Integration: Die Kitas und Schulen haben Enormes geleistet

Was das deutsche Bildungssystem jetzt braucht – Einblick in zehn Jahre Forschung zum Weltflüchtlingstag

Wie gelingt Integration, wenn Tausende geflüchtete Kinder und Jugendliche auf ein Bildungssystem treffen, das auf deren Ankunft kaum vorbereitet ist? Diese Frage ist seit 2015 drängend – und sie bleibt es auch heute. Anlässlich des Weltflüchtlingstags der Vereinten Nationen sprechen die Bildungsforscherinnen Dr. Jutta von Maurice und Dr. Gisela Will vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) über Erfolge, Defizite und Lehren aus fast zehn Jahren Forschung. Dabei wird deutlich: Integration ist kein Automatismus – sie muss gestaltet, unterstützt und wissenschaftlich begleitet werden.

Die beiden Forscherinnen leiten seit 2016 am LIfBi umfassende Längsschnittstudien zur Bildungsintegration Geflüchteter in Deutschland. Die Studie ReGES – Refugees in the German Educational System und das Folgeprojekt „Bildungswege von geflüchteten Kindern und Jugendlichen“ zeichnen mit insgesamt neun Erhebungswellen den Bildungsweg von über 2.400 Kindern und 2.400 Jugendlichen aus fünf Bundesländern nach. Die Daten von sieben Erhebungen stehen bereits für die Forschung zur Verfügung und bilden eine der umfassendsten Datenbasen zur Bildungsintegration Geflüchteter im deutschsprachigen Raum.

„Dieses Bild begleitet mich bis heute“

Dr. Jutta von Maurice erinnert sich gut an die Situation im Jahr 2015, als viele Geflüchtete aus Syrien und anderen Ländern des Nahen Ostens Deutschland erreichten

„Ich bin in der Bahn einer Frau begegnet, die wenige Stunden zuvor entbunden hatte. Das Kind hatte noch nicht einmal etwas zum Anziehen – dieses Bild begleitet mich bis heute.“

Damals fehlte es nicht nur an Unterkünften und Versorgung, sondern auch an einer bildungspolitischen Strategie. Schulen und Kitas standen unter enormem Druck, Integration ad hoc leisten zu müssen.

„Unsere Systeme waren auf diese große Anzahl von Menschen nicht vorbereitet“, erklärt von Maurice.
Um die emotional und politisch aufgeladene Debatte mit belastbaren Zahlen zu unterfüttern, wurde die ReGES-Studie ins Leben gerufen.

Kitas als Integrationsmotor – mit strukturellen Schwächen

Ein zentrales Ergebnis der Forschung: Frühkindliche Bildungseinrichtungen spielen eine Schlüsselrolle bei der Integration – wenn der Zugang gelingt.

„Die Kitas und Schulen haben sich einer Riesenherausforderung gestellt und heute wissen wir, dass sie Enormes geleistet haben“, sagt Dr. Gisela Will.

So besuchen etwa 80 Prozent der geflüchteten Kinder aus der ReGES-Stichprobe nach rund zweieinhalb Jahren Aufenthalt in Deutschland eine Kindertageseinrichtung – ein beachtlicher Wert, der jedoch hinter dem Durchschnitt anderer Kindergruppen zurückbleibt. Der Grund liegt häufig nicht in fehlender Motivation, sondern in fehlenden Plätzen.

„Das Angebot ist regional sehr unterschiedlich. Gerade in Ballungszentren scheitert der Zugang zur Kita oft daran, dass Familien keinen Platz finden“, so Will.

Gleichzeitig zeigen die Daten, dass Sprachförderung im Vorschulalter bei lediglich 30 Prozent der Kinder stattgefunden hat – ein klarer Schwachpunkt.

„Die Sprachförderung ist definitiv der Knackpunkt“, betont von Maurice.
„Denn obwohl die geflüchteten Kinder in den Sprachtests Fortschritte machen, gelingt es ihnen nicht, den Rückstand zu den Gleichaltrigen ohne Fluchterfahrung aufzuholen.“

Schule: Freude trifft auf strukturelle Hürden

In der Grundschule zeigt sich ein gemischtes Bild: Die überwiegende Mehrheit der geflüchteten Kinder wird altersgerecht eingeschult, viele gehen gern zur Schule und haben Freude am Lernen.
Doch knapp sieben Prozent der Kinder verbleiben in separaten Klassen für Neuzugewanderte – auch dann noch, wenn sie bereits mehrere Jahre in Deutschland leben.

„Das zeigt, dass fehlende Sprachkompetenzen oft zu einer verlängerten Segregation führen“, erklärt Will.
Ein Teufelskreis, wenn nicht frühzeitig gefördert wird.

Weiterführende Schulen: Flucht als Bildungsbruch

Die Situation der älteren Jugendlichen ist noch komplexer. Viele hatten bereits vor der Ankunft in Deutschland eine mehrmonatige oder gar mehrjährige Unterbrechung ihrer Schullaufbahn.

„Oft beginnt der Einstieg hierzulande in niedrigeren Klassenstufen oder weniger anspruchsvollen Schulformen“, so Will.
Zudem sei der Wohnort entscheidend:
„Bildungspolitische Regelungen unterscheiden sich stark zwischen den Bundesländern – das wirkt sich direkt auf die Bildungschancen der Jugendlichen aus.“

Hinzu kommt: Jugendliche aus Familien mit höherem Bildungsniveau und positiver Selbsteinschätzung ihrer Schulleistungen im Herkunftsland schaffen häufiger den Sprung auf ein Gymnasium.


Zwei Bücher – ein Ziel: Geflüchtete Kinder stärken

Ob in der Kita oder in der Flüchtlingshilfe: Wer mit geflüchteten Kindern arbeitet, braucht praktische Ideen, Einfühlungsvermögen und kreative Lösungen. Die erfahrene Pädagogin Regina Grabbet bietet in zwei praxiserprobten Bänden wertvolle Impulse – von Sprachförderung über Spielideen bis hin zum Umgang mit traumatisierten Kindern.

Mit vielen Beispielen aus der Praxis, hilfreichen Tipps und erprobten Methoden – für alle, die geflüchtete Kinder begleiten, unterstützen und integrieren.

Softcover, 14,8 x 21 cm, 112 Seiten, ISBN 9783944548258 und 9783944548265, je 12,95 €


Ukraine: Neue Geflüchtete, andere Voraussetzungen

Lassen sich diese Erkenntnisse auf die Situation der Geflüchteten aus der Ukraine übertragen? Nur eingeschränkt.

„Die Bildungsbiografien dieser Gruppe waren durch die Flucht weniger stark unterbrochen“, erklärt Will.
Zudem habe das Bildungssystem nach der Pandemie besser auf digitale Angebote zurückgreifen können – ein Fortschritt gegenüber 2015. Gleichzeitig stellen sich neue Herausforderungen, etwa durch die stärkere Konzentration von Geflüchteten in bestimmten Städten, was das System regional erneut stark belastet.

Integration als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Was bleibt, ist die klare Erkenntnis: Integration gelingt nicht automatisch – und nicht ohne gezielte politische, pädagogische und gesellschaftliche Unterstützung.

„Die pädagogischen Fachkräfte in Kindergärten und Schulen müssen gezielt unterstützt werden in den Aufgaben, die wir ihnen als Gesellschaft übertragen“, fordert von Maurice. „Sei es durch Weiterbildung, durch bessere Rahmenbedingungen oder durch echte Anerkennung ihrer Arbeit.“

Die Forscherinnen fordern eine strukturelle Stärkung des Bildungssystems – nicht nur für geflüchtete Kinder, sondern für alle:

„Die Gesellschaft in Deutschland wird immer heterogener, und das spiegelt sich in Klassenzimmern und Kitas wider“, so von Maurice. „Eine bessere Ausstattung der Bildungseinrichtungen mit gut qualifiziertem Personal würde nicht nur geflüchteten, sondern allen Kindern und Jugendlichen zugutekommen.“

Hintergrund

Die Studien „ReGES“ und „Bildungswege von geflüchteten Kindern und Jugendlichen“ wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Sie begleiten Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung über mehrere Jahre und untersuchen deren Integration ins deutsche Bildungssystem – von der Kita bis zur Schwelle zum Beruf. Mehr Informationen unter: www.lifbi.de/ReGES und www.lifbi.de/BildungswegeFlucht

Quelle: Iris Meyer/Pressemitteilung Leibniz-Institut für Bildungsverläufe




Mehrsprachige Familien beraten

herder

Kinder, die Zuhause mit einer anderen Erstsprache als Deutsch oder mehrsprachig aufwachsen, begegnen uns im Kita-Alltag immer häufiger. Eltern treten oft mit der Erwartungshaltung an pädagogische Fachkräfte, ihren Kindern solide Sprachkenntnisse des Deutschen zu vermitteln. Die aktuelle Ausgabe von kindergarten heute – Wenn Eltern Rat suchen liefert Ihnen fachliche Grundlagen zum Thema „Mehrsprachige Familien beraten“ und bietet Ihnen Reflexionsfragen, Lösungsansätze und Beratungsimpulse, um mit Eltern aus mehrsprachigen Familien ins Gespräch zu gehen.

Der Aufbau des Heftes folgt dabei einem bestimmten Aufbau:

  • Praktisches Beispiel aus dem Kita-Alltag
  • Vermittlung fachlicher Grundlagen zum Thema
  • Analyse des Fallbeispiels & Vermittlung von Lösungsansätzen und Beratungsimpulsen

Verstehen und fördern: Mehrsprachigkeit in der Familie – Das Fallbeispiel Horvat

Herr und Frau Horvat haben sich bewusst dafür entschieden, innerhalb ihrer Familie Kroatisch zu sprechen. Auch ihre Tochter Elena (4 Jahre) soll mit der Sprache ihrer Herkunftsfamilie ihre kroatischen Wurzeln bewahren. Seit Kurzem besucht Elena eine Kita, in der sie Deutsch lernt. Doch die Mutter sorgt sich um die Sprachentwicklung ihrer Tochter und hat den Eindruck, dass sie zu langsam fortschreitet. Als sie erfährt, dass Elena mit anderen kroatisch sprechenden Kindern in der Kita in ihrer Familiensprache kommuniziert, ist sie empört und verunsichert. Ihrer Ansicht nach sollte Elena in der Kita ausschließlich Deutsch sprechen, um für die Grundschule fit zu sein.

Fachliche Grundlagen vermitteln

Mehrsprachigkeit verzögert nicht die Sprachentwicklung, macht Kinder nicht anfälliger für Entwicklungsstörungen und führt nicht zwangsläufig zu Fehlern in der Grammatik. In den fachlichen Grundlagen erhalten Fachkräfte eine klare Definition von Mehrsprachigkeit und erfahren, welche Faktoren eine gelingende Mehrsprachigkeit begünstigen.

Analyse des Fallbeispiels

In der Reflektion wird deutlich, dass Frau Horvat durch ihre eigenen Erfahrungen mit der deutschen Sprache und ihre Sorge um die Integration ihrer Tochter beeinflusst wird. Elena macht bereits Fortschritte im Deutschen, fühlt sich sicher und gesehen – vor allem, wenn sie ihre Erstsprache nutzen kann, um eine Brücke zum Deutschen zu schlagen. Diese Unterstützung stärkt ihr Selbstvertrauen und ihre Identität.

Lösungsansätze für Fachkräfte

Um Eltern wie Frau Horvat zu unterstützen, ist Aufklärungsarbeit essenziell: Erklären Sie, dass Kinder Zweitsprachen viel leichter lernen als Erwachsene. Gehen Sie auf die individuelle Sprachbiografie der Eltern ein und betonen Sie die Bedeutung der Erstsprache für die Identitätsentwicklung. Zeigen Sie konkrete Tipps auf, wie Eltern aktiv in die Sprachbildung eingebunden werden können und welches Mehrsprachigkeitsmodell am besten zur jeweiligen Familie passt.




Erziehungspartnerschaft statt Elternbelehrung: Dialog auf Augenhöhe

Gemeinsames Ziel: das Kindeswohl stärken – durch vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Kita

Vielleicht kennen elementarpädagogische Fachkräfte, sofern sie Eltern sind und ihre eigenen Kinder in einer Kindertagesstätte untergebracht hatten bzw. haben, bestimmte Situationen, die ihnen wenig angenehm waren. Gespräche mit den Erzieher*innen waren eher belehrend aufgebaut, häufig war ein erhobener Zeigefinger zu spüren, Erwartungen wurden formuliert, ohne dass die individuelle Lebenssituation bekannt war oder berücksichtigt wurde. Und so hatte man als Elternteil fast schon ein schlechtes Gewissen, wenn die Leitungskraft um ein Elterngespräch bat. Eine Erziehungspartnerschaft fordert einen Paradigmenwechsel: vom Monolog zum Dialog und von einer einseitigen Belehrung hin zu einem gemeinsamen, zugewandten Gespräch, gekennzeichnet durch ein gegenseitiges Informationsinteresse.

Kindheitspädagog*innen und Eltern tragen zur Entwicklung bei

Kinder – das ist bekannt – entwickeln schon in ihrem pränatalen Stadium und weiter in den ersten Lebensjahren ihre individuelle Persönlichkeitsstruktur. Dabei läuft ihre Entwicklung nicht nur nach einer stringenten, inneren Abfolge von dispositionalen, vorgegebenen Entwicklungsschritten ab. Vielmehr wirkt sich die von ihnen erlebte Umgebung mit den ungezählten Einflussfaktoren auf die Art und Weise der ‚Formung’ bzw. Ausprägung ihrer Entwicklungsprozesse aus, wobei sowohl die familiären, kulturellen und wohnortspezifischen Einflüsse und die Einflüsse der Institution „Kindertagesstätte“ mit ihren besonderen Struktur- und Prozessbedingungen als auch die Entwicklungsbegleiter*innen (= Kindheitspädagog*innen) in beiderseitiger Größe einen Einfluss auf das Entwicklungsgeschehen der Kinder haben.


Der Beruf Erzieher*in: Schlüsselrolle für kindliche Entwicklung

Erzieher*innen sind weit mehr als Betreuungspersonen – sie begleiten Kinder in einer entscheidenden Lebensphase. Dieses Buch beleuchtet die zentrale Bedeutung ihres Berufs vor dem Hintergrund aktueller Erkenntnisse aus Entwicklungspsychologie, Bildungs- und Resilienzforschung.

Es vermittelt praxisnahe Impulse zur professionellen Haltung, zur Bedeutung der eigenen Persönlichkeit und zur Selbstreflexion. Für angehende und erfahrene Fachkräfte, die Kinder stärken und ihre Arbeit bewusst gestalten wollen.


Softcover, 176 Seiten, 21,0 x 14,8 cm, ISBN: 9783963046155, 22 €


Von der Elternbelehrung zur Partnerschaft

Auf der einen Seite bestimmt der gesetzlich verankerte, eigenständige „Erziehungs-, Betreuungs- und Bildungsauftrag“ für Kindertageseinrichtungen (in Verbindung mit den länderspezifischen Kindertagesgesetzen, Bildungsgrundsätzen und trägerspezifischen Richtlinien, Verordnungen etc.), welche Ziele und Aufgaben Kindheitspädagog*innen zu leisten haben. Auf der anderen Seite bringen die Familien, die ihr(e) Kind(er) in die Kita bringen, ihre einmalige, ganz persönliche Biografie mit. So treffen auf diese Weise – von Anfang an – zwei „Welten“ aufeinander, die es zu verbinden gilt. Eine solche Verbindung kann aber nur geschehen und von Erfolg gekrönt sein, wenn Kindheitspädagog*innendie innerlich verankerte Bereitschaft an den Tag legen,

(a) sich selbst als permanent Lernende zu verstehen,
(b) ein großes Interesse an den Lebensverhältnissen der Familien zeigen,
(c) Professionalität und Humanität im Alltagsgeschehen und dies im Umgang mit den Familien sowie den Kindern miteinander verbinden,
(d) Partizipation der Familien und der Kinder zu einem festen Bestandteil ihrer Interaktion erklären,
(e) ihre Arbeitsweise, Aufgaben und Ziele transparent machen sowie
(f) ihr profundes Wissen aus den Bereichen der Entwicklungspsychologie/-pädagogik, Bindungsforschung und Bildungswissenschaft gleichzeitig in eine zugewandte Gesprächsführung einbauen, so dass Familien die gepflegte Kommunikation als eine Bereicherung erleben können.

Partnerschaft auf Augenhöhe Damit stellt eine Erziehungspartnerschaft ein hohes Gut für beide Seiten dar, von denen das „Kind im Mittelpunkt“ gleichermaßen profitiert.

Verzicht auf Überlegenheit

Kam es in einer funktional gestalteten „Elternarbeit“, wie sie in vergangener Zeit (und teilweise auch heute noch) üblich war bzw. ist, zu einer Erwartungskollision, weil den Elternteilen institutionelle/pädagogische Ziele vorgestellt und ihnen damit existierende Erwartungen übergestülpt wurden, geht eine Erziehungspartnerschaft einen anderen Weg. Durch das intensive und damit authentisch vorhandene Interesse der Kindheitspädagoginnen,

(a) Familien an ihren ziel- und aufgabenorientierten Schwerpunkten teilhaben zu lassen,
(b) ihnen den besonderen Bedeutungswert ihres beruflichen Selbstverständnisses sowie
(c) ihre kurz-, mittel- und langfristigen Aufgaben zu verdeutlichen und mit Zeit und in Ruhe vorzustellen,

entspricht es einer partnerschaftlichen Sichtweise, Familien genügend Raum und Platz zu lassen, den geäußerten Überlegungen beizupflichten oder selbstverständlich auch Kritik zu äußern, (Nach-)Fragen zu stellen, eigene Überlegungen einzubringen, neue Vorschläge (beispielsweise bei einer Zielfindung) zu unterbreiten, selbstverständlich auch Unmut zu äußern oder ihr Unverständnis über bestimmte Tatsachen auszudrücken. Hier liegt es eindeutig auf der Seite der Kindheitspädagogin, immer wieder für eine entspannte Kommunikationsatmosphäre zu sorgen, die es auch ermöglicht, aus einem schwierigen, verhärteten, festgefahrenen oder konfrontativen Interaktionsprozess erneut zu einem zielführenden Gesprächsverlauf zurückzufinden, um letztlich ergebnisorientiert voranzukommen.

Begriffe neu denken

Schaut man in bisherige Buchinhalte und Fachartikel zur Erziehungspartnerschaft, trifft man einerseits auf immer dieselben Begriffe, in denen es nahezu plakativ (d.h. lediglich stichwortartig und damit nicht ausführlich genug) um solche Aussagen wie „Prozessorientierung ist der Weg“ / „Toleranz zeigen“ / „Gleichberechtigung realisieren“ / „Eltern müssen ernst genommen werden“ / „Radikalen Respekt für Verschiedenheit aufbringen“ usw. geht. Nun: Eine Prozessorientierung kann ohne eine klare Zieldefinition sehr schnell auf einen Nebenweg mit einem anderen Ziel führen. Eine solche Aussage ähnelt der einer Selbsterfahrungsteilnehmer*in, die nach ihrem aktuellen Entwicklungsvorhaben gefragt wurde und mit der Aussage: „Das kann ich nicht genau sagen: Ich befinde mich nämlich gerade in einem Prozess.“ geantwortet hat.

Gleichwertigkeit statt Gleichberechtigung

Das Wort ‚Toleranz’ kommt aus dem Lateinischen ‚tolerare’ und bedeutet übersetzt so viel wie ‚ertragen’. Dabei wird oftmals übersehen, dass „etwas ertragen“ immer mit einem eigenen Unmut, mit einer offenen oder unterdrückten Zurückhaltung zu tun hat und im Widerspruch zur ‚Akzeptanz’ (der authentischen Annahme) steht. Eine ‚Gleichberechtigung’ kann es zwischen Kindheitspädagoginnen und Familienmitgliedern nicht geben, denn das würde beispielsweise bedeuten, dass auch Familienmitglieder die Art und Weise der Arbeit, die konzeptionelle Ausrichtung, die Bildungsinhalte oder pädagogischen Vorhaben gleichberechtigt mitbestimmen könnten, auch im Gegensatz zu bestehenden Richtlinien oder ggf. humanistisch geprägten Werten. Und worin läge beispielsweise der Bedeutungswert einer qualifizierten Ausbildung von Kindheitspädagoginnen, wenn Familien die Ausrichtung der Arbeit vorgeben könnten? So ist stattdessen der Begriff „Gleichwertigkeit als Person“ sicherlich weitaus angebrachter, weil eine Erziehungspartnerschaft durch eine Kommunikation auf „gleicher Augenhöhe“ gekennzeichnet ist.

Eltern ernst nehmen ist eine Selbstverständlichkeit

Dass „Eltern ernst genommen werden müssen“ ist doch eine Selbstverständlichkeit – wer dies als Kennzeichen einer ‚Erziehungspartnerschaft’ hervorhebt, drückt damit auch aus, dass dies bei einer ‚Elternarbeit’ offensichtlich nicht stattgefunden hat. An dieser Stelle würden elementarpädagogische Fachkräfte, die bisher eine solche qualitätsorientiert umgesetzt haben, sicher (auch zu Recht) protestieren. Die Forderung nach einem „radikalen Respekt für Verschiedenheit“ ist in dieser generellen Formulierung nur schwer bzw. gar nicht nachzuvollziehen. Hätten Sie einen ‚radikalen Respekt’ vor Elternteilen oder Fachkräften, die Kinder schlagen, zum Essen zwingen, der Lächerlichkeit preisgeben, in Ohnmachtssituationen bringen, mit einem Bildungsangebot nach dem anderen konfrontieren oder in großen Gefahrensituationen alleine lassen, um sie auf diese Weise „stark“ zu machen?

Eltern sind keine Experten für Kinder

Doch eine immer wiederkehrende Aussage darf (und muss!) mehr als deutlich infrage gestellt werden, wenn es immerzu heißt: „Eltern sind Experten für ihre Kinder“ bzw. „… sind Erziehungsexperten.“ Nun: Experten, egal welcher Ausrichtung, haben immer eine langjährige Ausbildung, haben diverse Zusatzqualifikationen erfolgreich absolviert, haben (bezogen auf die Bereiche Pädagogik / Psychologie) Selbsterfahrung auf sich genommen und eine permanente Persönlichkeitsreflexion zum festen Bestandteil ihrer Professionalität erklärt. All das bringen Erziehungsberechtigte in der Regel nicht mit. Deshalb passt die Aussage besser, dass Eltern im Rahmen einer kindeswohlorientierten und langfristig gepflegten Erziehungspartnerschaft schrittweise zu Expertinnen und Experten für die Entwicklung ihres Kindes werden können.

Merkmale gelebter Partnerschaft

Kindheitspädagog*innen, deren Ziel es ist, eine gelebte Erziehungspartnerschaft herzustellen bzw. weiterhin zu pflegen, können dies nur erreichen, wenn sie vor allem folgende Qualitätsmerkmale in ihrer Alltagspädagogik umsetzen:

• Zunächst geht es um eine für alle positiv erlebte Atmosphäre, die sich durch Freundlichkeit, Zugewandtheit, Aufmerksamkeit, Interesse an den Freuden / Ängsten / Sorgen und Nöten der Menschen auszeichnet. Das fängt mit der täglichen Begrüßung der Team- / Familienmitglieder und des Kindes an und endet mit der persönlichen Verabschiedung aller. Dadurch erleben und erfahren Kolleg*innen und Eltern einen besonderen Bedeutungswert, der ihnen zeigt, dass sie in der Kita eine gewichtige Rolle innehaben.
• Kindheitspädagog*innen haben sich als Motor der Beziehungspflege zu verstehen und können diese Aufgabe nicht von Familienangehörigen erwarten. Schuldzuweisungen wie „Die Eltern wollen gar nicht kommen“ oder „Die Eltern haben kein Interesse an unserer Arbeit“ müssen in die Fragestellung umgedeutet werden wie beispielsweise: „Was müssen wir tun und was haben wir in der Vergangenheit übersehen, dass sich Eltern nicht willkommen gefühlt haben, fernbleiben oder mit Konfrontationen reagieren?“
• Professionelles Verhalten – angefangen von einer qualitätsorientierten Gesprächsführung (bestenfalls mit einer Weiterbildung in ‚Beratungspsychologie’) über eine vorhandene Konfliktkompetenz bis zu einem profunden Fachwissen, eingebettet in eine freundliche Umgangskultur – ist die Grundlage, um eine bisherige ‚Elternarbeit’ in eine Erziehungspartnerschaft zu wandeln bzw. eine solche zu pflegen.
• Der ‚Dreiklang’ einer Erziehungspartnerschaft (die Familie – das Kind mit seinen Entwicklungsrechten und Grundbedürfnissen – die Kindheitspädagog*in als Impulsgeber*in, Berater*in, Unterstützer*in) – setzt voraus, dass Kindheitspädagog*innen sowohl eine Sensibilität für aktuelle Elternbedürfnisse als auch für ein situationsorientiertes Handeln besitzen, um möglichst punktgenaue Aktivitäten zu planen und umzusetzen.
• Zur Umsetzung eines erziehungspartnerschaftlichen Umgangs miteinander gehört eine breite Kenntnis der Lebensbedingungen der Familie, ihrer Werte und Normen, ihrer Weltsichtweise sowie ihrer Erziehungsvorstellungen, um diese zu verstehen und bei der Beziehungspflege zu berücksichtigen.
• Eine Erziehungspartnerschaft zeigt sich unter anderem durch – zumindest kurze – freundlich geführte Tür- und Angelgespräche, lebendige und spannende Elternabende, interessante Elternbriefe, gemeinsame Feiern, ein offenes Ohr für Beschwerden, einen periodisch stattfindenden Elternstammtisch, wenn möglich ein Elterncafé (etwa bei fehlenden Räumlichkeiten in einem geschmackvoll eingerichteten Bauwagen für Elterntreffs), gemeinsame Aktivitäten (auch mit Kindern) in der Kita, gemeinsame Aktionen (auch außerhalb der Kita), dem Besprechen von Beobachtungen und Entwicklungsberichten sowie in einer Unterstützung bei besonderen Fragestellungen und – falls nötig und erwünscht – Hinweisen auf weiterführende Hilfen.
• Einmal pro Jahr ausgelegte, anonymisierte Fragebögen zu bestimmten Bereichen (etwa die Eigenbeteiligungsmöglichkeit betreffend, die Mitsprache, die erlebte Atmosphäre, das Aufgreifen von Ideen und Vorschlägen, die Weitergabe von Informationen, die Transparenz der Arbeit, eine ausreichende Zeit für Gespräche, Gestaltung der Räume, Engagement der Kindheitspädagog*innen …) und zum Grad einer (Un-)Zufriedenheit geben Eltern die zusätzliche Möglichkeit, ihre Meinung kundzutun und Veränderungswünsche zu formulieren.

Literatur:

Albers, Timm + Ritter, Eva: Zusammenarbeit mit Eltern und Familien in der Kita. Reinhardt Verlag, 2015
Dusolt, Hans: Elternarbeit als Erziehungspartnerschaft. Ein Leitfaden für den Vor- und Grundschulbereich. Beltz Verlag, 4. Aufl. 2018
Gerth, Andrea: Auf dem Weg zur Erziehungspartnerschaft. Lern- und Arbeitsbuch für Kindergartenteams. Verlag das netz, 2007
Schlösser, Elke: Zusammenarbeit mit Eltern – interkulturell. Informationen und Methoden zur Kooperation mit Eltern mit und ohne Migrationserfahrung in Kita, Grundschule und Familienbildung. Ökotopia Verlag, 4. Edition 2017
Textor, Martin: Bildungs- und Erziehungspartnerschaft in Kindertageseinrichtungen. Books on Demand, 2. Edition 2014
Woll, Rita: Partner für das Kind. Erziehungspartnerschaften zwischen Eltern, Kindergarten und Schule. Vandenhoeck & Ruprecht, 2008

Armin Krenz, Prof. h. c. et Dr. h. c., Honorarprofessor a. D., Wissenschaftsdozent für Elementar- und Entwicklungspädagogik / Entwicklungspsychologie; Email: armin.krenz@web.de




Einsamkeit bei Kindern: Schon Fünfjährige fühlen sich häufig allein

Neue Daten des Deutschen Jugendinstituts weisen darauf hin, dass auch Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren Einsamkeit erleben

Einsamkeit beginnt oft früher, als viele denken. Laut aktuellen Auswertungen des Deutschen Jugendinstituts (DJI) fühlt sich mehr als jedes fünfte Kind im Kindergarten- oder Grundschulalter zumindest gelegentlich einsam. Die Daten stammen aus dem Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A), der im Jahr 2023 über 2.100 Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren befragte.

In persönlichen, kindgerecht gestalteten Interviews berichteten 17 Prozent der Kinder, dass sie sich in der Woche vor der Befragung manchmal allein gefühlt hätten. Weitere fünf Prozent gaben an, dieses Gefühl häufig oder ganz oft zu haben. Damit zeigt sich: Einsamkeit ist nicht nur ein Thema für Jugendliche oder ältere Erwachsene, sondern betrifft bereits viele Kinder in der Grundschule.

Familiäre Veränderungen erhöhen das Risiko

Die Auswertungen zeigen deutliche Unterschiede je nach familiärer Lebensform. Kinder aus Trennungs- oder Stieffamilien berichten besonders häufig von Einsamkeit. Während 22 Prozent der Kinder aus sogenannten Kernfamilien von Einsamkeitserfahrungen berichten, steigt dieser Anteil bei Kindern, die bei nur einem Elternteil leben, auf 28 Prozent. In Stieffamilien liegt er sogar bei 34 Prozent.

„Eine elterliche Trennung bedeutet für Kinder eine tiefgreifende Veränderung ihrer Lebenswelt“, erklärt Dr. Alexandra Langmeyer, die gemeinsam mit Dr. Christine Entleitner-Phleps die Daten analysiert hat. „Das kann sich negativ auf ihr Wohlbefinden auswirken und Einsamkeit begünstigen.“

Materielle Belastung wirkt sich spürbar aus

Auch die wirtschaftliche Situation im Elternhaus spielt eine Rolle. Kinder, die in Haushalten mit materiellen Einschränkungen leben – also in jenen Familien, die sich notwendige und für den üblichen Lebensstandard charakteristische Ausgaben nicht oder kaum leisten können – berichten bis zu 29 Prozent über Einsamkeit. In Familien ohne solche Einschränkungen liegt der Anteil bei 21 Prozent.

„Wenn Teilhabechancen fehlen und die Stimmung in der Familie durch Geldsorgen belastet ist, kann sich das auf die soziale und emotionale Entwicklung von Kindern auswirken“, so die Studienautorinnen.

Auffälliges Verhalten und Einsamkeit: ein wechselseitiger Zusammenhang?

Die Auswertung zeigt außerdem einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Verhaltensauffälligkeiten. Kinder, die von ihren Eltern im SDQ (Strengths and Difficulties Questionnaire) als auffällig eingeschätzt wurden, fühlen sich deutlich häufiger einsam als Kinder mit unauffälligem Verhalten. 25 Prozent der auffällig eingeschätzten Kinder berichten von gelegentlicher Einsamkeit, neun Prozent sogar von häufigem Alleinsein. Zum Vergleich: Bei Kindern mit unauffälligem Verhalten liegen die Werte bei 17 beziehungsweise fünf Prozent.

Ob Einsamkeit eher Folge oder Ursache von Verhaltensproblemen ist, bleibt offen. „Mit den vorliegenden Daten lassen sich keine eindeutigen Rückschlüsse ziehen“, erklärt Langmeyer. Sie und Entleitner-Phleps plädieren für längsschnittliche Studien, die den Lebensverlauf von Kindern über einen längeren Zeitraum begleiten, um solche Fragen klären zu können.

Hintergrund: AID:A-Survey und Aktionswoche gegen Einsamkeit

Die Daten stammen aus dem Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A), den das DJI regelmäßig durchführt. Die Veröffentlichung der Ergebnisse erfolgte im Rahmen der Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend initiiert wurde. Sie zielt darauf ab, Einsamkeit als gesamtgesellschaftliches Thema sichtbar zu machen – auch in frühen Lebensphasen.

Kontakt:
Dr. Alexandra Langmeyer
Leitung der DJI-Fachgruppe „Lebenslagen und Lebenswelten von Kindern“
E-Mail: langmeyer@dji.de

Gernot Körner




Wo die Suche nach einer Kita am schwierigsten ist

Untersuchung der Kita-Situation in den 54 größten Städten Deutschlands offenbart große Unterschiede

Schon seit zehn Jahren haben Kinder ab dem ersten Lebensjahr rechtlichen Anspruch auf einen Kitaplatz. Viele Eltern haben dennoch Schwierigkeiten, eine Kita für die eigenen Kinder zu finden. Eine neue IW-Studie zeigt: Die Versorgung unterscheidet sich stark je nach Stadt. Für 54 der größten Städte Deutschlands haben die Forscher mithilfe von Geo-Daten nicht nur die Kita-Zahl untersucht, sondern auch, wie viele tatsächlich erreichbar sind und berücksichtigt, ob die Kitas in kinderreichen oder kinderarmen Stadtteilen liegen.

Am besten schneidet Heidelberg ab. Hier kommen im Stadtdurchschnitt (gewichtet nach Zahl der Kinder im Quartier) auf eine erreichbare Kita rund 61 Kinder im Alter bis sechs Jahren. In der zweitplatzierten Kommune Ulm sind es schon 71 Kinder, in Frankfurt am Main 72. Besonders schlecht versorgt sind neben Krefeld (166 Kinder) die Ruhrgebietsstädte Gelsenkirchen (165), Duisburg (159), Essen (154) und Oberhausen (133).

Besonders schlechte Versorgung in sozialschwachen Stadtteilen

Auch innerhalb der Städte sind die Unterschiede groß: In wohlhabenden Vierteln ist das Kita-Angebot spürbar besser. Dort gibt es etwa ein Drittel mehr Einrichtungen als in prekären Stadtteilen. Auffällig: Öffentliche Kitas sind in beiden Bereichen ähnlich häufig vertreten. Die Unterschiede entstehen durch (öffentlich-geförderte) Kitas in freier Trägerschaft. Von Kitas mit konfessionellen Trägern werden wohlsituierte Stadtteile rund 20 Prozent besser versorgt als der Stadtdurchschnitt, während die sozialschwächsten Viertel 13 Prozent schlechter versorgt sind. Auch andere gemeinnützige Anbieter konzentrieren sich stärker auf besser gestellte Wohngebiete.

Bildungschancen hängen vom Wohnort ab

In Westdeutschland wäre die Ungleichheit sogar noch größer, wenn öffentliche Kitas nicht häufiger in ärmeren Stadtteilen angesiedelt wären. Trotzdem seien die Ergebnisse besorgniserregend: „Dort, wo frühkindliche Bildung am dringendsten gebraucht wird und am meisten hilft, ist sie am rarsten“, sagt IW-Ökonomin Melinda Fremerey. „Die enorme Ausweitung an Kita-Betreuungsinfrastruktur hat uns dem Versprechen gleicher Bildungschancen nicht nähergebracht“, fügt Studienautor Matthias Diermeier hinzu. Dazu müsste der Kita-Ausbau besonders in prekären Stadtteilen forciert werden. Helfen könnten zudem eine bessere Steuerung freier Träger sowie eine Unterstützung von Elterninitiativen in sozial schwächeren Stadtteilen. 

Zur Methodik: Die Autoren haben Geo-Daten von 66.355 Kitas deutschlandweit erhoben und für 54 Großstädte ausgewertet. Erfasst wurden öffentliche, konfessionelle und sonstige gemeinnützige Träger. Die Erreichbarkeit wurde auf Basis der Fahrtzeit per Pkw innerhalb von fünf Minuten vom jeweiligen Stadtteilmittelpunkt berechnet. Für alle Ergebnisse wurden die Quartiere anhand der Anzahl dort gemeldeter Kinder gewichtet.

Pressemitteilung: Dr. Matthias Diermmeier/Dr. Melinda Fremerey/Jan Felix Engler – Institut der Deutschen Wirtschaft




Fachverbände kritisieren Kita-Aufruf „Kita-Kindeswohl-im-Blick“ scharf

Fehldarstellungen des Aufrufs würden rechte Strömungen begünstigen und Unsicherheit bei Eltern und Pädagog*innen schüren

Mehrere wissenschaftliche Fachverbände der frühen Kindheit kritisieren den Aufruf „Kita-Kindeswohl-im-Blick“ eines nicht näher benannten Aktionsbündnisses, vertreten von Veronika Verbeek, scharf. Der Aufruf nutze verkürzte, irreführende, wissenschaftlich unhaltbare und falsche Darstellungen, die Verunsicherung bei Fachkräften und Eltern schürten. „In der Begleitung von Kitas erleben wir, wie pädagogische Teams auf wissenschaftlicher Basis qualitätsvolle Kita-Praxis gestalten und sich weiterentwickeln – unbelegte Pauschalkritik wie der Aufruf von Frau Verbeek verunsichert Eltern, entwertet die Arbeit der Fachkräfte und behindert eine konstruktive Weiterentwicklung der frühen Bildung“, sagt Anne-Katrin Pietra, zweite Vorsitzende des Bundesnetzwerks Fortbildung und Beratung in der Frühpädagogik e.V.. Durch pauschalisierende Kritik an Krippenbesuchen und der undifferenzierten Forderung nach „mehr Anleitung von Kindern“ in Kindertageseinrichtungen biete er rechten Strömungen eine Plattform für autoritäre Pädagogik.

Plattform für autoritäre Pädagogik

Die im Aufruf geäußerten Positionen, die sich auf Verbeeks Buch „Die neue Kindheitspädagogik“ stützen, stellen aus Sicht der Fachverbände einen nicht haltbaren Rückschritt dar und untergraben die seit über zwei Jahrzehnten etablierte wissenschaftliche Expertise und reflektierte Vielfalt in der Pädagogik der frühen Kindheit im deutschsprachigen Raum. Die angesprochenen Themen seien bereits seit langem Gegenstand eines differenzierten wissenschaftlichen Diskurses und würden im kontinuierlichen Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis mit Studien belegt und weiterentwickelt.

Kinder gestalten ihre Entwicklung aktiv mit

„Kinder gestalten ihre Entwicklung aktiv mit. Sie brauchen auch in Kindertageseinrichtungen Freiräume für selbstbestimmtes Lernen und eigenverantwortliches Handeln“, betont Prof. Dr. Jens Kaiser-Kratzmann, Vorsitzender der Kommission Pädagogik der frühen Kindheit der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (PdfK/DGfE).

Demokratische Bildung von Anfang an fördern

„Ein Bildungsverständnis, das Kinder in ihren Interessen ernst nimmt und zugleich eine verantwortungsvolle Gestaltung der Rahmenbedingungen sichert, fördert demokratische Bildung von Anfang an“, ergänzt Prof. Dr. Christian Widdascheck, der an der Alice Salomon Hochschule Berlin elementare ästhetische Bildung lehrt und Mitglied des Sprecher_innenrats des Studiengangstags Pädagogik der Kindheit ist.

Reaktion mit Ad-hoc-Stellungnahme auf wissenschaftlicher Basis

Als Antwort haben die Fachverbände eine Ad-hoc-Stellungnahme veröffentlicht. Wissenschaftlich fundiert, mit zahlreichen Studien und Quellen, stellt sie eine Klarstellung zu zentralen Themen der frühen Bildung in Kindertageseinrichtungen dar. „Das System der Kindertageseinrichtungen braucht gegenwärtig nicht weitere Verunsicherung, sondern konstruktiven, fachlich versierten und differenzierten Diskurs für seine Weiterentwicklung“ betont Prof. Dr. Tina Friederich, Bundesarbeitsgemeinschaft Bildung und Erziehung in der Kindheit e.V.. Besonders wichtig sind hier bessere strukturelle Rahmenbedingungen, um bestehende Erkenntnisse wirksam in eine qualitativ hochwertige Praxis umzusetzen.

Unterzeichnende Organisationen

Kommission Pädagogik der frühen Kindheit in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft
Bundesarbeitsgemeinschaft Bildung und Erziehung in der Kindheit e.V.
Kindheitspädagogischer Studiengangstag Pädagogik der Kindheit
Bundesnetzwerk Fortbildung und Beratung in der Frühpädagogik e.V.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Tina Friederich, Katholische Stiftungshochschule München, tina.friederich@ksh-m.de; Prof. Dr. Christian Widdascheck, Alice Salomon Hochschule Berlin, widdascheck@ash-berlin.eu

Susann Richert, Alice Salomon Hochschule Berlin




Fachkräftelücke in der Kinderbetreuung und -erziehung am größten

leerstuhl

Arbeitsmarkt: In welchen Berufen die meisten Fachkräfte fehlen

Trotz der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung bleibt die Fachkräftesituation in Deutschland angespannt. Besonders in den Gesundheits- und Sozialberufen sowie im Handwerk ist der Bedarf an qualifizierten Fachkräften groß, zeigt eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).

Bundesweit fehlen mehr als 530.000 qualifizierte Arbeitskräfte. Das spüren auch die Verbraucher immer mehr im Alltag – beispielsweise bei den Wartezeiten für einen Termin in der Autowerkstatt. Denn auch wenn die Fachkräftelücke zuletzt aufgrund der Wirtschaftskrise um fast 13 Prozent zurückgegangen ist, fällt es vielen Unternehmen schwer, passend qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Rein rechnerisch blieben zwischen Juli 2023 und Juni 2024 vier von zehn offenen Stellen unbesetzt, zeigt eine neue IW-Studie.

Fachkräftelücke in der Kinderbetreuung und -erziehung am größten

Die meisten Fachkräfte fehlen derzeit in der Kinderbetreuung und -erziehung. Zuletzt blieben dort mehr als 21.000 offene Stellen unbesetzt. Hinzu kommt, dass bundesweit etwa 300.000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren fehlen. Die Folge: Viele Eltern müssen ihre Kinder selbst betreuen und daher ihre Arbeitszeit reduzieren.

Auch in den Elektro- und Handwerksberufen ist die Fachkräftelücke groß. In der Bauelektrik fehlen mehr als 18.000 Fachkräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung, was zu verzögerten Bauvorhaben führt. Auch im Maschinenbau wird trotz verringerter Auftragslage händeringend nach Personal gesucht. So fehlen in der elektrischen Betriebstechnik fast 14.000 Fachkräfte, in der Maschinenbau- und Betriebstechnik sind es mehr als 12.500.
Fachkräftesicherung noch aktiver gestalten

Die Politik muss weitere Stellschrauben betätigen, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Sie kann erstens Beschäftigte ohne berufliche Qualifikation aus- und weiterbilden und zweitens Anreize schaffen, damit ältere Beschäftigte über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten.

Auch die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland muss die Bundesregierung weiter erleichtern: „Das neuaufgelegte Fachkräfteeinwanderungsgesetz bietet gute Wege. Diese Chance muss jetzt genutzt werden“, sagt IW-Ökonom Jurek Tiedemann. „Zudem muss die Politik dringend die bürokratischen Hürden bei der Visavergabe und der Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen reduzieren.“



Quelle: Pressemitteilung Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V.




Bundesweit fehlen über 300.000 Krippenplätze

Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft findet jedes siebte Kind unter drei Jahren findet keinen Kitaplatz

Seit mehr als zehn Jahren gibt es für Kinder ab dem ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Doch noch immer gelingt es der Politik nicht, die Vorgabe zu erfüllen: Im Frühjahr 2024 gab es bundesweit für 306.000 Kinder unter drei Jahren mit einem Betreuungsbedarf keinen Platz. Das zeigen IW-Berechnungen auf Basis von Daten des Statistischen Bundesamts und des Familienministeriums.

Versorgungslage im Osten am besten

Besonders schlecht ist die Lage in Westdeutschland: In Bremen gibt es für beinahe jedes vierte Kind (23,9 Prozent) keinen Platz, in Nordrhein-Westfalen ist der Anteil auf 18,6 Prozent der unter Dreijährigen gestiegen. Anders im Osten, dort gibt es nur für 7,6 Prozent der Kinder keinen Betreuungsplatz. Beim Spitzenreiter Mecklenburg-Vorpommern sind es sogar nur 3,9 Prozent. Allerdings ist die Lage dort eine andere: Gegenüber dem Jahr 2016 sind die Geburten in den neuen Bundesländern um 25 Prozent zurückgegangen (Westen: 9,6 Prozent). In den kommenden Jahren könnte es deshalb dort sogar ein Überangebot geben.

Bedarf im Westen bleibt hoch

„Im Osten muss die Politik schon heute darüber nachdenken, das Betreuungsangebot zu reduzieren“, sagt IW-Bildungsexperte Wido Geis-Thöne. Im Westen dürfte der Bedarf hingegen auf absehbare Zeit hoch bleiben, die dortigen Länder und Kommunen müssen den Ausbau deutlich forcieren. „Der Mangel an Kitaplätzen ist ein politisches Armutszeugnis. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist immer noch in weiten Teilen der Bundesrepublik stark eingeschränkt“.

Wido Geis-Thöne (IW)