendem Maße, dass sich die Elementarpädagogik weiterhin immer stärker von einer ganzheitlichen Pädagogik entfernt. Dabei können ganz unterschiedliche Hintergründe und Auslöser eine Rolle spielen, die sowohl in einer mangelhaften bis ungenügenden Strukturqualität als auch in einer wenig kindorientierten Prozessqualität oder in einer unzureichenden Personqualität ihren Ursprung haben. Vor allem aber, um den bekannten Wissenschaftler und Kinderarzt, Dr. Herbert Renz-Polster zu zitieren, liegt der Hauptgrund für den permanent zunehmenden Verlust an Qualität wohl daran, dass es auch in der Elementarpädagogik „immer weniger um universelle Werte wie Liebe und Verständnis“ geht. „Vielmehr wird das Pferd mit klarem Blick nach vorn aufgezäumt – nach den Kompetenzerwartungen der Erwachsenen nämlich.“ (S. 14).
Woran liegt das? Für Renz-Polster ist der Grund nach ausreichenden und umfassenden Recherchen eindeutig:
„Seit den 1990er Jahren […] (wird) die kindliche Entwicklung immer stärker auf die Interessen des Wirtschaftsstandorts ausgerichtet. Dabei wird […] nicht das Kleid auf das Kind zugeschnitten, sondern das Kind auf das Kleid.“ (S.88). „Überspannte Erziehungs- und Bildungsziele wirken immer zerstörerisch auf die menschlichen Beziehungen – und damit auch auf die, deren Entwicklung auf Gedeih und Verderb auf funktionierenden Beziehungen beruht: die Kinder. […] (basierend auf dem Motiv), die Kinder zu gut geölten Funktionsgliedern der Gesellschaft zu machen.“ (S.209).
Weiterhin heißt es: „Das Kind soll fit werden für den Wettbewerb“ (S.30), „Der auf Effizienz und Ertrag gerichtete neue Zeitgeist fordert jetzt auch das: die pädagogische Mästung von Anfang an“ (S. 31 und damit „sind jetzt die Erfahrungsräume der Kinder immer seltener natürlich, elementar und widerständig – sondern wohlgeordnet und für definierte didaktische Zwecke vorbereitet. Die Kindheit, so könnte man mit dem Soziologen Richard Münch sagen, wird nach und nach ‚zu einer Art totaler Besserungsanstalt‘ umgebaut,“ (S.66)
„Die Kindheit ist ein Persönlichkeitsrecht“ (S.232).
Und genau aus diesem Grund ist es notwendig, mit einer sehr deutlichen Klarheit auf die wesentlichen Merkmale einer ganzheitlichen Pädagogik hinzuweisen.
Merkmale einer ganzheitlichen Pädagogik
Merkmale einer funktionsorientierten Förderpädagogik
Sicherheit, Geborgenheit, ein Gefühl des Verstandenwerdens, ein persönliches Wertigkeitsempfinden, Angstfreiheit, ein Erleben von Freude und psychische und physische Gewaltfreiheit bilden die Grundlage für ein angenehmes Entwicklungsklima.
Allzu schnell werden die für Kinder so bedeutsamen Grundbedürfnisse wie „ungeteilte (Spiel- und Aktivitäts-) zeiten“ durch Förderangebote unterbrochen, Ruheerlebnisse kaum ermöglicht und zugestanden, wobei gleichzeitig einem angenehmen Entwicklungsklima wenig Beachtung geschenkt wird.
Die Fachkräfte gestalten ihre Arbeit auf der Grundlage eines aktuell vorhandenen Wissens aus den Bereichen der Neurobiologie, der Lernpsychologie, der Bildungs- und Bindungsforschung sowie der Entwicklungspsychologie.
Die Fachkräfte gestalten ihre Arbeit auf der Grundlage ihres zurückliegenden Ausbildungswissens, persönlicher Vorlieben und alltagstheoretischer Annahmen sowie auf Basis von elterlichen oder trägerspezifischen Erwartungen.
Die Arbeitsschwerpunkte entstammen der gegenwärtigen Lebenswelt der Kinder.
Die Beschäftigungsangebote leiten sich aus den länderspezifischen Bildungsrichtlinien ab.
Aktivitätsbedürfnisse und Interessen der Kinder werden zu Projekten gestaltet.
Ausgewählte Bildungsbereiche werden Kindern im Kita-Alltag vorgegeben.
Im Vordergrund steht die Unterstützung der Selbstbildung des Kindes (= Bildung aus I. Hand).
Kinder sollen durch Bildungsangebote mehr Bildung aufnehmen (= Bildung aus II. Hand).
Alltagsherausforderungen, mit denen Kinder konfrontiert sind, werden mit ihnen gemeinsam aufgegriffen und mit ihnen bewältigt.
Alltagsherausforderungen, mit denen Kinder konfrontiert sind, werden entweder beiseitegeschoben oder für Kinder geregelt und gelöst.
Hier wird der Tagesablauf, die Alltagsgestaltung mit Kindern erlebt, wobei so viel wie möglich durch die Kinder selbst geschaffen wird.
Ein typisches Kennzeichen offenbart sich schon durch die häufig genutzte Formulierung: Unser Arbeitsauftrag bedeutet, nah am Kind zu sein.
Die Innen- und Außenräume bieten viele Erfahrungsmöglichkeiten zum Entdecken und Erforschen ihrer Lebenswelt.
Die Innen- und Außenräume sind „genormt“, bieten wenig oder gar keine Erlebnis- und Entdeckungsmöglichkeiten.
Hier werden – soweit wie möglich und so oft wie möglich – Außenräume genutzt, um Kindern auch viele außerinstitutionelle Erfahrungs-, Wirkungs- und Bildungsorte nahezubringen.
Die meiste Zeit verbringen die Fachkräfte mit den Kindern innerhalb der Kindertagesstätte, in den Funktions- oder Gruppenräumen und nutzen wenige Möglichkeiten, den Kindern Außenraumerfahrungen zu ermöglichen.
Fühlen, Denken, Handeln bilden eine Einheit im Kita-Alltag.
Bildungsbereiche und -felder werden aufgeteilt in kognitive, motorische, soziale + emotionale Schwerpunkte.
Hier wird der Fokus auf die Entwicklung und Stärkung des Selbstwertgefühls, der emotionalen Intelligenz sowie der Empathie gerichtet.
Der Fokus liegt vor allem auf einem Aufbau und einer Erweiterung der kognitiven Intelligenz sowie einer Soziabilität.
Hier stehen Projekte im Vordergrund der Pädagogik und keine themenorientierten Schwerpunkte.
Hier stehen themenorientierte Schwerpunkte (mit Zeitbegrenzungen) im Vordergrund.
Sprachentwicklung geschieht durch eine sorgsame, alltagsgepflegte Kommunikationskultur – ebenso wie alle Bildungsfelder durch ein „concomitant learning“ (= ein Lernen nebenbei) in die Alltagsarbeit integriert werden.
Die Förderung der Sprachentwicklung und die Bildungsvermittlung im Feld der MINT-Fächer werden den Kindern durch eigens dafür entwickelte Förderprogramme oder „Bildungseinheiten“ angeboten.
Hier gibt es weder eine „Vorschulpädagogik“ noch ein letztes „Vorschuljahr“; auch der Begriff der „Vorschulkinder“ ist hier nicht zu finden.
Hier findet eine unsichtbare, aber vorhandene Trennung von ‚“spielen und lernen“ statt! Insofern werden „Vorschulprogramme“ mit „Vorschulkindern“ durchgeführt.
Im Vordergrund der Kita-Arbeit steht die „Unterstützung der Stärken der Kinder“ (= ressourcenorientierte Sicht).
Ausgangspunkt der Bildungsangebote ist eine „Schwächung der Schwächen“ (= defizitäre Sicht).
Kinder werden in Entscheidungsprozesse miteinbezogen (Partizipation).
Die Fachkräfte geben das Programm und damit die Beschäftigungsschwerpunkte vor.
Kinder werden als Akteure eigener Entwicklungsprozesse gesehen und lernen damit ihre Selbstständigkeits- und Autonomieentwicklung aufzubauen und zu stabilisieren.
Kinder entwickeln sich durch eine Angebotspädagogik zu Reakteuren und werden dadurch in ihrer Selbstständig-keits- und Autonomieentwicklung ausgebremst.
Die Fachkräfte verstehen sich als mitlernende Wegbegleiter*innen der Kinder.
Die Fachkräfte verstehen sich als (be)lehrende Förderkräfte, die Kinder als „Lernobjekte“ ansehen.
Die Fachkräfte sind sich ihrer Vorbildfunktion bewusst und arbeiten an ihrer authentischen Haltung.
Die Fachkräfte delegieren ihre beabsichtigten Erziehungserfolge an Angebote und Förderprogramme.
Die Fachkräfte sehen Selbsterfahrung und Reflexionsaufgaben als bedeutsamste, persönlichkeitsbildende Fortbildungsnotwendigkeiten an, um persönliche Kompetenzen zu vertiefen.
Die Fachkräfte besuchen hauptsächlich methodisch und didaktisch konzipierte Fortbildungsmaßnahmen, um thematische Kompetenzen zu verbessern.
Die Fachkräfte bieten den Kindern durch ihre wertschätzenden Verhaltensweisen Beziehungsangebote an, durch die die Kinder Bindungswünsche aufbauen.
Die Fachkräfte verstehen sich als Vermittler*innen von Inhalten, die durch methodisch und didaktische Merkmale strukturiert sind.
Die Alltagspädagogik ist durch „(vor)gelebte Werte“ (ethische, ästhetische, kulturelle, künstlerische Werte) gekennzeichnet.
Die Alltagspädagogik ist hauptsächlich durch normative Vorgaben (Zeitbegrenzung; Raumvorgaben; Verhaltenshinweise…) gekennzeichnet.
Innerhalb der Projekte werden die verschiedenen Spielformen mit Kindern erlebt, wobei dem Spiel die höchste Priorität des Lernens zugestanden wird.
Zwar wird dem „Spiel der Kinder“ eine gewisse Bedeutsamkeit zugesprochen, doch gleichzeitig erhalten zusätzliche „‚Fördereinheiten“ eine höhere Wertigkeit.
Kinder werden als individuelle Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Stärken gesehen und verstanden.
Kinder werden vor allem als Sozialisationsobjekte betrachtet, wodurch die Individualität des Kindes wenig Berücksichtigung findet.
Ein Hauptaugenmerk liegt in der Unterstützung des Kindes, seine inne liegenden Fähigkeiten weiter auf- und auszubauen.
Das Hauptaugenmerk ist hauptsächlich darauf ausgerichtet, kognitive, motorische und soziale Fertigkeiten zu verbessern.
Musik, Tanz, Theaterspiel und der Einsatz von Märchen eröffnet den Kindern vielfältige Möglichkeiten, erlebte Eindruckswerte in Ausdruckswerte umzusetzen.
In teilheitlich geprägten Kitas werden „Bewegungsaktivitäten“ eher in Bewegungsräumen ermöglicht und eher viel an Tischen gearbeitet, gebastelt und mit Tischregelspielen die Zeit verbracht.
Inklusion ist hier kein Instrument, sondern eine humanistisch geprägte Philosophie, die der Haltung der Fachkräfte entspricht.
Inklusion wird in der Regel als eine Integration von Kindern mit besonderem Förderbedarf in eine Regelgruppe mit gleichen Regeln für alle verstanden.
Diese Gegenüberstellung soll als Reflexionsanregung und -hilfe dienen, um wieder als Fachkraft eine entwicklungspädagogische Bodenhaftung zu bekommen bzw. eine bereits vorhandene Bodenhaftung als Selbststärkung zu erleben.
(Anmerkung: Eine ganzheitliche Pädagogik umfasst dabei alle Merkmale als Ganzes, die auf der linken Spalte aufgeführt sind.)
Diejenigen, die aus einer inneren Vernunft denken, können erkennen, dass alle Dinge durch Verbindungsglieder miteinander zusammenhängen, und dass alles, was nicht im Zusammenhang steht, zerfällt. (Emanuel Swedenborg)
Nachwort
Es ist sicher sehr hilfreich, sich noch einmal etwas ältere Literatur vorzunehmen, um sich in der Entwicklungspädagogik erneut auf die Entwicklungsbedürfnisse und -notwendigkeiten von Kindern einzulassen. Auch um der kaum noch zu überschauenden Literatur bzw. der Fülle an ständig neuen Förderprogrammen, die einer funktionsorientierten und teilheitlich konzipierten Elementarpädagogik den Einhalt zu gebieten. Dabei sind vor allem folgende Publikationen grundlegend und besonders empfehlenswert (und alle noch erhältlich!):
Bergmann, Wolfgang: Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn der Erziehung. Verlag Kösel
Dolto, Francoise: MEIN LEBEN AUF DER SEITE DER KINDER. Eine ungewöhnliche Therapeutin erzählt. Kösel Verlag, München
Hauser, Uli: Eltern brauchen Grenzen. Lasst die Kinder Kinder sein. Piper Verlag, München
Hüther, Gerald & Nitsch, Cornelia: Wie aus Kindern glückliche Erwachsene werden. GRÄFE und UNZER Verlag, München
Krenz, Armin. Kinder brauchen Seelenproviant. Was wir ihnen für ein glückliches Leben mitgeben können. Kösel Verlag, München
Lee, Jeffrey: Abenteuer für eine echte Kindheit. Die Anleitung. Piper
Lewis, Richard: Leben heißt Staunen. Von der imaginativen Kraft der Kindheit. Beltz Verlag, Weinheim
von Schönborn, Felizitas: Astrid Lindgren – Das Paradies der Kinder. Verlag Herder, Freiburg
Weber, Andreas: MEHR MATSCH! Kinder brauchen Natur. Ullstein Taschenbuch, Berlin
Weber, Andreas (mit Emma & Max): Das Quatsch Matschbuch. Das AKTIONSBUCH: großstadttauglich & baumhausgeprüft. Kösel Verlag, München
Es ist seltsam: Die Menschen klagen darüber, dass die Zeiten böse sind. Hört auf mit dem Klagen. Bessert euch selber. Denn nicht die Zeiten sind böse, sondern unser Tun. Und wir sind die Zeit.
(Aurelius Augustinus, Bischof und Kirchenlehrer, 354 – 430 n.Ch.)
Literaturhinweise:
Carter, Rita: Das Gehirn. Anatomie, Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Bewusstsein, Störungen. Verlag Dorling Kindersley, London 2019
Forstreuter, Hannelore: Was Kindertagesstätten für Kinder sein sollten… Praxisanleitung für eine ganzheitliche Bildungsarbeit. Books on Demand, Norderstedt 2025
Gilsdorf, Rüdiger: Abenteuer Natur im Spiel. Eine Sammlung zum Erleben, Entdecken und gemeinsamen Lernen. Kallmeyer, Hannover 2023
Jackel, Birgit: Lernen, wie das Gehirn es mag. Praktische Lern- und Spielvorschläge für Kindergarten, Grundschule und Familie. VAK Verlag, Kirchzarten 2008
Ellneby, Ylva: Die Entwicklung der Sinne: Wahrnehmungsförderung im Kindergarten. 3. Aufl. Lambertus Verlag, Freiburg 2024
Kaul, Claus-Dieter: Die zehn Wünsche der Kinder. Ein ganzheitlicher Weg im Miteinander von Kindern und Erwachsenen. Brigg Verlag, Friedberg 2023
Klein, Ferdinand: Neue Herausforderungen der pädagogischen Fachkraft. Aus der Idee des Guten die Praxis in Kindertageseinrichtungen gestalten. Walhalla Fachverlag, Regensburg 2024
Krenz, Armin: Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik. Kinder sehen, verstehen und entwicklungsunterstützend handeln. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2013
Liebertz, Charmaine: Spiele zum Ganzheitlichen Lernen. Bewegung, Wahrnehmung, Konzentration, Entspannung und Rhythmik in der Kindergruppe. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2014
Renz-Polster, Herbert: Die Kindheit ist unantastbar. Beltz Verlag, Weinheim 2014
Ungerer-Röhrich, Ulrike et al: Bildung durch Bewegung. Kita-Kinder ganzheitlich in ihrer Bewegung fördern. Cornelsen, Berlin 2015
Zimmer, Renate: Handbuch Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung. Herder, Freiburg 2019
Armin Krenz, Hon.-Prof. (a.D.) Dr. et Prof. h.c. (armin.krenz@web.de)
Spielerisch stark: Wie Kinder durch Theaterpädagogik ihre Potenziale entfalten
geschrieben von Redakteur | Juli 28, 2025
Das Theaterprojekt „Die Piraten im Zauberland“ der Kita Wirbelwind zeigt, wie ganzheitliches Lernen gelingen kann
Viele Kinder lieben es, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen, womit sie ihre „Zauberkräfte“ zum Ausdruck bringen können. Zauberkräfte, um ihren Wunschrollen ganz nahe zu sein: als Polizist:in für Ordnung zu sorgen oder Bösewichte ins Gefängnis zu bringen, als Pirat neue Welten zu entdecken, als Schatzjäger:in vergrabene Kostbarkeiten zu finden, als Prinzessin oder Prinz in einem herrschaftlichen Schloss zu wohnen oder als König bzw. Königin ein Volk zu regieren und bewundert zu werden, als Dinosaurier das Leben in weit zurückliegenden Urzeiten zu erleben oder als Tierärztin bzw. Tierarzt kranke Tiere wieder zu heilen …
Kinder wollen sich ausdrücken, ihre vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten in Sprach- und Spielhandlungen erkunden und ausprobieren, ihre innewohnenden Potenziale entdecken, eigene Handlungsvorstellungen in Aktionen umsetzen, Fantasien ausleben und Weltentdecker:innen sein. Kinder sprühen vor Aktionsideen, wollen kreativ wirksam werden, erlebte Grenzen überschreiten und sich selbst als Akteur:innen der eigenen Entwicklung verstehen, um ihre ganz persönliche Identität zu erfassen und ihre besondere Individualität herauszustellen.
Kreatives Toben mit Sinn
Kinder lieben es zu toben, zu klettern, mit Sprache zu jonglieren, Herausforderungen zu entdecken und gleichzeitig Ziele zu erreichen, mit großer Neugier den Geheimnissen der Welt auf die Spur zu kommen und sich in Szene zu setzen – um den eigenen Selbstwert motorisch, emotional, in sozialen Bezügen und kognitiv zu spüren.
Neben dem Spiel mit Handpuppen, Stabfiguren, Großfiguren, Marionetten sowie dem Tisch-, Papier- oder Schattentheater besitzt die gemeinsame Planung und Durchführung eines eigenen Theaterstücks einen ganz besonderen Reiz für Kinder.
Theater als ganzheitliches Bildungsprojekt
Theaterstücke umfassen viele Merkmale – vom Bühnenbild, über Beleuchtungen, Kostüme, Requisiten, Musikuntermalung, besondere Geräusche, themenbezogene Choreografien, Dialoge, selbst gesungene Lieder, Sprach- bzw. Textanteile. Vor allem aber dient ein Drehbuch als Grundlage für eine Theateraufführung. Hier können Kinder ihre Ideen einbringen, ganz unterschiedliche Rollen in neue Szenerien integrieren, eigene Lebensthemen aufgreifen, Wunschrollen verwirklichen sowie aktiv mitgestalten – bei Kostümen, Requisiten, Texten und Bühnenbild. So entsteht aus vielen Einzelelementen ein „rundes Ganzes“.
Partizipation statt fertiger Angebote
Schauen wir uns dabei die verschiedenen Entwicklungs- und Kompetenzbereiche an, können wir tatsächlich von einer ganzheitlichen Pädagogik sprechen, bei der alle Entwicklungsfelder berücksichtigt werden – ganz ohne isolierte Fördereinheiten. Hier treffen die drei Grundelemente nachhaltiger Bildungsarbeit zusammen:
Die Kinder erleben sich als individuell bedeutsame Akteur:innen, da sie von Beginn bis Auswertung eines Projekts voll partizipativ beteiligt sind.
Es werden keine fertigen Themen oder didaktisch-methodisch vorbereiteten Inhalte vorgesetzt – Kinder schlagen selbst ein für sie bedeutsames Thema vor, das aktiv umgesetzt wird.
All dies geschieht in einer beziehungsfreundlichen Atmosphäre, in der die Kinder ihre Erzieher:innen als authentisch, innerlich beteiligt, neugierig und wertschätzend erleben.
Lernen „ganz nebenbei“
In der Lernpsychologie spricht man hier von concomitant learning – einem „Lernen ganz nebenbei“. Kinder bringen dabei kognitive, emotionale, soziale und motorische Kompetenzen ein, ohne dass sie merken, dass eine gezielte Entwicklungsförderung stattfindet.
Alles lebt vom Engagement der Erzieher:innen, KINDER und deren Themen zum Ausgangspunkt spannender PROJEKTE zu machen. Daraus entsteht eine innere Resonanz, die Bindung stärkt – zum Projekt und zu den pädagogischen Bezugspersonen.
Was hier gelingt – und anderswo oft fehlt
Kinder erleben sich als Akteur*innen – nicht als Reagierende.
Kinder werden zu eigenständigen Lernmotoren – nicht zu Ausführenden vorbereiteter Programme.
Die Arbeit ist prozessorientiert – nicht durch Stundenpläne oder Zielvorgaben vorstrukturiert.
Es werden basale Fähigkeiten aufgebaut – keine bloße Verfeinerung von Fertigkeiten.
Die Themen orientieren sich an der Erlebniswelt der Kinder – nicht an Bildungsplänen oder Jahreszeitenpädagogik.
Es entsteht eine lernförderliche Atmosphäre – im Gegensatz zu normorientierten, funktional organisierten Kita-Strukturen.
Die Piraten im Zauberland: Ein Projekt von Kindern für Kinder
Im folgenden Teil wird das Theaterstück „Die Piraten im Zauberland“ vorgestellt, das von Kindern initiiert, gemeinsam entwickelt und schließlich mit großer Begeisterung aufgeführt wurde. Es war überwältigend mitzuerleben, mit wie viel Fantasie, Engagement und Lernfreude alle Kinder an diesem Projekt beteiligt waren.
Gerade im Kontrast zu kognitiv überfrachteten, angebotszentrierten und durchgetakteten Tagesabläufen zeigt dieses Projekt eindrucksvoll, warum Kinder, die einen spielpädagogisch orientierten Kindergarten wie den Wirbelwind Lunzig (südlich von Gera, Thüringen) besuchen, eine beeindruckende „Schulbereitschaft“ entwickeln – und ihre Erzieher*innen von Herzen mögen. Vielen Dank auch an Brit Drechsler von der Kita Wirbelwind, die nicht nur maßgebend am Projekt mitgewirkt hat, sondern uns auch das Drehbuch zur Verfügung gestellt hat.
Warum sinnliches Erleben und emotionale Intelligenz heute wichtiger sind denn je
Wir leben in einer Zeit, in der die Informationsmenge täglich wächst – und mit ihr der Druck auf Kinder, immer mehr Wissen aufzunehmen. Doch wie lange noch können Geist und Psyche diese Überflutung verkraften? Wann wird emotionale Kälte zu innerer Leere oder gar zu Aggression? Und erkennen wir rechtzeitig, dass nicht reines Faktenwissen unsere Zukunft sichert, sondern die Fähigkeit, Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen?
Kinder der heutigen Wissensgesellschaft erleben die Welt zunehmend durch Bildschirme – weniger durch eigenes, sinnliches Erleben. Die Medienwelt bestimmt, was sie sehen, hören und begehren. Schon früh am Morgen tummeln sich Monster im Kinderfernsehen, während aggressive Helden das Frühstück begleiten. Was bleibt, ist eine Wirklichkeit „aus zweiter Hand“ – mit trügerischer Konsumversprechen statt echter Erfahrungen.
Trügerische Fastfood-Wahrnehmung
Viele Kinder verwechseln heute mediale Trugbilder mit der Realität. Wer kennt sie nicht – die lila Kuh, die längst in den Köpfen spukt, bevor ein Kind eine echte Kuh erlebt hat? Erwachsene können solche Bilder einordnen, Kinder dagegen glauben oft, was sie sehen: „Wenn’s im Fernsehen war, muss es stimmen.“
Die sogenannte Ikomanie – die Sucht nach Bildern – ist ein neues Phänomen unserer Mediengesellschaft. Immer mehr Kinder leiden an Wahrnehmungsstörungen, teils aus organischen, häufig aber aus umweltbedingten Gründen. Während Augen und Ohren durch visuelle und akustische Reize überfordert sind, verkümmern Tast-, Riech- und Gleichgewichtssinn. Es fehlen echte Erfahrungen – mit echten Menschen und echten Dingen.
Sinnesentwicklung braucht echte Erfahrungen
Unsere Sinne sind die Tore zur Welt. Kinder lernen über Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken und Bewegen. Sie begreifen durch Greifen, ertasten die Welt, lange bevor sie sprechen. Diese Primärerfahrungen sind unersetzlich. Sie machen den Unterschied zwischen flüchtigem Konsum und tief verankerter, ganzheitlicher Erinnerung. Der Regenwurm fühlt sich eben nur in der Hand feucht und lebendig an – nicht auf dem Bildschirm.
Wenn Kinder frühzeitig vielfältige sinnliche Erfahrungen machen dürfen, entstehen im Gehirn stabile Denkstrukturen. Diese sind die Grundlage für emotionale Sicherheit und lebenslanges Lernen.
Folgen der Reizüberflutung
Ein Übermaß an einseitigen Reizen schadet: Der durchschnittliche Fernsehkonsum von 4- bis 14-Jährigen liegt bei viereinhalb Stunden täglich. Das belastet nicht nur Augen und Ohren, sondern stört auch die Verarbeitung im Gehirn. Viele Kinder können Reize nicht mehr richtig einordnen oder voneinander unterscheiden. Die Folge: Konzentrationsprobleme, motorische Unruhe, Unsicherheiten im Sozialverhalten.
Oft treten mehrere Wahrnehmungsstörungen gleichzeitig auf. Kinder mit auditiven Einschränkungen hören zwar die Laute, erkennen aber deren Bedeutung nicht. Andere haben eine taktile Über- oder Unterempfindlichkeit – sie suchen ständig starke Reize oder meiden jede Berührung. Solche Störungen beeinträchtigen nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die emotionale Entwicklung.
Mehr als Wissen: Herzensbildung und soziale Kompetenz
Kinder brauchen mehr als Wissensvermittlung. Sie brauchen Räume für sinnliche Erlebnisse, für Beziehungslernen, für Herzensbildung. Die zentralen Zukunftskompetenzen sind soziale Intelligenz, emotionale Stärke und die Fähigkeit, empathisch zu handeln. Diese wachsen nicht in der digitalen Welt, sondern in echter Begegnung – mit Menschen, mit Natur, mit dem echten Leben.
Eltern, Erzieher:innen und Lehrkräfte sind gefragt, eine Umgebung zu schaffen, die Kinder in ihrer ganzheitlichen Entwicklung stärkt: mit Zeit zum Matschen, Toben, Staunen und Fragenstellen. Kinder wollen entdecken, untersuchen, ausprobieren. Und sie brauchen Orte dafür – draußen in der Natur, im Alltag, im echten Leben.
Sinneserziehung als Bildungsaufgabe
Je früher Kinder gezielte Förderung erhalten, desto besser können Wahrnehmungsstörungen ausgeglichen werden. Und je liebevoller und kompetenter wir ihre Sinne ansprechen, desto besser sind sie auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet. Unsere Kinder können mehr als nur sehen und hören – sie können fühlen, schmecken, riechen, tasten und das Leben mit allen Sinnen gestalten.
Kontakt:
Dr. Charmaine Liebertz Tel: 0221 9233103 ✉️ c.liebertz@ganzheitlichlernen.de 🌐 www.ganzheitlichlernen.de
Charmaine Liebertz
Charmaine Liebertz Spiele zum ganzheitlichen Lernen Bewegung, Wahrnehmung, Konzentration, Entspannung und Rhythmik in der Kindergruppe Softcover, 14,8 x 21 cm, 96 Seiten Burckhardthaus Verlag ISBN: 9783944548166 14,95 €
Warum emotionale Intelligenz für Kinder heute so wichtig ist
geschrieben von Redakteur | Juli 28, 2025
Die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Charmaine Liebertz erklärt im Interview, wie Eltern und Pädagog*innen Kinder emotional stärken können – mit Mitgefühl, Empathie und einem geschulten Herzen
Emotionale Intelligenz zählt zu den Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts. Dabei geht es um Mitgefühl, Empathie und ein tiefes Verständnis für sich selbst und andere. Die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Charmaine Liebertz (Foto) erläutert, warum Herzensbildung nicht nur ein schönes Ideal, sondern eine zentrale Aufgabe für Eltern und pädagogische Fachkräfte ist.
Was bedeutet Herzensbildung im 21. Jahrhundert?
Heute sprechen wir von emotionaler Intelligenz. Beides besagt: Wissen allein genügt nicht. Menschen brauchen auch Herzqualitäten – Eigenschaften, die auf emotionalem Erleben und Menschenkenntnis basieren. Diese Qualitäten zu vermitteln, ist eine der wichtigsten Aufgaben von Eltern und Pädagog*innen in der heutigen Erziehungsarbeit.
Warum ist Herzensbildung so wichtig?
Weil sie grundlegend für die Persönlichkeitsentwicklung und den zwischenmenschlichen Umgang ist. Herzensbildung erlebt in unserer schnelllebigen Welt eine echte Renaissance. Um zukunftsfähig zu sein, brauchen Kinder Teamfähigkeit, Konfliktlösungskompetenz, Frustrationstoleranz und soziale Intelligenz. Pädagog\*innen müssen sich auf ihre ursprüngliche Aufgabe besinnen: eine ganzheitliche Erziehung mit Kopf, Herz und Hand.
Welche Fähigkeiten erwerben Kinder durch Herzensbildung?
Der amerikanische Psychologe Daniel Goleman beschreibt in seiner Theorie der emotionalen Intelligenz zentrale Fähigkeiten: eigene Emotionen erkennen und steuern, Empathie entwickeln und soziale Kompetenzen ausbilden. Diese Fähigkeiten bilden das Fundament für gelingende Beziehungen und ein stabiles Selbstwertgefühl.
Wozu befähigt emotionale Intelligenz Kinder konkret?
Kinder mit hoher emotionaler Intelligenz verfügen über ein starkes Selbstwertgefühl und kreative Problemlösungsstrategien. Sie wissen etwa, wie sie mit innerem Stress oder Gruppendruck umgehen können – ohne auf Gewalt oder Suchtmittel zurückzugreifen. Sie lernen, ihre Gefühle zu reflektieren und sich selbst besser zu verstehen. Eine entscheidende Entwicklungsstufe dabei ist die Ich-Entwicklung: Wenn ein Kind gegen Ende des zweiten Lebensjahres beginnt, zwischen „ich“ und „du“ zu unterscheiden.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Nehmen wir zwei Kleinkinder im Sandkasten, die beide mit demselben Bagger spielen wollen. Sagt eines „meins!“, helfen Eltern oder pädagogische Fachkräfte dabei, einen Tausch oder ein gemeinsames Spiel zu ermöglichen. Solche Situationen fördern die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen – eine essenzielle Voraussetzung für soziale Interaktion und Kommunikation.
Geht es bei Herzensbildung auch darum, sich selbst zurückzunehmen?
Unbedingt. Kinder müssen im Laufe ihres emotionalen Reifungsprozesses lernen, eigene Bedürfnisse auch mal zurückzustellen und die Perspektive anderer zu berücksichtigen. Diese Impulskontrolle ist ein wichtiger Indikator für ein erfolgreiches Leben und hilft beim Aufbau eines stabilen Wertesystems. Denn Werte bedeuten: etwas lassen zu können, um etwas anderes zu tun. Eltern und Fachkräfte sollten nicht jeden Konflikt vermeiden oder jeden Wunsch sofort erfüllen.
Wie sollten Erwachsene mit unangenehmen Gefühlen von Kindern umgehen?
Zuhören und einfühlsam reagieren ist entscheidend – besonders, wenn etwas schiefläuft. Kinder brauchen Raum, um ihre Gefühle auszudrücken, und Rückhalt bei emotionalen Ausbrüchen wie Weinkrämpfen oder Wutanfällen. Hilfreich ist auch, wenn Erwachsene klare Orientierung bieten, z. B.: „Ich möchte dir helfen. Wenn du weißt, was du willst, bin ich in der Küche.“ So lernen Kinder, ihre Emotionen sozialverträglich auszudrücken.
Wie können Eltern und Fachkräfte emotionale Intelligenz gezielt fördern?
Indem sie selbst einfühlsames Verhalten vorleben – gegenüber Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen. Kinder sollten keine „kaputt-und-weg“-Mentalität entwickeln. Wertschätzung beginnt mit Achtsamkeit gegenüber kleinen Dingen. Wichtig ist auch, dass jeder Streit vor dem Schlafengehen oder beim Abschied im Kindergarten beigelegt wird. Etwa so: „Über den Ärger heute Morgen sprechen wir später in Ruhe. Jetzt wünsche ich dir einen schönen Tag. Ich hab dich lieb.“
Ist es wichtig, mit Kindern über Gefühle zu sprechen?
Ja. Erwachsene sollten Kinder nicht nur begleiten, sondern ihnen auch ihre eigene Gefühlswelt zeigen. Wenn ein Kind Angst hat, sollte es darüber sprechen dürfen – im Vertrauen darauf, Unterstützung zu bekommen. Ein liebevolles Gespräch wirkt oft Wunder: „Wovor hast du Angst? Was können wir gemeinsam tun?“ Auch Rollenspiele oder Geschichten über Gefühle fördern die Empathiefähigkeit. Dabei gilt: Erwachsene sind immer Vorbilder. Wer Kinder in emotionaler Intelligenz stärken will, muss auch selbst einen bewussten Umgang mit Gefühlen pflegen.
Weiterführende Literatur von Dr. Charmaine Liebertz
Erste Ergebnisse der europaweiten ALFAC-Studie zeigen besorgniserregende Lücken im Risikobewusstsein – und starke Unterschiede nach Alter, Geschlecht und Herkunft
Knapp jedes zweite Kind in Deutschland unterschätzt Gefahren beim Schwimmen: 49 Prozent der Sechs- bis Zwölfjährigen erkennen riskante Situationen im Schwimmbad nicht, im Freiwasser sind es 44 Prozent. Besonders auffällig: Jungen nehmen Risiken deutlich seltener wahr als Mädchen. Diese ersten Ergebnisse stammen aus dem laufenden EU-Projekt „Aquatic Literacy for all Children (ALFAC)“, das die Schwimmfähigkeit von Kindern europaweit untersucht.
Mit dem Alter steigt die Schwimmkompetenz
Insgesamt zeigen die Daten: Mit zunehmendem Alter steigt die Schwimmkompetenz, sowohl bei grundlegenden Fertigkeiten wie Tauchen, Atmen und Schweben als auch bei komplexeren Aufgaben wie einem Schwimmparcours. Kinder ohne grundlegende Schwimmfähigkeit haben Schwierigkeiten beim Tauchen, meiden den Fußsprung ins Wasser und können sich schlechter eigenständig aus dem Wasser befreien.
Zugleich sind Kinder aller Altersgruppen hoch motiviert, schwimmen zu lernen. Ältere Kinder berichten über ein höheres Selbstbewusstsein im Wasser als jüngere.
Schwimmen lernen ist Familiensache – aber nicht nur
Ein Drittel der Schwimmkompetenz bei jüngeren Kindern lässt sich durch familiäre Faktoren wie den Bildungsstand der Eltern, deren eigene Schwimmfähigkeit und den sozioökonomischen Status erklären. Bei älteren Kindern nimmt dieser Einfluss ab. Das unterstreicht die Bedeutung früher Förderung – aber auch den möglichen Ausgleich durch strukturierte Schwimmlernangebote in Schule und Verein.
So wurde die Studie durchgeführt
Die ALFAC-Studie erhebt Daten zur motorischen, kognitiven und psychosozialen Schwimmfähigkeit von Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren. Dabei werden nicht nur technische Fähigkeiten wie Tauchen, Schweben und Fortbewegung getestet, sondern auch Aspekte wie Motivation, Selbstvertrauen und Risikobewusstsein im Wasser.
Ergänzt werden diese Analysen durch Befragungen zu familiärem Hintergrund und Herkunft. Getestet wird in Schwimmparcours und standardisierten Übungen.
Internationale Zusammenarbeit für mehr Wassersicherheit
Das Erasmus+-Projekt „Aquatic Literacy for all Children (ALFAC)“ wird in Deutschland, Belgien, Frankreich, Litauen, Norwegen, Polen und Portugal durchgeführt. Die deutschen Erhebungen finden in Köln, Kassel und Flensburg statt.
Beteiligt sind unter anderem:
Dr. Sebastian Fischer (Universität Kassel)
Dr. Ilka Staub und Prof. Dr. Tobias Vogt (Deutsche Sporthochschule Köln, Projektleitung)
Dr. Nele Schlapkohl und Sarah Schmidt (Europa-Universität Flensburg)
Warum der natürliche Entdeckergeist so wichtig ist und wie Eltern und pädagogische Fachkräfte ihn schützen können
Kinder sind von Natur aus neugierig. Sie stellen Fragen, entdecken ständig Neues, experimentieren, beobachten – und lassen nicht locker, bis sie eine Antwort haben. Diese unermüdliche Suche nach Sinn, Zusammenhang und Neuem ist keine bloße Phase, sondern ein grundlegender Motor für Entwicklung, Lernen und Beziehung.
„Neugier ist eine psychologische Superkraft“, sagt der Psychologe Jonathan Schooler von der University of California, Santa Barbara. Studien zeigen: Wer sich neugierig mit der Welt verbindet, lebt zufriedener, kreativer – oft gesünder und länger.
Neugier kann man nicht lehren – aber man kann sie verlieren
Während Kinder mit einem natürlichen Entdeckergeist auf die Welt kommen, wird dieser oft ungewollt eingeschränkt. Überstrukturierte Tagesabläufe, frühzeitige Leistungsanforderungen oder ständige Ablenkung durch digitale Medien können die kindliche Neugier Stück für Stück zurückdrängen. Wer immer nur gesagt bekommt, was richtig ist, lernt irgendwann, nicht mehr selbst zu fragen.
Deshalb ist es für Eltern, Großeltern und pädagogische Fachkräfte so wichtig, Räume offen zu halten, in denen Kinder fragen, ausprobieren, beobachten und staunen dürfen. Denn Neugier braucht vor allem eines: Freiheit.
Wenn Eltern selbst neugierig bleiben
Doch auch Erwachsene profitieren, wenn sie sich gemeinsam mit Kindern auf Entdeckungsreise begeben. Eine fragende Haltung – Warum ist das so?, Was könnte dahinterstecken? – wirkt nicht nur ansteckend, sondern stärkt auch das Miteinander in der Familie.
Psychologin Madeleine Gross, ebenfalls von der UC Santa Barbara, betont: „Neugier bedeutet nicht, ständig neue Reize zu suchen, sondern das Alltägliche wieder mit offenen Augen zu sehen.“ Genau das können Kinder den Erwachsenen zeigen – wenn diese bereit sind, mit ihnen gemeinsam hinzuschauen.
Kleine Anregungen für mehr Neugier im Familienalltag
– Lasst Kinder selbst entdecken, statt sofort alles zu erklären – Stellt Fragen, auch wenn ihr die Antwort kennt – und hört gemeinsam nach – Probiert zusammen etwas Neues aus: ein fremdes Gericht, eine unbekannte Pflanze, ein anderer Weg zum Spielplatz – Schafft Momente ohne Ablenkung – kein Bildschirm, kein Plan, nur Neugier
Neugier ist keine Fähigkeit, die man lehren muss – aber eine Haltung, die man bewahren sollte. Wer sie schützt, fördert nicht nur das Lernen der Kinder, sondern bereichert das Familienleben insgesamt.
Quelle: pressetext.com und University of California, Santa Barbara – Department of Psychological & Brain Sciences