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Inklusives Bildungssystem könnte aus der Krise helfen

Gemeinsame Resolution der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule und des Grundschulverbands

Das deutsche Bildungssystem befindet sich in einer Krise, vielleicht der größten seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Zu den Symptomen dieser Krise gehören unter anderem die nach wie vor eklatante Bildungsungerechtigkeit sowie die mangelhafte Ausrichtung auf eine zukunftsorientierte Bildung. Die Realisierung eines inklusiven Bildungssystems, zu der sich die Bundesrepublik Deutschland durch Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet hat, ist noch lange nicht erreicht. Damit werden die Rechte jedes Kindes und Jugendlichen auf bestmögliche Bildung gravierend verletzt.

Das föderale System wird den Herausforderungen immer weniger gerecht. Konsequent ist daher, dass die Regierungsparteien auf der Bundesebene bildungspolitische Schwerpunkte gesetzt haben.

Im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ der Ampelregierung findet sich unter Punkt V. Chancen für Kinder, starke Familien und beste Bildung ein Leben lang „Wir wollen allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft beste Bildungschancen bieten, Teilhabe und Aufstieg ermöglichen und durch inklusive Bildung sichern.“

Das Startchancenprogramm soll Kindern und Jugendlichen – unabhängig von der sozialen Lage der Familien – bessere Bildungschancen ermöglichen. Mehr als 4.000 allgemein- und berufsbildende Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler sollen dabei Unterstützung finden in den Bereichen:

  • Schulbau, durch ein Investitionsprogramm für moderne, klimagerechte, barrierefreie Schulen mit einer zeitgemäßen Lernumgebung und Kreativlaboren,
  • Weiterentwicklung der Schulen, des Unterrichts und der Lernangebote, durch ein Chancenbudget zur freien Verfügung, um Schule, Unterricht und Lernangebote weiterzuentwickeln und außerschulische Kooperationen zu fördern,
  • Schulsozialarbeit, mit der dauerhaften Bereitstellung zusätzlicher Stellen.

Inzwischen hat die Bundesregierung in ihrem Haushaltsentwurf für das Jahr 2024 für das Startchancenprogramm im Einzelplan 60 einen eigenen Titel mit einem Ansatz von 500 Mio. Euro eingestellt. Ab 2025 sind 1 Mrd. Euro pro Jahr für das Programm vorgesehen.

Jetzt geht es darum, das Programm zu einem guten Ergebnis zu führen.

Die GGG und der GSV haben sich dazu folgendermaßen positioniert:

Resolution: Das Startchancen-Programm muss zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen und einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung eines inklusiven Schulsystems leisten

1.         Die Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule (GGG) und der Grundschulverband (GSV) begrüßen uneingeschränkt, dass die Ampelkoalition Kindern und Jugendlichen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Familien durch inklusive Bildung bessere Bildungschancen zur Behebung der herkunftsbedingten Bildungsbenachteiligung ermöglichen will und dazu ein Startchancen- Programm auflegt. Mit dem Programm soll auch eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit des deutschen Schulsystems erreicht werden. Für die Umsetzung des Programms ist die Kooperation von Bund, Ländern und Kommunen notwendig.

2.         Die Verbände halten die begleitenden öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern über Finanzierung und Ausgestaltung des Programms für kontraproduktiv. Das Versprechen, die Zivilgesellschaft und auch die Schulen mit in den Entwicklungsprozess des Programms einzubeziehen, muss schnellstens eingelöst werden.

3.         Es besteht weitgehend Übereinstimmung darin, dass der Erfolg des Programms evaluiert werden muss. Vorhandene erfolgreiche Formen und Erfahrungen wissenschaftlicher Begleitung, z.B. aus der Berliner Gemeinschaftsschul-Pilotphase, verzahnt mit Fortbildung und Evaluation sind zu nutzen. GGG und GSV schlagen vor, im Rahmen der Evaluation folgende Zielsetzungen zugrunde zu legen:

  • eine Verbesserung des Wohlbefindens der Schüler:innen,
  • eine Steigerung der Anzahl der Schüler:innen, die die Schule mit Schulabschluss verlassen,
  • eine Steigerung der Anzahl der Schüler:innen, die die Mindeststandards in den einschlägigen Vergleichstests (IQB-Bildungsstudie, PISA etc.) erreichen,
  • eine deutliche Entkoppelung von Herkunft und Bildungserfolg,
  • eine Weiterentwicklung des selektiven Schulsystems in Richtung eines inklusiven Schulsystems, messbar an einer verbesserten Versorgung in Bezug auf Ausstattung und Personal für inklusive Bildung sowie einer erhöhten Anzahl von Schulen des gemeinsamen Lernens.

4.         Das Startchancen-Programm ist ein zentrales bildungspolitisches Vorhaben der Bundesregierung für diese Legislaturperiode. Die Umsetzung soll mit Beginn des Schuljahres 2024/25 erfolgen. Wesentliche Mittel an die Schulen werden erst 2025 fließen. Das ist viel zu spät. Deshalb fordern die Verbände die Bereitstellung eines Sofortprogramms von 1 Mrd. Euro bereits für das Schuljahr 2023/24. Es ist nicht in Kauf zu nehmen, dass weitere Schüler:innenjahrgänge zurückgelassen werden. Ein Zusammenstreichen der vorgesehenen Mittel und ggf. ein Verzicht auf das Programm insgesamt wäre unverantwortlich. Ausgaben für den Bildungsbereich müssen höchste Priorität haben.

5.         GGG und GSV fordern, dass die gesamten Mittel für alle drei Bereiche nach Sozialindex und nicht nach Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt werden, so wie es im Eckpunkteentwurf des BMBF vorgeschlagen wird. Die Auswahl der Schulen muss sich am Bedarf orientieren, an einem schüler:innenscharfen Sozialindex. Von den Ländern fordern wir, dass sie zusätzlich zu den Bundesmitteln einen gleich hohen Beitrag für das Programm beisteuern.

6.         Die Verbände fordern, den Schulen als wesentlichen Akteuren bei der Umsetzung des Programms weitgehende Spielräume zur Ausgestaltung des Programms und zur Verwendung der Mittel zu ermöglichen. Dabei sollen die Schulen wissenschaftlich, administrativ und unterstützend begleitet werden. Außerdem ist eine regionale Vernetzung der am Programm beteiligten Schulen zu ermöglichen.

7.         Auf der individuellen Ebene der Schüler:innen soll das Startchancenprogramm die sozial- emotionalen Kompetenzen fördern, persönlichkeitsbildend wirken und den Schüler:innen ermöglichen, die nötigen Zukunftskompetenzen zu entwickeln. Deshalb fordern GGG und GSV, dass das Startchancen-Programm nicht allein auf Basiskompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik fokussiert, sondern mit einem emanzipatorischen, basisdemokratischen, teilhabenden und entgrenzenden Anspruch versehen wird. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie mit psychosozialen Nachwirkungen bei Schülerinnen und Schülern ist dies besonders wichtig.

8.         Für die schulstrukturelle Ebene fordern die Verbände:
Im Grundschulbereich ist mit dem Startchancenprogramm das Sprengelprinzip in allen Bundesländern wieder einzuführen.
Alle in das Startchancen-Programm einbezogenen Schulen bringen ihre Schulentwicklung mit dem Ziel einer inklusiven Schule voran.
Geförderten allgemeinbildenden Schulen ist die Entwicklung zu einer integrierten Langformschule (Schule von 1 – 10 bzw. 13) zu ermöglichen.
Geförderten Gesamtschulen ohne Oberstufe ist zu ermöglichen, eine Oberstufe aufzubauen.

Insgesamt sind die Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule und der Grundschulverband der Überzeugung, dass allein die Möglichkeiten des Startchancen-Programms nicht ausreichen werden, unser Bildungssystem gerecht, inklusiv und zukunftsfähig zu gestalten. Dazu bedarf es weiterer Anstrengungen und einer gesamtgesellschaftlichen Übereinkunft. Frühkindliche Bildung ist im Programm nicht vorgesehen. Die Strukturfrage wird nicht angegangen. Diese Mängel sind zu beheben. Der von der Koalition vereinbarte „Bildungsgipfel“, „auf dem sich Bund, Länder, Kommunen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft über neue Formen der Zusammenarbeit und gemeinsame ambitionierte Bildungsziele verständigen“ (zitiert aus dem Koalitionsvertrag), muss umgehend einberufen werden und zielorientiert arbeiten.

Quelle: Pressemitteilung Grundschulverband e.V.

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