Ganzheitliche Pädagogik – Modewort oder echtes Konzept

Eine tiefgreifende Analyse von Armin Krenz zeigt, was es bedeutet, Kinder in ihrer gesamten Persönlichkeit zu begleiten – jenseits von Förderprogrammen, normierten Bildungszielen und pädagogischen Modebegriffen.

Es gibt kaum einen pädagogischen Ansatz, der in seiner Beschreibung nicht darauf hinweist, dass ihm ein ganzheitliches Menschenbild zugrunde liegt. Und in fast jeder Einrichtungskonzeption oder im Leitbild nahezu aller sozialpädagogischer bzw. pflegeorientierter Einrichtungsträger ist der Satz zu lesen, dass die Grundlage der Arbeit in einem ganzheitlichen Personverständnis fußt.

So begegnet uns der Begriff Ganzheitlichkeit immer wieder auf vielfältige Weise. Ärzt*innen weisen auf ihre „Praxis für ganzheitliche Medizin“ hin, dann gibt es eine „Internationale Gesellschaft für ganzheitliche Zahnmedizin e.V.“. Kurkliniken nutzen in ihrer Beschreibung den Hinweis auf eine „ganzheitliche Behandlung“. Tierheilpraktiker*innen und Tierärzt*innen bieten eine „ganzheitliche Aromaheilkunde für Tiere“ an. Senioreneinrichtungen beschreiben in ihrer Selbstdarstellung, dass sie eine „ganzheitliche Alten- und Krankenpflege“ durchführen. In vielen Konzepten von heilpädagogischen Institutionen ist zu lesen, dass die „ganzheitliche Förderung der Kinder und Jugendlichen“ im Mittelpunkt steht. Und einige Ausbildungsstätten bieten eine Ausbildung zum „ganzheitlichen Gesundheitsberater“ oder in „ganzheitlicher Psychotherapie“ an.

In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe.
(Johann Wolfgang von Goethe)

Betrachtung und Analyse

In diesem Zusammenhang darf, ja muss unter einer professionellen Betrachtungsanalyse die Frage gestellt werden, was sich eigentlich hinter diesem Wort Ganzheitlichkeit verbirgt, was damit genau gemeint ist (bzw. wird), ob das Wort „Ganzheitlichkeit“ nicht vielleicht in der Zwischenzeit nur zu einem geflügelten Wort geworden ist, das sich gut anhört und „up to date“ zu einem alltagsgebräuchlichen Attribut geworden ist, das aber vielleicht an seinem ursprünglichen Bedeutungswert an Aussagekraft verloren hat. So wie beispielsweise umgangssprachlich mit dem Begriff „Team(arbeit)“ umgegangen wird, obgleich bei einer sorgsamen Situationsanalyse der Kommunikations- und Interaktionskultur in vielen Kollegien von einer real existierenden Teamarbeit kaum etwas zu bemerken ist.

Denn eine Arbeitsgruppe bzw. ein Kollegium ist erst durch ganz besondere, sehr anspruchsvolle, nachhaltige und unverwechselbare Merkmale als Team zu bezeichnen! Werden dazu in Supervisionssitzungen, sogenannten Teambesprechungen oder im Rahmen einer Qualitätsevaluation dezidierte Alltagsbeobachtungen beobachtet bzw. anschließend thematisiert, kommen nicht selten Verhaltensmerkmale oder Verhaltensstrukturen einzelner Mitarbeiter*innen zum Vorschein, die mit den Verhaltensweisen eines Teammitgliedes unvereinbar sind. Begriffe und Realitäten stehen sich auch in der Pädagogik zunehmend widersprüchlich gegenüber!

So bedarf von Zeit zu Zeit jeder Begriff einer Überprüfung, einer tiefergehenden Betrachtung und Analyse, ob bzw. in welchem Maße und in welcher Ausprägung die unveränderlichen Kennzeichen eines Begriffehintergrundes tatsächlich vorhanden sind.

Der SINN wird verdunkelt, wenn man nur kleine fertige Ausschnitte des Daseins ins Auge fasst.
(Dschuang Dsi)

Annäherung an den Begriff „Ganzheitlichkeit“

Schon Plotin, ein antiker Philosoph (205 – 270 n. Chr.), hat auf die Gesamtheit und Untrennbarkeit von „Körper – Seele – Geist“ hingewiesen: „Die ganze Seele ist in jedem Teil des Körpers und ganz auch in seiner Gesamtheit.“ So kann bzw. muss der Mensch als ein System verstanden werden, dessen Anteile in einer permanenten Wechselwirkung miteinander verbunden sind. In dem Begriff „Ganzheitlichkeit“ steckt das Adjektiv „ganz“ und damit wird eine vollkommene VOLLSTÄNDIGKEIT erfasst. Hippokrates von Kos, griechischer Arzt und Lehrer in der Antike, hat schon zu seiner Zeit auf die Bedeutsamkeit einer zusammenhängenden Kontinuität hingewiesen, die sich nicht aus dem bloßen Aneinanderreihen von Funktionen, sondern aus dem gleichzeitigen Zusammenspiel der verschiedenen Anteile ergibt. Fühlen – Denken – Handeln, spüren – erfassen – begreifen, eine innerliche Resonanz erfahren – gedanklich beteiligt sein – erleben: immer geht es um eine gleichzeitige Verbindung der drei Anteile eines ganzen Systems.

Lernen mit Kopf, Herz und Hand

Besonders die Reformpädagogik, deren Anfänge schon im 17. und 18. Jahrhundert wirksam wurden, hat die hohe Bedeutung einer „ganzheitlichen Entwicklungsbegleitung von Kindern“ herausgestellt und darauf hingewiesen, dass nur durch reichhaltige sinnliche Erfahrungen ein ganzheitliches Lernen möglich sei. Als bekannteste Vertreter seien an dieser Stelle der Pädagoge Johann Amos Comenius (1592 – 1670), der Philosoph Jean-Jaques Rousseau (1712 – 1778) und der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827) benannt. Von ihm stammt der auch heute noch vielerorts bekannte und zitierte Spruch, dass es die Pädagogik schaffen muss, den Kindern ein „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ zu ermöglichen.

Die Naturwissenschaft bestätigt die pädagogischen und philosophischen Gedanken

Diese pädagogischen und philosophischen Gedanken und Ausführungen wurden schließlich durch vielfältige Forschungsergebnisse aus den Wissenschaftsfeldern der Neurowissenschaften, der Neurobiologie, Hirnforschung und Neuropsychologie untermauert. An dieser Stelle seien vor allem der italienische Neurophysiologie Giacomo Rizzolatti, der die Forschungsgruppe zum Thema Spiegelneuronen an der Universität Parma leitet, der portugiesisch-US-amerikanische Neurowissenschaftler António Rosa Domásio mit seinen Arbeiten zur Bewusstseinsforschung, der Hirnforscher, Philosoph und Biologe Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth, der deutsche Neurobiologie Prof. Dr. Gerald Hüther mit dem Schwerpunkt „experimentelle Hirnforschung“ und der Universitätsprofessor Joachim Bauer mit dem Schwerpunkt Psychoneuroimmunologie genannt.

Damit ist die Erkenntnis fundiert und abgesichert, dass nur ein Lernen mit allen Sinnen entwicklungsförderlich und nachhaltig ist.

Kein einzelner Teil konnte entstehen als in diesem Ganzen, und dieses Ganze selbst besteht nur in der Wechselwirkung der Teile.
(Friedrich Schelling)

Ein ganzheitliches Lernen ergibt sich aus der Aufnahme von und der Beschäftigung mit resonanzwirkenden Informationen im Gehirn

Das menschliche Gehirn kann mit einer riesigen Datenautobahn, Raststätten, verbundenen Neben- und Ausweichstrecken verglichen werden, die unentwegt durch Außenreize über unsere Augen, Nase, Mund, Ohren und die Haut genutzt wird, wobei Nervenzellen (= Neuronen) per elektrischer Impulse die aufgenommenen Reize ans Gehirn weiterleitet. Dabei stehen dem menschlichen Gehirn ca. 100 Milliarden Neuronen zur Verfügung, wobei von den etwa zehn Millionen Informationen, die pro Sekunde an unser Gehirn weitergeleitet werden, nur ca. 20 Informationsanteile ins Bewusstsein gelangen. Der gigantische Rest wird dabei als unbrauchbar bewertet und verworfen oder findet unterbewusst seinen Ankerplatz.

Chemische Botenstoffe (= Neurotransmitter) sorgen für die Weiterleitung von einer Nervenzelle zur anderen, die emotional bedeutsame Impulsinformationen über elektrische Impulse an empfängervorgesehene Nervenzellen zur Speicherung weitersenden kann. Und diese emotional belegten, gespeicherten Impulse steuern das Verhalten aller Menschen. Bei allen bedeutsam erlebten Situationen, Erlebnissen und Ereignissen sind jeweils einige Millionen von Neuronen beteiligt, aktivieren oder blockieren im weiteren Verlauf Sinnesorgane, provozieren weitere Gefühle und führen den Menschen in entwicklungsförderliche oder -hinderliche Ausdrucksformen, je nachdem welches Primärgefühl im Erlebnisvordergrund steht.

Ganz sein, nicht fragmentiert in unseren Handlungen, im Leben, in jeder Art von Beziehung, das ist das eigentliche Wesen geistiger Gesundheit.
(Krishnamurti)

Immer wieder geschieht also ein permanent vernetzter Austausch zwischen unserer rechten und linken Hirnhälfte, die mit ihren jeweiligen Arealen vor allem für intuitive, kreative und visuelle Prozesse, eine authentische Körpersprache, Spontaneität, Neugierde, Raumempfinden, Musik, Emotionen und die Erfassung ganzheitlicher Zusammenhänge sowie für analytisches und logisches Denken, für mathematische Fähigkeiten und unser Sprach- und Sprechverhalten zuständig sind. Früher ordnete man der rechten und der linken Hirnhälfte klar definierte, isolierte Aufgaben und Zuständigkeiten zu – diese Sichtweise ist inzwischen nicht mehr haltbar. Vielmehr sprechen wir von Gehirnarealen, so genannten Gehirnlappen, die zwar in jeweiligen Hirnhälften liegen, sich dennoch immer wieder mit anderen Gehirnlappen – auch aus der gegenüberliegenden Hirnhälfte vernetzen und somit zu einem dualen (= zweiseitig) Ganzen werden.

Fazit: Je mehr das Primärgefühl Freude provoziert und aktiviert wird, desto vielfältiger und intensiver wird das Netzwerk neuronaler Schaltungen mit den beteiligten Bereichen emotional gesteuerte intrinsische Motivation – allseitiges Denken – motivationales Handeln und nachhaltiges Lernen aktiviert.

Ein weites Wissensspektrum, ein kausales, logisch fundiertes und innovatives Denken sowie ein sozial verträgliches Handeln gründen sich demnach auf bedeutsamen Sinneswahrnehmungen, so wie uns schon der Pädagoge Johann Amos Comenius auf diesen Umstand hingewiesen hat. Doch leider scheint dieser grundlegende Umstand immer mehr in Vergessenheit zu geraten, wie ungezählte Beispiele nicht nur in der Elementar-, Schul- und Berufspädagogik, sondern auch in der Ausbildung (sozial-/heil-) pädagogischer, pflegerischer oder medizinischer Kräfte dies immer häufiger und deutlicher zeigen.

In der Liebe zum Ganzen tritt das Individuelle in Erscheinung.
(Krishnamurti)

Entwicklung und Lernen erfassen das „ganze Kind“ und keine Einzelbereiche

Das Ziel – entsprechend dem Erziehungs- und Bildungsauftrag, wie es für elementarpädagogische Einrichtungen im Sozialgesetzbuch 8. Band, II. Halbband, § 22, Nr. 2/1 + 2/3 sowie § 22a, Nr. 3 gesetzlich vorgeschrieben ist, dafür zu sorgen, dass unter der Maxime des Förderauftrags Erziehung, Bildung und Betreuung die Entwicklung des Kindes zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu unterstützen ist und sich dieser Auftrag auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung bezieht, wobei sich die pädagogische und organisatorische Tagesgestaltung an den Bedürfnissen der Kinder und Eltern orientieren soll, entspricht damit in vollem Umfang einer ganzheitlichen Pädagogik.

Hier geht es um den Auf- und Ausbau von grundlegenden, nachhaltig bedeutsamen Fähigkeiten (in deutlicher Abgrenzung zu Fertigkeiten!), was eben nur dann von Erfolg gekrönt sein kann, wenn Bedürfnisse der Kinder und Eltern (hier geht es nicht um Wünsche von Kindern oder Eltern!) zum Ausgangspunkt der Arbeit herangezogen und in einer Tagesgestaltung in der Form integriert werden, dass sich die Organisationsstruktur der Tagesabläufe den Bedürfnissen der Kinder anpasst. Dies entspricht exakt den Erkenntnissen, die sich aus den vielfältigen neurobiologischen, neuropsychologischen, lernpsychologischen und bildungswissenschaftlichen Forschungsergebnissen ergeben.

Alle Lernprozesse werden im Menschen dann in optimaler sowie effektiver Form aktiviert und unterstützt, wenn das Kind einerseits möglichst viele annehmbare Sinneseindrücke erleben und aufnehmen kann, sowie andererseits immer wieder emotionale, motorische und kognitive Impulse eine Symbiose bilden, die ungetrennt gleichzeitig miteinander verbunden sind. Dabei gewonnene Informationen speichern sich im Gehirn nachhaltig ab und stehen nicht wie bei sinnunverbundenen oder fehlenden Erlebnisergänzungen nebeneinander, wodurch im „limbischen System“, das vor allem der Verarbeitung von Emotionen dient, eine Unordnung entstehen würde und dadurch das Stresshormon „Adrenalin“ hervorgerufen würde, was sich beim Kind in Unruhe, Bewegungsaktivität und einer mit der Zeit zunehmenden eingeschränkten Wahrnehmungsoffenheit ausdrückt.

Kinder lernen dann am besten, wenn ihre Interessen aufgegriffen werden und sie ihrer stets vorhandenen Neugierde und ihrer großen Entdeckerfreude nachgehen können, wenn sie sich als Forschende erleben und dabei von tief erlebten Sinneseindrücken bei gleichzeitiger Bewegungsfreude und einer Suche nach Erkenntnisgewinn erfüllt sind.

Es ist unmöglich, zu wahrer Individualität zu gelangen, ohne im Ganzen verwurzelt zu sein. Alles andere ist egozentrisch.
(David Bohm)


Bücher von Armin Krenz bei BurckhardtHaus


Warum ist eine ganzheitliche Pädagogik angebracht und daher unverzichtbar?

Wie schon zuvor, wenn auch nur kurz erwähnt, sprechen neurobiologische Untersuchungsergebnisse für eine stets resonanzerzeugende Kommunikations- und Interaktionskultur, in der sich Kinder in ihrer Gedanken- und Handlungswelt verstanden und angenommen fühlen.

Gleichzeitig sprechen entwicklungspsychologische Erkenntnisse und daraus abgeleitete Grundsätze eine deutliche Sprache, wie Selbstbildungsprozesse in Kindern aktiviert sowie aufrechterhalten werden und welche Ausgangssituationen es unumgänglich erforderlich machen, eine ganzheitliche Pädagogik zu realisieren.

So gelten nach wie vor folgende Entwicklungsgesetze, die die Grundlage für eine aktive, engagierte und damit für eine entwicklungsunterstützende Pädagogik bilden:

  1. Jedes Kind ist aktiv, will aktiv sein und hat das starke Bedürfnis, immer wieder aufs Neue ein „Bewirker“ in seinem Lebensumfeld zu sein.
  2. Kinder wollen etwas leisten, wollen persönlich gesetzte Ziele erreichen und wenden dabei ihre ganzen Kräfte an, um die Vorhaben in Gänze umzusetzen.
  3. Jedes Kind ist von einer großen Neugierde geprägt und fühlt sich daher als Weltentdecker. Unbekanntes will erforscht werden, neue Erkenntnisse wollen wiederholt erprobt und erlebt werden, Grenzen wollen immer wieder überschritten werden, um in neue Erlebnisbereiche eintauchen zu können.
  4. Kinder entscheiden sich für das, was für sie in diesem Augenblick von höchstem Interesse ist. Sie sind (ebenso wie Erwachsene) subjektiv selektiv, wählen bei ihren Interessen und ihren Handlungserfahrungen das aus, was für sie den höchsten Bedeutungswert hat und der sich aus ihrer Einschätzung lohnt, näher erforscht und betrachtet zu werden.
  5. Das Kind bestimmt seinen Entwicklungsverlauf aktiv mit. Sprach man früher von einer Entwicklungsprägung, die sich aus der Dualität (= Zweiseitigkeit) von „Anlage und Umwelt“ ergibt, wurde schon vor Jahren eine neue Ausgangssituation – die Trinität (= Dreiheitigkeit) der Entwicklung – konstatiert: der Mensch besitzt genetisch vorhandene Dispositionen (= bipolare Bereitschaften), gleichzeitig wirken Umfeldeinflüsse auf das Kind und (!) schließlich bestimmt der Mensch durch seine Selbststeuerungskräfte seinen Entwicklungsverlauf aktiv mit.
  6. Dadurch, dass es kein „idealtypisches Durchschnittskind“ (was lange Zeit als Vorstellungsbild in der Pädagogik und Psychologie z.B. als „Entwicklungsgitter“ existiert hat und in vielen Einrichtungen auch heute noch genutzt wird) gibt und bei Kindern gleichen Alters kein Entwicklungsmerkmal automatisch gleich ausgeprägt ist (= interindividuelle Individualität), ist dafür zu sorgen, dass nicht alle Kinder zum gleichen Zeitpunkt dieselbe Aufgabe nach gleichen Vorgaben und einer gleichen Ergebniserwartung zu erledigen haben.
  7. Eine gelingende Identitätsentwicklung verlangt eine gleichzeitige Reichhaltigkeit der Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten im emotionalen, sensorischen, motorischen, ästhetischen, kommunikativen, sozialen und kognitiven Bereich in einer sicherheitsbietenden Atmosphäre.
  8. Bildung wird als ein aktiver Entfaltungsprozess des Kindes als Subjekt seiner Entwicklung verstanden, eingebettet in eine Auseinandersetzung mit inneren Bedürfnissen und äußeren Begleiterlebnissen, wobei das Kind die Möglichkeit hat, sich von inneren Ängsten und äußeren Zwängen zu befreien.
  9. Kinder entwickeln vor allem dann ein hohes Maß an Lernfreude, wenn sie sich als bedeutsam erleben können, wenn die Tagesaktivität für das Kind eine Alltagsbedeutung besitzt und wenn die vorhandene Entwicklungsatmosphäre entwicklungsmotivierend gestaltet ist. Diese drei Aspekte bilden eine Einheit und müssen stets in dieser Trinität miteinander vernetzt sein.
  10. Da Bildung in erster Linie aus einer Reihe von sinnlichen Erlebniserfahrungen besteht und erst in zweiter Linie unterschiedliche Erkenntnismöglichkeiten zulässt und mit sich bringt, entstehen Bildungsprozesse nicht durch kognitiv-sprachliche Informationsaussagen und auch nicht durch versachlichte Tätigkeitsangebote.
  11. Die psycho-soziale Gesundheit der sich entwickelnden Kinder verlangt eine kontinuierliche und feinfühlige Entwicklungsbegleitung – ganz besonders in den ersten drei Lebensjahren. Daher ist es von herausragender Bedeutung, dass Erwachsene den Kindern Sicherheit vermitteln und sie gleichzeitig vor verhaltensirritierende Stressoren schützen.
  12. Je sicherer sich ein Kind von (s)einer kontinuierlich vorhandenen (!) Bezugsperson angenommen und wertgeschätzt fühlt, desto ausgeprägter ist seine Aufnahmebereitschaft, sich mit einer gelösten Aufmerksamkeit und einem hohen Neugierdeverhalten einer vor ihm liegenden Aufgabe zuzuwenden.
  13. Kinder zeigen dann ein hohes Explorationsverhalten sowie sozial geprägte Beziehungen zu anderen Kindern, wenn Erwachsene sensibel und engagiert mit den Kindern kommunizieren und interagieren. 

Vor allem sorgen diese dreizehn Grundsätze für eine entwicklungsförderliche und nachhaltige Entwicklungsunterstützung des Kindes und bedürfen daher in ihrer Gesamtheit einer Berücksichtigung und einer konsequenten Aufnahme in die Alltagspädagogik, so dass eine ganzheitliche Pädagogik zur Realität wird und werden kann.

Legt man frühzeitig die Saat von Unsicherheit und Hemmung im Menschen aus, bedarf es später keiner Fesseln, ihm die Hände zu binden.

(Christiane Allert-Wybranietz)

Eine ganzheitliche Pädagogik grenzt sich deutlich von einer funktionsorientierten Förderpädagogik ab!

Ungezählte Beobachtungen in verschiedenen Kita-Einrichtungen und in den sechszehn Bundesländern und zusätzliche Berichte von vielen engagierten elementarpädagogischen Fachkräften zeigen in zunehmendem Maße, dass sich die Elementarpädagogik weiterhin immer stärker von einer ganzheitlichen Pädagogik entfernt. Dabei können ganz unterschiedliche Hintergründe und Auslöser eine Rolle spielen, die sowohl in einer mangelhaften bis ungenügenden Strukturqualität als auch in einer wenig kindorientierten Prozessqualität oder in einer unzureichenden Personqualität ihren Ursprung haben. Vor allem aber, um den bekannten Wissenschaftler und Kinderarzt, Dr. Herbert Renz-Polster zu zitieren, liegt der Hauptgrund für den permanent zunehmenden Verlust an Qualität wohl daran, dass es auch in der Elementarpädagogik „immer weniger um universelle Werte wie Liebe und Verständnis“ geht. „Vielmehr wird das Pferd mit klarem Blick nach vorn aufgezäumt – nach den Kompetenzerwartungen der Erwachsenen nämlich.“ (S. 14).

Woran liegt das? Für Renz-Polster ist der Grund nach ausreichenden und umfassenden Recherchen eindeutig:

„Seit den 1990er Jahren […] (wird) die kindliche Entwicklung immer stärker auf die Interessen des Wirtschaftsstandorts ausgerichtet. Dabei wird […] nicht das Kleid auf das Kind zugeschnitten, sondern das Kind auf das Kleid.“ (S.88). „Überspannte Erziehungs- und Bildungsziele wirken immer zerstörerisch auf die menschlichen Beziehungen – und damit auch auf die, deren Entwicklung auf Gedeih und Verderb auf funktionierenden Beziehungen beruht: die Kinder. […] (basierend auf dem Motiv), die Kinder zu gut geölten Funktionsgliedern der Gesellschaft zu machen.“ (S.209).  

Weiterhin heißt es: „Das Kind soll fit werden für den Wettbewerb“ (S.30), „Der auf Effizienz und Ertrag gerichtete neue Zeitgeist fordert jetzt auch das: die pädagogische Mästung von Anfang an“ (S. 31 und damit „sind jetzt die Erfahrungsräume der Kinder immer seltener natürlich, elementar und widerständig – sondern wohlgeordnet und für definierte didaktische Zwecke vorbereitet. Die Kindheit, so könnte man mit dem Soziologen Richard Münch sagen, wird nach und nach ‚zu einer Art totaler Besserungsanstalt‘ umgebaut,“ (S.66)

„Die Kindheit ist ein Persönlichkeitsrecht“ (S.232).

Und genau aus diesem Grund ist es notwendig, mit einer sehr deutlichen Klarheit auf die wesentlichen Merkmale einer ganzheitlichen Pädagogik hinzuweisen.    

Merkmale einer ganzheitlichen Pädagogik Merkmale einer funktionsorientierten Förderpädagogik
Sicherheit, Geborgenheit, ein Gefühl des Verstandenwerdens, ein persönliches Wertigkeitsempfinden, Angstfreiheit, ein Erleben von Freude und psychische und physische Gewaltfreiheit bilden die Grundlage für ein angenehmes Entwicklungsklima. Allzu schnell werden die für Kinder so bedeutsamen Grundbedürfnisse wie „ungeteilte (Spiel- und Aktivitäts-) zeiten“ durch Förderangebote unterbrochen, Ruheerlebnisse kaum ermöglicht und zugestanden, wobei gleichzeitig einem angenehmen Entwicklungsklima wenig Beachtung geschenkt wird. 
Die Fachkräfte gestalten ihre Arbeit auf der Grundlage eines aktuell vorhandenen Wissens aus den Bereichen der Neurobiologie, der Lernpsychologie, der Bildungs- und Bindungsforschung sowie der Entwicklungspsychologie. Die Fachkräfte gestalten ihre Arbeit auf der Grundlage ihres zurückliegenden Ausbildungswissens, persönlicher Vorlieben und alltagstheoretischer Annahmen sowie auf Basis von elterlichen oder trägerspezifischen Erwartungen.
Die Arbeitsschwerpunkte entstammen der gegenwärtigen Lebenswelt der Kinder. Die Beschäftigungsangebote leiten sich aus den länderspezifischen Bildungsrichtlinien ab.
Aktivitätsbedürfnisse und Interessen der Kinder werden zu Projekten gestaltet. Ausgewählte Bildungsbereiche werden Kindern im Kita-Alltag vorgegeben.
Im Vordergrund steht die Unterstützung der Selbstbildung des Kindes (= Bildung aus I. Hand). Kinder sollen durch Bildungsangebote mehr Bildung aufnehmen (= Bildung aus II. Hand).
Alltagsherausforderungen, mit denen Kinder konfrontiert sind, werden mit ihnen gemeinsam aufgegriffen und mit ihnen bewältigt. Alltagsherausforderungen, mit denen Kinder konfrontiert sind, werden entweder beiseitegeschoben oder für Kinder geregelt und gelöst.
Hier wird der Tagesablauf, die Alltagsgestaltung mit Kindern erlebt, wobei so viel wie möglich durch die Kinder selbst geschaffen wird.  Ein typisches Kennzeichen offenbart sich schon durch die häufig genutzte Formulierung: Unser Arbeitsauftrag bedeutet, nah am Kind zu sein.
Die Innen- und Außenräume bieten viele Erfahrungsmöglichkeiten zum Entdecken und Erforschen ihrer Lebenswelt. Die Innen- und Außenräume sind „genormt“, bieten wenig oder gar keine Erlebnis- und Entdeckungsmöglichkeiten.
Hier werden – soweit wie möglich und so oft wie möglich – Außenräume genutzt, um Kindern auch viele außerinstitutionelle Erfahrungs-, Wirkungs- und Bildungsorte nahezubringen. Die meiste Zeit verbringen die Fachkräfte mit den Kindern innerhalb der Kindertagesstätte, in den Funktions- oder Gruppenräumen und nutzen wenige Möglichkeiten, den Kindern Außenraumerfahrungen zu ermöglichen.
Fühlen, Denken, Handeln bilden eine Einheit im Kita-Alltag. Bildungsbereiche und -felder werden aufgeteilt in kognitive, motorische, soziale + emotionale Schwerpunkte.
Hier wird der Fokus auf die Entwicklung und Stärkung des Selbstwertgefühls, der emotionalen Intelligenz sowie der Empathie gerichtet. Der Fokus liegt vor allem auf einem Aufbau und einer Erweiterung der kognitiven Intelligenz sowie einer Soziabilität.
Hier stehen Projekte im Vordergrund der Pädagogik und keine themenorientierten Schwerpunkte. Hier stehen themenorientierte Schwerpunkte (mit Zeitbegrenzungen) im Vordergrund.
Sprachentwicklung geschieht durch eine sorgsame, alltagsgepflegte Kommunikationskultur – ebenso wie alle Bildungsfelder durch ein „concomitant learning“ (= ein Lernen nebenbei) in die Alltagsarbeit integriert werden. Die Förderung der Sprachentwicklung und die Bildungsvermittlung im Feld der MINT-Fächer werden den Kindern durch eigens dafür entwickelte Förderprogramme oder „Bildungseinheiten“ angeboten.
Hier gibt es weder eine „Vorschulpädagogik“ noch ein letztes „Vorschuljahr“; auch der Begriff der „Vorschulkinder“ ist hier nicht zu finden. Hier findet eine unsichtbare, aber vorhandene Trennung von ‚“spielen und lernen“ statt! Insofern werden „Vorschulprogramme“ mit „Vorschulkindern“ durchgeführt.
Im Vordergrund der Kita-Arbeit steht die „Unterstützung der Stärken der Kinder“ (= ressourcenorientierte Sicht). Ausgangspunkt der Bildungsangebote ist eine „Schwächung der Schwächen“ (= defizitäre Sicht).
Kinder werden in Entscheidungsprozesse miteinbezogen (Partizipation). Die Fachkräfte geben das Programm und damit die Beschäftigungsschwerpunkte vor.
Kinder werden als Akteure eigener Entwicklungsprozesse gesehen und lernen damit ihre Selbstständigkeits- und Autonomieentwicklung aufzubauen und zu stabilisieren.   Kinder entwickeln sich durch eine Angebotspädagogik zu Reakteuren und werden dadurch in ihrer Selbstständig-keits- und Autonomieentwicklung ausgebremst.
Die Fachkräfte verstehen sich als mitlernende Wegbegleiter*innen der Kinder. Die Fachkräfte verstehen sich als (be)lehrende Förderkräfte, die Kinder als „Lernobjekte“ ansehen.
Die Fachkräfte sind sich ihrer Vorbildfunktion bewusst und arbeiten an ihrer authentischen Haltung. Die Fachkräfte delegieren ihre beabsichtigten Erziehungserfolge an Angebote und Förderprogramme.
Die Fachkräfte sehen Selbsterfahrung und Reflexionsaufgaben als bedeutsamste, persönlichkeitsbildende Fortbildungsnotwendigkeiten an, um persönliche Kompetenzen zu vertiefen.  Die Fachkräfte besuchen hauptsächlich methodisch und didaktisch konzipierte Fortbildungsmaßnahmen, um thematische Kompetenzen zu verbessern.
Die Fachkräfte bieten den Kindern durch ihre wertschätzenden Verhaltensweisen Beziehungsangebote an, durch die die Kinder Bindungswünsche aufbauen.  Die Fachkräfte verstehen sich als Vermittler*innen von Inhalten, die durch methodisch und didaktische Merkmale strukturiert sind.
Die Alltagspädagogik ist durch „(vor)gelebte Werte“ (ethische, ästhetische, kulturelle, künstlerische Werte) gekennzeichnet.  Die Alltagspädagogik ist hauptsächlich durch normative Vorgaben (Zeitbegrenzung; Raumvorgaben; Verhaltenshinweise…) gekennzeichnet.
Innerhalb der Projekte werden die verschiedenen Spielformen mit Kindern erlebt, wobei dem Spiel die höchste Priorität des Lernens zugestanden wird. Zwar wird dem „Spiel der Kinder“ eine gewisse Bedeutsamkeit zugesprochen, doch gleichzeitig erhalten zusätzliche „‚Fördereinheiten“ eine höhere Wertigkeit. 
Kinder werden als individuelle Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Stärken gesehen und verstanden. Kinder werden vor allem als Sozialisationsobjekte betrachtet, wodurch die Individualität des Kindes wenig Berücksichtigung findet.
Ein Hauptaugenmerk liegt in der Unterstützung des Kindes, seine inne liegenden Fähigkeiten weiter auf- und auszubauen. Das Hauptaugenmerk ist hauptsächlich darauf ausgerichtet, kognitive, motorische und soziale Fertigkeiten zu verbessern.
Musik, Tanz, Theaterspiel und der Einsatz von Märchen eröffnet den Kindern vielfältige Möglichkeiten, erlebte Eindruckswerte in Ausdruckswerte umzusetzen. In teilheitlich geprägten Kitas werden „Bewegungsaktivitäten“ eher in Bewegungsräumen ermöglicht und eher viel an Tischen gearbeitet, gebastelt und mit Tischregelspielen die Zeit verbracht.  
Inklusion ist hier kein Instrument, sondern eine humanistisch geprägte Philosophie, die der Haltung der Fachkräfte entspricht. Inklusion wird in der Regel als eine Integration von Kindern mit besonderem Förderbedarf in eine Regelgruppe mit gleichen Regeln für alle verstanden. 

Diese Gegenüberstellung soll als Reflexionsanregung und -hilfe dienen, um wieder als Fachkraft eine entwicklungspädagogische Bodenhaftung zu bekommen bzw. eine bereits vorhandene Bodenhaftung als Selbststärkung zu erleben.

(Anmerkung: Eine ganzheitliche Pädagogik umfasst dabei alle Merkmale als Ganzes, die auf der linken Spalte aufgeführt sind.)

Diejenigen, die aus einer inneren Vernunft denken, können erkennen, dass alle Dinge durch Verbindungsglieder miteinander zusammenhängen, und dass alles, was nicht im Zusammenhang steht, zerfällt.
(Emanuel Swedenborg)

Nachwort

Es ist sicher sehr hilfreich, sich noch einmal etwas ältere Literatur vorzunehmen, um sich in der Entwicklungspädagogik erneut auf die Entwicklungsbedürfnisse und -notwendigkeiten von Kindern einzulassen. Auch um der kaum noch zu überschauenden Literatur bzw. der Fülle an ständig neuen Förderprogrammen, die einer funktionsorientierten und teilheitlich konzipierten Elementarpädagogik den Einhalt zu gebieten. Dabei sind vor allem folgende Publikationen grundlegend und besonders empfehlenswert (und alle noch erhältlich!):

  • Bergmann, Wolfgang: Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn der Erziehung. Verlag Kösel
  • Dolto, Francoise: MEIN LEBEN AUF DER SEITE DER KINDER. Eine ungewöhnliche Therapeutin erzählt. Kösel Verlag, München
  • Hauser, Uli: Eltern brauchen Grenzen. Lasst die Kinder Kinder sein. Piper Verlag, München
  • Hüther, Gerald & Nitsch, Cornelia: Wie aus Kindern glückliche Erwachsene werden. GRÄFE und UNZER Verlag, München
  • Krenz, Armin. Kinder brauchen Seelenproviant. Was wir ihnen für ein glückliches Leben mitgeben können. Kösel Verlag, München  
  • Lee, Jeffrey: Abenteuer für eine echte Kindheit. Die Anleitung. Piper
  • Lewis, Richard: Leben heißt Staunen. Von der imaginativen Kraft der Kindheit. Beltz Verlag, Weinheim
  • von Schönborn, Felizitas: Astrid Lindgren – Das Paradies der Kinder. Verlag Herder, Freiburg
  • Weber, Andreas: MEHR MATSCH! Kinder brauchen Natur. Ullstein Taschenbuch, Berlin
  • Weber, Andreas (mit Emma & Max): Das Quatsch Matschbuch. Das AKTIONSBUCH: großstadttauglich & baumhausgeprüft. Kösel Verlag, München

Es ist seltsam: Die Menschen klagen darüber, dass die Zeiten böse sind. Hört auf mit dem Klagen. Bessert euch selber. Denn nicht die Zeiten sind böse, sondern unser Tun. Und wir sind die Zeit.

(Aurelius Augustinus, Bischof und Kirchenlehrer, 354 – 430 n.Ch.)

Literaturhinweise:

Carter, Rita: Das Gehirn. Anatomie, Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Bewusstsein, Störungen. Verlag Dorling Kindersley, London 2019

Forstreuter, Hannelore: Was Kindertagesstätten für Kinder sein sollten… Praxisanleitung für eine ganzheitliche Bildungsarbeit. Books on Demand, Norderstedt 2025 

Gilsdorf, Rüdiger: Abenteuer Natur im Spiel. Eine Sammlung zum Erleben, Entdecken und gemeinsamen Lernen. Kallmeyer, Hannover 2023

Jackel, Birgit: Lernen, wie das Gehirn es mag. Praktische Lern- und Spielvorschläge für Kindergarten, Grundschule und Familie. VAK Verlag, Kirchzarten 2008

Ellneby, Ylva: Die Entwicklung der Sinne: Wahrnehmungsförderung im Kindergarten. 3. Aufl. Lambertus Verlag, Freiburg 2024

Kaul, Claus-Dieter: Die zehn Wünsche der Kinder. Ein ganzheitlicher Weg im Miteinander von Kindern und Erwachsenen. Brigg Verlag, Friedberg 2023

Klein, Ferdinand: Neue Herausforderungen der pädagogischen Fachkraft. Aus der Idee des Guten die Praxis in Kindertageseinrichtungen gestalten. Walhalla Fachverlag, Regensburg 2024  

Krenz, Armin: Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik. Kinder sehen, verstehen und entwicklungsunterstützend handeln. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2013 

Liebertz, Charmaine: Spiele zum Ganzheitlichen Lernen. Bewegung, Wahrnehmung, Konzentration, Entspannung und Rhythmik in der Kindergruppe. BurckhardtHaus-Laetare, Freiburg 2014

Renz-Polster, Herbert: Die Kindheit ist unantastbar. Beltz Verlag, Weinheim 2014

Ungerer-Röhrich, Ulrike et al: Bildung durch Bewegung. Kita-Kinder ganzheitlich in ihrer Bewegung fördern. Cornelsen, Berlin 2015 

Zimmer, Renate: Handbuch Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung. Herder, Freiburg 2019

 Armin Krenz, Hon.-Prof. (a.D.) Dr. et Prof. h.c. (armin.krenz@web.de)




Spielerisch stark: Wie Kinder durch Theaterpädagogik ihre Potenziale entfalten

Das Theaterprojekt „Die Piraten im Zauberland“ der Kita Wirbelwind zeigt, wie ganzheitliches Lernen gelingen kann

Viele Kinder lieben es, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen, womit sie ihre „Zauberkräfte“ zum Ausdruck bringen können. Zauberkräfte, um ihren Wunschrollen ganz nahe zu sein: als Polizist:in für Ordnung zu sorgen oder Bösewichte ins Gefängnis zu bringen, als Pirat neue Welten zu entdecken, als Schatzjäger:in vergrabene Kostbarkeiten zu finden, als Prinzessin oder Prinz in einem herrschaftlichen Schloss zu wohnen oder als König bzw. Königin ein Volk zu regieren und bewundert zu werden, als Dinosaurier das Leben in weit zurückliegenden Urzeiten zu erleben oder als Tierärztin bzw. Tierarzt kranke Tiere wieder zu heilen …

Kinder wollen sich ausdrücken, ihre vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten in Sprach- und Spielhandlungen erkunden und ausprobieren, ihre innewohnenden Potenziale entdecken, eigene Handlungsvorstellungen in Aktionen umsetzen, Fantasien ausleben und Weltentdecker:innen sein. Kinder sprühen vor Aktionsideen, wollen kreativ wirksam werden, erlebte Grenzen überschreiten und sich selbst als Akteur:innen der eigenen Entwicklung verstehen, um ihre ganz persönliche Identität zu erfassen und ihre besondere Individualität herauszustellen.

Kreatives Toben mit Sinn

Kinder lieben es zu toben, zu klettern, mit Sprache zu jonglieren, Herausforderungen zu entdecken und gleichzeitig Ziele zu erreichen, mit großer Neugier den Geheimnissen der Welt auf die Spur zu kommen und sich in Szene zu setzen – um den eigenen Selbstwert motorisch, emotional, in sozialen Bezügen und kognitiv zu spüren.

Neben dem Spiel mit Handpuppen, Stabfiguren, Großfiguren, Marionetten sowie dem Tisch-, Papier- oder Schattentheater besitzt die gemeinsame Planung und Durchführung eines eigenen Theaterstücks einen ganz besonderen Reiz für Kinder.

Theater als ganzheitliches Bildungsprojekt

Theaterstücke umfassen viele Merkmale – vom Bühnenbild, über Beleuchtungen, Kostüme, Requisiten, Musikuntermalung, besondere Geräusche, themenbezogene Choreografien, Dialoge, selbst gesungene Lieder, Sprach- bzw. Textanteile. Vor allem aber dient ein Drehbuch als Grundlage für eine Theateraufführung. Hier können Kinder ihre Ideen einbringen, ganz unterschiedliche Rollen in neue Szenerien integrieren, eigene Lebensthemen aufgreifen, Wunschrollen verwirklichen sowie aktiv mitgestalten – bei Kostümen, Requisiten, Texten und Bühnenbild. So entsteht aus vielen Einzelelementen ein „rundes Ganzes“.

Partizipation statt fertiger Angebote

Schauen wir uns dabei die verschiedenen Entwicklungs- und Kompetenzbereiche an, können wir tatsächlich von einer ganzheitlichen Pädagogik sprechen, bei der alle Entwicklungsfelder berücksichtigt werden – ganz ohne isolierte Fördereinheiten. Hier treffen die drei Grundelemente nachhaltiger Bildungsarbeit zusammen:

  1. Die Kinder erleben sich als individuell bedeutsame Akteur:innen, da sie von Beginn bis Auswertung eines Projekts voll partizipativ beteiligt sind.
  2. Es werden keine fertigen Themen oder didaktisch-methodisch vorbereiteten Inhalte vorgesetzt – Kinder schlagen selbst ein für sie bedeutsames Thema vor, das aktiv umgesetzt wird.
  3. All dies geschieht in einer beziehungsfreundlichen Atmosphäre, in der die Kinder ihre Erzieher:innen als authentisch, innerlich beteiligt, neugierig und wertschätzend erleben.

Lernen „ganz nebenbei“

In der Lernpsychologie spricht man hier von concomitant learning – einem „Lernen ganz nebenbei“. Kinder bringen dabei kognitive, emotionale, soziale und motorische Kompetenzen ein, ohne dass sie merken, dass eine gezielte Entwicklungsförderung stattfindet.

Alles lebt vom Engagement der Erzieher:innen, KINDER und deren Themen zum Ausgangspunkt spannender PROJEKTE zu machen. Daraus entsteht eine innere Resonanz, die Bindung stärkt – zum Projekt und zu den pädagogischen Bezugspersonen.

Was hier gelingt – und anderswo oft fehlt

  1. Kinder erleben sich als Akteur*innen – nicht als Reagierende.
  2. Kinder werden zu eigenständigen Lernmotoren – nicht zu Ausführenden vorbereiteter Programme.
  3. Die Arbeit ist prozessorientiert – nicht durch Stundenpläne oder Zielvorgaben vorstrukturiert.
  4. Es werden basale Fähigkeiten aufgebaut – keine bloße Verfeinerung von Fertigkeiten.
  5. Die Themen orientieren sich an der Erlebniswelt der Kinder – nicht an Bildungsplänen oder Jahreszeitenpädagogik.
  6. Es entsteht eine lernförderliche Atmosphäre – im Gegensatz zu normorientierten, funktional organisierten Kita-Strukturen.

Die Piraten im Zauberland: Ein Projekt von Kindern für Kinder

Im folgenden Teil wird das Theaterstück „Die Piraten im Zauberland“ vorgestellt, das von Kindern initiiert, gemeinsam entwickelt und schließlich mit großer Begeisterung aufgeführt wurde. Es war überwältigend mitzuerleben, mit wie viel Fantasie, Engagement und Lernfreude alle Kinder an diesem Projekt beteiligt waren.

Gerade im Kontrast zu kognitiv überfrachteten, angebotszentrierten und durchgetakteten Tagesabläufen zeigt dieses Projekt eindrucksvoll, warum Kinder, die einen spielpädagogisch orientierten Kindergarten wie den Wirbelwind Lunzig (südlich von Gera, Thüringen) besuchen, eine beeindruckende „Schulbereitschaft“ entwickeln – und ihre Erzieher*innen von Herzen mögen. Vielen Dank auch an Brit Drechsler von der Kita Wirbelwind, die nicht nur maßgebend am Projekt mitgewirkt hat, sondern uns auch das Drehbuch zur Verfügung gestellt hat.

Hon. Prof. (a.D.) Armin Krenz




Den Morgenkreis neu gedacht: Wie Kindertreffen kindgerecht gelingen

Margit Franz: Morgenkreise neu gedacht. Kindertreffen in Krippe und Kita kindgerecht gestalten

Margit Franz ist sicher vielen elementarpädagogischen Fachkräften durch ihre über 30 Buchpublikationen, einige Buchreihen und Hunderte von Fachartikeln sowie als Fachreferentin bekannt, weil sie sich unermüdlich um Grundsatzthemen einer qualitätsgeprägten Kita-Pädagogik kümmert. Nun ist ihr neues Buch über den Einsatz und die vielfältige Gestaltung eines Morgenkreises erschienen.

Vom Morgenkreis zum Kindertreffen – ein Perspektivwechsel

Der Morgenkreis: in vielen Kitas ein festes und geschätztes Ritual, in anderen Kitas eher ein „Sorgenkreis“ oder gar ein verworfenes Relikt aus der Vergangenheit. Um einem Team einerseits Reflexionshinweise für ein „Pro und Kontra“ anzubieten und andererseits die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten eines „Kindertreffens“ zu offenbaren, hat sich die Autorin folgenden Schwerpunkten zugewandt:

(1) Kinder im Mittelpunkt, bei dem es zunächst um eine gleichwertige Kommunikations- und Interaktionsqualität, um Partizipation, Inklusion und um eine Teilnahmefreiwilligkeit der Kinder geht;
(2) Inhaltliche Themen, die sich aus Beschwerde-, Lieblings- oder Expert*innen-, Alltags-, Lebens- oder Erwachsenenthemen ergeben;
(3) Bedenkenswerte Überlegungen zur „idealen“ Gruppengröße, zur Vielfalt im Kindertreffen, zum ‚richtigen‘ Zeitpunkt, zur Dauer, zum Ablauf und zu Gestaltungsmöglichkeiten sowie zur Regelmäßigkeit von Kindertreffen;
(4) Geeignete Materialen, Methoden, Rituale, Spielideen sowie Moderationskompetenzen, die Kindertreffen lebendig werden lassen;
(5) Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit dem Team, den Erziehungsberechtigten sowie potenziellen Kooperationspartnern im sozialen Umfeld;
(6) Unterschiedliche Orte als Treffpunkte für ein Kindertreffen sowie Gestaltung und Ausstattung dieser Zusammenkünfte.

Zum Schluss finden interessierte Leser:innen ein Literaturverzeichnis, um bei Bedarf angesprochene Themen zu vertiefen. So viel sei zum gelungenen Aufbau, zu einer klaren Struktur und zu den inhaltlich sehr bedeutsamen Schwerpunkten angemerkt.

Praxisnah, reflektiert und kindzentriert

Aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeiten, einen „Morgenkreis“ zu gestalten, der nicht immer am Morgen um 9.00 Uhr stattfinden muss und die Kinder auch nicht in einem Kreis auf ihren Stühlchen sitzen müssen, plädiert die Autorin dafür, den Morgenkreis auch neu zu denken. Daher löst sie diesen Begriff mit dem Wort „Kindertreffen“ ab. Sie geht dabei in sorgsamer und in einer fachlich tiefgründigen Weise der Frage nach, was Kinder in üblichen Morgenkreisabläufen unzufrieden machen könnte und stellt entsprechende Alternativen vor, in denen Partizipation, dialogisch geführte Gespräche sowie interagierende und bedürfnisorientierte Gestaltungsformen die Langeweile oder Abwehr der Kinder gegenüber dem bisherigen Verlauf von Morgenkreisen ablösen können.

Zusätzlich werden die inhaltlichen Ausführungen immer wieder mit Praxisbeispielen und Reflexionsimpulsen angereichert, so dass das Buch mit Fug und Recht als ein sehr hilfreicher Praxisratgeber bezeichnet werden kann. Da ist es auch nicht ausschlaggebend, dass beispielsweise auf der Seite 24 die Überschriften „positive Formulierung“ und „negative Formulierung“ in den zwei Übersichtskästen vertauscht wurden oder die Autorin auf der Umschlagvorderseite als Herausgeberin benannt wurde. Das schmälert die inhaltliche Qualität des Buches in keiner Weise!

Fazit: Ein inspirierender Ideenschatz für die Kita-Praxis

Wer sich mit dem Sinn und dem Bedeutungswert eines Morgenkreises (Kindertreffens) in der Kita qualitätsgeprägt auseinandersetzen möchte, gerade auch um neue Impulse zu bekommen, damit dieses Ritual wieder kindzentriert (!) durchgeführt und neuen „Pepp“ erhalten kann, erlebt dieses Buch als einen hilfreichen Ideenschatz.

Rezensent: Armin Krenz: armin.krenz@web.de

Margit Franz
Morgenkreise neu gedacht
Kindertreffen in Krippe und Kita kindgerecht gestalten
95 Seiten
ISBN: 978-3-96046-343-6
19,95 €

Weitere Informationen…




Misshandlung in der Kindheit schwächt das Körpergefühl

Studie zeigt: Wer als Kind emotional verletzt wurde, hat oft weniger Vertrauen in den eigenen Körper

Eine neue Auswertung von Studien zeigt: Menschen, die als Kinder seelisch misshandelt oder vernachlässigt wurden, vertrauen ihrem Körper oft weniger. Das bedeutet, dass sie innere Signale wie Herzklopfen, Hunger oder Anspannung nicht so gut wahrnehmen und deuten können wie andere.

Diese Fähigkeit, den eigenen Körper von innen zu spüren, spielt eine wichtige Rolle für das Wohlbefinden. Sie hilft dabei, mit Gefühlen und Stress umzugehen und die eigenen Bedürfnisse zu erkennen. Wenn dieses Körpergefühl gestört ist, kann das auch später im Leben Probleme machen.

Weniger Körpervertrauen kann seelische Krankheiten begünstigen

Die Forscherinnen und Forscher berichten: Wer in der Kindheit seelisch vernachlässigt oder beleidigt wurde, hat oft Schwierigkeiten, die Signale des Körpers richtig einzuordnen. Das kann dazu führen, dass man Gefühle schlechter steuern kann, Stress schwerer verkraftet und die eigenen Grenzen nicht gut erkennt.

Die Folge: Das Risiko für seelische Erkrankungen wie Angst, Niedergeschlagenheit oder Essstörungen steigt. „Seelische Gewalt ist oft unsichtbar – aber sie hat starke Auswirkungen“, sagt Julia Ditzer, die Hauptautorin der Studie. Auch ihre Kollegin Dr. Ilka Böhm betont: „Diese Erfahrungen bleiben nicht ohne Folgen – auch wenn sie niemand sieht.“

Kinder brauchen auch Schutz für ihre Gefühle

Die Studienleiterin Prof. Dr. Anna-Lena Zietlow macht deutlich: „Kinder brauchen nicht nur Schutz vor Schlägen oder Übergriffen. Sie brauchen auch liebevolle Zuwendung, Aufmerksamkeit und echte Nähe.“

Zietlow und ihr Team hoffen, dass ihre Forschung dabei hilft, seelische Misshandlung und Vernachlässigung ernster zu nehmen – in der Öffentlichkeit, in der Forschung und in der Arbeit mit Familien.

So wurde die Untersuchung gemacht

Die Forschenden haben Ergebnisse aus 17 Einzelstudien zusammengetragen. Dabei wurden die Daten von 3.705 Personen ausgewertet. Ziel war herauszufinden, ob es einen Zusammenhang zwischen schlechter Behandlung in der Kindheit und einem gestörten Körpergefühl gibt – und welche Art von Misshandlung dabei am stärksten wirkt.

Die Untersuchung zeigt: Körperliche oder sexuelle Gewalt wirken sich weniger stark auf das Körpergefühl aus als seelische Misshandlung und Vernachlässigung. Das heißt: Wenn ein Kind oft ignoriert, beschimpft oder abgewertet wurde, kann es später Schwierigkeiten haben, auf seinen Körper zu hören.

Neue Studie mit Jugendlichen gestartet

Die Forscherinnen und Forscher wollen nun noch genauer hinschauen. In einer neuen Studie untersuchen sie gerade, wie sich schlechte Kindheitserfahrungen auf das Körpergefühl von Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren auswirken. Ziel ist es, mehr darüber zu lernen, wie solche Erfahrungen die Entwicklung junger Menschen beeinflussen.

Veröffentlicht wurde die Auswertung in der Fachzeitschrift „Nature Mental Health“.

Beteiligt sind Teams der Technischen Universität Dresden und der Freien Universität Berlin.

Originalpublikation:

Ditzer, J., Woll, C. F. J., Burger, C., Ernst, A., Boehm, I., Garthus-Niegel, S., & Zietlow, A.-L. (2025). Childhood maltreatment and interoception: A meta-analytic review. Nature Mental Health. DOI: https://www.nature.com/articles/s44220-025-00456-w

Gernot Körner




Die Kinderlähmung ist noch immer nicht besiegt

Warum jetzt Kinder und immungeschwächte Erwachsene geimpft werden sollten

Die Kinderlähmung, auch Poliomyelitis oder kurz Polio genannt, galt in Deutschland lange als fast ausgestorben. Doch jetzt melden Fachleute: In vielen Städten wurden wieder Polioviren im Abwasser gefunden. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) sieht deshalb vor allem ungeimpfte Kinder und Menschen mit geschwächtem Immunsystem als gefährdet an – und rät zur Überprüfung des Impfstatus.

Polio kann schwere Schäden verursachen

Polio ist eine hochansteckende Infektionskrankheit. Sie wird meist über Schmierinfektion weitergegeben – also zum Beispiel durch verunreinigte Hände, Türklinken oder Toiletten. Vor allem bei Kindern unter fünf Jahren kann das Virus gefährlich werden. Es greift das Nervensystem an und kann zu dauerhaften Lähmungen führen. Auch Erwachsene können erkranken – vor allem, wenn sie ein geschwächtes Immunsystem haben.

Warum jetzt wieder Polioviren gefunden wurden

Die vom Robert Koch-Institut (RKI) nachgewiesenen Viren stammen ursprünglich aus Impfstoffen. In sehr seltenen Fällen können sich diese Viren verändern und erneut krank machen – vor allem bei Menschen ohne ausreichenden Impfschutz. Erste Spuren solcher Viren wurden bereits Ende 2024 im Abwasser entdeckt. Inzwischen häufen sich die Funde. Das RKI hält es für möglich, dass sich das Virus lokal bereits verbreitet.

Die DGN rät zur Impfung – vor allem bei Kindern

Die DGN warnt: Auch wenn die Impfquote in Deutschland insgesamt hoch ist, gibt es Lücken. Besonders Kinder, die ihre Impfungen nicht vollständig erhalten haben, sind gefährdet. Kinderärztinnen und -ärzte prüfen den Impfstatus in der Regel regelmäßig – aber nicht alle Familien nehmen die Termine wahr.

Zudem gibt es weltweit Regionen – etwa in Krisengebieten wie Gaza oder der Ukraine – in denen Impfprogramme ins Stocken geraten sind. Auch in Deutschland leben viele Kinder aus solchen Regionen. Hier ist besondere Vorsicht geboten.

Auch Erwachsene mit geschwächtem Immunsystem sollten sich schützen

Nicht nur Kinder, auch immungeschwächte Erwachsene sind gefährdet. Dazu zählen Menschen mit bestimmten Erkrankungen oder solche, die Medikamente einnehmen, die das Immunsystem schwächen. Für diese Gruppe empfiehlt die DGN:

•          Den Impfstatus überprüfen

•          Gegebenenfalls eine Grundimmunisierung nachholen

•          Bei bestehendem Schutz auf fällige Auffrischimpfungen achten

Die Grundimmunisierung besteht aus drei Impfungen, die sich über mindestens sechs Monate verteilen.

Hygiene schützt – vor allem Händewaschen

Das RKI weist darauf hin, dass Polioviren oft über den Stuhl ausgeschieden werden. Wer sich nach dem Toilettengang nicht gründlich die Hände wäscht, kann andere anstecken. Deshalb gilt:

•          Regelmäßiges Händewaschen

•          Handdesinfektion im öffentlichen Raum

•          Besonders sorgfältige Hygiene bei Kleinkindern

Wenn Polio ausbricht: Wenige Behandlungsmöglichkeiten

Im schlimmsten Fall führt Polio zu bleibenden Schäden. Dazu gehören:

•          Lähmungen, die sich oft nur teilweise zurückbilden

•          Chronische Erschöpfung (Fatigue)

•          Muskelschwund (postpoliomyelitische Muskelatrophie)

Heilung gibt es keine – nur Unterstützung durch Therapien und Pflege. Medikamente wie Immunglobuline helfen in manchen Fällen, ihre Wirkung ist jedoch noch nicht eindeutig bewiesen. Deshalb bleibt die Impfung der wichtigste Schutz.

DGN ruft zum Handeln auf

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie mahnt: Auch wenn derzeit keine größere Polio-Welle droht, darf die Gefahr nicht unterschätzt werden. Denn ist ein Mensch erst einmal infiziert, kann es zu schweren Krankheitsverläufen kommen.

Mehr Informationen:

Gernot Körner




Keine Quote für die Herkunft

Der Grundschulverband warnt vor Migrationsobergrenze und fordert Schule der Vielfalt

In einem Interview mit dem Sender Welt-TV hat Bildungsministerin Karin Prien (CDU) eine Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund an Schulen als „denkbares Modell“ bezeichnet. In der Sendung Politikergrillen mit Jan Philipp Burgard äußerte sie, man solle Erfahrungen anderer Länder prüfen und ergänzte: „Ob das 30 Prozent oder 40 Prozent dann am Ende sind.“ Entscheidend sei, so Prien, dass Kinder beim Schuleintritt über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen.

Der Vorschlag stößt auf scharfe Kritik. Besonders deutlich positioniert sich der Grundschulverband, der in einer aktuellen Pressemitteilung die Einführung einer sogenannten „Migrant:innenquote“ aus pädagogischer und gesellschaftspolitischer Sicht entschieden ablehnt.

Schule muss Ort der Vielfalt, nicht der Selektion sein

„Der Vorschlag ignoriert die Realität der schulischen Vielfalt und gefährdet die Grundprinzipien von Chancengleichheit, Inklusion und Demokratiebildung“, erklärt der Vorstand des Grundschulverbands. Die Schule müsse ein Ort bleiben, der allen Kindern offensteht – unabhängig von Herkunft, Sprache oder Religion.

In seinem Positionspapier fordert der Verband:

  • gleiche Lern- und Entwicklungschancen für jedes Kind
  • Wertschätzung individueller Stärken
  • Vermittlung demokratischer Werte
  • Schutz vor Diskriminierung
  • klare Absage an jede Form von Ausgrenzung

Diese Forderungen seien keine Idealvorstellungen, sondern konkrete Anforderungen an ein demokratisches Bildungssystem.

Kinder sind keine Quoten – sondern Träger von Rechten

Der Grundschulverband macht deutlich: Der Migrationshintergrund eines Kindes sei kein Indikator für Lernfähigkeit, Bildungsbereitschaft oder soziale Kompetenz. Eine festgelegte Obergrenze suggeriere Defizite, stärke Vorurteile und führe zur Stigmatisierung.

„Schulen müssen Orte sein, an denen jedes Kind die gleichen Chancen erhält – unabhängig von Herkunft oder Religion“, heißt es in der Mitteilung. Eine Quote hingegen würde Kinder zu „Problemanteilen“ degradieren und die gesellschaftliche Spaltung fördern. Stattdessen müsse Diversität professionell begleitet und als Chance begriffen werden.

Unterstützung statt Selektion: Schulen besser ausstatten

Anstelle von Quoten fordert der Verband gezielte Investitionen in Schulen:

  • mehr pädagogisches Personal
  • interkulturelle Fortbildungen
  • kleinere Klassen in belasteten Regionen
  • Stärkung der Sprachförderung
  • multiprofessionelle Teams für individuelle Förderung

Nicht die Zusammensetzung der Schüler:innenschaft sei entscheidend, sondern die strukturellen Rahmenbedingungen. „Die Verantwortung für Bildungserfolg darf nicht auf die Kinder abgewälzt werden“, betont der Verband.

Schule als Spiegel der Gesellschaft – Vielfalt ist kein Problem

Die Schule spiegelt die gesellschaftliche Realität wider – mit all ihrer Diversität. Herkunftsbasierte Quoten verstoßen laut Grundschulverband gegen das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot (Artikel 3 GG) und gefährden das demokratische Fundament des Bildungssystems.

Zahlreiche Schulen arbeiteten bereits erfolgreich mit heterogenen Gruppen und seien dabei Orte des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das Engagement dieser Schulen dürfe nicht durch politisch motivierte Zählweisen delegitimiert werden.

Grundschulverband fordert klare Haltung gegen Diskriminierung

Der Verband ruft dazu auf, sich klar gegen diskriminierende Maßnahmen zu positionieren und für eine Schule einzutreten, die allen Kindern unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion oder sozialem Status offensteht. „Kinderrechte und Chancengleichheit müssen handlungsleitend für die Bildungspolitik sein“, so der Verband.

Die vollständige Stellungnahme des Grundschulverbands finden Sie hier.

Hintergrund: Was spricht gegen eine Migrationsquote?

Gegen eine feste Obergrenze für Schüler:innen mit Migrationshintergrund spricht laut GSV zudem Folgendes:

  • Rechtliche Probleme: Artikel 3 GG verbietet Diskriminierung aufgrund von Herkunft. Eine Quote könnte gegen die Schulpflicht und das Recht auf wohnortnahe Schulplätze verstoßen.
  • Pädagogisch fragwürdig: Studien zeigen, dass soziale Herkunft und Sprachkenntnisse weit entscheidender für den Bildungserfolg sind als der Migrationsstatus.
  • Politisch umstritten: Karin Prien verweist auf Dänemark, wo es jedoch keine feste Quote gibt, sondern verpflichtende Sprachtests und gezielte Förderprogramme.
  • Kaum umsetzbar: In vielen Städten liegt der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund bei über 50 %, teilweise sogar bei 80–90 %. Eine 30 %-Grenze würde Kinder vom Schulbesuch in ihrer Nachbarschaft ausschließen.

Weitere Informationen

Gernot Körner




Ganzheitlich lernen – mit Herz, Kopf und Hand

Warum sinnliches Erleben und emotionale Intelligenz heute wichtiger sind denn je

Wir leben in einer Zeit, in der die Informationsmenge täglich wächst – und mit ihr der Druck auf Kinder, immer mehr Wissen aufzunehmen. Doch wie lange noch können Geist und Psyche diese Überflutung verkraften? Wann wird emotionale Kälte zu innerer Leere oder gar zu Aggression? Und erkennen wir rechtzeitig, dass nicht reines Faktenwissen unsere Zukunft sichert, sondern die Fähigkeit, Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen?

Kinder der heutigen Wissensgesellschaft erleben die Welt zunehmend durch Bildschirme – weniger durch eigenes, sinnliches Erleben. Die Medienwelt bestimmt, was sie sehen, hören und begehren. Schon früh am Morgen tummeln sich Monster im Kinderfernsehen, während aggressive Helden das Frühstück begleiten. Was bleibt, ist eine Wirklichkeit „aus zweiter Hand“ – mit trügerischer Konsumversprechen statt echter Erfahrungen.

Trügerische Fastfood-Wahrnehmung

Viele Kinder verwechseln heute mediale Trugbilder mit der Realität. Wer kennt sie nicht – die lila Kuh, die längst in den Köpfen spukt, bevor ein Kind eine echte Kuh erlebt hat? Erwachsene können solche Bilder einordnen, Kinder dagegen glauben oft, was sie sehen: „Wenn’s im Fernsehen war, muss es stimmen.“

Die sogenannte Ikomanie – die Sucht nach Bildern – ist ein neues Phänomen unserer Mediengesellschaft. Immer mehr Kinder leiden an Wahrnehmungsstörungen, teils aus organischen, häufig aber aus umweltbedingten Gründen. Während Augen und Ohren durch visuelle und akustische Reize überfordert sind, verkümmern Tast-, Riech- und Gleichgewichtssinn. Es fehlen echte Erfahrungen – mit echten Menschen und echten Dingen.

Sinnesentwicklung braucht echte Erfahrungen

Unsere Sinne sind die Tore zur Welt. Kinder lernen über Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken und Bewegen. Sie begreifen durch Greifen, ertasten die Welt, lange bevor sie sprechen. Diese Primärerfahrungen sind unersetzlich. Sie machen den Unterschied zwischen flüchtigem Konsum und tief verankerter, ganzheitlicher Erinnerung. Der Regenwurm fühlt sich eben nur in der Hand feucht und lebendig an – nicht auf dem Bildschirm.

Wenn Kinder frühzeitig vielfältige sinnliche Erfahrungen machen dürfen, entstehen im Gehirn stabile Denkstrukturen. Diese sind die Grundlage für emotionale Sicherheit und lebenslanges Lernen.

Folgen der Reizüberflutung

Ein Übermaß an einseitigen Reizen schadet: Der durchschnittliche Fernsehkonsum von 4- bis 14-Jährigen liegt bei viereinhalb Stunden täglich. Das belastet nicht nur Augen und Ohren, sondern stört auch die Verarbeitung im Gehirn. Viele Kinder können Reize nicht mehr richtig einordnen oder voneinander unterscheiden. Die Folge: Konzentrationsprobleme, motorische Unruhe, Unsicherheiten im Sozialverhalten.

Oft treten mehrere Wahrnehmungsstörungen gleichzeitig auf. Kinder mit auditiven Einschränkungen hören zwar die Laute, erkennen aber deren Bedeutung nicht. Andere haben eine taktile Über- oder Unterempfindlichkeit – sie suchen ständig starke Reize oder meiden jede Berührung. Solche Störungen beeinträchtigen nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die emotionale Entwicklung.

Mehr als Wissen: Herzensbildung und soziale Kompetenz

Kinder brauchen mehr als Wissensvermittlung. Sie brauchen Räume für sinnliche Erlebnisse, für Beziehungslernen, für Herzensbildung. Die zentralen Zukunftskompetenzen sind soziale Intelligenz, emotionale Stärke und die Fähigkeit, empathisch zu handeln. Diese wachsen nicht in der digitalen Welt, sondern in echter Begegnung – mit Menschen, mit Natur, mit dem echten Leben.

Eltern, Erzieher:innen und Lehrkräfte sind gefragt, eine Umgebung zu schaffen, die Kinder in ihrer ganzheitlichen Entwicklung stärkt: mit Zeit zum Matschen, Toben, Staunen und Fragenstellen. Kinder wollen entdecken, untersuchen, ausprobieren. Und sie brauchen Orte dafür – draußen in der Natur, im Alltag, im echten Leben.

Sinneserziehung als Bildungsaufgabe

Je früher Kinder gezielte Förderung erhalten, desto besser können Wahrnehmungsstörungen ausgeglichen werden. Und je liebevoller und kompetenter wir ihre Sinne ansprechen, desto besser sind sie auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet. Unsere Kinder können mehr als nur sehen und hören – sie können fühlen, schmecken, riechen, tasten und das Leben mit allen Sinnen gestalten.

Kontakt:

Dr. Charmaine Liebertz
Tel: 0221 9233103
✉️ c.liebertz@ganzheitlichlernen.de
🌐 www.ganzheitlichlernen.de

Charmaine Liebertz

Charmaine Liebertz
Spiele zum ganzheitlichen Lernen

Bewegung, Wahrnehmung, Konzentration, Entspannung und Rhythmik in der Kindergruppe
Softcover, 14,8 x 21 cm, 96 Seiten
Burckhardthaus Verlag
ISBN: 9783944548166
14,95 €

Weitere Informationen…




Verbal oder Zahl? – Schulzeugnisse verändern den Blick von Eltern

Neue BiB-Studie zeigt: Klare Noten statt blumiger Worte fördern das Engagement von Eltern

Sommerzeit ist Zeugniszeit – für viele Familien ein emotionaler Moment, der nicht nur Rückblick, sondern auch Weichenstellung für die Zukunft bedeutet. Passend zum Schuljahresende hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) eine neue Studie veröffentlicht, die beleuchtet, wie Schulzeugnisse das elterliche Verständnis für die Leistungen ihrer Kinder beeinflussen – und wie sich dies auf das Bildungsengagement zuhause auswirkt.

Eltern schätzen Leistungen oft zu positiv ein

Das zentrale Ergebnis: Viele Eltern überschätzen die schulischen Fähigkeiten ihrer Kinder, besonders in Deutsch, Mathematik und den Naturwissenschaften. Dies gilt vor allem in Haushalten mit niedriger formaler Bildung oder Migrationshintergrund. Die Forscherinnen der Studie, Elena Ziege und Ariel Kalil, warnen: Diese Fehleinschätzungen können dazu führen, dass Kinder nicht in dem Maße gefördert werden, wie es ihrem tatsächlichen Lernstand entspricht.

Format entscheidet: Noten wirken besser als Texte

Doch das muss nicht so bleiben. Wie die Untersuchung zeigt, können Schulzeugnisse diese Wahrnehmung wirksam korrigieren – vorausgesetzt, sie sind klar und verständlich. Dabei spielt das Format der Leistungsrückmeldung eine entscheidende Rolle: Während schriftliche Lernstandsbeschreibungen – wie sie in vielen Grundschulen für die ersten Jahrgangsstufen üblich sind – oft nicht richtig gedeutet werden, führen klare numerische Noten oder Gespräche mit Lehrkräften deutlich häufiger zu einer aktiveren Unterstützung der Kinder durch die Eltern.

Mehr Engagement durch bessere Information

„Väter und Mütter, die präzise Informationen zum Leistungsstand erhalten, lesen häufiger mit ihren Kindern oder spielen gezielter mit ihnen – insbesondere, wenn es sich um das erste Zeugnis handelt“, fasst Bildungsforscherin Elena Ziege zusammen. Besonders bedeutsam sei dies für Kinder aus sozial benachteiligten Haushalten. Hier könne eine frühzeitige, transparente Rückmeldung über die Schulleistungen ein Schlüssel sein, um Bildungspotenziale besser zu nutzen.

Frühe Rückmeldung als Chance für mehr Bildungsgerechtigkeit

Die Datenbasis der Studie stammt aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS) und bezieht sich auf das erste Grundschuljahr. Die Autorinnen empfehlen, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auf klar strukturierte Rückmeldungen zu setzen – idealerweise in Form von Noten oder standardisierten Einschätzungen, ergänzt durch persönliche Gespräche. Denn: Gut informierte Eltern sind besser in der Lage, ihre Kinder beim Lernen zu begleiten.

Quellenhinweis:

Ziege, Elena & Kalil, Ariel (2025): How Information Affects Parents‘ Beliefs and Behavior: Evidence from First-Time Report Cards for German School Children
Veröffentlichung beim Becker Friedman Institute, University of Chicago
Link zur Studie

Quelle: Dr. Christian Fiedler, Pressestelle, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB)