Mehr Digitalisierung, aber weiter weniger Spiel- und Erholungsräume
Wie hat sich Kindheit in den vergangenen 30 Jahren verändert? Bei der Antwort auf diese Frage, fallen vielen die digitalen Geräte und Spielzeuge in den Haushalten und im Kinderzimmer auf. Diese tragen sicher dazu bei, dass sich Kinder heute mehr zuhause aufhalten. Eine weitere Veränderung hat aber auch vor der Haustür stattgefunden.
Erst mit elf Jahren unbeaufsichtigt draußen
So haben britische Wissenschaftler festgestellt, dass Kinder heute meist erst mit elf Jahren unbeaufsichtigt auf der Straße spielen dürfen. Ihre Eltern duften das in ihrer Kindheit schon zwei Jahre früher, also mit neun Jahren. Fast 2000 Eltern von fünf- bis elfjährigen Kindern haben die Experten für die „British Children’s Play Survey“ befragt. Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler rund um die Kinderpsychologin und Studienleiterin Helen Dodd von der Universität Reading lautet: Heute erhalten Kinder deutlich seltener die Möglichkeit, sich bereits in jungen Jahren mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Die führe dazu, dass Kinder später Risiken und Gefahren nicht so gut einschätzen könnten wie frühere Generationen. Wer als Kind nur selten draußen unterwegs sei, der leide bald auch psychisch. Experten nehmen an, dass diese genauso für den deutschsprachigen Raum gilt.
Gestiegenen Unfallgefahren durch Radfahrer und Scooter
Als Grund für die Zurückhaltung, Kinder allein, unbeaufsichtigt auf die Straße zu lassen, nennen viele Eltern die zunehmenden Gefahren auf den Bürgersteigen. So hat in den vergangenen Jahren der Verkehr auf den Gehsteigen durch Fahrradfahrer und Scooter enorm zugenommen. Gerade für unbeschwerte Kinder oder schwerfälligere Senioren ist die Unfallgefahr dadurch massiv gestiegen. Selbst in Parks haben die Kinder im Gegensatz zu früheren Generationen eine erheblich höhere Unfallgefahr.
Weniger Spielräume
Zudem schwinden in den Städten durch die innerstädtische Verdichtung auch die Spielräume für Kinder. Und auch hier spielt auch das soziale Gefälle eine große Rolle. In der Studie „Eine Stadt – getrennte Welten“ haben Prof. Dr. Marcel Helbig und Katja Salomo vom Wissenschaftszentrum für Berlin (WZB) in sieben deutschen Großstädten (Berlin, Dortmund, Erfurt, Hamburg, Leipzig, Nürnberg und Saarbrücken) untersucht, wie sich Umweltbedingungen, Bebauung und infrastrukturelle Ausstattung kleinräumig verteilen. Herausgegeben haben die Studie die Heinrich-Böll-Stiftung, das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW).
Ärmere Kinder stärker belastet
Einige Ergebnisse zitiert das DKHW wie folgt: „Kinder aus armen Familien sind in Deutschland stärker von Umweltbelastungen als Kinder aus gutsituierten Haushalten. Mit der Ballung vieler ärmerer Kinder in einem Stadtteil geht gegenüber Kindern aus privilegierten Stadtteilen zudem eine Benachteiligung bezüglich der ihnen zur Verfügung stehenden Spiel- und Erholungsflächen einher.“ Wie das im Einzelnen aussieht, lässt sich in der Studie nachlesen. Hier finden sich auch Factsheets für die einzelnen Städte.
Spielplätze in reicheren Stadtteilen größer
Neben einer erhöhten Lärm- und Schadstoffbelastung in den ärmeren Vierteln stellen die Forscher auch eine Benachteiligung bezüglich der den ärmeren Kindern zur Verfügung stehenden Spiel- und Erholungsflächen fest. „In sechs von sieben Städten (Ausnahme: Saarbrücken) steht in den sozial privilegierten Gebieten mehr Erholungsfläche pro Kind zur Verfügung als in den anderen Stadtteilen. In den privilegierteren Stadtteilen machen die Spielplatzflächen teilweise meist auch einen größeren Anteil aus als in anderen Stadtteilen. Dies ist in Saarbrücken und tendenziell in Berlin und Leipzig der Fall. In Dortmund sind zudem die Spielplatzflächen in den sozial benachteiligten Quartieren kleiner als in anderen Stadtteilen.“, heißt es in der Studie.
Eine Infrastruktur, die stärkt
„In Stadtteilen mit einem höheren Anteil von Hartz-IV-Beziehenden fallen Kita-Betreuungsquoten, die Kompetenzen bei der Schuleingangsuntersuchung oder auch die Übergangsquoten auf Gymnasien niedriger aus, und mehr Kinder werden vom Schulbesuch zurückgestellt. Kariesbefall und Übergewicht unter Kindern ist weiter verbreitet in ärmeren Stadtteilen, die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen fällt geringer aus. Kinder in ärmeren Stadtteilen spielen seltener ein Instrument, besuchen seltener ein Museum oder ein Theater, sind seltener Mitglied eines Sportvereins. Deshalb brauchen armutsbetroffene Kinder eine Infrastruktur, die sie stärkt und ihnen unter die Arme greift,“ fordert Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes.
Anmerkung der Redaktion
Mit der Steigerung des Unfallrisikos für Kinder auf den eigentlich für Fußgänger vorbehaltenen Bereichen und der Verringerung der Spiel- und Erholungsflächen für Kinder, sorgt unsere Gesellschaft geradezu dafür, dass sich heutige Kinder schlechter entwickeln können als frühere Generationen. In zahlreichen Artikeln etwa von Prof. Armin Krenz oder Prof. Ferdinand Klein weisen wir immer wieder auf die Bedeutung des freien Spiels für die Entwicklung der Kinder hin. All diese Erkenntnisse, die seit Jahrhunderten durch die Beobachtung von Pädagogen und Soziologen belegt wurden, sind mittlerweile auch durch die Biochemie bzw. die Hirnforschung belegt. Nehmen wir den Kindern die Spielräume und die Möglichkeit zum freien Spiel, ergeben sich zwangsläufig Defizite bei den emotionalen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten.