Wie Smartphones die frühkindliche Entwicklung stören können

Studie zeigt: Elterliche Handynutzung in Gegenwart von Kleinkindern kann deren Verhalten und Bindung beeinträchtigen

Eine aktuelle Metaanalyse zeigt: Wenn Eltern im Beisein ihres Kleinkindes regelmäßig digitale Medien nutzen, wirkt sich das negativ auf die Entwicklung des Kindes aus. Die sogenannte „Technoferenz“ – also die Ablenkung durch Smartphones oder Tablets – steht in Zusammenhang mit schwächeren kognitiven Fähigkeiten, häufigerem problematischem Verhalten, weniger prosozialem Handeln und einer geringeren emotionalen Bindung zwischen Eltern und Kind.

Digitale Ablenkung hat messbare Folgen

Analysiert wurden 21 Studien mit insgesamt fast 15.000 Familien aus zehn Ländern. Die Ergebnisse belegen, dass die elterliche Nutzung digitaler Geräte mit emotionalen und sozialen Auffälligkeiten bei Kindern unter fünf Jahren korreliert. Gleichzeitig verbringen diese Kinder selbst mehr Zeit vor Bildschirmen. Zwar sind die Effekte statistisch gesehen eher klein, doch angesichts der frühkindlichen Sensibilität können sie langfristig große Auswirkungen haben.

Handlungsbedarf in Familien und Kitas

Für pädagogische Fachkräfte ergibt sich daraus ein klarer Auftrag: Eltern sollten für die Auswirkungen ihrer eigenen Mediennutzung sensibilisiert werden. Frühkindliche Bildungsangebote können hier unterstützend wirken – durch Beratung, Aufklärung und praktische Anregungen für einen achtsamen Medienumgang im Familienalltag.

Quelle: https://jamanetwork.com/journals/jamapediatrics/article-abstract/2833506

Medienkompetenz beginnt bei den Erwachsenen

Kinder kommen heute früh mit digitalen Medien in Kontakt – zu Hause, im Kindergarten und in der Freizeit. Diese Alltagspräsenz weckt Interesse und Neugier, stellt aber auch pädagogische Fragen. Medienkompetenz zählt heute zu den Schlüsselkompetenzen und sollte altersgerecht entwickelt werden.

Dabei geht es nicht nur um das Ob, sondern um das Wie: Welche Inhalte sind geeignet, wie lange ist die Nutzung sinnvoll, und welche Rolle spielen Alter und Kontext? Diese Überlegungen betreffen bereits die Jüngsten – vom Krippen- bis ins Grundschulalter.

Wenn digitale Medien zum Thema in der frühen Bildung werden, ist eine sorgfältige Auseinandersetzung nötig. Diese Streitschrift fordert dazu auf, Nutzung und Wirkung differenziert zu betrachten.

Broschüre, 28 Seiten, ISBN: 9783963046193, 5 €




Schnuller und Daumen: Wann Kinder sich entwöhnen sollten

Viele Eltern haben laut einer Umfrage das Gefühl, den richtigen Zeitpunkt zum Abgewöhnen verpasst zu haben

Schnuller und Daumenlutschen können Babys beruhigen und ihnen helfen, besser einzuschlafen – das wissen viele Eltern aus eigener Erfahrung. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt, sich von diesen Gewohnheiten zu verabschieden? Eine landesweite Umfrage des C.S. Mott Children’s Hospital an der University of Michigan (USA) gibt Einblicke in die Erfahrungen und Unsicherheiten vieler US-amerikanischer Familien.

Häufiger als gedacht – und manchmal länger als gut ist

Fast jedes zweite Elternteil berichtet, dass das eigene Kind einen Schnuller genutzt hat oder nutzt. Ein Viertel der Kinder lutscht oder lutschte am Daumen oder an den Fingern. Dabei war das Verhalten vor allem mit Einschlafsituationen, Mittagsschlaf oder emotionalem Stress verbunden – einige Kinder griffen aber auch beim Fernsehen oder in anderen Alltagssituationen regelmäßig darauf zurück. Etwa jedes fünfte Kind nutzte den Schnuller nahezu durchgängig.

Viele Eltern gaben an, im Nachhinein das Gefühl gehabt zu haben, den richtigen Zeitpunkt zum Abgewöhnen verpasst zu haben. Und das kann Folgen haben: Ein zu langes Beibehalten der Gewohnheit kann die Zahnentwicklung stören – und möglicherweise auch die Sprachentwicklung.

Kuscheltier oder Handschuhe? Wie Eltern versuchen, das Verhalten zu beenden

Über die Hälfte der befragten Eltern ist der Meinung, dass Kinder spätestens vor dem zweiten Geburtstag mit dem Schnuller oder Daumenlutschen aufhören sollten. Manche Kinder hören von selbst damit auf, doch nicht immer geht der Abschied reibungslos. Eltern berichten von verschiedenen Strategien: Einige schnitten ein Loch in den Sauger, um ihn unattraktiver zu machen, andere setzten auf Ersatz wie ein Kuscheltier. In seltenen Fällen kamen sogar abschreckende Mittel wie scharfe Sauce oder Vaseline zum Einsatz, was sicher nicht zur Nachahmung empfohlen werden sollte. Die Eltern sind jedenfalls gefragt, ihr Kind achtsam und liebevoll beim Loslassen dieser frühen Trostspender zu begleiten.

Laut Susan Woolford, Co-Direktorin des Mott Polls, sind Schnuller und Daumenlutschen in der frühen Kindheit ein normales Beruhigungsverhalten. Wenn es aber über die Kleinkindzeit hinaus bestehen bleibt oder das tägliche Leben beeinträchtigt, könne es ein Hinweis darauf sein, dass dem Kind alternative Strategien zur Stressbewältigung fehlen.

Hier geht es zur Originalfassung des Berichts: https://mottpoll.org/

Quelle: Pressetext.com/Ann Arbor




Musikunterricht stärkt die Tonhöhenwahrnehmung und die Emotionssensibilität

US-Studie zeigt: Kinder mit musikalischer Förderung erkennen Tonhöhen und Emotionen in Stimmen besser – soziale Effekte bleiben begrenzt

Kinder, die regelmäßig Musikunterricht erhalten, entwickeln eine deutlich bessere Fähigkeit, Tonhöhen zu erkennen – das zeigt eine US-amerikanische Längsschnittstudie, die im Sommer 2024 von Jed Villanueva, Beatriz Ilari und Assal Habibi an der University of Southern California veröffentlicht wurde. Auch in der Erkennung von Emotionen – insbesondere in auditiven Reizen wie Filmszenen – schnitten musikalisch geschulte Kinder besser ab. Die Studie begleitete 83 Kinder über vier Jahre und untersuchte die Wirkung von Musikunterricht im Vergleich zu Sportprogrammen und einer Kontrollgruppe ohne strukturiertes Nachmittagsangebot.

Wo Musikunterricht wirklich wirkt

Der stärkste Effekt zeigte sich bei der Tonhöhenwahrnehmung: Kinder im Musikprogramm konnten Melodien deutlich präziser nachsingen als ihre Altersgenossen aus den anderen Gruppen. Diese Fähigkeit wird durch den systematischen Unterricht gezielt gefördert – ein klassischer Fall von Nahtransfer. Auch die Fähigkeit, emotionale Stimmungen in Filmausschnitten zu erkennen, entwickelte sich bei den musikalisch geförderten Kindern stärker – ein möglicher Hinweis auf die feinere auditive Verarbeitung durch musikalisches Training.

Keine Vorteile beim Taktgefühl oder im Sozialverhalten

Anders bei der rhythmischen Synchronisation: Hier verbesserten sich alle Kinder im Laufe der Zeit, egal ob sie Musik- oder Sportunterricht erhielten. Der Musikunterricht brachte in diesem Bereich keinen zusätzlichen Effekt.

Auch bei den sozialen Fähigkeiten – wie Empathie, Perspektivübernahme oder dem Wunsch zu teilen – zeigte die Musikgruppe keinen deutlichen Vorsprung. Besonders das Teilungsverhalten entwickelte sich bei allen Gruppen mit dem Alter, wobei Kinder in der Sportgruppe sogar etwas großzügiger waren. Empathische Grundhaltungen blieben weitgehend stabil und wurden eher durch kognitive Fähigkeiten als durch Musik beeinflusst.

Fazit

Musikunterricht wirkt – aber vor allem dort, wo gezielt geübt wird. Die Studie der University of Southern California belegt: Kinder profitieren musikalisch und in ihrer Emotionswahrnehmung – vor allem im auditiven Bereich. Die Hoffnung, dass Musikunterricht automatisch auch soziale Kompetenzen wie Empathie oder Hilfsbereitschaft stärkt, erfüllt sich hingegen nicht flächendeckend. Für Schulen und Familien bedeutet das: Musik ist ein wertvoller Bildungsbaustein – aber kein Allheilmittel für die Persönlichkeitsentwicklung.

Hier geht es zur Studie.

Gernot Körner




Unangemessene Werbung auf Kinderwebseiten trotz gesetzlicher Verbote

Trotz gesetzlicher Verbote stoßen Kinder auf Lern- und Spieleseiten im Netz regelmäßig auf sexuelle, medizinische und kommerzielle Werbung

Von außen sehen sie harmlos aus: Lernplattformen, Spieleportale und Wissensseiten für Kinder unter 13 Jahren. Doch wer genauer hinschaut, entdeckt dort Werbung, die alles andere als kindgerecht ist. Eine aktuelle Untersuchung von Forschenden der Radboud-Universität (Niederlande), der KU Leuven (Belgien) und der Ruhr-Universität Bochum bringt nun systematisch ans Licht, womit junge Nutzerinnen und Nutzer tatsächlich konfrontiert werden. Die Ergebnisse sind erschreckend – und zeigen auch, dass gesetzliche Schutzvorgaben im digitalen Raum praktisch ins Leere laufen.

„Es war eine bunte Mischung mit einigen alarmierenden Inhalten“, sagt Informatik-Professorin Dr. Veelasha Moonsamy von der Ruhr-Universität Bochum. Gemeinsam mit ihrem Team analysierte sie rund 2.000 Webseiten, die speziell auf Kinder ausgerichtet sind. Dabei wurden etwa 70.000 Werbeanzeigen gesammelt – eine enorme Datenmenge, die durch die dynamische Struktur vieler Webseiten zustande kam: „Die Werbeanzeigen ändern sich alle paar Minuten“, erklärt Moonsamy.

Werbung, die Kinder nicht sehen sollten

Insgesamt fanden die Forschenden 1.003 Anzeigen, die sie als unangemessen einstuften. Darunter Werbung für Verlobungsringe und Dessous, für Diätpillen und Partnerbörsen. Auch Anzeigen für Tests auf Depression oder Homosexualität sowie für Sexspielzeug und Chatangebote mit anzüglich gekleideten Frauen waren Teil des Materials.

Dabei ist die Rechtslage eigentlich klar: Werbung, die Kinder gefährden oder in ihrer Entwicklung beeinträchtigen könnte, ist verboten. Doch die Realität im Netz sieht anders aus. „Eigentlich gibt es Gesetze, die regeln, mit welchen Anzeigen Kinder konfrontiert werden dürfen“, betont Moonsamy. „Aber sie werden nicht eingehalten.“

Gesetzlicher Schutz bleibt Theorie

Ein Kernproblem liegt in der technischen Infrastruktur des Internets: Werbeanzeigen werden häufig automatisch und zentral gesteuert, unabhängig davon, für wen die jeweilige Webseite gedacht ist. Es gibt keine technische Unterscheidung zwischen Seiten für Kinder und solche für Erwachsene – und somit auch keine Filterung im Anzeigennetzwerk.

„Das Internet gibt es seit Jahrzehnten. Es ist ein komplexes System, das seine bestimmte Funktionsweise hat, und man kann nicht einfach grundlegend etwas ändern. Das könnte alles zusammenbrechen lassen“, erklärt Moonsamy. Dennoch bleibt die Frage, warum bestehende Regeln nicht wirksam durchgesetzt werden – und warum es noch immer keinen flächendeckenden Schutz für Kinder im Netz gibt.

Was Eltern tun können

Eltern sind mit dieser Situation oft überfordert. Welche Tools helfen wirklich, um Kinder zu schützen? Wie funktioniert verhaltensbasierte Werbung? Und wie kann man als Familie digitale Kompetenz aufbauen? Antworten auf diese Fragen liefert der ausführliche Artikel von Veelasha Moonsamy im Wissenschaftsmagazin Rubin der Ruhr-Universität Bochum. Darin gibt sie praxisnahe Tipps – und fordert eine konsequentere Regulierung auf politischer und technischer Ebene.

👉 Der vollständige Beitrag ist hier zu finden: Rubin-Magazin.

Quelle: Pressemitteilung von Dr. Julia Weiler, Dezernat Hochschulkommunikation, Ruhr-Universität Bochum




OECD-Bericht: So beeinflusst die digitale Welt das Leben von Kindern

Die internationale Wirtschaftsorganisation fordert mehr Schutz, bessere Daten und gemeinsame Verantwortung

Fast jedes Kind ist heute online – und das immer früher. Schon 93 Prozent der Zehnjährigen hatten laut internationalen Bildungsstudien 2021 Zugang zum Internet, 70 Prozent besitzen ein eigenes Smartphone. Bei den 15-Jährigen ist die digitale Welt längst Alltag: 98 Prozent haben ein internetfähiges Smartphone, 96 Prozent Zugriff auf einen Computer oder ein Tablet zu Hause. In manchen Ländern verbringen Jugendliche über 60 Stunden pro Woche online – fast ein Vollzeitjob.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht darin große Chancen – aber auch wachsende Risiken. In ihrem neuen Bericht „How’s Life for Children in the Digital Age?“ fordert sie ein umfassendes Umdenken: Kinder brauchen Schutz, Orientierung und Unterstützung – nicht nur online, sondern auch in ihrem realen Umfeld.

Fakten auf einen Blick: So digital leben Kinder heute

  • 93 Prozent der Zehnjährigen hatten 2021 Internetzugang (2011: 85 Prozent)
  • 70 Prozent der Zehnjährigen besitzen ein eigenes Smartphone
  • 98 Prozent der 15-Jährigen in OECD-Ländern haben ein Smartphone mit Internet
  • Mindestens 50 Prozent der 15-Jährigen verbringen 30+ Stunden/Woche mit digitalen Geräten
  • In Ländern wie Lettland sind es bis zu 43 Prozent, die 60+ Stunden/Woche online sind

Chancen ja – aber nicht um jeden Preis

Digitale Technologien bieten Kindern viele Möglichkeiten: Sie fördern Lernen, Kreativität und soziale Kontakte. Doch die Risiken sind real:

  • Cybermobbing nimmt zu
  • Übermäßige Nutzung kann zu Stress, Schlafproblemen und Isolation führen
  • 17 Prozent der Jugendlichen fühlen sich nervös oder ängstlich ohne ihre Geräte
  • 27,6 Prozent geben an, in sozialen Netzwerken schon falsche Informationen geteilt zu haben

Besonders problematisch wird es, wenn Kinder den Umgang mit digitalen Medien nicht mehr steuern können: Wenn Online-Aktivitäten den Schlaf, die Schulleistungen oder das Selbstwertgefühl beeinträchtigen, sprechen Fachleute von problematischer oder sogar suchtähnlicher Nutzung.

Was Kinder besonders belastet – laut OECD-Bericht

  • Vergleich mit idealisierten Bildern auf Social Media
  • Cybermobbing und Online-Druck
  • Fehlende echte soziale Kontakte
  • Passive Mediennutzung ohne Interaktion
  • Familiäre Belastungen wie Konflikte oder wenig Unterstützung

Und was hilft? Ein gemeinsamer, ganzheitlicher Ansatz

Die OECD schlägt vor, auf vier Säulen zu setzen:

  1. Klare Regeln und kindgerechte Technik
    Digitale Dienste müssen sicher gestaltet werden – mit Schutzfunktionen und Altersgrenzen.
  2. Digitale Bildung für alle
    Kinder brauchen Medienkompetenz – aber auch Eltern, Lehrkräfte und Betreuer müssen mitziehen.
  3. Alltagstaugliche Hilfen für Familien
    Eltern brauchen Unterstützung, um Risiken zu erkennen und digitale Routinen gesund zu gestalten.
  4. Kinder mitentscheiden lassen
    Ihre Sichtweisen und Erfahrungen sind entscheidend, um gute Politik für sie zu machen.

Was noch fehlt: Bessere Daten, mehr Forschung

Ein großes Problem bleibt: Vieles wissen wir noch nicht genau. Die Forschung zur digitalen Kindheit ist oft korrelativ statt kausal, und in vielen Ländern fehlen belastbare Daten zur Bildschirmzeit, Art der Nutzung und den Auswirkungen.

Die OECD fordert daher:

  • Mehr und bessere Datenerhebung
  • Langzeitstudien zum digitalen Verhalten von Kindern
  • Einbindung von Fachwissen aus Gesundheit, Bildung und Sozialarbeit
  • Berücksichtigung vulnerabler Gruppen – etwa Kinder mit psychischen Belastungen

Neue Technologien, neue Herausforderungen

Künstliche Intelligenz (KI) und Virtual Reality (VR) bringen neue Chancen – aber auch neue Risiken. KI kann beim Lernen helfen, aber auch Fehlinformationen und Datenschutzprobleme verursachen. VR kann in der Bildung oder Therapie helfen, birgt aber Gefahren wie Reizüberflutung oder Realitätsverlust, besonders für kleine Kinder.

Deshalb gilt: Neue Technik braucht kluge Regeln, sichere Gestaltung, Zeitlimits – und erwachsene Aufsicht.

Fazit: Kinder brauchen mehr als WLAN

Die digitale Welt ist für Kinder heute selbstverständlich – sie soll sie stärken, nicht überfordern. Dafür braucht es einen Schulterschluss von Politik, Bildung, Forschung, Familien und Unternehmen. Die OECD zeigt: Nur wenn wir die Offline- und Online-Welten zusammendenken, können wir das Wohlergehen der nächsten Generation sichern.

Zur Rolle der OECD

Die OECD spielt im Bereich Kinder und Digitalisierung eine zunehmend wichtige Rolle, indem sie Daten sammelt, internationale Standards entwickelt und Regierungen bei der Ausarbeitung wirksamer Politikstrategien unterstützt. Ziel ist es, die Chancen der digitalen Welt für Kinder nutzbar zu machen – ohne dabei die Risiken für ihre Entwicklung, Gesundheit und Sicherheit zu übersehen.

Quelle: „How’s Life for Children in the Digital Age?“

Gernot Körner




Mehr als Noten: Was Musik Kindern wirklich bringt

Warum Musikunterricht nicht klüger macht – aber trotzdem unverzichtbar ist

Musikunterricht wird oft als Wundermittel für die kindliche Entwicklung gepriesen. Die Hoffnung: Wer ein Instrument lernt, wird nicht nur musikalischer, sondern auch intelligenter, besser im Rechnen, Lesen und Denken. Doch eine umfassende Metaanalyse zeigt: Diese Erwartungen sind oft überzogen.

Große Studie – ernüchterndes Ergebnis

Bereits 2020 werteten Dr. Giovanni Sala (Fujita Health University, Japan) und Prof. Fernand Gobet (London School of Economics) 54 Studien mit rund 7.000 Kindern aus. Ihr Ziel war es, herauszufinden, ob Musikunterricht auch über das Musizieren hinaus kognitive Fähigkeiten wie logisches Denken, Sprachverständnis oder Mathematik verbessert.

Das Ergebnis: Bei sorgfältig durchgeführten Studien – mit klaren Kontrollgruppen und zufälliger Zuteilung – zeigte sich kein nachweisbarer Einfluss von Musikunterricht auf allgemeine Intelligenz oder schulische Leistungen. Kurz: Musik macht nicht automatisch klüger.

Warum dieser „kognitive Schub“ meist ausbleibt

Der sogenannte Transfer-Effekt erklärt, warum. Fähigkeiten lassen sich nur schwer auf völlig andere Bereiche übertragen. Wer Klavier spielt, verbessert seine musikalischen Fertigkeiten – aber diese übertragen sich nicht automatisch auf Mathematik oder Sprachtests.

Musik wirkt anders – und tiefgreifend

Doch das heißt nicht, dass Musikunterricht unwirksam ist. Im Gegenteil: Er wirkt auf anderen Ebenen – und diese sind für die kindliche Entwicklung mindestens ebenso wichtig.

Musik fördert nachweislich das Selbstbewusstsein von Kindern. Ein Instrument zu beherrschen, ein Musikstück zu lernen und aufzuführen – das gibt Erfolgserlebnisse, stärkt das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und macht stolz. In einer Zeit, in der Kinder oft unter Leistungsdruck stehen, ist das ein unschätzbarer Wert.

Zudem bietet Musik einen Raum für Kreativität und freien Ausdruck. Anders als viele Schulfächer verlangt sie nicht nur korrektes Denken, sondern erlaubt Emotionen, Fantasie und Individualität. Kinder lernen, sich nonverbal auszudrücken – durch Klang, Rhythmus und Bewegung.

Nicht zu unterschätzen ist auch die Freude, die Musik vermittelt: Singen, Musizieren oder gemeinsames Musikhören wecken Begeisterung, fördern soziale Bindungen und schaffen Momente echter Lebendigkeit – im Klassenzimmer wie im Alltag.

Auch sprachlich ein Gewinn

Darüber hinaus zeigen Forschungen des Max-Planck-Instituts für Neurowissenschaften, dass Musik und Sprache ähnliche Bereiche im Gehirn aktivieren. Das erklärt, warum Musikunterricht oder aktives Musikhören gerade die Sprachentwicklung unterstützen kann – ein bedeutender Aspekt für jüngere Kinder.

Fazit: Musikunterricht ist kein Intelligenz-Booster – aber ein Bildungsgewinn

Musik allein steigert vielleicht nicht die Intelligenz – doch sie leistet einen entscheidenden Beitrag zur emotionalen, kreativen und sozialen Entwicklung. Sie stärkt das Selbstwertgefühl, fördert Ausdruckskraft und lässt Kinder erleben, dass Lernen Spaß machen kann.

Musik ist kein Wundermittel für schulische Höchstleistungen – aber ein unverzichtbarer Teil ganzheitlicher Bildung.

https://link.springer.com/article/10.3758/s13421-020-01060-2

Gernot Körner




Kinderstimmen bauen Brücken – Singen kann mehr sein als Musikunterricht

Eine neue Studie aus Finnland zeigt, wie Kinder ihre Stimme nutzen, um Räume zu gestalten und gehört zu werden.

Singen – das klingt nach fröhlichen Kinderstimmen, nach Morgenkreis, nach Musikunterricht. Doch was bedeutet Singen eigentlich für Kinder selbst? Welche Rolle spielt es in ihrem Alltag, in ihrer Entwicklung, in ihrem Erleben von Gemeinschaft – besonders in einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft? Die Dissertation „Kindergesangskulturen in kulturell vielfältigen finnischen Schulen und der Gesellschaft“ von Analía Capponi-Savolainen wirft einen frischen, interdisziplinären Blick auf das kindliche Singen. Die klassische Sängerin, Musikpädagogin und Doktorandin an der Universität der Künste Helsinki geht in ihrer Arbeit der Frage nach: Was bedeutet das Singen für Kinder – jenseits des Musikunterrichts? Ihre Antwort: Singen ist ein Medium kindlicher Selbstwirksamkeit und sozialer Teilhabe – besonders in einem schulischen Umfeld, das kulturell vielfältiger wird und Kindern dennoch oft nur begrenzte Räume zur Mitgestaltung bietet.

Eine neue Perspektive: Singökologie

Das zentrale Konzept von Capponi-Savolainen heißt „Singökologie“. Es beschreibt das Singen als Teil eines größeren ökologischen Gefüges, in dem Kinder leben, lernen und wachsen. Die Musikpädagogin beleuchtet vier Dimensionen, die zusammen ein umfassendes Bild ergeben: kindliche Entwicklung als existenzielle Erfahrung, das Erleben von Raum und Macht, Singen als Möglichkeit zur Handlung und Teilhabe (Affordanz) sowie ein ökologisches Systemdenken, das Schule als Brücke zwischen Kulturen begreift.

Die Studie wurde in einer kulturell vielfältigen Schule im Großraum Helsinki durchgeführt. Dafür interviewte Capponi-Savolainen 22 Erstklässler*innen und vier Lehrkräfte. Zudem ergänzte sie das Material durch ethnografische Beobachtungen und Tagebuchaufzeichnungen. Der besondere Ansatz: Die Stimmen der Kinder selbst standen im Mittelpunkt.

Singen als Ausdruck von Freiheit, Vertrauen und Selbstwirksamkeit

Was die Studie besonders eindrucksvoll zeigt: Kinder wissen bereits im jungen Alter, was Singen für sie bedeutet. Sie unterscheiden genau, ob sie im privaten oder öffentlichen Raum singen, ob sie dabei beobachtet werden oder sich unbeobachtet fühlen. Viele schaffen sich bewusst kleine „Gesangsräume“ – auf dem Schulhof, in ruhigen Momenten im Klassenzimmer, manchmal sogar heimlich. Diese Räume sind oft Rückzugsorte, aber auch Ausdruck von Mut, Kreativität und innerer Freiheit.

Singen hilft Kindern, mit Herausforderungen des Alltags umzugehen, sich mit anderen verbunden zu fühlen, ihre Gefühle zu ordnen oder sogar politische Botschaften zu senden – etwa, wenn sie durch ein Lied ihre Meinung oder Haltung ausdrücken. Es ist ein Medium der Teilhabe, in dem sie ihre kulturelle Identität sichtbar machen oder auch bewusst zurückhalten können.

Schule als Brücke – nicht nur als Lehrort

Die Schule spielt dabei eine doppelte Rolle. Einerseits wird das Singen dort oft als von Erwachsenen gesteuerte Aktivität erlebt – was nicht immer auf Zustimmung trifft. Andererseits bietet sie Kindern auch die Möglichkeit, sich mit anderen zu verbinden und Anerkennung zu erfahren. Die Qualität der Beziehungen im schulischen Raum – also wie sehr Kinder sich gesehen, gehört und respektiert fühlen – ist entscheidend dafür, ob sie das Singen als positive Erfahrung empfinden.

Capponi-Savolainen zeigt deutlich: Kinder suchen in der Schule aktiv nach Gelegenheiten, ihre Stimme zu erheben – manchmal buchstäblich. Und sie wünschen sich dabei mehr Raum zur Mitgestaltung.

Ein Appell an die Bildungswelt

Die Dissertation stellt damit gängige musikpädagogische Praktiken infrage, die oft stark auf Leistung, Technik und Reproduktion ausgerichtet sind. Stattdessen wird zu einem Perspektivwechsel aufgerufen: hin zu einem ökologischen Verständnis, das die Beziehung von Raum, Stimme, Handlung und Kultur in den Mittelpunkt stellt. Lehrkräfte, Ausbilder*innen und Forschende sind eingeladen, das Singen nicht nur als Unterrichtsinhalt zu begreifen, sondern als wesentlichen Teil kindlicher Weltaneignung.

Fazit: Singen ist mehr als ein Lied

Was Kinder singen – und vor allem wie und wo sie es tun – sagt viel darüber aus, wie sie ihre Umwelt erleben und mitgestalten. Singen ist für sie ein Weg, sich selbst auszudrücken, ihre Umgebung zu beeinflussen und soziale Räume zu schaffen. Es ist eine leise, aber kraftvolle Stimme der Teilhabe.

Die Dissertation liefert damit einen wertvollen Beitrag zu einem zeitgemäßen Verständnis von Bildung und Kindheit – und zeigt, dass es sich lohnt, Kindern besser zuzuhören. Besonders dann, wenn sie singen.

Lesen Sie hier die gesamte Dissertation: https://taju.uniarts.fi/handle/10024/8492

Kontakt zu Analía Capponi-Savolainen: analia.capponi-savolainen@uniarts.fi

Gernot Körner




Neugierde: ein ursprüngliches Prinzip, das große Forscher*innen schafft

Kinder brauchen auf ihrem Weg des Entdeckens und Verstehens keine „Antleiter*innen“, sondern Menschen, die sie begleiten – aufmerksam, vertrauensvoll und mit offenem Herzen

Was ist eigentlich eine Wissenschaftler*in? Der berühmte französische Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau beschrieb es treffend: „Es ist ein neugieriger Mensch, der durch ein Schlüsselloch blickt – das Schlüsselloch der Natur –, um zu erkennen, was dahinter geschieht.“ Wer schon einmal in die staunenden Augen von Kindern geblickt hat, erkennt schnell: Hier stehen viele kleine Wissenschaftler*innen vor uns. Denn jedes Kind tritt neugierig und forschend in die Welt – ein innerer Drang, der tief in unserer Natur verankert ist. Wir müssen Neugier nicht erst lernen, doch wir können sie im Laufe unseres Lebens verlieren. Dabei ist sie der Motor, der Kinder antreibt, die Welt zu erkunden – und im Spiel mit allen Sinnen zu begreifen. So wird die Neugier zur treibenden Kraft von Entwicklung, Erkenntnis und Fortschritt.

Jedes Kind ist eine Forscher*in

Jedes Kind ist von Anfang an Forscher*in. Wenn es Glück hat, trifft es auf Erwachsene, die ihm Sicherheit und Raum geben, um seinen eigenen Weg zu gehen. Hat es Pech, wird ihm früh alles erklärt – und das Interesse versiegt. Konfuzius brachte es auf den Punkt: „Was du mich tun lässt, das verstehe ich.“ Erst durch eigenes Handeln entsteht echtes Verständnis und Selbstwirksamkeit. Und daraus wiederum wächst die Motivation, weiterzuforschen – ein Prinzip, das schon die größten Wissenschaftlerinnen prägte. Albert Einstein schrieb über sich: „Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“ Diese Leidenschaft lässt sich bei Kindern wunderbar beobachten: Der kleinste Stein, ein Strohhalm im Wind oder winzige Lebewesen können Staunen und Entdeckerlust entfachen.

Mit allen Sinnen begreifen

Kinder wollen die Welt selbst erkunden – mit allen Sinnen, möglichst eigenständig. Ihr Bedürfnis nach Autonomie ist ebenso stark wie das der Erwachsenen. Doch ihr Lernen funktioniert anders: Für sie ist vieles neu, und genau deshalb sind sie so neugierig. Sie wollen nicht belehrt, sondern eingeladen werden – zum Staunen, Fragen und Ausprobieren.

Noch immer hält sich das Vorurteil, man müsse Kindern möglichst viel erklären, um sie auf das Leben vorzubereiten. Doch schon Friedrich Wilhelm Fröbel erkannte im 19. Jahrhundert: „Bei der Erziehung muss man etwas aus dem Menschen herausbringen und nicht in ihn hinein.“ Sein revolutionärer Gedanke vom Kindergarten basierte auf dieser Überzeugung. Im Gegensatz zu bloßen „Kinderbewahranstalten“ verstand Fröbel den Kindergarten als Ort, an dem das kindliche Spiel und das eigenständige Erforschen von Erwachsenen begleitet – nicht gesteuert – werden sollte.

Interesse und Möglichkeiten

Maria Montessori schrieb: „Das Interesse des Kindes hängt von der Möglichkeit ab, eigene Entdeckungen zu machen.“ Die moderne Neurobiologie bestätigt: Kinder lernen dann am besten, wenn sie selbst aktiv sind. Dafür braucht es keine Hightech-Labore – Naturräume und eine durchdachte, anregende Umgebung genügen. Entscheidend ist aber vor allem: Kinder brauchen Erwachsene mit Einfühlungsvermögen, Geduld und Vertrauen. Pädagogische Fachkräfte, die nicht sofort Lösungen vorgeben, sondern Kindern die Freiheit lassen, eigene Wege und manchmal ganz eigene Antworten zu finden.

Für uns Erwachsene ist das oft nicht leicht. Unsere Erfahrungen, Vorstellungen und Urteile stehen dem kindlichen Forschergeist nicht selten im Weg. Doch wie Wilhelm Busch sagte: „Wer in den Fußstapfen eines anderen wandelt, hinterlässt keine eigenen Spuren.“

Im richtigen Moment Impulse setzen

Natürlich heißt Begleitung nicht, Kinder sich selbst zu überlassen. Es braucht pädagogische Professionalität mit Fingerspitzengefühl für den richtigen Moment, um Impulse zu geben, Orientierung zu bieten und weiterführende Fragen zu stellen. Jean-Jacques Rousseau brachte es weise auf den Punkt: „Kindererziehung ist ein Beruf, wo man Zeit zu verlieren verstehen muss, um Zeit zu gewinnen.“

Echte Erkenntnis braucht Zeit – und sie braucht das eigene Tempo. Kinder haben ein Recht darauf, in ihrer Geschwindigkeit zu lernen. Sie zu drängen oder einseitig zu fördern, führt meist in die Irre. Lernen lässt sich nicht beschleunigen oder „downloaden“ – dafür ist es zu sinnlich, zu lebendig, zu menschlich.

Experimentieren und forschen im Spiel

Für Kinder bedeutet Forschen nicht Bücherwälzen oder Laborarbeit. Ihr Spiel ist ihre Wissenschaft. Und wer ihnen dabei aufmerksam zusieht, erkennt: Mit welcher Ernsthaftigkeit, Ausdauer und Freude sie sich jeder Herausforderung stellen, ist beeindruckend – und lehrreich.

Denn: Die Welt braucht Menschen, die mutig unbekannte Wege beschreiten, kreative Lösungen finden und mit Engagement auf Neues zugehen – neugierig, forschend und selbstwirksam. So beginnt Forschung. So beginnt Bildung. So beginnt Zukunft.

Gernot Körner